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Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. Inge Schönfelder hatte den höchsten Punkt des Passes erreicht, von dem aus der Blick ins Wachnertal frei war. Die Dreiundvierzigjährige hatte ihr Auto, einen Audi, auf dem Parkplatz abgestellt und stand nun am Geländer der Aussichtsplattform, von der aus ein umfassender Blick ins Tal und über die umgebende Bergwelt möglich war. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, und das ganze Tal mit seinen drei Gemeinden lag unter einem flirrenden Hitzeschleier, der die Konturen verschwimmen ließ. Rund um das Tal zogen sich bewaldete Bergketten, dahinter erhoben sich die steinernen Riesen des Hochgebirges, deren Gipfel im Sonnenlicht regelrecht gleißten. Die Kachlach, die hoch oben beim Gletscher als schmales Rinnsal ihren Anfang nahm und sich auf spektakuläre Weise einen Weg ins Tal suchte, mutete an wie ein gewundenes grünes Band, das beim Achsteinsee endete, der sich wie ein überdimensionaler Smaragd aus dem dunklen Grün und dem erdigen Braun der übrigen Landschaft abhob. Inge nahm alles in sich auf, was sich ihrem Blick bot. Ihre Gedanken schweiften ab und kehrten in die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren zurück. Ein paar Tage, nachdem sie volljährig geworden war, hatte sie bei Nacht und Nebel St. Johann verlassen, um niemals mehr wieder den Ort, in dem sie geboren und aufgewachsen war, aufzusuchen. Zu bitter und schmerzlich war die Erinnerung an jene Zeit, als ihre Mutter gestorben und sie den Launen ihres trinkenden Vaters ausgesetzt gewesen war. Sie wollte nicht daran denken. Fünfundzwanzig Jahre lang war es ihr auch gelungen, die Gedanken an ihre Kindheit und die Jugendzeit zu verdrängen. Doch jetzt, da sie hier oben stand und den Schauplatz des Unrechts und der Demütigungen durch ihren Vater vor Augen hatte, stellten sie sich wieder ein, vereinnahmten ihr Denken und ließen sie nicht mehr los. Seufzend wandte sie sich ab und fragte sich, ob es vielleicht nicht besser gewesen wäre, in München zu bleiben und das Elternhaus in St. Johann, das nach dem Tod ihres Vaters vor einigen Wochen ihr Eigentum war, über einen Makler zu verkaufen. Einen Moment dachte sie sogar daran, ins Auto zu steigen, zu wenden und zurück nach München zu fahren. Sie würde als Fremde nach St. Johann zurückkehren, sich möglicherweise sogar durchsetzen und behaupten müssen, denn sie schloss nicht aus, dass man es ihr ankreidete, sich nie um ihren Vater gekümmert zu haben. Die wenigsten würden wissen, dass das Zusammenleben mit ihm für sie eine Tortur gewesen war und dass sie daran wahrscheinlich zerbrochen wäre, hätte sie nicht rechtzeitig die Reißleine gezogen. Nein, Inge, du kehrst nicht um, sondern stellst dich jedweder Herausforderung, dachte sie bei sich entschlossen.
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Seitenzahl: 135
Inge Schönfelder hatte den höchsten Punkt des Passes erreicht, von dem aus der Blick ins Wachnertal frei war. Die Dreiundvierzigjährige hatte ihr Auto, einen Audi, auf dem Parkplatz abgestellt und stand nun am Geländer der Aussichtsplattform, von der aus ein umfassender Blick ins Tal und über die umgebende Bergwelt möglich war.
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, und das ganze Tal mit seinen drei Gemeinden lag unter einem flirrenden Hitzeschleier, der die Konturen verschwimmen ließ. Rund um das Tal zogen sich bewaldete Bergketten, dahinter erhoben sich die steinernen Riesen des Hochgebirges, deren Gipfel im Sonnenlicht regelrecht gleißten. Die Kachlach, die hoch oben beim Gletscher als schmales Rinnsal ihren Anfang nahm und sich auf spektakuläre Weise einen Weg ins Tal suchte, mutete an wie ein gewundenes grünes Band, das beim Achsteinsee endete, der sich wie ein überdimensionaler Smaragd aus dem dunklen Grün und dem erdigen Braun der übrigen Landschaft abhob.
Inge nahm alles in sich auf, was sich ihrem Blick bot. Ihre Gedanken schweiften ab und kehrten in die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren zurück. Ein paar Tage, nachdem sie volljährig geworden war, hatte sie bei Nacht und Nebel St. Johann verlassen, um niemals mehr wieder den Ort, in dem sie geboren und aufgewachsen war, aufzusuchen. Zu bitter und schmerzlich war die Erinnerung an jene Zeit, als ihre Mutter gestorben und sie den Launen ihres trinkenden Vaters ausgesetzt gewesen war.
Sie wollte nicht daran denken. Fünfundzwanzig Jahre lang war es ihr auch gelungen, die Gedanken an ihre Kindheit und die Jugendzeit zu verdrängen. Doch jetzt, da sie hier oben stand und den Schauplatz des Unrechts und der Demütigungen durch ihren Vater vor Augen hatte, stellten sie sich wieder ein, vereinnahmten ihr Denken und ließen sie nicht mehr los.
Seufzend wandte sie sich ab und fragte sich, ob es vielleicht nicht besser gewesen wäre, in München zu bleiben und das Elternhaus in St. Johann, das nach dem Tod ihres Vaters vor einigen Wochen ihr Eigentum war, über einen Makler zu verkaufen.
Einen Moment dachte sie sogar daran, ins Auto zu steigen, zu wenden und zurück nach München zu fahren. Sie würde als Fremde nach St. Johann zurückkehren, sich möglicherweise sogar durchsetzen und behaupten müssen, denn sie schloss nicht aus, dass man es ihr ankreidete, sich nie um ihren Vater gekümmert zu haben. Die wenigsten würden wissen, dass das Zusammenleben mit ihm für sie eine Tortur gewesen war und dass sie daran wahrscheinlich zerbrochen wäre, hätte sie nicht rechtzeitig die Reißleine gezogen.
Nein, Inge, du kehrst nicht um, sondern stellst dich jedweder Herausforderung, dachte sie bei sich entschlossen. Du wirst kein weiteres Mal fliehen. Die Erinnerungen sind zwar schmerzlich, aber erträglich. Sie sind imaginär, dein Vater lebt nicht mehr, du hast nur noch die Bilder im Kopf. Niemand kann dir mehr wehtun.
Ein innerlicher Ruck, sie wandte sich ab, ging zu ihrem Auto zurück und fuhr hinab ins Tal. Vor dem Hotel stellte sie den Audi ab und ging hinein. Die Tür zum Gastzimmer war geöffnet, und Inge hörte Stimmengemurmel. Sie vermutete, dass einige Gäste dort ihr Mittagessen einnahmen. Im Biergarten herrschte ebenfalls Hochbetrieb. Inge war daran vorbeigefahren, ehe sie auf den Parkplatz eingebogen war.
An der Rezeption saß Susanne Reisinger, die älteste der drei Haustöchter, die von ihrem Vater, dem Reisinger-Sepp, so ziemlich alle Kompetenzen übertragen bekommen hatte und das Hotel führte. Er selbst war nur noch beratend tätig, griff aber auch ein, wenn Not am Mann war.
Inge grüßte. Susanne erwiderte freundlich und mit einem Lächeln den Gruß und schaute Inge fragend an. Die attraktive Dreiundvierzigjährige sagte: »Mein Name ist Schönfelder – Inge Schönfelder. Ich hab’ vor einigen Tagen per Internet ein Zimmer bei Ihnen gebucht.« Sie öffnete ihre Handtasche, um die Buchungsbestätigung herauszuholen, aber Susi winkte ab.
»Ich hab’ alles im Computer, Frau Schönfelder.« Ein paar Mausklicks, Susi nickte und sagte: »Da haben wir Sie ja schon. Zwei Wochen, Einzelzimmer, Halbpension.« Sie richtete den Blick auf Inge: »Herzlich willkommen in St. Johann und im Hotel ›Zum Löwen‹. Ich hoff’, Sie fühlen sich wohl bei uns und nehmen in zwei Wochen die besten Eindrücke mit nach Hause. Im Zimmer auf dem Tisch liegt eine Mappe, der können S’ alles entnehmen, was Sie wissen müssen. Frühstück gibt es ab sieben Uhr. Sollt’ irgendein Problem auftauchen, wenden S’ sich vertrauensvoll an mich oder eine meiner Schwestern.«
Inge nahm von Susi den Zimmerschlüssel in Empfang. »Danke. Mein Gepäck ist im Auto. Ich werd’s gleich holen.« Sie stutzte kurz. »Das Zimmer ist doch schon bezugsfertig?«, fragte sie dann.
»Natürlich. Stellen S’ das Gepäck einfach vor Ihr Auto hin, Frau Schönfelder. Ich sag meinem Verlobten Bescheid, dass er es zu Ihnen aufs Zimmer bringt. Es dauert nur ein paar Minuten …«
»Oh, das ist sehr freundlich«, erklärte Inge und lächelte. Sie erinnerte sich an die drei Töchter des Hoteliers. Als sie damals St. Johann verließ, waren es noch Kinder, Gitti, das jüngste der Kinder, fast noch ein Baby. Kaum anzunehmen, dass sich Susanne noch an sie, Inge, erinnerte. Möglicherweise kannte sie nicht einmal ihre Geschichte.
Inge begab sich nach draußen und hob zwei Reisetaschen aus dem Kofferraum des Audi, stellte sie auf den Asphalt und ging wieder ins Hotel, wo sie das ihr zugewiesene Zimmer in der ersten Etage aufsuchte. Alles hier war sauber und stilvoll eingerichtet. Inge öffnete das Fenster und schaute auf die Hauptstraße hinunter. Eisdielen, Cafés, Restaurants – alle mit einem Außenservicebereich ausgestattet – prägten das Bild. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße waren im alpenländischen Stil erbaut, fast alle wiesen kunstvolle Lüftlmalereien auf. Die Balkone und Giebelverkleidungen, die Fensterläden und verzierten Dachvorsprünge sowie die kunstvoll gearbeiteten Dachreiter waren aus Holz, an den Brüstungen der Balkone und auf den Fensterbänken blühten Geranien, farbige Petunien und andere bunte Balkonpflanzen um die Wette. Kein Vergleich mit München!
Als jemand an die Tür klopfte, wandte sie sich vom Fenster ab, durchquerte den Raum und öffnete. Vor ihr stand ein Mann Mitte dreißig, in jeder Hand eine ihrer Reisetaschen. »Ich bring’ Ihr Gepäck, Frau …«
»… Schönfelder.« Inge gab die Tür frei. »Bitte, stellen Sie’s einfach dort auf den Boden.« Sie wies auf den Platz zwischen Bett und Spiegelkommode. Susannes Verlobter erfüllte ihr den Wunsch, Inge bedankte sich und war gleich darauf wieder allein. Sobald sie ausgepackt und sich ein wenig frisch gemacht hatte, wollte sie ihr Elternhaus aufsuchen. Den Schlüssel hatte sie vom Nachlassverwalter, einem Rechtsanwalt, dessen Kanzlei sich in Garmisch befand, erhalten.
Sie war voll gemischter Gefühle. Freude darüber, nach fünfundzwanzig Jahren den Platz aufzusuchen, den sie einst geradezu fluchtartig verlassen hatte, konnte sie nicht empfinden. Zu schlecht waren die Erinnerungen, die sie an das Haus hatte. Ihr Vater war ein Tyrann gewesen, ihr Leben mit ihm die Hölle.
Mit ihrer Mutter war sie gut zurechtgekommen. Auch sie hatte in der letzten Zeit ihres Lebens unter dem Vater gelitten. Ihr Grab wollte Inge ebenfalls so bald wie möglich besuchen.
*
Eine halbe Stunde später verließ sie das Hotel. Langsam schlenderte sie durch St. Johann. Urlauber bevölkerten die Straße und die Außenservicebereiche der Lokalitäten. Es gab außerdem viele Geschäfte, die die verschiedensten Waren anboten. Ein einziger Glockenschlag der Kirchturmuhr verriet, dass es ein Uhr war.
Das Haus befand sich in einer Seitenstraße. Wider Erwarten vermittelte es von außen einen ordentlichen Eindruck. Natürlich war der Garten ziemlich verwildert, denn er war seit Monaten nicht mehr gepflegt worden. Die Fensterläden waren geschlossen. Die Blumenkästen am Balkon lagen brach.
Inge hatte keine Ahnung, wie ihr Vater die Jahre zwischen ihrer Flucht und seinem Tod verbracht hatte. Der Eindruck, den das Haus vermittelte, ließ darauf schließen, dass er es nicht hatte verwahrlosen lassen, was Inge aufgrund seiner übermäßigen Liebe zu hochprozentigen Spirituosen vermutet hatte.
Sie schloss die Haustür auf und trat in den Flur. Muffige, abgestandene Luft schlug ihr entgegen. Im Korridor war es dunkel. Die Türen, die in die verschiedenen Räume abzweigten, waren geschlossen. Auch die Treppe zum Obergeschoss lag in Dunkelheit.
Inge machte Licht. Jetzt konnte sie den Staub sehen, der den Fußboden und eine Kommode bedeckte, die an der Wand zwischen zwei Türen stand. Sie ging ins frühere Wohnzimmer. Die Einrichtung war noch dieselbe, die sie kannte. Auch hier der abgestandene Geruch und viel Staub. Alles war abgewohnt und heruntergewirtschaftet, und Inge war klar, dass sie Geld investieren musste, um das Haus für sich bewohnbar zu machen. Sie war über zwanzig Jahre mit einem wohlhabenden Architekten verheiratet gewesen und stellte gewissen Ansprüche an das Leben, so auch an eine angemessene Wohnkultur. Ihr Mann – fast fünfundzwanzig Jahre älter als sie – war vor zwei Jahren verstorben. Im selben Monat, in dem er in den Ruhestand gehen wollte, hatte er den Kampf gegen den Krebs verloren.
Nun, er hatte ihr genug hinterlassen, sodass sie sich finanziell gesehen keine Sorgen machen musste.
Nach und nach inspizierte Inge alle Räume des Hauses. Überall das gleiche Bild: Veraltete, ramponierte Möbel, Staub, muffiger Geruch. Schließlich betrat sie ihr früheres Zimmer. Auch da war alles noch so, wie sie es verlassen hatte. Sie ging zum Fenster und schaute hinunter in den Garten. Die Pergola, unter der ein Tisch und sechs Stühle gestanden hatten, war halb zusammengebrochen und mit wilden Rosenbüschen sowie Efeu eingewachsen.
Unvermittelt kam ihr Tobias Weinert in den Sinn. Er war drei Jahre älter als sie, und sie waren ein sehr verliebtes Paar gewesen. Oft, wenn ihr Vater unterwegs war oder seinen Rausch ausschlief, hatte Tobias sie besucht, und sie hatten unter dieser Pergola gesessen, sich geküsst und aufgepasst, dass Korbinian Waldburger, ihr cholerischer Vater, sie nicht erwischte.
Als sie in einer Nacht- und Nebelaktion nach einem bösen Streit mit ihrem Vater St. Johann verließ, hatte sie auch unter die Liebschaft mit Tobias einen Schlussstrich gezogen. Oft hatte sie sich gefragt, wie Tobias wohl reagiert haben mochte. Anfangs hatte sie es oft bereut, dass sie ihn von einem Tag auf den anderen verlassen hatte, ohne Ankündigung und ohne Auf Wiedersehen zu sagen. Viele Tränen waren deshalb bei ihr geflossen.
Er hätte sicher versucht, sie zum Bleiben zu bewegen, und möglicherweise hätte sie sich überreden lassen. Das Leben mit ihrem Vater aber war nicht mehr zu ertragen gewesen. Sie wäre früher oder später kaputtgegangen. Darum hatte sie alle Brücken hinter sich abgebrochen, war nach München gegangen und hatte dort ganz von vorne angefangen.
Was mochte aus Tobias geworden sein? Sicher war er verheiratet und hatte für Nachkommenschaft gesorgt. Zwei oder drei Kinder waren immer seine Wunschvorstellung gewesen. Inge hoffte für ihn, dass er die Frau fürs Leben gefunden hatte, mir der er seine Wünsche hatte erfüllen können.
Tja, sagte sie sich, es gibt viel zu tun. Als Erstes werd’ ich eine Firma beauftragen, die das Haus ausräumt, und dann werd’ ich mir überlegen, wie ich es so herrichten lass’, dass ich mich drin wohlfühl’. Das ganze alte Gerümpel muss raus. Zu viele Erinnerungen sind damit verbunden. Mehr schlechte als gute …
Sie verließ das Haus wieder und sperrte die Haustür sorgsam ab.
Während sie langsam zum Hotel zurückschlenderte, entschloss sie sich, mit dem Haus nichts zu überstürzen. Zuerst einmal wollte sie ein paar Tage der Ruhe hier in St. Johann genießen, und sie wollte all die Plätze aufsuchen, an denen sie sich als Kind und später dann als Heranwachsende wohlgefühlt hatte.
Für den folgenden Tag nahm sie sich vor, das Grab ihrer Mutter zu besuchen. Dass sie es ein Vierteljahrhundert nicht gesehen hatte, fand sie nicht schlimm. Sie hatte ihre Mutter stets in ihrem Herzen getragen und die Erinnerung an sie immerzu aufrechterhalten.
Im Großen und Ganzen hatte sich St. Johann kaum verändert. Es gab ein paar Geschäfte, die es damals noch nicht gegeben hatte, auch einige Gastronomiebetriebe waren neu, auf den ersten Blick aber war alles noch so wie damals.
Sie betrat das Hotel. An der Rezeption stand ein Paar und sprach mit Susi. Inge setzte sich in einen der Sessel, von denen zwei bei einem kleinen runden Tisch in einer Ecke beim Empfang standen. Das Paar, das mit Susi gesprochen hatte, bedankte sich und strebte dem Ausgang zu. Susi kam zu Inge, lächelte und fragte: »Na, Frau Schönfelder, haben S’ sich ein bissel in unserem Ort umgeschaut? Wie gefällt’s Ihnen denn bei uns?«
Inge schien kurz nachzudenken, kam zu einem Schluss und sagte: »Ich kenne St. Johann sehr, sehr gut. Ich bin hier aufgewachsen und hab’ bis vor etwas fünfundzwanzig Jahren hier gelebt.«
Die Überraschung stand Susanne ins Gesicht geschrieben. »Sie stammen von hier? Vor fünfundzwanzig Jahren bin ich ja schon zur Schule gegangen. Ich kann mich aber net an Sie erinnern. Bitte, Frau Schönfelder, helfen S’ mir auf die Sprüng’. Ich hab’ wirklich keine Ahnung.«
»Mein Mädchenname ist Waldburger«, erwiderte Inge. »Der Korbinian Waldburger war mein Vater.«
Der überraschte Ausdruck in Susannes Miene machte dem einer tiefen Betroffenheit Platz. »Sie – Sie sind die Tochter vom Korbinian?«, platzte sie bestürzt heraus. »Es hat immer geheißen, Sie hätten Deutschland verlassen. Als der Korbinian gestorben ist, hat man versucht, Sie ausfindig zu machen. Das hat sich jedenfalls im Ort so herumgesprochen.«
»Man hat mich ausfindig gemacht«, erklärte Inge. »Die Geschichte von mir und meinem Vater ist keine schöne, und ich will auch gar net drüber sprechen. Ich hab’ mir das Haus angeschaut, das ich fünfundzwanzig Jahre nimmer betreten hab’. Es gehört jetzt mir. Ich werd’s herrichten lassen und dann hier wohnen.«
Susanne stellte keine weiteren Fragen. Als Korbinian Waldburger in der Bergklinik verstorben war, hatte man sich im Ort einige unschöne Geschichten über ihn erzählt, die aber viele Jahre zurücklagen. In den letzten Jahren war es ruhig um ihn geworden. Er hatte total zurückgezogen gelebt, keine Kontakte gepflegt und war als einsamer Mann gestorben. Auch von seiner Tochter Inge war die Rede gewesen, die seinen Terror nicht mehr ertragen hatte und geflohen war. Nach der Beerdigung war Korbinian Waldburger für die Menschen in St. Johann wieder uninteressant geworden, und das Gerede war sehr schnell verstummt.
»Dazu kann man Sie nur beglückwünschen, Frau Schönfelder«, sagte Susanne. Sie spielte auf Inges Äußerung an, künftig in St. Johann leben zu wollen.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Frau Reisinger?«
»Bitte, nennen S’ mich Susanne oder Susi. Die Anrede ›Frau Reisinger‹ ist so ungewohnt für mich. Natürlich nur, wenn’s Ihnen nix ausmacht, Frau Schönfelder.«
»Warum sollte es? Sagen S’ Inge zu mir, Susi.«
»Gern. Was haben S’ denn für eine Frage, Inge?«
Inge lächelte verlegen. »Es hat mal einen Burschen hier im Ort gegeben, in den ich als junges Madel unsterblich verliebt war. Mich würd’ interessieren, was aus ihm geworden ist.«
»Würden S’ mir seinen Namen nennen, Inge?«
»Es handelt sich um den Weinert-Tobias«, sagte Inge.
Ein Schatten schien sich auf Susannes Gesicht zu legen. Sie zeigte alle Anzeichen von Bestürzung. Inge, der es nicht entging, fragte: »Ist etwas mit dem Tobias? Sie wirken regelrecht erschrocken, Susi. Ist er etwa …«
Alles in Inge sträubte sich dagegen, die Frage, ob er etwa nicht mehr lebte, auszusprechen. Das Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals hinauf. Mit geradezu hypnotischer Intensität starrte sie Susanne an. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Der Tobias ist vor ungefähr zwanzig Jahren bei der Waldarbeit schwer verunglückt«, murmelte Susi etwas bedrückt. »Die Ärzte in der Bergklinik haben tagelang um sein Leben gekämpft …«
Sie brach ab, weil sich Inges Augen mit Tränen füllten. Ihre Gefühle überwältigten sie, mit brüchiger Stimme entrang es sich ihr: »Er ist tot, wie?«
»Nein. Sie haben ihn durchgebracht. Allerdings sitzt er seitdem im Rollstuhl. Er hat eine Querschnittslähmung und lebt im Haus seiner Eltern. Das Madel, mit dem er damals befreundet war, hat ihn verlassen. Der Tobias hat nach dem Unfall umgeschult und hat jetzt beim Wasserwirtschaftsamt einen Bürojob. Er fährt Auto und macht viel auf dem Gebiet des Behindertensports. Er hat sich net unterkriegen lassen. Dennoch ist er in einem gewissen Maß auf die Hilfe seiner Eltern angewiesen.«
»Gütiger Gott«, murmelte Inge mit versagender Stimme, »das – das ist ja … Querschnittgelähmt! An den Rollstuhl gefesselt! Ausgerechnet der Tobias, der immer so aktiv war. Ich kanns net fassen.«
»Wie ich schon gesagt hab’«, gab Susanne zu verstehen, »er hat sich net verkrochen. Das einzige Handicap bei ihm ist, dass er net laufen kann. Ansonsten ist er ziemlich selbstständig und immer bestrebt, so gut wie möglich allein zurechtzukommen. Er sagt, trotz seiner Behinderung, Ja zum Leben.«