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Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. Die zweiundzwanzigjährige Melina Bienapfl war voller Vorfreude. Innerhalb der nächsten zwei Stunden, vielleicht schon innerhalb der nächsten Stunde, würde Tobias sie in die Arme schließen! Ihr Herz schlug höher beim Gedanken daran. Die Überraschung, wenn sie unvermittelt vor ihm stand, würde perfekt sein. Die nächsten zwei Wochen würden ihr und ihm gehören. Sie schaute sich um. In dem dreiviertel Jahr, das vergangen war, seit sie hier Urlaub gemacht hatte, hatte sich in St. Johann nichts verändert. Wie eine endlose Kuppel spannte sich ein blauer Himmel über dem Wachnertal, und die Berge ringsum schienen ihn zu tragen. Als sie im vergangenen Jahr mit Tobias einige dieser Berge erstiegen hatte, war das Gefühl, dem Himmel ganz nahe zu sein, überwältigend gewesen. Unter dem einen oder anderen Gipfelkreuz hatte sie in seinen Armen gelegen, getragen von den rosaroten Wolken der Glückseligkeit. Melina begann zu träumen. Sie nahm nicht wahr, was um sie herum geschah. Erst, als jemand ihren Namen rief, wurde sie aus ihrer Versunkenheit gerissen, und sie drehte sich zu dem Rufer – besser gesagt der Ruferin – um. Es war Susanne Reisinger, die in der Eingangstür des Hotels ›Zum Löwen‹ stand und über das ganze Gesicht lachte. »Ich hab' Sie vorfahren sehen, Melina, und mir gedacht, ich helf' Ihnen beim Koffertragen.« »Hallo, Susanne!«, rief Melina. »Als ich mich eben umgesehen habe, bin ich ein bisschen ins Träumen gekommen. Ich habe das Gefühl, dass seit meinem letzten Urlaub hier nicht nur ein dreiviertel Jahr, sondern eine ganze Ewigkeit verstrichen ist.«
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Seitenzahl: 133
Die zweiundzwanzigjährige Melina Bienapfl war voller Vorfreude. Innerhalb der nächsten zwei Stunden, vielleicht schon innerhalb der nächsten Stunde, würde Tobias sie in die Arme schließen!
Ihr Herz schlug höher beim Gedanken daran. Die Überraschung, wenn sie unvermittelt vor ihm stand, würde perfekt sein. Die nächsten zwei Wochen würden ihr und ihm gehören.
Sie schaute sich um. In dem dreiviertel Jahr, das vergangen war, seit sie hier Urlaub gemacht hatte, hatte sich in St. Johann nichts verändert. Wie eine endlose Kuppel spannte sich ein blauer Himmel über dem Wachnertal, und die Berge ringsum schienen ihn zu tragen. Als sie im vergangenen Jahr mit Tobias einige dieser Berge erstiegen hatte, war das Gefühl, dem Himmel ganz nahe zu sein, überwältigend gewesen. Unter dem einen oder anderen Gipfelkreuz hatte sie in seinen Armen gelegen, getragen von den rosaroten Wolken der Glückseligkeit.
Melina begann zu träumen. Sie nahm nicht wahr, was um sie herum geschah. Erst, als jemand ihren Namen rief, wurde sie aus ihrer Versunkenheit gerissen, und sie drehte sich zu dem Rufer – besser gesagt der Ruferin – um.
Es war Susanne Reisinger, die in der Eingangstür des Hotels ›Zum Löwen‹ stand und über das ganze Gesicht lachte. »Ich hab’ Sie vorfahren sehen, Melina, und mir gedacht, ich helf’ Ihnen beim Koffertragen.«
»Hallo, Susanne!«, rief Melina. »Als ich mich eben umgesehen habe, bin ich ein bisschen ins Träumen gekommen. Ich habe das Gefühl, dass seit meinem letzten Urlaub hier nicht nur ein dreiviertel Jahr, sondern eine ganze Ewigkeit verstrichen ist.«
Melina sprach perfektes Hochdeutsch. Sie kam aus Hannover.
»Ja«, pflichtete ihr Susanne bei, »manchmal scheint die Zeit geradezu stillzustehen. Aber das ist alles nur der Ungeduld geschuldet, die einen erfüllt, wenn man sich auf irgendein Ereignis ganz besonders freut. Als ich noch ein kleines Madel war und am Heiligen Abend auf die Bescherung gewartet hab’, hatt’ ich immer das Gefühl, jemand hätte die Zeit angehalten. Wenn man hingegen die älteren Leut’ hört, die eigentlich auf nix mehr warten – für die verfliegt die Zeit nur so.«
»Bis es bei uns mal so weit ist, fließt noch viel Wasser die Kachlach hinunter«, versetzte Melina lächelnd, öffnete die hintere Tür ihres VW Golf und hob eine große Reisetasche heraus.
»Kann ich helfen?«, fragte Susanne.
»Es geht schon«, erwiderte Melina. »Ich habe, als ich durch den Ort gefahren bin, schon eine Menge Touristen gesehen. Die Saison hat hier wohl schon begonnen?«
»Nach Ostern gehts in der Regel los. Das Wetter spielt auch mit. Jetzt sind’s allerdings hauptsächlich Tagesausflügler, die vormittags kommen, sich alles anschauen und am späten Nachmittag wieder heimfahren. Aber Sie haben recht, Melina, die ersten Urlauber sind bereits da.«
Die Reisetasche besaß Rollen, und neben den beiden Stufen beim Eingang des Hotels gab es eine Rampe, sodass Melina das ziemlich schwere Gepäckstück nicht tragen musste.
Susanne begab sich hinter die Rezeption und erstellte auf dem Computer Melinas Anmeldung. Dann sagte sie: »Ich geb’ Ihnen wieder das Zimmer, das Sie auch im vergangenen Sommer hatten. Ich denk’ das ist in Ihrem Sinn.«
»Prima«, freute sich Melina. »Man hat vom Fenster aus einen wunderbaren Rundblick und sieht viel von den Bergen.«
Susanne gab ihr den Schlüssel. »Dann bleibt es mir nur, Sie herzlich willkommen zu heißen in St. Johann, namentlich im Hotel ›Zum Löwen‹, und Ihnen einen schönen und erholsamen Aufenthalt zu wünschen.«
»Danke«, erwiderte Melina und nahm den Schlüssel. »Ich will mich erst mal ein bisschen frisch machen, und dann gleich den Tobias begrüßen. Er wird Augen machen, er weiß nämlich nicht, dass ich ab heute zwei Wochen in St. Johann sein werde.«
Susanne musterte Melina fast ein wenig betroffen. »Haben S’ denn zum Tobias noch Kontakt gehabt?«
»Ja, wir haben des Öfteren miteinander telefoniert.« Melina lachte auf. »Schließlich brauche ich ja in diesem Jahr wieder einen Bergführer. Außerdem …« Melina winkte ab. Ihre Augen strahlten. Das war für Susanne beredt genug.
»Ich hab’ das mit dem Tobias für ein kleines Techtelmechtel gehalten«, sagte sie. »Einen etwas intensiveren Urlaubsflirt.« Sie nagte kurz an ihrer Unterlippe. »Ja, da wird der Tobias in der Tat Augen machen«, sagte sie dann. Ein geradezu mitleidiger Blick traf Melina, die aber nicht darauf achtete, denn sie war schon dabei, sich abzuwenden, um das Zimmer aufzusuchen.
Sie nahm den Aufzug. Auf dem Zimmer leerte sie zunächst die Reisetasche aus und verstaute alles, brachte die Toilettenartikel ins Badezimmer und stand wenig später schon unter der Dusche. Sie hatte fast achthundert Kilometer mit dem Auto zurückgelegt, war von morgens bis zum späten Nachmittag unterwegs gewesen, und fühlte sich alles andere als frisch und munter. Normalerweise hätte sie sich auch ein wenig hingelegt und ausgeruht. Aber die Vorfreude auf die bevorstehende Überraschung, dieses innere Drängen, das sie mit einer fast schmerzlichen Ungeduld erfüllte, ließ das nicht zu. Sie hatte sich während ihres letzten Urlaubs in Tobias verliebt, sie hatten sich geküsst, und er hatte ihr beim Abschied gestanden, dass er sie ebenso liebte wie sie ihn.
Melina hätte die ganze Welt umarmen können.
Eine gute Stunde später verließ sie das Hotel.
Die Sonne stand im Westen über den Bergen, die riesige Schatten ins Wachnertal warfen. Im Osten hatte sich der Himmel schon grau verfärbt. Die steinernen Gipfel der bizarren, schrundigen Felsen leuchteten im Abendsonnenschein. Einige weiße Wolken, die träge nach Osten trieben, streiften sie.
Von hier unten scheint der Himmel unendlich weit entfernt zu sein, dachte Melina, während sie schnell an der Häuserzeile entlangschritt, die die eine Seite der Hauptstraße säumte. Wie lange wohl unsere Gebete und die Seelen der Verstorbenen brauchen, um ihn zu erreichen?
Werde jetzt bloß nicht sentimental, durchfuhr es sie, und sie konzentrierte sich auf den Weg. Nicht lange, dann stellte sich wieder die Erinnerung ein und sie dachte daran, wie sie zusammen mit Tobias auf dem einen oder anderen Berg gesessen hatte, wie sie sich in den Armen gelegen und geküsst und den grandiosen Ausblick genossen hatten. Sie hatte den Himmel auf Erden erlebt …
Das sollte sich in den kommenden zwei Wochen wiederholen!
Tobias betrieb während der Badesaison am Achsteinsee eine kleine Snackbar. Die Badesaison hatte allerdings noch nicht begonnen, und die Snackbar war noch geschlossen. Melina wusste jedoch, wo Tobias wohnte. Er hatte im Haus seiner Eltern eine Bleibe. Das Haus lag nicht an der Hauptstraße, sondern in einer ruhigen Seitenstraße.
Vom Hotel aus musste Melina keine zehn Minuten gehen, um ihr Ziel zu erreichen. Sie legte den Daumen auf die Klingel, an der sein Name angebracht war. Eine Gegensprechanlage gab es nicht.
Melinas Hoffnung, dass Tobias zu Hause war, erfüllte sich. Eine halbe Minute, nachdem sie geläutet hatte, ging die Tür auf und Tobias stand vor ihr. »Was …«
Die weiteren Worte blieben ihm im Hals stecken. Er bekam runde Augen, und grenzenlose Bestürzung prägte jeden Zug seines männlich markanten Gesichts. »Du!«, kam es betroffen, um nicht zu sagen entsetzt über seine Lippen. Er starrte Melina an wie eine außerirdische Erscheinung. Von Freude keine Spur.
Melina spürte mit den feinen Sensoren der liebenden Frau, dass Tobias regelrecht erschrocken auf sie reagierte. Der Drang, sich ihm in die Arme zu werfen und ihn zu küssen, war wie weggeblasen. Das Lächeln, das ihren Mund umspielt hatte, wirkte von einem Moment auf den anderen wie eingefroren.
»Wo kommst du denn her?«, entrang es sich ihm. Wahrscheinlich hatte er an eine Halluzination geglaubt, denn er hatte sekundenlang die Augen geschlossen gehalten. Ihr Bild aber war real.
»Direkt aus Hannover«, antwortete Melina. »Ich wollte dich überraschen. Mir scheint, ich habe dich erschreckt.«
»Wie …? Was? Ach so!« Er schüttelte den Kopf und konnte so ihrem fragenden Blick ausweichen. »Ich bin tatsächlich mehr als nur überrascht. Mit dir hab’ ich doch net mal im Traum gerechnet. Himmel, Melina, warum hast du mir net Bescheid gesagt, dass du kommst? Wann bist du denn angekommen?«
»Vor etwas über einer Stunde. Heute früh bin ich losgefahren. Abgesehen von einem Tankstopp und einer kurzen Pause, in der ich eine Kleinigkeit gegessen habe, bin ich durchgefahren.«
Tobias senkte den Blick. Formulierte er seine nächsten Worte im Kopf? Versuchte er, Zeit zu gewinnen – Zeit, um sich eine Ausrede auszudenken? Dann sagte er: »Im Moment ist es ganz schlecht, Melina. Ich – ich bin nämlich mitten in den Vorbereitungen im Hinblick auf die Eröffnung der Snackbar und ziemlich eingespannt. Ich – ich hab’ nachher noch eine Verabredung mit einem Vertreter der Brauerei, die mir das Bier liefern wird. Wir müssen verhandeln und einen Liefervertrag schließen.«
Melina spürte, wie Enttäuschung in ihr hochkroch und sich in ihrer Brust staute.
Tobias ergriff noch einmal das Wort: »Ich denke, du bist von der langen Fahrt ziemlich erschöpft, Melina. Drum schlage ich vor, du ruhst dich erst mal eine Nacht lang aus. Wo wohnst du denn?«
»Im Löwen.«
»Gut. Es tut mir leid, dass ich heut’ keine Zeit hab’. Ich werd’ morgen auf dich zukommen. Und dann sehen wir weiter. Ist das in Ordnung für dich?«
War es nicht. Aber sollte sie jetzt eine sinnlose Debatte vom Zaun brechen? Er versuchte sie abzuwimmeln, das war mehr als deutlich. Ihr Stolz ließ es nicht zu, Fragen zu stellen oder sich ihm gar aufzudrängen. »Ja, es ist in Ordnung«, murmelte sie. »Ich bin in der Tat ziemlich müde.«
Enttäuscht und verbittert wandte sie sich ab und hörte, wie hinter ihr die Haustür ins Schloss gedrückt wurde. Melina begann sich nach dem Grund für seine mehr als seltsame Reaktion zu fragen. Jedes Mal, wenn sie telefoniert hatten, hatte er beteuert, dass er sie liebte. War in der Zwischenzeit eine andere Frau ins Spiel gekommen? Wenn ja, warum hatte er es verschwiegen?
Voll quälender Fragen, auf die sie keine Antwort fand, kehrte sie ins Hotel zurück. Die Verunsicherung lastete wie mit zentnerschweren Gewichten auf ihr und ließ keine anderen Gedanken mehr zu als den, ob Tobias ihr die ganze Zeit über nur etwas vorgegaukelt hatte.
*
Susanne sah Melina das Hotel betreten und erkannte sofort, dass die junge Frau todunglücklich war. Sie las ihr regelrecht vom Gesicht ab, dass etwas geschehen sein musste. Und Susanne begann zu ahnen, was es war.
In der Tat. Melinas Stimmung tendierte gegen null. Mit gesenktem Kopf wollte die Zweiundzwanzigjährige an der Rezeption vorbeigehen, so, als scheute sie sich vor einem Gespräch mit Susi. Diese sagte, einem jähen Impuls folgend: »Ich hätt’ Sie vielleicht warnen sollen, Melina.«
Melina hielt an, schien den Worten kurz hinterherzulauschen, drehte dann langsam den Kopf und schaute Susi fragend an. »Wovor?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
»Vor dem, was Sie erwartet, wenn sie den Tobias aufsuchen«, antwortete Susanne. »Hat er ihnen denn net verraten, dass er seit dem Herbst mit der Ahlert-Lea liiert ist? Ich denk’, ihr habt einige Male miteinander telefoniert. Unter Freunden verschweigt man so etwas doch nicht.«
Damit war eine ihrer quälenden Fragen beantwortet. Melina sagte: »Es war mehr als Freundschaft, Susi. Es war auch mehr als ein Techtelmechtel oder ein Urlaubsflirt. Tobias und ich waren verliebt. Jedes Mal, wenn wir telefoniert haben, verabschiedete er sich mit den Worten: ›Ich liebe dich‹. Er hat mir auch heute nicht gesagt, dass er eine andere hat, sondern nur vom geschäftlichen Stress wegen der Eröffnung seiner Bar gesprochen. Morgen will er sich bei mir melden. Von dieser Lea hat er mir nichts erzählt.«
»Und jetzt sind S’ bis in Ihren Kern enttäuscht, wie?«
Melinas Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. »Ich bin am Boden zerstört«, gestand sie mit einer Stimme, die jeden Moment zu brechen drohte. »Er hat mich über Monate hinweg belogen, mir etwas vorgemacht, mich in dem Glauben gelassen, dass er mich liebt. Ich wollte ihn überraschen. Aber nicht er, sondern ich wurde überrascht. Eine ganz bittere Pille …«
»Ich hätte Sie vielleicht aufklären sollen, ehe Sie zu Tobias gegangen sind, Melina«, murmelte Susi. »Hätte ich gewusst, dass Sie gekommen sind, um die Liebe vom vergangenen Urlaub aufzufrischen, hätt’ ich’s ganz sicher getan. Ich war jedoch der Meinung, Sie suchen ihn auf, um ihm lediglich Grüß Gott zu sagen und ihn zu fragen, ob er während Ihrer Zeit hier vielleicht das eine oder andere Mal für Sie wieder als Bergführer einspringt.«
»Sie müssen sich keine Gedanken machen, Susanne«, murmelte Melina. »Ich war einfach nur blind vor Liebe. Vielleicht ist es sogar ganz gut, dass Sie mich nicht gewarnt haben. Möglicherweise hätte ich es gar nicht geglaubt. Aber jetzt, nachdem ich ihn gesprochen habe …«
Jetzt war es mit Melinas Beherrschung vorbei. »Entschuldigen Sie, Susanne, ich …« Sie wurde von ihren Gefühlen überwältigt und ihre Stimme versagte. Weinend lief sie die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer angekommen, warf sie sich aufs Bett, und nun brachen bei ihr alle Dämme. Sie weinte bitterlich. Enttäuschung, Verbitterung und Frust hatten – ähnlich dem Überdruck in einem Dampfkessel – ein Ventil gesucht und gefunden.
Zuerst hörte sie deshalb nicht, dass gegen ihre Zimmertür geklopft wurde. Wer immer es auch war, der draußen stand, er klopfte erneut, dieses Mal lauter und fordernder. Das zweite Klopfen überhörte Melina nicht. »Wer ist da?«, rief sie, nachdem sie den Oberkörper aufgerichtet hatte. »Die Tür ist nicht abgeschlossen.«
Es war Susanne, die die Sorge ins obere Geschoss mit den Fremdenzimmern getrieben hatte, nachdem Melina tränenüberströmt davongestürzt war.
Melinas Augen waren vom Weinen gerötet und ziemlich verquollen. Einige Strähnen ihrer blonden, langen Haare hingen ihr wirr in die Stirn.
»Kann ich etwas für Sie tun, Melina?«, fragte Susi. Sie kam zum Bett und setzte sich auf die Bettkante.
Melina schniefte und rieb sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augenhöhlen. »Danke, Susanne. Es geht schon wieder.« Ein Schluchzen folgte. Aber sie behielt die Kontrolle über sich. »Wenn ich es auch nur im Entferntesten geahnt hätte – ich wäre niemals hergekommen. Ich fühle mich verraten, um nicht zu sagen gedemütigt. Vor ein paar Stunden noch himmelhoch jauchzend, jetzt zu Tode betrübt. Warum ist Tobias so gemein zu mir gewesen?«
»Vielleicht hat er nicht den Mut aufgebracht, es Ihnen zu gestehen, Melina«, gab Susi zu bedenken. »Vielleicht hat er auch gedacht, es wär’ net notwendig, weil er möglicherweise vorgehabt hat, das Verhältnis mit Ihnen nach und nach einschlafen zu lassen. Das ist zwar net die feine englische Art, aber er hätt’ Ihnen net in die Augen blicken müssen, wenn er Schluss macht.«
Melina gab sich einen Ruck. »Ich muss es akzeptieren und werde darüber auch hinwegkommen. Was die zwei Wochen Urlaub anbetrifft, die ich gebucht habe, so werde ich versuchen, das Beste daraus zu machen.«
»Das ist eine sehr gute Einstellung«, lobte Susi. »Wegen einer Liebe, die in die Brüche gegangen ist, geht die Welt net unter. Den Blick nach vorn richten und positiv denken. Das ist das beste Mittel gegen Liebeskummer.«
»Sie sind so – ausgleichend, Susanne, so beruhigend, und Sie verstehen es, einem Mut zu machen. Danke dafür. Darf ich Sie umarmen?«
»Gerne.«
Die beiden Frauen lagen sich in den Armen.
Nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten, sagte Melina: »Ich habe mit Tobias im vergangenen Jahr jede Menge Touren gemacht. Darum kenne ich die Wege einigermaßen und weiß, wie ich mich verhalten muss, sollte es mal gefährlich werden. Von daher komme ich alleine zurecht und brauche ihn nicht. Seinetwegen lasse ich mir den Urlaub nicht vermiesen.«
»So lob’ ich mir das«, sagte Susi. »Ich seh’s schon, Melina, Sie sind hart im Nehmen. Eine lebenstüchtige Frau, die mit beiden Füßen fest auf dem Boden steht. – Man kann in der der Liebe nix erzwingen oder übers Knie brechen, sondern muss es nehmen, wie’s kommt. Gehen S’ auf die Berg’, lassen S’ die Natur auf sich wirken und schöpfen S’ Kraft aus ihr, dann denken S’ net an den Tobias und seine Lügen, und Sie werden den Urlaub auch als schönes Erlebnis in der Erinnerung behalten.«
»Sie sind ein ausgesprochen optimistischer Mensch, Susanne«, sagte Melina. »Das ist beeindruckend.«
»Ohne positive Einstellung kommt man, denk’ ich, net allzu weit im Leben«, erwiderte Susi.
»Ich will versuchen, mir diese Einstellung zu Herzen zu nehmen, Susanne«, versicherte Melina. »Ich denke, es ist eine kluge Lebensphilosophie.«