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Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. Es war an einem Montagmorgen, als Sophie Tappert, die gute Seele des Pfarrhauses, in der Bäckerei Terzing erschien, um die Frühstückssemmeln für Pfarrer Trenker und ein Brot zu kaufen. »Guten Morgen, allseits«, grüßte Sophie, denn außer der Frau des Bäckermeisters, die für den Verkauf im Laden zuständig war, waren noch zwei Kundinnen anwesend. »Guten Morgen, Frau Tappert«, kam es mehrstimmig zurück. Und die Bäckermeistersfrau fragte: »Das Wochenende gut überstanden, Frau Tappert?« »Ja, ja«, antwortete Sophie. »Ich kann net klagen. Ich hoff' von Ihnen dasselbe.« »Der Sonntag ist eigentlich der einzige Tag, an dem wir uns ein bissel ausruhen können«, erklärte Frau Terzing. »Leider geht der Tag immer viel zu schnell vorbei. In der Früh steht man auf, frühstückt in aller Ruhe, und dann lässt man den lieben Gott einen guten Mann sein. Bis man aber schaut, ists schon wieder Abend, und man geht früh zu Bett, weil man ja sehr, sehr früh wieder aus den Federn muss.« »Ich fühl' mit Ihnen«, sagte eine junge, hübsche Frau lachend. Auch die Bäckermeistersfrau lachte. »Ich weiß schon, Anni. Ich seh' dir's an: Du zerfließt regelrecht vor Mitleid.
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Seitenzahl: 130
Es war an einem Montagmorgen, als Sophie Tappert, die gute Seele des Pfarrhauses, in der Bäckerei Terzing erschien, um die Frühstückssemmeln für Pfarrer Trenker und ein Brot zu kaufen.
»Guten Morgen, allseits«, grüßte Sophie, denn außer der Frau des Bäckermeisters, die für den Verkauf im Laden zuständig war, waren noch zwei Kundinnen anwesend.
»Guten Morgen, Frau Tappert«, kam es mehrstimmig zurück. Und die Bäckermeistersfrau fragte: »Das Wochenende gut überstanden, Frau Tappert?«
»Ja, ja«, antwortete Sophie. »Ich kann net klagen. Ich hoff’ von Ihnen dasselbe.«
»Der Sonntag ist eigentlich der einzige Tag, an dem wir uns ein bissel ausruhen können«, erklärte Frau Terzing. »Leider geht der Tag immer viel zu schnell vorbei. In der Früh steht man auf, frühstückt in aller Ruhe, und dann lässt man den lieben Gott einen guten Mann sein. Bis man aber schaut, ists schon wieder Abend, und man geht früh zu Bett, weil man ja sehr, sehr früh wieder aus den Federn muss.«
»Ich fühl’ mit Ihnen«, sagte eine junge, hübsche Frau lachend.
Auch die Bäckermeistersfrau lachte. »Ich weiß schon, Anni. Ich seh’ dir’s an: Du zerfließt regelrecht vor Mitleid. Tatsächlich aber willst du zum Ausdruck bringen, dass uns jeder Handgriff ein paar Cent einbringt. Es stimmt schon. An jeder Semmel, die wir verkaufen, verdienen wir ein bissel was. Aber du gehst auch net umsonst arbeiten. Oder kriegst du kein Geld für deine Arbeit? Gehst du aus Spaß an der Freud jeden Nachmittag und Abend und das ganze Wochenende zum ›Brunnerwirt‹ und bedienst seine Gäste?«
»So amüsant ist der Job auch wieder net, dass ich ihn für lau machen würd’«, versetzte die junge Frau, seufzte und fügte nicht mehr lächelnd hinzu: »Das ist halt mal so: Jeder von uns muss was tun für sein Geld. Von nix kommt nämlich nix.«
»Ja, mei, damit muss man leben, und daran wird sich auch niemals etwas ändern«, bestätigte Sophie Tappert. »Jeder muss schauen, wo er bleibt. Geschenkt wird einem nix.« Sie forschte kurz in Anni Eisenreichs Gesicht, dann sagte sie: »Du schaust auch ein bissel mitgenommen aus, Madel. Habt ihr denn so viel zu tun beim ›Brunnerwirt‹? Na ja, dass der ›Brunnerwirt‹ ein Geheimtipp unter unseren Landgasthöfen ist, das ist ja bekannt, aber die Hauptsaison ist ja noch gar net mal richtig in Fahrt gekommen.«
Tatsächlich wirkte die Dreiunddreißigjährige etwas blass und ausgelaugt. »Ich muss öfter mal nach der Tante Marie-Luise drüben in Engelsbach schauen«, erzählte sie. »Sie geht auf die siebzig zu und kann nimmer so recht. Sie wissen ja, dass sie dieses riesige Grundstück besitzt. Außerdem gibts auch in ihrem Haus einiges zu tun. Das alte Weibl kommt alleine nimmer rum, und außer mir hat die Tante ja niemand, der ihr ein bissel zur Hand gehen kann.«
In dem Moment betrat Maria Erbling, die Witwe des früheren Postdienststellenleiters, den Laden. In das Bimmeln der Türglocke hinein grüßte sie: »Ich wünsch’ einen wunderschönen guten Morgen allseits und hoff’, dass alles gesund und munter ist.«
Sophie Tappert und Frau Terzing wechselten einen Blick, und Sophie verdrehte leicht die Augen. Maria war die Dorftratsche schlechthin. Wenn man wollte, dass etwas an die große Glocke gehängt wurde, musste man es nur der Erbling-Maria unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen. Sie wusste fast über jeden etwas zu berichten und wurde auch niemals müde, ihr angebliches Wissen weiterzugeben. Dass dabei oftmals aus der Mücke ein Elefant wurde, nahm sie billigend in Kauf.
Wenn sie die Möglichkeit hatte, ging die Pfarrhaushälterin der redseligen Dame aus dem Weg. Wobei Sophie zugeben musste, dass sie aus dem Mund der Maria auch schon Dinge erfahren hatte, die von Interesse gewesen waren und Pfarrer Trenker hatten aktiv werden lassen.
»Wer kommt nimmer alleine rum?«, fragte Maria jetzt. »Wem musst du zur Hand gehen, Anni?« Sie hatte die letzten Worte der jungen Frau aufgeschnappt und hakte sofort nach.
Die andere Frau, die zusammen mit Anni schon in der Bäckerei gewesen war, als Sophie ankam, beantwortete die Frage: »Es geht um die Schuirer-Marie-Luise aus Engelsbach. Die kennen S’ doch sicherlich, Frau Erbling. Das Riesengrundstück, das sie besitzt, und das Haus – das scheint ihr alles über den Kopf zu wachsen. Na ja, wär’s ein Wunder? Die Marie-Luise ist neunundsechzig, und ihre Enkelin kann net jedes Wochenende von Berlin herunterkommen, um den Rasen zu mähen oder am Haus was zu renovieren.«
»Natürlich kenn’ ich die Marie-Luise«, erwiderte die Erbling-Maria. »Gesehen hab’ ich sie allerdings schon eine ganze Ewigkeit nimmer. Ja, das kann ich mir vorstellen. Der Garten, den sie besitzt, der ist ja größer als ein Acker. Und das Haus! Ich glaub’, da sind insgesamt drei Wohnungen drin. Nix ist bewohnt, außer die paar Räum’ im Erdgeschoss, in denen die Marie-Luise haust. Ich an ihrer Stell’ wär’ schon lang ins Altersheim oder ins betreute Wohnen gegangen.«
»So schlecht fühlt sie sich halt auch wieder net«, erwiderte Anni. »Die Arbeit am Haus und im Garten wird ihr ein bissel zu viel. Sie hat mit meiner Mutter drüber gesprochen, als die sie vor einiger Zeit besucht hat, und seitdem fahr’ ich halt in der Woche drei- oder viermal nach Engelsbach und erledig’ das, was die Tante net geschafft hat.«
»Besucht die Karina ihre Großmutter eigentlich manchmal?«, fragte Frau Terzing.
»Ja, ein paar Mal im Jahr, zu Weihnachten, zu Ostern, zum Geburtstag der Tante, und ein- oder zweimal auch ohne besonderen Grund«, antwortete Anni. »Aber wenn sie da ist, dann will die Tante auch net, dass sie von früh bis spät im Garten oder in einer der Wohnungen herumwerkelt.«
»Wie gehts denn der Karina überhaupt?«, fragte Sophie. »Sie ist doch damals der Liebe wegen nach Berlin gegangen. Man hat kaum noch was gehört von ihr.«
Die Frage war an Anni gerichtet. »Die Sache mit dem Schubert-Andreas, der ihr damals den Kopf verdreht hat, ist nach zwei Jahren in die Brüche gegangen«, antwortete Anni. »Aber die Karin hat ihren guten Job in Berlin net aufgeben wollen, und drum ist sie dortgeblieben. Wie’s zu dem Bruch zwischen ihr und dem Schubert gekommen ist, weiß ich auch net so genau. So viel mir die Tante erzählt hat, war der Schubert net der, für den ihn die Karina gehalten hat. Sie war halt blind vor Liebe, und in Berlin sind ihr nach zwei Jahren die Augen aufgegangen. Wie’s halt oft so ist.«
Frau Terzing reichte Anni in einer Papiertasche ihre Einkäufe und nannte ihr den Betrag, den sie zu zahlen hatte. Anni Eisenreich beglich die Rechnung, wünschte allseits einen schönen Tag und verließ die Bäckerei.
»Was wünschen Sie denn, Frau Bretschneider?«, fragte die Bäckermeisterfrau die andere Kundin, die nach Anni an die Reihe kam.
Die Erbling-Maria richtete den Blick auf Sophie. »So ists halt, wenn man alt wird, nimmer kann und die Kinder irgendwo in der Welt verstreut sind. Da ist man als alter Mensch ganz schön aufgeschmissen.«
»Man darf das net verallgemeinern, Frau Erbling«, antwortete Sophie.
»Dennoch ists tragisch, wenn ein alter Mensch wie die Marie-Luise seinen Lebensabend allein und einsam verbringen muss und darauf angewiesen ist, dass sich jemand erbarmt, der ihr wenigstens ein bissel zur Hand geht.« Die Erbling-Maria machte ein Gesicht, als wäre sie die Betroffene.
Die Frau, die nach Anni Eisenreich an der Reihe gewesen war, brauchte nur ein Brot. Frau Terzing gab es ihr und nahm das Geld dafür, dann schaute sie Sophie an: »Das Gleiche wie jeden Tag, Frau Tappert?«, fragte sie und lächelte. Sie wusste, dass es Sophie kaum erwarten konnte, den Fängen der personifizierten Klatschpresse St. Johanns zu entkommen.
»Ja, ja, das Gleiche wie jeden Tag«, antwortete Sophie etwas geistesabwesend. Was sie eben über die Schuirer-Marie-Luise aus Engelsbach gehört hatte, beschäftigte sie.
*
Zurück im Pfarrhaus deckte sie den Tisch für den Pfarrer, setzte Kaffee auf und kochte ein Ei. Ein Blick auf den Regulator an der Wand, dessen Pendel mit leisem Ticken in einem immer gleichen Rhythmus hin und her schwang, sagte ihr, dass die Morgenmesse in wenigen Minuten zu Ende sein und wenig später Pfarrer Trenker erscheinen würde.
Tatsächlich verkündete wenig später das Läuten der Kirchenglocke das Ende der Messe, und kurz darauf betrat auch Sebastian das Pfarrhaus. Sophie streckte den Kopf zur Küchentür heraus. Ein Morgengruß erübrigte sich, denn sie hatten sich schon getroffen und gegrüßt, ehe der Pfarrer hinüber in die Kirche gegangen war, um die Morgenandacht zu halten. »Gehen S’ nur gleich ins Esszimmer, Hochwürden«, sagte die mütterliche Haushälterin. »Es steht schon alles bereit für Ihr Frühstück. Und den Kaffee bring’ ich auch gleich.«
»Immer mit der Ruhe, Frau Tappert«, gab Sebastian zu verstehen. »Uns läuft nix davon. Wie heißt’s so treffend: Die Ruhe sei dem Menschen heilig, nur die Verrückten haben’s eilig.«
»Da ist was dran«, gab Sophie lächelnd zu und verschwand wieder in der Küche.
Sebastian zog seine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe, begab sich ins Esszimmer und nahm Platz. Die frischen Semmeln dufteten verführerisch. Sophie hatte Schinken und Käse auf einen Teller drapiert, außerdem standen da Butter und selbst eingekochte Marmelade von Früchten aus dem Pfarrgarten. Das weiche Ei befand sich in einem Eierbecher aus Porzellan. »Da weiß man ja gar net, wo man zuerst hinlangen soll«, murmelte Sebastian vor sich hin, griff nach einer der Semmeln, die Sophie schon aufgeschnitten hatte, und begann sie dünn mit Butter zu bestreichen. Er hatte sich für die Konfitüre entschieden …
Sophie brachte den Kaffee und goss das Haferl voll, das der Pfarrer immer benutzte. »Die Eisenreich-Anni hab’ ich getroffen«, berichtete die Haushälterin. »Das Madel hat mir erzählt, dass es ungefähr drei- bis viermal während der Woche nach Engelsbach zur Schuirer-Marie-Luise hinausfährt, um ihr ein bissel zur Hand zu gehen. Die Marie-Luise kann nimmer so recht. Wie Sie ja wissen, Hochwürden, besitzt sie den riesigen Garten und das große Haus, und um alles in Schuss zu halten, muss man schon zupacken können. Am Zupacken hapert’s allerdings bei dem alten Weibl. Das ist halt ein Kreuz, wenn man alt wird. Dann kann man einfach keine Bäum’ mehr ausreißen.«
Die Aufmerksamkeit Sebastians war geweckt. »Ich kenn’ die Marie-Luise gut«, sagte er. »Ihre Enkelin, die Karina, ist doch vor ungefähr drei Jahren nach Berlin gegangen. Ich hab’ allerdings noch nix davon gehört, dass die Marie-Luise ein Problem damit hätt’, ihren Garten und das Haus zu richten.«
»So was kann sich im Alter schnell ändern, Hochwürden. Man verliert an Kraft, ist nimmer gut auf den Beinen, und jeden Tag drückt ein anderes Zipperlein. Ich merk’s ja selber schon manchmal. Und ich bin um einiges jünger als die Marie-Luise.«
»Das Alter lügt halt net«, murmelte Sebastian, dann frühstückte er. Sein Gesichtsausdruck verriet Nachdenklichkeit. Ehe er sich in sein Büro begab, sagte er zu Sophie: »Ich werd’ mal mit dem Kollegen Eggensteiner in Engelsbach reden. Vielleicht hat der eine Idee, wie man der Marie-Luise ein bissel unter die Arme greifen kann.«
»Ich hab’ mich also net getäuscht«, versetzte Sophie lächelnd, »als ich die ganze Zeit über, in der Sie gefrühstückt haben, das Gefühl gehabt hab’, dass Sie über irgendetwas nachgrübeln, Hochwürden.«
»So was beschäftigt mich natürlich, Frau Tappert. Würd’ die Marie-Luise in meiner Gemeinde wohnen, könnt’ ich ihr ein paar kräftige Burschen schicken, die ihren Garten und das Haus auf Vordermann brächten. Da die Marie-Luise jedoch zur Pfarrgemeinde St. Anna gehört, will ich net über den Kopf meines Priesterkollegen hinweg was in die Wege leiten.«
Sophie verzog das Gesicht. »Wie ich den Pfarrer Eggensteiner kenn’, Hochwürden, wird er Ihnen klarzumachen versuchen, dass eine fast Siebzigjährige nimmer so sehr auf weltliche Werte fixiert sein, sondern lieber für ihr Seelenheil sorgen sollt’. Schließlich wär’s ja nur noch eine Frage der Zeit, bis sie Rechenschaft über ihr Leben abzugeben habe.«
Sebastian lachte. »Ich merk’s schon, Frau Tappert. Mein Kollege Eggensteiner genießt bei Ihnen ungefähr das gleiche Ansehen wie unser verehrter Bürgermeister.«
»Der Bruckner …« Sophie winkte ab, als fände sie es nicht für notwendig, über den Gemeindevorsteher irgendwelche Worte zu verlieren. Dennoch ließ sie sich zu einer Stellungnahme herab: »Der wird auch net gescheiter. Wenn er nur endlich mal aus seinen Fehlern lernen würd’. Aber das ist das Problem bei ihm. Wie soll einer, der davon überzeugt ist, keine Fehler zu machen, je aus seinen Fehlern lernen?«
»Heut’ gehen S’ aber wieder hart mit dem Markus ins Gericht, Frau Tappert«, schmunzelte der Pfarrer. »Sind S’ etwa mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden?«
»Ich hab’ nix gegen den Bruckner-Markus«, erwiderte Sophie. »Als Bürgermeister könnt’ ich ihn aber hin und wieder ansatzlos auf den Mond schießen.«
»Er kann halt net aus seiner Haut, der Markus«, ergriff Sebastian für das Gemeindeoberhaupt Partei. »Ebenso wenig wie der Blasius Eggensteiner. Man muss sie halt nehmen, wie sie sind.«
»Das ist oft net so einfach«, erwiderte Sophie. »Brauchen S’ noch irgendetwas, Hochwürden? Reicht der Kaffee?«
»Alles bestens, Frau Tappert. Ich trink’ jetzt das Haferl leer, und dann geh’ ich an die Arbeit.«
Tatsächlich betrat er wenig später sein Arbeitszimmer. Ehe er den Computer einschaltete und hochfuhr, nahm er das Telefon. Die Nummer seines Priesterkollegen Eggensteiner hatte er im digitalen Telefonbuch gespeichert. Er rief in Engelsbach an. Das Freizeichen ertönte einige Male, dann erklang eine dunkle Stimme: »Guten Morgen, Herr Kollege. Ich komm’ gerade von der Frühmesse. Was haben S’ denn auf dem Herzen? So früh’ rufen S’ im Normalfall ja net an. Also muss es was Besonderes sein, das Sie mir zu sagen haben.«
»Es hat sicher seinen Grund, Herr Kollege«, erklärte Sebastian, »ist aber nix Weltbewegendes. Es geht um die Schuirer-Marie-Luise.«
»Was ist denn mit der? Ich vermiss’ sie seit Längerem bei der Frühmess’. Dabei wär’s in ihrem Alter schon sehr wichtig, dass sie sich um ihr Seelenheil kümmern würd’. Mit jedem Tag wird die Zeit, die ihr noch verbleibt, knapper.«
»Ich denk’, Herr Kollege, dass sich die Marie-Luise wegen ihres Seelenheils keine Gedanken machen muss«, versetzte Sebastian. »Sie hat ihr Leben lang nix Unrechtes getan. Dass sie nimmer jeden Tag zur Morgenandacht kommt, ist vielleicht dem Umstand zuzurechnen, dass sie ein bissel viel um die Ohren hat und eh net weiß, wo sie zuerst hinlangen soll. Schließlich ist sie auch nimmer die Jüngste.«
Den Hinweis, dass die Zeit der Marie-Luise auf Erden immer knapper wurde, wollte er gar nicht kommentieren. Mit neunundsechzig Jahren musste man seiner Meinung nach nicht ans Sterben denken, wenn man auf einen vernünftigen Lebenswandel zurückblicken konnte.
»Worauf wollen S’ denn hinaus, Herr Kollege?«, fragte Eggensteiner. »Wenn Sie so reden, haben S’ meistens irgendwas in petto, das mich ganz und gar net begeistert. Also raus mit der Sprache: Was ist mit der Marie-Luise, weil S’ mich ihretwegen kontaktieren?«
»Das Haus und der Garten werden zu viel für das alte Weibl«, antwortete Sebastian. »Ein paar Mal in der Woche kümmert sich die Anni Eisenreich, ihre Nichte, um sie, aber die Anni muss selbst arbeiten gehen, und ihre eigenen Eltern sind in Marie-Luises Alter. Ich will damit sagen, dass die auch nimmer so können, wie’s vielleicht gerne möchten, und auf die Hilfe ihrer Tochter angewiesen sind.«
»Jetzt muss ich aber dumm fragen, Herr Kollege«, sagte Blasius Eggensteiner. »Erwarten S’ vielleicht, dass ich den Rasen der Marie-Luise mäh’ oder das Holz an ihrem Haus streich’?«
»Natürlich erwart’ ich das net von Ihnen, Kollege«, versetzte der Bergpfarrer und begann schon zu bereuen, überhaupt angerufen zu haben. Sophies Äußerungen über Blasius Eggensteiner kamen ihm in den Sinn. Seine Haushälterin hatte wieder einmal recht behalten. »In Engelsbach habt ihr doch auch einige Vereine, in denen junge Leut’ organisiert sind«, fuhr er fort. »Wenn ich richtig informiert bin, betreuen doch Sie sogar zwei dieser Vereine. Könnten S’ net ein paar der jungen Burschen veranlassen, sich ein bissel der alten Dame anzunehmen und ihr zur Hand zu gehen?«