Der Zweck heiligt nicht immer die Mittel! - Toni Waidacher - E-Book

Der Zweck heiligt nicht immer die Mittel! E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. Schon als sie über den Pass gefahren war und den Blick ins Wachnertal frei hatte, war Gerlinde Hagler hellauf begeistert gewesen. Sie hatte oben auf dem Parkplatz angehalten und von der Aussichtsplattform das Panorama genossen – und sich unsterblich in das Tal verliebt. Jetzt hielt sie vor dem Hotel ›Zum Löwen‹ in St. Johann an und stieg aus. Das Hotel lag an der Hauptstraße, die den Ort teilte und an der sich Wohn- und Geschäftshäuser, alle im alpenländischen Stil erbaut, aneinanderreihten wie die Perlen an einer Kette. An den Balkonen und auf den Fensterbänken waren die Blumenkästen bereits bepflanzt worden. Die Blüten ließen jedoch noch auf sich warten. Viele Häuserfassaden waren mit Lüftlmalereien versehen, die meisten Dächer wiesen sogenannte ›Dachreiter‹ auf, ausschließlich aus Holz gefertigt und meistens kunstvoll geschnitzt. Es war kurz vor Ostern. Vor den Cafés, Eisdielen und Restaurants warteten Tische und Stühle auf die ersten Urlauber. Der Blick der Achtunddreißigjährigen wanderte über die Dächer hinweg und erfasste die zerklüfteten Gebirgszüge, die das Wachnertal wie stumme, versteinerte Wächter umgaben. Gerlinde drehte sich auf der Stelle. Im Norden konnte sie den Pass sehen, über den sie gekommen war. Die Felsgiganten schienen teilweise den Himmel zu berühren. Gleißender Sonnenschein lag auf den teils schrundigen Gipfeln. Dem Hochgebirge vorgelagert waren die bewaldeten Berge und Hügelketten. Dunkles, sattes Grün war die vorherrschende Farbe. Gerlinde nahm alles in sich auf. Es war beeindruckend und irgendwie Ehrfurcht gebietend. Die Natur rings um das Tal schien unberührt zu sein.

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Der Bergpfarrer – 505 –

Der Zweck heiligt nicht immer die Mittel!

Viel Aufregung um die alte Mühle

Toni Waidacher

Schon als sie über den Pass gefahren war und den Blick ins Wachnertal frei hatte, war Gerlinde Hagler hellauf begeistert gewesen. Sie hatte oben auf dem Parkplatz angehalten und von der Aussichtsplattform das Panorama genossen – und sich unsterblich in das Tal verliebt.

Jetzt hielt sie vor dem Hotel ›Zum Löwen‹ in St. Johann an und stieg aus. Das Hotel lag an der Hauptstraße, die den Ort teilte und an der sich Wohn- und Geschäftshäuser, alle im alpenländischen Stil erbaut, aneinanderreihten wie die Perlen an einer Kette. An den Balkonen und auf den Fensterbänken waren die Blumenkästen bereits bepflanzt worden. Die Blüten ließen jedoch noch auf sich warten. Viele Häuserfassaden waren mit Lüftlmalereien versehen, die meisten Dächer wiesen sogenannte ›Dachreiter‹ auf, ausschließlich aus Holz gefertigt und meistens kunstvoll geschnitzt. Es war kurz vor Ostern. Vor den Cafés, Eisdielen und Restaurants warteten Tische und Stühle auf die ersten Urlauber.

Der Blick der Achtunddreißigjährigen wanderte über die Dächer hinweg und erfasste die zerklüfteten Gebirgszüge, die das Wachnertal wie stumme, versteinerte Wächter umgaben. Gerlinde drehte sich auf der Stelle. Im Norden konnte sie den Pass sehen, über den sie gekommen war. Die Felsgiganten schienen teilweise den Himmel zu berühren. Gleißender Sonnenschein lag auf den teils schrundigen Gipfeln. Dem Hochgebirge vorgelagert waren die bewaldeten Berge und Hügelketten. Dunkles, sattes Grün war die vorherrschende Farbe. Gerlinde nahm alles in sich auf. Es war beeindruckend und irgendwie Ehrfurcht gebietend. Die Natur rings um das Tal schien unberührt zu sein. Es gab keine Lifts oder Seilbahnen, keine Tal- oder Bergstationen, keine riesigen Betonklötze, in denen hunderte von Touristen für die Zeit ihres Urlaubs wohnen konnten. Es gab nur Ursprünglichkeit und Idylle pur. Gerlinde war fasziniert.

Eine Kirchenglocke begann zu schlagen. Die getragenen Töne hallten weit ins Tal hinaus. Unwillkürlich schaute Gerlinde auf die Uhr. Es war Punkt zwölf. Sie betrat das Hotel. An der Rezeption saß Susanne Reisinger, die älteste Tochter des Hoteliers. Beim ›Löwen‹ handelte es sich um einen reinen Familienbetrieb. Sepp Reisinger war der Chef, seine Frau Irma die Herrin in der Küche, die drei Töchter waren für den Empfang und den Service zuständig.

»Good day!«, grüßte Gerlinde, lächelte verlegen und verbesserte sich: »Ich wollte natürlich guten Tag sagen. Ich bin ja nicht mehr in den Staaten.«

»Grüaß Ihnen«, erwiderte Susanne den Gruß. »Ich nehm’ an, Sie sind die Frau Hagler aus Philadelphia. Dass Sie auf Englisch gegrüßt haben, hat Sie verraten.« Susi lächelte freundlich. »Das Zimmer für Sie ist vorbereitet und bezugsfertig. Wie war denn der Flug, Frau Hagler? Wenn ich richtig informiert bin, dann sind S’ gestern in Frankfurt gelandet.«

»Sehr richtig. Ich habe in Frankfurt übernachtet und bin heute früh um fünf Uhr losgefahren.« Gerlinde sprach fast akzentfreies Deutsch. »Und jetzt bin ich da. Darf ich Ihnen etwas verraten?«

»Natürlich.«

»Ich bin begeistert«, stieß Gerlinde hervor. »Das Wachnertal ist geradezu paradiesisch. Nachdem ich vom Pass aus alles auf mich habe wirken lassen, war mir klar, dass ich von hier niemals mehr weggehen werde.«

»Das hört man gern«, erwiderte Susanne und lachte dabei über das ganze Gesicht. »Wir Einheimischen wissen auch, was wir an unserem Tal haben. Und den Leuten, die zu uns kommen, um hier für kurze Zeit Ruhe und Beschaulichkeit zu genießen, ergeht es wie Ihnen. Sie erliegen regelrecht den Reizen der Gegend.« Plötzlich stutzte Susanne und fragte: »Hab’ ich richtig gehört, Frau Hagler. Sie wollen das Tal nimmer verlassen?«

»Sie haben sich nicht verhört. Ich will für immer nach Deutschland zurückkehren. Bis zu meinem dritten Lebensjahr lebte ich in Germany – ich meine Deutschland. Dann gingen meine Eltern nach Amerika. Ein Onkel von mir, Josef Hagler, lebt hier im Wachnertal. Wir hatten nie Kontakt mit ihm. Er und mein Dad sollen sich vor einem halben Jahrhundert derart zerstritten haben, dass sie nie wieder miteinander sprachen. Den Grund für den Streit hat mir meine Ma nicht verraten. Mein Dad ist vor sieben Jahren gestorben, und meine Ma hat wieder geheiratet.«

»Ich muss Ihnen leider sagen, dass Ihr Onkel, der Hagler-Sepp, vor ein paar Jahren ebenfalls verstorben ist, Frau Hagler. Ich glaub’, im Januar werden’s sieben oder acht Jahre, dass er tot ist. Haben S’ das denn net gewusst?«

Gerlinde starrte Susanne betroffen an. Die Bestürzung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Er – ist – gestorben?«, stammelte sie schließlich.

»Ja. Es war kurz nach Weihnachten. Nachdem er damals seinen Briefkasten nimmer gelehrt hat, wurde die Polizei verständigt. Man hat ihn schließlich tot in seinem Bett liegend vorgefunden. Herzschlag! Haben Sie sich denn net kundig gemacht, ehe Sie sich entschlossen haben, ihn aufzusuchen?«

»Nein. Ich habe mir gedacht, ich checke erst mal ab, wie er so lebt und was für ein Mensch er ist. Wenn ich zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass er einigermaßen verträglich ist, hätte ich mich ihm zu erkennen gegeben. Ich weiß ja nichts von ihm – gar nichts. Dass mein Dad einen Bruder hatte, hat mir meine Ma erst im vergangenen Jahr verraten. Sie selbst kennt ihn auch kaum und weiß auch nur das, was ihr mein Vater erzählte. – Ich habe sonst keine Verwandten. Daher dachte ich mir, es wäre doch nett, diesen Onkel Josef endlich mal kennenzulernen. Dass er auch tot ist, trifft mich sehr. Meine Ma hat mir erzählt, dass er eine Mühle besessen haben soll. Lebt seine Familie noch in dieser Mühle? Hab’ ich vielleicht Cousins oder Cousinen?«

»Der Sepp hat alleine in seiner Mühle gelebt«, erwiderte Susanne. »Nachdem sich kein Erbe gemeldet hat, ist sein Besitz dem Land Bayern zugefallen. So viel mir bekannt ist, hat die Gemeinde St. Johann den Grund und die Mühle gewissermaßen für ein Butterbrot und ein Ei vom Freistaat erworben. Draus gemacht hat sie aus dem Anwesen allerdings nix. Es ist dem Verfall preisgegeben. Eigentlich schade drum. Die Mühle hat, soweit ich weiß, hundertfünfzig Jahre oder noch mehr auf dem Buckel. So etwas sollte eigentlich unter Denkmalschutz gestellt werden. Aber dann müsst’ die Gemeinde die Gebäude erhalten, was eine Menge Geld verschlingen würde. Und wenn’s an den Gemeindesäckel geht, dann reagiert unser Bürgermeister geradezu allergisch. Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass er jeden Cent zweimal umdreht, ehe er zulässt, dass er ausgegeben wird.«

»Wer ist denn Bürgermeister der Gemeinde?«

»Herr Bruckner – Markus Bruckner. Ein recht fähiger Mann, der aber seine Macken hat. Dazu gehört, dass er auf dem Geld sitzt wie eine Bruthenne auf ihren Eiern.«

Gelinde dachte kurz nach, dann fragte sie: »Ist es nicht so, dass ich als Erbin der Mühle infrage gekommen wäre, wenn man beim Nachlassgericht von meiner Existenz gewusst hätte?«

»Das nehm’ ich an, da ja sonst keine Verwandten da waren«, antwortete Susanne und legte ein Formular auf den Tresen der Rezeption. »Füllen S’ das doch bitte aus, Frau Hagler. Ich brauch’ diese Anmeldung. Und dann geb’ ich Ihnen gleich Ihren Zimmerschlüssel. Ich darf Sie bei uns herzlich willkommen heißen. Wenn’s Probleme geben sollt’, egal welcher Art, oder wenn S’ Fragen haben – Sie können sich immer an mich, meinen Vater oder meine Schwestern wenden. Frühstück gibts ab sieben Uhr.«

»Thank you – vielen Dank, Sie sind sehr freundlich.«

Susanne lächelte geschmeichelt, nahm einen Schlüssel aus dem Regal und legte ihn auf die Theke.

*

Gerlinde Hagler hatte geduscht und sich ein wenig ausgeruht, war dann in die Gaststätte des Hotels gegangen und hatte eine Kleinigkeit gegessen, dann hatte sie sich bei Gitti, der jüngsten Tochter Sepp Reisingers, die die Gaststube als Bedienung betreute, nach dem Weg zur Haglermühle erkundigt.

»Zu Fuß müssen S’ gut und gerne eine halbe Stunde laufen«, sagte Gitti. »Sie müssen in Richtung Waldeck gehen. Nach etwa zwei Kilometern führt eine schmale Straße nach rechts weg auf die Berge zu. Auf ihr gelangen sie zur Kachlach. Vor der Brücke wenden S’ sich nach links, und nach etwa dreihundert Metern stoßen S’ auf die Mühle. Die können S’ gar net verfehlen. Das große Wasserrad verrät es Ihnen, dass Sie richtig sind.«

»Kann man die Mühle denn nicht mit dem Auto erreichen?«, erkundigte sich Gerlinde.

»Doch, schon«, antwortete Gitti. »Ich würd’ Ihnen aber den kleinen Spaziergang empfehlen«, fügte sie mit einem entwaffnenden Lächeln hinzu. »Zwischen Feldern, Äckern und Wiesen können S’ den Zauber des Wachnertals so richtig genießen. Man sieht, hört und riecht fast nichts als Natur. Für jemand, der hier Erholung sucht, genau das Richtige.« »Sie haben recht«, versetzte Gerlinde. »Wenn ich laufe, lerne ich gleich die Umgebung besser kennen. Außerdem hat Bewegung noch keinem geschadet.«

»Das seh’ ich auch so«, pflichtete Gitti ihr bei. »Ich wünsch’ Ihnen jedenfalls einen schönen Nachmittag, Frau Hagler.«

»Danke.«

Gerlinde machte sich auf den Weg. Nachdem sie den Ort verlassen hatte, spazierte sie auf einem Fußgänger- und Radweg, der parallel zur Landstraße in Richtung Waldeck verlief. Das Bimmeln der Glocken an den Hälsen der weidenden Kühe sowie Vogelgezwitscher begleiteten sie. Über ihr spannte sich von einem Horizont zum anderen der blaue Himmel, der süße, würzige Geruch blühender Wiesen und Wälder stieg ihr in die Nase. Einige weiße Wolken hoch oben, die träge von Westen nach Osten getrieben wurden, schienen die Gipfel des Felsengebirges zu streifen.

Gerlinde bestärkte alles, was sie wahrnahm, darin, im Wachnertal zu bleiben.

Sie folgte der Abzweigung zur Kachlach und erreichte nach wenigen Minuten die hölzerne Brücke, die sich über den Fluss spannte. Vor ihr knickte die schmale Straße ab. Von hier aus konnte Gerlinde hinter Bäumen und Sträuchern schon die Dächer mehrerer hoher Gebäude sehen, und sie sagte sich, dass es sich um die Mühle handeln musste.

Sie folgte dem Weg. Neben ihr rauschte die Kachlach ihrer Mündung in den Achsteinsee entgegen. Sie führte viel Wasser, denn oben, auf den Bergen, lag noch Schnee, der nur nach und nach schmolz. Das Schmelzwasser speiste den Fluss, der als Wildwasser ins Tal stürzte und unten ruhig seinen Weg fortsetzte. Auf der grünen Wasseroberfläche tanzten weiße Schaumkronen. Hier und dort ragte ein Felsen aus dem Wasser. Die Kies- und Sandbänke, die während des Sommers oftmals zutage traten, wenn der Fluss wenig Wasser führte, waren überspült. Der natürliche Lauf der Kachlach war noch keiner Flurbereinigung zum Opfer gefallen. Das Bett, das sich der Fluss schon vor Jahrtausenden gegraben hatte, war unverändert. Strauchwerk säumte das Ufer. Flache Uferstellen nutzten die Kühe zur Tränke. Man sah es an den Hufabdrücken im angeschwemmten Sand.

Gerlinde erschrak, als sie die Mühle erreichte und sich ein erstes Bild von ihrem Zustand machen konnte. Es gab ein Wohnhaus, in einem rechten Winkel dazu war die Mühle erbaut. An ihrer unmittelbar am Ufer der Kachlach endenden Giebelseite befand sich das große Mühlrad, das einstmals die riesigen Mühlsteine angetrieben hatte. Jetzt stand es still. Lager und Achse waren wahrscheinlich eingerostet und viele der hölzernen Schaufeln herausgebrochen. Das Holz des Wasserrades war schwarz. Es gab einige weitere Wirtschaftsgebäude und Schuppen. Viele Fenster des Wohnhauses waren zerbrochen. Bei zwei der Schuppen waren die Dächer eingesunken, eine Schuppentür stand offen und hing schief in den Angeln. Gleiches galt für die Fensterläden. Auf dem Hof und am Fuß der Gebäude wucherte hoch das Unkraut.

An diesen Gebäuden hatte seit Jahren kein Mensch mehr Hand angelegt. Der Zustand war erschreckend und machte Gerlinde betroffen.

Keines der Gebäude war abgeschlossen. Im Wohnhaus standen zum Teil noch die Möbel in den Räumen. Spinnen hatten in den Ecken ihre Netze gesponnen, in denen hunderte von toten Fliegen hingen. Alles war verstaubt. Wenn Gerlinde einen Raum betrat, dessen Fenster kaputt war, wirbelte der entstehende Luftzug den Staub auf. Es roch nach Schimmelpilz und Moder.

Das eigentliche Mühlengebäude befand sich in einem ähnlichen Zustand. Aber das alte Gebälk war noch nicht von der Fäulnis angegriffen, ebenso wenig die großen Getreidekästen und hölzernen Mehlbehälter. Allerdings lag der Staub fingerdick auf allem. Es war Staub, der beim Mahlen verursacht worden war und den nach der Betriebseinstellung kein Mensch entfernt hatte. Die Luft war abgestanden. In den Behältnissen lagerten noch Reste von Getreide.

An allem hatte der Zahn der Zeit heftig und nachhaltig genagt. Hier gaben sich wahrscheinlich nur noch Ratten und Mäuse ein Stelldichein. Gerlinde war entsetzt, und sie fragte sich, warum die Gemeinde die Mühle erworben hatte, wenn sie sie vergammeln ließ. Sie nahm sich vor, mit Bürgermeister Bruckner zu sprechen, denn sie dachte daran, der Gemeinde das Anwesen abzukaufen. Ihr Entschluss, im Wachnertal zu bleiben, stand fest. Wenn sie das Wohnhaus sanieren ließ, konnte sie hier wohnen. Die Getreidemühle selbst war noch derart gut in Schuss, dass man sie in ein Museum umfunktionieren und einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen konnte. Während sie nach St. Johann zurückwanderte, schmiedete Gerlinde Zukunftspläne. Sie besaß in Philadelphia ein großes Haus und einen Schnellimbiss. Der Verkauf dieser Objekte würde ihr genug Geld einbringen, um das Anwesen, dessen rechtmäßige Erbin eigentlich ja sie gewesen wäre, von der Gemeinde zurückzukaufen und zu restaurieren und sich selbst eine Weile über Wasser zu halten.

Zurück im Hotel sprach sie mit Susanne über ihre Absicht.

»Das ist eine sehr, sehr gute Idee«, lobte Susi. »Ich hab’ schon einige Stimmen gehört, die es traurig finden, dass die Gemeinde die Haglermühle einfach dem Verfall überlässt. Einer der Gemeinderäte hat sich sogar einmal dafür stark gemacht, dass man sie unter Denkmalschutz stellt, aber er hatte das falsche Parteibuch und wurde untergebuttert. Die Angelegenheit ist sehr schnell wieder ad acta gelegt worden.«

»Ich will mir so bald wie möglich einen Termin bei Bürgermeister Bruckner geben lassen«, erklärte Gerlinde. »Warum sollte er meinen Absichten nicht gewogen sein? Ich wäre für die Gemeinde ein Garant, dass dieser Schandfleck da draußen an der Kachlach beseitigt werden würde. Es gibt sicherlich Menschen, die sich dafür interessieren, wie vor fünfzig oder hundert Jahren das Korn zu Mehl verarbeitet wurde. Derart antike Sehenswürdigkeiten ziehen die Menschen überall auf der ganzen Welt an.«

»Ja, reden S’ ruhig mal mit dem Bruckner. Net nur die Tatsache, dass Sie den Schandfleck beseitigen würden, sollte ihn veranlassen, Ihrem Wunsch zu entsprechen, sondern auch der Umstand, dass der Verkauf des alten Gerümpels einen Haufen Geld in die Gemeindekasse spülen würd’. Das ist sicherlich ein Argument, das beim Bruckner zieht und ihn überzeugen wird.«

»Das will ich doch hoffen«, erwiderte Gerlinde lächelnd, setzte sich in Bewegung und ging zur Treppe, die ins Obergeschoss führte, wo ihr Zimmer lag. Susi schaute ihr hinterher. Sie war deutlich angetan von dieser attraktiven Erscheinung. Mittelgroß, schlank und sehr gepflegt war Gerlinde eine Frau, die bei der Männerwelt Beachtung fand. Für Susanne war es verwunderlich, dass sie alleinstehend sein sollte.

*

Am folgenden Morgen kam Sophie Tappert, die Haushälterin Pfarrer Trenkers, von der Bäckerei zurück und vermeldete ihrem Arbeitgeber, dass eine gewisse Gerlinde Hagler, die angab, eine Nichte des verstorbenen Hagler-Sepp zu sein und bisher in Amerika gelebt hatte, aufgetaucht sei und Interesse an der alten Haglermühle bekundet hätte.

»Wieso weiß niemand was davon, dass der Sepp eine Nichte hat?«, fragte der Pfarrer. »Sie hätt’ sich doch melden können, nachdem er verstorben ist und ein Erbe für die Mühle gesucht wurde.«

»Der Sepp hat aus Oberaudorf gestammt«, sagte Sophie nach kurzer Überlegung. »Er ist damals, vor etwa fünfundvierzig Jahren, nach St. Johann gekommen, weil er die Mühle von einer Tante geerbt hatte. Über seine familiären Verhältnisse hat er eigentlich nie mit jemand geplaudert. Persönlich hatt’ ich nie Kontakt mit ihm. Er war ein Sonderling. Warum sich seine Nichte net gemeldet hat, als das Erbe vakant war, kann ich Ihnen net sagen, Hochwürden. Vielleicht war sie net auffindbar. Möglicherweise war wirklich niemandem bekannt, dass es sie gibt. – Sie will im Tal bleiben und die Getreidemühle zu einem Museum ausbauen. Die anderen Gebäude der Mühle will sie wieder herrichten, um selbst dort zu wohnen.«