Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft - Eric Malpass - E-Book
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Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft E-Book

Eric Malpass

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Beschreibung

Der Schlingel Gaylord lebt mit seinem Paps, dem versponnenen Schriftsteller Jocelyn Pentecost, und seiner resoluten, aber liebevollen Mummi bei Opa, dem gütigen Brummbären. Nach wie vor trifft er sich heimlich mit seinem Freund Willie, «der nicht alle Tassen im Schrank hat», und staunt im übrigen fassungslos über die meist unbegreiflichen Reaktionen der Erwachsenen, denen er es nie recht machen kann. Gaylord hat inzwischen allerdings ein Schwesterchen bekommen, und der Friede seines Paradieses wird jäh gestört, als die Kinder seines Onkels vorübergehend Schützlinge der Pentecosts werden. Gaylord erlebt einen beschwerlichen Sommer mit seiner sechs Jahre alten Kusine Emma, einer dreisten, dicken kleinen Person, die ihm das Leben zur Hölle macht. Auch die Erwachsenen haben es nicht leicht: Der sechzehnjährige David ist ein undurchsichtiger Junge, seelisch unausgeglichen, verschlossen bis zur Arroganz, und seine Schwester Jenny, ein bildhübsches junges Mädchen, hat eine Schwäche für reifere Männer. Sie himmelt den sanften Jocelyn beharrlich an, was Mummi lange mit stillem Ingrimm beobachtet, ehe sie handelt, während sich Opa in heftigen Zornausbrüchen Luft macht. In diesem drückenden Sommer steht ein magischer Mond über der lieblichen englischen Landschaft, und eine rätselhafte Kette nächtlicher Überfälle wirft bedrohliche Schatten auf die Idylle. Doch während die Erwachsenen beklommen den Atem anhalten, folgt Gaylord heimlichen Lockungen in den bösen Zauber einer Vollmondnacht. Als ihr kaltsilberner Bann schließlich bricht, ist wieder ein ereignisreicher Gaylord-Sommer zu Ende gegangen, und jedem in der kleinen, sympathischen Familie hat er neue Erfahrungen und Erkenntnisse gebracht.

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Seitenzahl: 312

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Eric Malpass

Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft

 

 

Aus dem Englischen von Margret Schmitz

 

Über dieses Buch

Der Schlingel Gaylord lebt mit seinem Paps, dem versponnenen Schriftsteller Jocelyn Pentecost, und seiner resoluten, aber liebevollen Mummi bei Opa, dem gütigen Brummbären. Nach wie vor trifft er sich heimlich mit seinem Freund Willie, «der nicht alle Tassen im Schrank hat», und staunt im übrigen fassungslos über die meist unbegreiflichen Reaktionen der Erwachsenen, denen er es nie recht machen kann. Gaylord hat inzwischen allerdings ein Schwesterchen bekommen, und der Friede seines Paradieses wird jäh gestört, als die Kinder seines Onkels vorübergehend Schützlinge der Pentecosts werden. Gaylord erlebt einen beschwerlichen Sommer mit seiner sechs Jahre alten Kusine Emma, einer dreisten, dicken kleinen Person, die ihm das Leben zur Hölle macht. Auch die Erwachsenen haben es nicht leicht: Der sechzehnjährige David ist ein undurchsichtiger Junge, seelisch unausgeglichen, verschlossen bis zur Arroganz, und seine Schwester Jenny, ein bildhübsches junges Mädchen, hat eine Schwäche für reifere Männer. Sie himmelt den sanften Jocelyn beharrlich an, was Mummi lange mit stillem Ingrimm beobachtet, ehe sie handelt, während sich Opa in heftigen Zornausbrüchen Luft macht. In diesem drückenden Sommer steht ein magischer Mond über der lieblichen englischen Landschaft, und eine rätselhafte Kette nächtlicher Überfälle wirft bedrohliche Schatten auf die Idylle. Doch während die Erwachsenen beklommen den Atem anhalten, folgt Gaylord heimlichen Lockungen in den bösen Zauber einer Vollmondnacht.

Vita

Eric Malpass (1910–1996) hat in seinem Heimatland Großbritannien lange Jahre als Bankangestellter gearbeitet. 1947 wurde er Mitarbeiter der BBC, außerdem schrieb er für diverse Zeitungen. Er verfasste zahlreiche Romane und lebte als freier Schriftsteller in Long Eton, nahe Nottingham. Mit dem kleinen Herzensbrecher Gaylord ist Eric Malpass eine der originellsten Jungenfiguren der modernen Literatur gelungen, ernsthaft und liebenswert zugleich.

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © 1968 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN Printausgabe 978-3-499-11794-7

ISBN E-Book 978-3-688-10860-2

www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Für Jeannie (Christine Campbell Thomson) in Zuneigung und Dankbarkeit

1

Über die azurblaue Decke des Himmels kroch das Flugzeug wie ein silberner Käfer.

Plötzlich geschah es: das gleichmäßige Dröhnen der Motoren setzte aus. Die Menschen tief unten auf der Erde blickten hinauf, ohne noch recht zu erfassen, was sich da oben verändert hatte, und dann sahen sie den silbernen Körper vom Himmel fallen. Anfangs schaukelte er wie ein Papierdrachen herab, dann fiel er schneller und immer schneller, bis das schimmernde Insekt schließlich als heulende, kreischende Metallmasse wie ein Geschoß auf die Erde zuraste.

Dann ein krachender Aufschlag, daß man meinte, die Welt ginge unter. Danach Stille, tödliche, unheimliche Stille. Sekunden später wurde sie vom Heulen der Sirenen zerrissen, Menschen schrien auf und riefen durcheinander, Alarmglocken schrillten … und ihr Lärm schien sich wellenförmig über die ganze Erde verbreiten zu wollen, so als habe ein Stein eine glatte Wasserfläche aufgestört.

Und schließlich schrillte es auch am anderen Ende der Welt auf, im Gutshaus der Pentecosts, und zerriß die Schläfrigkeit eines englischen Sommertags.

 

Kein Lufthauch regte sich. Auf die Heustapel im Hof schien die Morgensonne. Alles strahlte Zufriedenheit aus. Bessie, die Sau, lag träge auf der Seite, während dreizehn quiekende, kringelschwänzige, rosige kleine Ferkel sie bedrängten und zu ihrem Recht zu kommen suchten. Opa, kräftig und robust, sah ihnen dabei zu. Er genoß das, was er über alles liebte: die Sonne und das Alleinsein. Doch der Sonnenschein stimmte ihn in letzter Zeit ebenso wehmütig, wie er ihn beglückte. Zu sehr näherte er sich schon sonnenlosen Gestaden.

Und das Alleinsein? Resigniert bemerkte er, daß er nicht mehr allein war. Ein kleiner Junge mit blondem Schopf stand neben ihm. Sein Kinn ruhte auf der warmen Sandsteinmauer des Schweinestalls, und seine dunklen Augen starrten fasziniert auf die schmatzenden kleinen Wesen.

Opa ergab sich in sein Schicksal und beschloß, nicht ungesellig zu sein. Doch da er seinen Enkel kannte, wählte er ein unverfängliches Gesprächsthema. «Bewundernswert, diese Schweine», sagte er. «Wissen genau, was sie wollen – und wehe, wenn sie’s nicht kriegen.» Er selbst war nicht viel anders.

«Ich hätte nie gedacht, daß Bessie dreizehn Kinder haben wollte», sagte Gaylord.

«Sie hätte sie nicht, wenn sie sie nicht gewollt hätte», sagte Opa gereizt. Er wurde immer gleich kratzbürstig, wenn Gaylord das Problem der Fortpflanzung ansteuerte. Man wußte nie, was nun wieder kommen würde.

Gaylord sagte: «Kann schon sein. Aber Mrs. Twegg hat gesagt, als ihre Ethel Zwillinge bekam, hätte man sie umpusten können.»

«Schweine sind da anders», sagte Opa. «Sie nehmen alles so, wie’s kommt.»

«Aber eben hast du doch noch gesagt, daß sie genau wissen, was sie wollen», beharrte Gaylord mit unerbittlicher Logik.

«Nicht, wenn es um Junge geht. Bessie weiß nicht einmal, daß sie dreizehn hat. Schweine können nicht zählen.»

«Ich wette, sie weiß, daß sie mehr als zwei hat.» Gaylord war gekränkt. Er liebte und bewunderte Bessie. Er fand es sehr befremdlich, daß ausgerechnet Opa ihre Intelligenz derart herabsetzte.

Opa seufzte. Bei Gaylord gab es doch wirklich kein unverfängliches Thema. «Ich glaube, deine Mutter ruft dich», sagte er.

«Ich habe nichts gehört», sagte Gaylord.

«Aber ich – Herrgott noch mal!»

Gaylord war beleidigt. Kaum hatte man eine so fesselnde Unterhaltung wie die über Bessies geistige Fähigkeiten begonnen, wurde man schon wieder gestört. Es war eben immer das gleiche mit den Erwachsenen. Sie waren unberechenbar. Er würde sie nie begreifen. «Auf Wiedersehen, Opa», sagte er höflich, verwandelte sich in einen Hubschrauber und flog mit kreisenden Armen aufs Haus zu.

 

Auch im Haus selbst atmete alles Zufriedenheit. Paps saß an seinem Schreibtisch. Sein neuer Roman machte gute Fortschritte, die Feder flog über das Papier, er schwelgte in Schaffensfreude.

Auch Mummi war zufrieden. Amanda lag an ihrer Brust und sog Kraft aus ihrer Kraft. Sie schaute auf das hingegebene, hilflose Köpfchen; und grenzenlose Liebe und Zärtlichkeit erfüllte sie. Sie drückte den kleinen, strampelnden Körper fester an sich, beugte sich hinunter und strich mit den Lippen über das weiche Haar.

Gaylord polterte ins Zimmer. Er sah seine Schwester interessiert an. Er staunte immer wieder darüber, daß Mummi – ausgerechnet seine kühle, elegante Mummi! – genau wie Bessie auf diese erstaunliche Weise ihren Nachwuchs ernährte. Wenn auch in bescheidenerem Maße, versteht sich. «Bessie schafft alle dreizehn auf einmal», stellte er leutselig fest.

«Soll das eine Kritik sein?» fragte Mummi.

«Was ist das, eine Kritik?»

«Du meinst doch, während Bessie mit dreizehn fertig wird, schafft die arme alte Mummi nur eins?»

«So ungefähr», sagte Gaylord. «Aber dreizehn auf einmal könntest du jedenfalls nicht bekommen. Oder doch?» fragte er erwartungsvoll.

«Das ist wohl ziemlich unwahrscheinlich», antwortete Mummi.

«Dreizehn was auf einmal?» fragte Paps. Er hatte die aufreizende Angewohnheit, urplötzlich aus seiner Versunkenheit aufzutauchen.

«Babies», erwiderte Mummi.

«Gott behüte», rief Paps entsetzt und zog sich wieder in die weniger alarmierende Welt seiner Phantasie zurück.

In diesem Augenblick schrillte irgendwo in der kühlen Stille des Hauses das Telefon. Und schrillte weiter, mit der disziplinierten, geduldigen Hartnäckigkeit aller Telefone dieser Welt.

 

Opa war immer noch draußen in der Sonne. Er hörte zwar das Klingeln, rührte sich aber nicht. Jemand würde schon drangehen. Schließlich schafft man sich nicht einen Hund an, um selbst zu bellen. Und Morgensonne wurde allmählich kostbar für ihn.

Bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr war Opa als Anwalt tätig gewesen. Er hatte jede Minute genossen, denn argumentieren und disputieren waren wie Essen und Trinken für ihn. Aber er war auch ein Mann, der mit den Füßen gern fest auf der Erde stand, gern den Wind um sich wehen ließ und gern sein Gesicht der Sonne und dem Regen aussetzte. Darum hatte er es mit sechzig gut sein lassen, seine Praxis aufgegeben und den kleinen Hof in den Midlands gekauft. Hier hatte er sich mit seiner großen und wohlassortierten Familie niedergelassen.

Seitdem war manches anders geworden. Trotz seiner robusten Kraft war ihm der Hof auf die Dauer zuviel geworden. Er hatte erst hier, dann dort ein Stück verkauft, bis schließlich nicht mehr übriggeblieben war als das Gutshaus selbst und ein paar Nebengebäude.

Auch die Familie war zusammengeschrumpft. Jetzt gab es nur noch seinen Sohn Jocelyn, seine Schwiegertochter May, Gaylord und Amanda.

Er überlegte träge, wer von ihnen jetzt wohl ans Telefon ging. Jocelyn bestimmt nicht. Wenn der am Schreiben war, sah und hörte er nichts. Selbst Trompeten des Jüngsten Gerichts würde er dabei überhören, wenn man ihm nicht einen Extra-Cherub schickte, der ihm einen Stups gab. Der schied also aus. Wahrscheinlich würde May ans Telefon gehen. Opa bewunderte und respektierte May wie kaum einen zweiten Menschen. Und es gehörte weiß Gott allerlei dazu, Opas Respekt zu erringen. Er fand, daß May eine verdammt hübsche Frau war. Munter, tüchtig und doch durch und durch Frau.

Aber schließlich war es Gaylord, der ans Telefon ging. May hatte gesagt: «Würdest du bitte gehen, Jocelyn? Wenn ich Amanda abnehme, ehe sie mit ihrem Dinner fertig ist, macht sie Spektakel.»

«Hm? Was?» hatte Paps abwesend gemurmelt.

Offensichtlich bedurfte es bei ihm einer zu großen Umstellung, als daß er eine so banale Sache wie ans Telefon gehen unverzüglich hätte in Angriff nehmen können.

«Geh du schon, Gaylord», hatte Mummi geduldig gesagt.

«Ja, Mummi.» Gaylord lief in die Diele, nahm den Hörer ab und hielt ihn ans Ohr. Er telefonierte höchst ungern. Die Sache war ihm nicht geheuer. Bestand da nicht immer die Gefahr, daß etwas von der Elektrizität auslief und einem mit schlimmen Folgen in die Glieder fuhr? Aber er war ein folgsames Kind. «Hier Shepherd’s Warning sieben fünf», sagte er.

Eine streng dienstliche Stimme meldete sich.

«Hier ist eine Voranmeldung aus London für Mrs. Jocelyn Pentecost. Ist sie zu sprechen?»

Gaylord antwortete: «Nein. Sie stillt gerade Amanda.»

Die Stimme sagte: «Mit wem spreche ich? Würden Sie mich bitte mit Mrs. Jocelyn Pentecost verbinden?»

«Das geht nicht», sagte Gaylord. «Wenn sie Amanda abnimmt, bevor sie ihr Dinner …»

Die Stimme unterbrach ihn brüsk: «Ist Mrs. Jocelyn Pentecost zu sprechen oder nicht?»

«Ja, aber erst, wenn sie mit Amanda fertig ist», sagte Gaylord und fügte höflich hinzu: «Wenn Sie vielleicht ein paar Minuten warten würden …» Er ging zu Mummi und meldete ihr wichtig: «Da ist eine Voranmeldung aus London für dich, Mummi. Ich habe gesagt, du würdest kommen, wenn du mit dem Stillen …»

«Voranmeldung aus London? Für mich?» Mummi war ebenso erstaunt wie erschreckt. «Wer in aller Welt kann denn das sein?» Sie nahm das gekränkte Baby von der Brust, drückte es Paps in die Arme und stürzte in die Diele. Amanda entsprach voll den diesbezüglich in sie gesetzten Erwartungen und brüllte los. Paps war hilflos. Gaylord riet mit Kennermiene: «Wahrscheinlich Blähungen. Am besten legst du sie über die Schulter und klopfst ihr den Rücken.»

«Das scheint mir eine recht drastische Methode», meinte Paps zweifelnd.

«Aber sie wirkt», sagte Gaylord.

Paps versuchte es. Amanda brüllte nur noch lauter: «Ich glaube, ich habe ihre Gefühle verletzt», sagte Paps.

«Vielleicht möchte sie deinen Füller», meinte Gaylord. Er hielt ihr Paps kostbares Schreibutensil hin. Amanda packte es mit ihrer winzigen Faust und steckte es in den Mund. Sofort war sie still. «Siehst du, das funktioniert», sagte Gaylord befriedigt.

Mummi kam wieder ins Zimmer. Sie war leichenblaß.

«Liebling», sagte sie. «Etwas Entsetzliches.» Sie kam näher und nahm Amanda den Füllfederhalter weg. Es war eine reine Reflexbewegung. «Erinnerst du dich an das Flugzeugunglück?»

Paps erinnerte sich. Ein Flugzeugabsturz in Indien. Fast alle Passagiere tot. Eine dieser schrecklichen, sich fernab ereignenden Katastrophen, die einen mit tiefem, aber doch flüchtigem Entsetzen erfüllen.

«Ja, ich erinnere mich», sagte er und sah seine Frau voll unguter Ahnungen an. Was konnte das mit ihnen zu tun haben?

Mummi sagte mit gepreßter, beherrschter Stimme: «Helen und Frank sind … unter den Opfern. Sie ist schwer verletzt, er ist … tot.»

«Oh, mein Gott», sagte Paps. «Nicht Frank.»

Mummi schwieg. «Es … kann nicht wahr sein», sagte sie schließlich. «Er war so … voller Leben.»

«Ja», sagte Paps.

Amanda fing wieder an zu schreien. Sanft nahm Mummi ihrem Mann das Baby ab und knöpfte sich die Bluse auf. Die Kleine war sofort ruhig. Jocelyn legte seiner Frau die Hand auf die Schulter. «Liebling, es tut mir so leid», sagte er.

«Ich weiß.» Sie hob die Hand und legte sie auf seine. «Verzeih – aber es … so plötzlich. Ich bin ganz fassungslos.»

«Komm», sagte er voll tiefem Mitgefühl. Er wußte, wie sehr May an ihrem Bruder hing. «Versorg du Amanda. Ich mache inzwischen eine Tasse Tee für uns. Dann kannst du mir alles erzählen.»

«Ja», sagte sie dankbar. «Ja.» Und sie fuhr fort mit dem ewig gleichen tröstenden Ritual. Gaylord sah ihr mit ernster Miene zu.

«Ist Onkel Frank tot, Mummi?»

«Ja, Liebes.»

Gaylord war traurig. Er hatte Onkel Frank nur einmal gesehen, als er auf Urlaub dagewesen war. Aber er hatte gleich seine Billigung gefunden. Er lachte gern, konnte mit den Fingerknöcheln knacken, daß es klang wie Pistolenschüsse, und hatte die Höflichkeit besessen, ihn immer nur mit Gaylord, nicht mit einem dieser albernen Kosenamen anzureden. Offengestanden hatte es ihn immer ein bißchen überrascht, daß Mummi, die ihn seiner Meinung nach von morgens bis abends herumhetzte, einen so netten Bruder haben sollte.

 

Amanda war versorgt. Gaylord war Mummis Vorschlag, nach draußen zu gehen und zu spielen, ohne weitere Widerrede gefolgt – ein fast noch nie dagewesener Vorgang. Jocelyn kam mit dem Tee herein.

«Nun also, Liebling», sagte er.

May schluckte. «Ihre Anwälte waren am Apparat», sagte sie. «Frank ist tot. Und Helen liegt im Krankenhaus. Wahrscheinlich für Wochen. Sie ist immer noch bewußtlos.»

Jocelyn schwieg. Wie die meisten Dichter vermochte er den Tod zu akzeptieren, den Tod als klares, sauberes Ende. Aber eine Verletzung, das war etwas anderes. Schon der Gedanke, daß in einem zerschmetterten, verstümmelten Körper das Leben noch flackerte, erschien ihm geradezu obszön. Da liegt sie nun, dachte er, ihr Geist ist weiß Gott wo, und sie zerren sie zurück, und eines Morgens wird sie wieder zu alldem zurückkehren müssen, zu den knarrenden Punkafächern, den Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien stechen, den Schmerzen, die durch ihren Körper jagen; und dann wird sie erfahren, daß sie Witwe ist. «Arme Helen», sagte er leise.

May sagte: «Sie wollten in den Bergen Urlaub machen. Die Kinder sollten nächste Woche von hier aus zu ihnen hinüberfliegen.»

Die Kinder! «Hatten sie nicht drei?» sagte Paps. Erschreckende Konsequenzen tauchten vor ihm auf.

May nickte. «Vor allem ihretwegen haben die Anwälte angerufen. Die Kinder können weiter auf der Schule bleiben – gottlob gibt es keine finanziellen Probleme, Frank hat für alles vorgesorgt – aber es geht um die Ferien. Nächste Woche schließen die Schulen für ein paar Monate. Und im Augenblick können sie ja nicht gut nach Indien gehen. Jedenfalls nicht, solange die arme Helen …»

Jocelyn mochte Kinder in Büchern und im Fernsehen. Aber in natura fand er sie ziemlich anstrengend. Sie gaben ja nie Ruhe. Paps hatte an Gaylord mehr als genug. Er wappnete sich jetzt schon für den Tag, an dem Amanda laufen und sprechen würde. Dennoch sagte er sofort: «Nun, das ist ja kein Problem. Unser Haus ist groß genug.»

«Danke, Liebling.» Ihr Lächeln unter Tränen erinnerte ihn an einen Sonnenuntergang nach Regen. «Weißt du, ich hab’s mir schon überlegt …» Mummi verlor auch in der Trauer nicht ihren Sinn für das Praktische. Man mußte sich auf die Lebenden konzentrieren. Die Toten – auch wenn sie einem noch so teuer waren – konnten selbst für sich sorgen. «Du darfst nicht bei deiner Arbeit gestört werden. Dein Arbeitszimmer muß absolut tabu sein. Für jeden. Zweitens hat dein Vater Anspruch auf Ruhe. Sein Arbeitszimmer ist ebenfalls tabu. Drittens …»

Jocelyn nahm seine Frau lächelnd in die Arme. «Liebling, vergiß drittens. Laß es an dich herankommen. Es war ein schrecklicher Schock für dich.»

Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. «Verstehst du das denn nicht? Das ist nun mal meine Art, mit den Dingen fertig zu werden.» Ungeduldig tupfte sie sich eine Träne von der Wange. «Drittens, Gaylord wird ziemlich geschockt sein. Aber darum sollten wir uns den Kopf nicht zerbrechen. Er war lange genug Einzelkind. Es wird ihm ganz guttun, wenn er sich mit anderen Kindern beschäftigen muß.»

«Falls er das tut! Gaylord würde auch dann noch seinem eigenen Dickkopf folgen, wenn man ganz Harrow bei uns einquartierte.»

Sie mußte lachen. «So schlimm wird es schon nicht werden. Es sind nur drei. Und David und Imogen sind schon zu groß, um sich noch viel um ihn zu kümmern. Aber Emma wird ihm ein Dorn im Fleisch sein.»

«Emma?»

«Sie ist sechs oder sieben. Er wird bestimmt nicht entzückt sein.»

Auf einmal gab es nichts mehr zu sagen. Sie schauten sich an – hilflos, hoffnungslos. Dann lag sie in seinen Armen und weinte. Wie ein Sturzbach kamen die Tränen, und er konnte nichts tun, als sie an sich drücken, mit den Lippen über ihr Haar streichen und ihren Namen murmeln.

 

Jocelyn sagte: «May hat eine furchtbare Nachricht bekommen, Vater. Erinnerst du dich an ihren Bruder Frank?»

«Natürlich. Der Ingenieur.»

«Ja. Er ist letzte Woche bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Die arme May. Du weißt, wie sie aneinander hingen.»

Opa schwieg. Wenn man älter wird, nimmt man das Unglück wie ein Leitmotiv hin, wie Gewitter in einem langen, heißen Sommer. Aber das machte die Sache nicht leichter, weder für einen selbst noch für andere. «Das tut mir leid. Arme May. Ich wollte, das wäre ihr erspart geblieben.»

«Helen ist schwer verletzt», sagte Jocelyn. «Die Kinder gehen in England zur Schule. Sie sollten in den Ferien zu den Eltern nach Indien fliegen. May will, daß sie hierherkommen.»

«Natürlich», sagte Opa.

«Du hast nichts dagegen?»

Opa brauste auf. «Herrgott noch mal, Junge, mußt du mich das wirklich fragen?»

«Nein», sagte Jocelyn. «Entschuldige, Vater.»

«Das will ich auch stark hoffen. Wann kommen sie?»

«Das wissen wir noch nicht genau. Aber vermutlich bald.»

«Ich weiß nicht, für wen es am schlimmsten sein wird», meinte Opa. «Für dich, für Gaylord oder für mich.» Da stand er, stämmig wie eine englische Eiche, und starrte Paps unter seinen buschigen Brauen an. «Aber wenn irgendeiner es wagen sollte, bei May den Eindruck zu erwecken, daß er nicht jede Minute davon begeistert ist, kriegt er es mit mir zu tun.» Er drehte sich um und stampfte aus dem Zimmer. Paps sah den verschwindenden breiten Schultern gerührt nach und empfand eine Zuneigung zu dem alten Mann, die er – wie er sich beschämt eingestand – keineswegs immer empfand.

 

Mummi wußte, daß dies ein Augenblick war, der Takt und Feingefühl erforderte. Vorsichtig begann sie: «Gaylord, Tante Helens Kinder haben ihren Vater verloren. Ist das nicht furchtbar für sie?»

«Ja», sagte Gaylord. Das war’s ja auch wirklich.

«Sie sind jetzt ganz allein auf der Welt, bis es ihrer Mutter besser geht», sagte Mummi. «Während der Schulzeit ist es nicht ganz so schlimm, aber was sollen sie in den Ferien machen …?»

Sie wartete und sah Gaylord prüfend an. Sie konnte fast hören, wie es in seinem kleinen Kopf arbeitete. Endlich kam es: «Kannst du sie nicht zu uns einladen, Mummi?» In seiner Stimme lag ein leiser Vorwurf. Man hätte doch wohl erwarten können, daß Mummi von allein auf den Gedanken gekommen wäre.

Mummis Gesicht hellte sich auf. «Was für eine großartige Idee, Gaylord. Bist du auch sicher, daß dir das nichts ausmachen würde?»

«Ausmachen? Natürlich nicht.»

«Ach, das ist aber lieb», sagte Mummi. «Ich werde ihnen heute noch schreiben.»

Aber unter der Tür blieb Gaylord stehen. Er sah bedrückt aus. «Ich … muß doch nicht etwa mit ihnen spielen, Mummi – oder?»

«Aber du wirst es sicher wollen, Liebling.»

«Das glaube ich nicht, Mummi.»

«Unsinn, du spielst doch auch mit den Kindern in der Schule, nicht wahr?»

«Das ist etwas ganz anderes. Das ist in der Schule.»

«Ach so», sagte Mummi. «Nun, darüber brauchen wir uns jetzt noch nicht den Kopf zu zerbrechen. Das wird sich alles schon finden.»

Sie war recht zufrieden. Solange Gaylord glaubte, der Besuch der Kinder sei seine Idee, würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um das Beste daraus zu machen. Doch Gaylord grübelte wie so oft über die geheimnisvolle Denkweise der Erwachsenen nach.

Diese Mummi! Von morgens früh bis abends spät organisiert sie alles und jedes. Immer am Ball, mußte man sagen. Aber wenn er nicht den Vorschlag gemacht hätte, die Kinder von Tante Helen einzuladen, wäre sie nie auf diese einfache Lösung gekommen.

Doch er machte jede Wette, daß sie hinterher diese Idee für sich in Anspruch nehmen würde!

2

Einmal am Tag wurde der verwunschene Friede des Bahnhofs von Shepherd’s Warning jäh gestört. Das Läutwerk schrillte, die Sperre wurde feierlich geöffnet, Signale schepperten, das Fenster am Fahrkartenschalter wurde krachend hochgestoßen, und Joe Bates schob seinen Karren über den grasbewachsenen Bahnsteig. Die Bühne war hergerichtet. Ein ferner, melancholischer Ton, so traurig wie der Klang eines Horns in der Tiefe des Waldes, ein wachsendes Dröhnen und Rattern, und dann brauste der Vier-Uhr-Fünfzehn von Ingerby aus dem Tunnel hervor und kam keuchend neben dem Bahnsteig zum Stehen.

Paps saß am Steuer des wartenden Wagens und starrte säuerlich auf die grüne Diesellok. Er würde es der britischen Eisenbahn nie verziehen, daß sie die Dampfloks abgeschafft hatte. Wehmütig gedachte er der Zeiten, als eine schmutzige alte Lokomotive mit blinkenden Kolben und verrußtem Schornstein ein Sortiment von Erster- und Dritter-Klasse-Wagen in den Bahnhof zog. Als geborener Einzelgänger trauerte er den geschlossenen Abteilen nach, in denen man so hübsch und komfortabel für sich gewesen war. Er … Aber da fiel ihm plötzlich ein, daß er hier eine Mission zu erfüllen hatte. Der Gepäckträger riß eine der Wagentüren auf. Paps wartete gespannt auf die drei Kinder, die jetzt auftauchen mußten. Doch zu seiner Überraschung stieg nur eine junge Dame aus.

Paps wartete weiter. Aber niemand sonst erschien. Türen schlugen zu. Der Zug rollte davon. Die junge Dame blieb auf dem Bahnsteig stehen.

Die Kinder waren also nicht gekommen. Jocelyn startete den Motor. Er wollte gerade losfahren, als er das Mädchen auf sich zukommen sah. Er bremste. Wahrscheinlich wollte sie mitgenommen werden.

Sie trat an den Wagen heran und legte die Hand auf die heruntergedrehte Scheibe. Eine blonde Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Sie hatte hohe Wangenknochen und die grünsten Augen, die er je gesehen hatte. Ihr Gesicht war schmal und gebräunt. Vielleicht war sie nicht hübsch, aber – weiß Gott – da schaut man zweimal hin, dachte er. Sie war jünger, als er zuerst vermutet hatte. Die Finger, die die Wagentür ergriffen hatten, waren klein, noch nicht ausgeformt und irgendwie wehrlos, die Hand eines Kindes. Und als sie sprach, merkte er, daß auch ihre Stimme noch jung war. «Onkel – Jocelyn?» fragte sie.

«Ja, aber …» Er sah in zwei sehr klare Augen. Er rückte seine Krawatte zurecht und wollte, der Schöpfer hätte sich mit seinem recht alltäglichen Gesicht etwas mehr Mühe gegeben. «Aber … Ich dachte, ihr kämt zu dritt?»

«David und Emma können erst morgen kommen.»

Paps haßte es, wenn er seinen Gedanken neue Weichen stellen mußte, dazu brauchte er immer ein Weilchen. Aber nun hatte er es geschafft. «Dann … dann mußt du Imogen sein», sagte er strahlend.

«Ja.» Sie sah ihn scheu an. «Und du bist der berühmte Jocelyn Pentecost.»

Trotz ihrer Unsicherheit betrachtete sie ihn mit unverhohlener Bewunderung. Paps sonnte sich in diesem Blick. Offene Bewunderung – das war etwas, wovon Paps nie genug kriegen konnte. In der Familie war sie streng rationiert. Er sprang aus dem Wagen, hob ihr Gepäck in den Kofferraum, lief auf die andere Seite und öffnete ihr die Tür. Mit einem dankbaren Lächeln stieg sie ein.

Sie fuhren los. «Es tut mir ganz schrecklich leid – alles», sagte er. «Es ist schrecklich für euch.»

«Danke», sagte sie still.

«Wir möchten, daß ihr euch bei uns wohl fühlt.» Er schaute für einen Moment von der Straße weg und lächelte ihr zu. «Ihr könnt auf uns zählen, weißt du.»

Sie schwieg. Nach einer Weile sagte sie: «Ich glaube, für David ist es am schlimmsten. Emma ist noch zu klein, um es ganz zu begreifen, Aber David … Daddy und er hingen sehr aneinander, und er ist schrecklich sensibel. Er empfindet alles wie … wie ein bloßliegender Nerv. Und er ist nicht …»

Sie brach ab. «Was ist er nicht?» fragte er sanft. Aber sie beantwortete seine Frage nicht. Statt dessen sagte sie scheu: «Ich wollte sagen … Ich finde, ‹Gelb fallen die Blätter› ist einer der schönsten Romane, die ich je gelesen habe.»

O du wunderbares Mädchen, dachte Paps. Du wunderbares, wunderbares Mädchen. «Ziehst du es meinen humoristischen Büchern vor?»

«O ja.»

«Das freut mich aber», sagte er. «Du bist so ungefähr die erste Person, die das sagt.»

Das war ein wunder Punkt bei Jocelyn, der sonst alles leichtnahm. Sein Agent, sein Verleger, sein Publikum, ja sogar seine ihm ergebene Frau hatten für seinen einzigen ernsten Roman wenig Begeisterung aufgebracht. Nur weiter mit dem Allotria, Jocelyn, alter Junge, war ihr Schlachtruf. Hier war endlich einmal jemand, der den ernsthaften Dichter in ihm erkannt hatte. Er war tief beeindruckt, daran bestand kein Zweifel. Was Jocelyn anging, so hatte Imogen für den Anfang entschieden den rechten Ton gefunden.

 

May erwartete sie vor dem Haus. Sie streckte die Hände aus. «Willkommen, meine liebe Imogen. Bist du aber groß geworden.»

«Wenn man bedenkt, daß du sie zuletzt gesehen hast, als sie fünf war, konnte man das ja wohl erwarten», sagte Paps fröhlich und wuchtete die Koffer aus dem Wagen. Er war sonst nicht gerade ein ausgesprochener Gesellschaftslöwe, aber er war wild entschlossen, sich von seiner besten Seite zu zeigen.

«Sind die andern noch im Wagen?» fragte Mummi.

«Nein.» Imogen erklärte ihr alles. «Nun, dann komm mit, damit ich dir dein Zimmer zeige», sagte Mummi und hakte sich bei Imogen ein. Sie gingen ins Haus.

«Du hast einen kleinen Jungen, nicht wahr?» sagte Imogen.

«Ja. Aber er ist noch in der Schule. Er kriegt erst nächste Woche Ferien.» Sie drückte Imogens Arm ein wenig. «Wir haben auch noch ein Baby. Ein kleines Mädchen. Willst du sie sehen?»

«Nein, wirklich?» Imogen schien überrascht. Jocelyn bildete sich ein, daß sie ihm dabei einen ‹wer hätte das von dir gedacht, alter Junge›-Blick zuwarf.

Sie gingen zur schlafenden Amanda, um sie zu besichtigen. «Oh, ist die süß», rief Imogen.

«Im Augenblick», sagte Mummi. «Jetzt spielt sie die schlafende Schöne. Aber warte nur, wenn sie aufwacht, dann ist die Hölle los.»

Das Mädchen blieb neben dem Stubenwagen stehen. Mummi sagte: «Imogen ist ein wunderschöner Name. Und mein Mann findet das bestimmt auch! ‹Die von den Barden Besungene› und so. Aber gibt es nicht eine schlichte Kurzform davon?»

«Mummi und Daddy nennen mich …» Sie brach ab, dann fuhr sie tapfer fort: «Meine Eltern haben mich immer Jenny gerufen.»

«Dann bleiben wir bei Jenny», entschied Mummi. «Aber ich hab dir ja immer noch nicht dein Zimmer gezeigt.»

 

Der nächste Tag war Freitag. Mummi fuhr mit Jenny zur Bahn, um ihre Geschwister abzuholen. Gaylord zappelte auf dem Rücksitz herum, erfüllt von Vorahnungen. Bis jetzt hatten alle seine Spielgefährten vier Beine gehabt: Bessie, die Sau, Heathcliff, der Stier, Crippen, die Katze. Nun sollte er zweibeinige Kameraden bekommen, und als eingefleischter Individualist war ihm diese Aussicht gar nicht angenehm. Es war das Ende einer Epoche, stellte er traurig fest.

Dank Amanda, die zur unpassendsten Zeit ein Mordstheater veranstaltet hatte, kamen sie zu spät. Der Zug hatte seine menschliche Fracht bereits abgesetzt und war wieder abgefahren.

Die menschliche Fracht stand auf dem Bahnhofsvorplatz. Sie bestand aus einem hübschen, aber arroganten Knaben von etwa sechzehn Jahren und einem kleinen, pummeligen Mädchen.

«Da sind sie!» rief Jenny liebevoll. «Wie verlassen sie aussehen!» Sie sprang aus dem Wagen, rannte los und umarmte Bruder und Schwester. Mummi sagte: «Komm, Gaylord. Und ein freundliches Lächeln zur Begrüßung, bitte.»

Gaylord schob die Unterlippe vor. Dann erinnerte er sich wieder. Diese Kinder hatten ihren Vater verloren. Und er hatte sich sogar eine kleine Willkommensrede ausgedacht. Er setzte ein starres Lächeln auf und folgte Mummi.

Mummi würde nie die Ungeschicklichkeit begehen, einen sechzehnjährigen Jungen zu küssen. Sie streckte ihm nur eine feste, freundliche Hand entgegen. «Hallo, David», sagte sie herzlich.

Er gab ihr die Hand, ohne zu lächeln.

«Und Emma», sagte Mummi und küßte das kleine Mädchen. Dann wandte sie sich um. «Das ist euer Vetter Gaylord.»

Gaylord machte den Mund auf und wollte zu seiner Ansprache ansetzen. ‹Es tut mir sehr leid, daß euer Vater mit dem Flugzeug abgestürzt ist›, hatte er sagen wollen. Doch jetzt kam ihm der Verdacht, daß das nicht so taktvoll war, wie er geglaubt hatte, und er beschränkte sich auf ein etwas mürrisches «Hallo».

Aber selbst das löste keine nennenswerte Reaktion aus. David machte ein Gesicht wie ein Schüler der Oberstufe, dem jemand taktloserweise einen Erstkläßler vorgestellt hatte. Und Emma? Emma stand völlig regungslos da und starrte ihn mit ihren vorstehenden, kalten, porzellanblauen Augen an. Gaylord ging das Ganze ziemlich auf die Nerven.

Emma starrte weiter. Wenn’s darauf ankam, darauf verstand er sich auch. Gaylords gute Vorsätze waren wie weggeblasen. Er starrte wütend zurück.

Mummi fühlte sich von allen im Stich gelassen. Sie sagte forsch: «Los, Gaylord, pack ein paar von den Koffern in den Wagen. Komm, David.» Sie legte dem Jungen freundlich die Hand auf die Schulter. Einen Moment spürte sie, wie sein Körper sich ihr entgegenneigte, als ob er instinktiv näheren Kontakt suche. Dann riß er sich zusammen, straffte sich und ging zum Wagen. Armer Junge, dachte May voller Mitleid. Sie hätte ihn liebend gern bemuttert. Aber hier war weder der rechte Ort noch die Zeit dafür. Mit großer Selbstverständlichkeit stellte sie fest: «Ich bin sicher, daß ihr einen Mordshunger habt.»

«David hat sich im Zug übergeben», sagte Emma und äußerte sich damit zum erstenmal.

«Na, dann muß er ja hungrig sein», meinte Mummi ruhig.

Gaylord griff das Thema erfreut auf. «Unsere Lehrerin sagt, es wäre gut, wenn man sich übergibt. Sie hat gesagt …»

«Schon gut. Das reicht, Gaylord», sagte Mummi.

«Und dann hat er auf der Toilette abgezogen, als der Zug schon auf dem Bahnhof stand», sagte Emma und richtete die porzellanblauen Augen auf May. «Dafür kann man doch ins Gefängnis kommen, nicht wahr, Tante May?»

«Nicht, solange man unter sechzehn ist», erklärte Gaylord wichtig.

«Natürlich nicht.» Mummi lächelte David beruhigend zu. Er erwiderte ihr Lächeln nicht. Sie versuchte seinen Blick abzuschätzen. Er war bestenfalls kalt. Man konnte ihn auch feindselig nennen.

Jenny vertraute May an: «Er ist immer furchtbar aufgeregt, wenn er neue Menschen kennenlernen soll. Dann wird ihm schlecht. Und dann wirkt er so ablehnend. Aber er ist in Wirklichkeit gar nicht so.»

«Ich weiß, wie ihm zumute ist», sagte May.

«Ja?»

«Natürlich. Das machen wir alle durch. Mach dir keine Sorgen, Liebes.»

Jenny lächelte sie dankbar an. May sagte: «Beruhige dich. David soll meine Sorge sein.»

Nie hatte sie ein wahreres Wort gesprochen.

 

Nach dem Tee sagte Mummi: «Gaylord, ich glaube, Emma würde sich jetzt sicher gern auf dem Hof umschauen und sich die Tiere ansehen.»

«Möchtest du?» fragte Gaylord. Er hoffte auf ein Nein.

Doch Emma nickte und rutschte von ihrem Stuhl herunter. Sie gingen hinaus in den stillen Abend.

Es war eine undramatische, ländliche Szenerie. Ein weites, ebenes Flußtal, gesäumt von sanften Hügeln; ein Landstrich mit sumpfigen Wiesen, wo Trauerweiden sich über den Fluß neigten und die Pappeln am Abend ihre langen Schatten warfen, wo im Frühling der Hahnenfuß alles in fröhliches Gelb tauchte und spät im Jahr die Herbstzeitlosen wehmütig ihre fahlen Köpfe hängen ließen wie kränkelnde, vornehme Damen. Eine nicht gerade aufregende Landschaft. Die einzig aufregenden Dinge, die Gaylord einfielen, waren Heathcliff und die Alte Halle.

Die Alte Halle war im 18. Jahrhundert erbaut worden, im 19. hatte man keine Verwendung mehr für sie gehabt, und nun, im 20. Jahrhundert, begann sie langsam zu verfallen. Darum war Gaylord der Zutritt strengstens verboten, was ihn natürlich nicht davon abhielt, hinzugehen. Gaylords persönlicher Ehrenkodex gestattete ihm durchaus, einen verbotenen Ort aufzusuchen, vorausgesetzt, daß er, wenn man ihn später zur Rede stellte, alles ehrlich zugab und die Konsequenzen auf sich nahm. Aber es war sicherlich nicht ratsam, Emma an diesen geheimen Ort zu führen. Deshalb entschied er sich für Heathcliff.

Er ging voran bis zu der Viehweide, auf der Heathcliff regungslos stand und die träge schwelenden Gedanken eines Stieres dachte. Sie spähten durch das Gatter. «Er ist wahnsinnig wild», sagte Gaylord.

«Er sieht aber nicht wild aus», sagte Emma. «Nicht so wild wie ein Tiger.»

Gaylord war gekränkt. «Wetten, du hast noch nie einen Tiger gesehen.»

«Wetten, daß. Ganz, ganz viele. In Indien wimmelt es von Tigern.»

Gaylord kämpfte eine verlorene Schlacht. Wenn bereits Heathcliff verpufft war wie ein feuchtgewordener Knallfrosch, dann war kaum anzunehmen, daß die Kühe und Schafe ihr Bewunderungsschreie entlocken könnten.

«Na schön», sagte er, «aber ich wette, du würdest trotzdem nicht wagen, auf die Weide zu gehen.»

«Wetten, daß!» Und damit schickte sie sich an, über das Gatter zu steigen. Gaylord erschrak. Wenn Emma sich gleich am ersten Tag aufspießen ließ, dann war klar, wem sie hinterher die Schuld in die Schuhe schieben würden. Nicht etwa Emma. Auch Heathcliff nicht. Nein. Es wäre nur wieder ein weiterer Punkt, über den er und Mummi verschiedener Meinung sein würden.

Emma erkletterte unverdrossen weiter das Gatter. Sie zog ihren kurzen Rock hoch und setzte sich rittlings auf den Querbalken.

«Ich habe rosa Schlüpfer an», verkündete sie.

Rosa Schlüpfer ließen Gaylord kalt. «Heathcliff beobachtet dich», sagte er beklommen. Aber auch er ließ Emma nicht aus den Augen.

Emma rutschte an der anderen Seite herunter und tat ein paar Schritte auf der Weide. Heathcliff sah sie mit rotgeränderten, unheilverkündenden Augen an. Und dann trottete er langsam auf sie zu.

«Emma, komm zurück», schrie Gaylord.

«Du hast ja bloß Angst», sagte Emma.

Das war gewiß keine Übertreibung. Es war keine Zeit mehr, Hilfe zu holen. «Er ist drauf und dran, dich aufzuspießen», schrie Gaylord. «Komm zurück, Emma! Bitte!»

Emma blieb, wo sie war. Und da dachte Heathcliff plötzlich, ach, was soll’s, drehte ab und begann friedlich vor sich hin zu grasen. Gaylord sah das mit den gemischten Gefühlen der Erleichterung und der Verachtung.

Emma schaute noch einen Augenblick auf den Stier. Dann kletterte sie über das Gatter zurück. «Siehst du», sagte sie triumphierend. «Ich hab dir ja gleich gesagt, er ist nicht so wild wie ein Tiger.»

Gaylord begriff jetzt, was Opa meinte, wenn er sagte: «Trau nie einem Stier, mein Junge!» Heathcliff hatte ihn verraten, ihn dem Gegner ausgeliefert. Natürlich hatte Gaylord nicht gewollt, daß er seine kleine Kusine aufspießen sollte. Aber er hätte doch wenigstens so tun können als ob. So aber bestand kein Zweifel mehr, daß Emma die erste Runde nach Punkten gewonnen hatte, wenn nicht sogar mit einem klaren k.o. Gaylord niedergeschlagen.

Jetzt gab es nur noch eine interessante Sache: seinen Freund Willie.

Willies Ruhm beruhte auf dem Umstand, daß er nicht alle Tassen im Schrank hatte. Gaylord empfand das als einen besonders faszinierenden Zug an Willie. Und die Tatsache, daß Mummi, die nach Gaylords Meinung weder Tod noch Teufel fürchtete, vor Willie Angst zu haben schien, verlieh ihm eine ganz besondere Anziehungskraft. «Möchtest du meinen Freund Willie kennenlernen?» fragte er.

«Wie ist der?»

«Er hat nicht alle Tassen im Schrank, und ich habe gehört, wie Mummi zu Paps gesagt hat, er wäre ein poten … Dingsbums-Mörder.»

«O ja, bitte!» sagte Emma.

Doch als sie zum alten Steinbruch kamen, in dem Willie so mühelos wie die Bäume und Steine seine Zeit mit Nichtstun verbrachte, wurde Emma herb enttäuscht. Willie sah gar nicht aus wie ein poten … Dingsbums-Mörder. Seine Stimme war sanft, sein rundes, bleiches Gesicht so unschuldig wie der Vollmond. «Hallo, Gaylord», sagte er und lächelte freundlich.

«Hallo, Willie», sagte Gaylord. «Das ist Emma.»

Emma starrte Willie an. Willie schaute zu Boden und kratzte sich am rechten Bein. «Emma kommt aus Indien», erklärte Gaylord.

Das schien aber Willie nicht weiter zu beeindrucken. Er konzentrierte sich ganz darauf, sich am Bein zu kratzen. Gaylord erkannte, daß auch diese Begegnung ihm keinen Prestigeerfolg brachte.

«Wir müssen jetzt gehen, Willie», sagte er. «Zeit ins Bett zu gehen», setzte er dankerfüllt hinzu. Sie trollten sich.

«Ich denke, du hast gesagt, er wäre so wild», sagte Emma voller Verachtung.

«Manchmal ist er’s», sagte Gaylord. Es klang nicht sonderlich überzeugend. Er seufzte. Ihm war klar, daß die beiden nächsten Monate die reinste Hölle werden würden.

 

Alle waren insgeheim erleichtert, als der Nachmittagstee überstanden war. Gaylord und Emma waren verschwunden. May sagte: «Möchtest du mir helfen, Amanda zu baden, Jenny?»

Jenny strahlte. «O ja, bitte!» Jocelyn dachte bei sich: Für unverheiratete Mädchen bedeuten Nerze und Brillanten offenbar nichts im Vergleich mit dem Angebot, anderer Leute Babies zu baden. Er meditierte über die Eigentümlichkeiten der weiblichen Mentalität.

Opa steckte sich eine Zigarre an. Er heftete seinen bohrenden Blick auf David. «Soll ich dir die Farm zeigen, Junge?» bellte er.

«Vie … vielen Dank, gern», sagte David. Miene und Ton waren alles andere als enthusiastisch.

May warf Jenny einen fragenden Blick zu. Dann sagte sie: «Vielleicht möchte sich David lieber auf eigene Faust ein bißchen umsehen, Schwiegervater?»