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Die schöne Dee Swann hat früh gelernt, sich aufdringliche Verehrer vom Leib zu halten. Allein lebt sie am Angel Creek, der dem Tal das nötige Wasser beschert. Kaum einer im Ort, der nicht sie und ihr Grundstück begehrt! Und eine Ehe? Davon will sie nichts wissen. Ganz anders als ihre Freundin Olivia, die bald schon den Rancher Lucas Cochran heiraten wird. Doch dann stürzt Dee schwer. Zum ersten Mal ist sie wehrlos. Und zum ersten Mal muss sie einen Mann ganz nah an sich heranlassen. Denn ausgerechnet Lucas findet sie. Seine Hände auf ihrer Haut, als er Dee vorsichtig untersucht, wecken eine nie gekannte Leidenschaft. Lucas und sie - unmöglich. Lucas und sie - unaufhaltsam und mitreißend wie wildes Wasser …
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Seitenzahl: 419
Linda Howard
Am wilden Fluss
Roman
Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Hartmann
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Jürgen Welte
Copyright dieser Ausgabe © 2019 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Angel Creek
Copyright © 1991 by Linda Howington
erschienen bei: Pocket Books, New York
Published by arrangement with
Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York
Covergestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Mareike Müller
Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München
ISBN eBook 9783745751673
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden.
Lucas Cochran war seit fast einem Monat zurück. Noch immer staunte er, wie viel Ehre das Städtchen Prosper seinem Namen inzwischen machte. Mehr als eine Kleinstadt würde es nie sein, aber es war gepflegt und geschäftig. Die Menschen auf der Straße sagten eine Menge über einen Ort aus, und demnach zu urteilen, war Prosper ruhig, beständig und – nun ja – prosperierend. Eine Boomtown war vielleicht aufregender als eine Stadt wie Prosper. Dort ließ sich auch mehr Geld verdienen. Aber Goldgräberstädte gingen gewöhnlich unter, sobald die Erzminen erschöpft waren.
Prosper dagegen war aus einem einzigen Gebäude entstanden, das den wenigen Siedlern der Umgebung als Gemischtwarenladen, Bar und Pferdestation diente. Lucas erinnerte sich noch an die Zeit, als das Gelände, das Prosper inzwischen einnahm, nichts als kahler Boden war und die einzigen weißen Männer im Umkreis von Meilen auf der Double-C-Ranch lebten. Der Goldrausch von 1858 hatte das geändert und Tausende Männer auf der Suche nach schnellem Reichtum in die Berge von Colorado gelockt. In der Umgebung von Prosper gab es kein Gold, doch ein paar Menschen hatten das Land gesehen, waren geblieben und hatten sich kleine Farmen aufgebaut. Mehr Einwohner bedeuteten größeren Bedarf an Waren. Dem einsamen Gemischtwarenladen mit Bar und Pferdestation gesellte sich bald ein weiteres Gebäude an die Seite, und die winzige Siedlung, aus der eines Tages Prosper in Colorado entstehen sollte, war ins Leben gerufen.
Lucas kannte etliche Goldgräberstädte, nicht nur in Colorado, und alle ähnelten einander in ihrer Hektik. Die schlammigen Straßen wimmelten von Goldgräbern und von Gestalten, die Ersteren ihr Gold abnehmen wollten: Spieler, Saloon-Besitzer, Huren und Minenbesetzer. Er war froh, dass Prosper nicht mit Gold oder Silber gesegnet war – oder gestraft, je nach Standpunkt. So würde die Stadt noch existieren, wenn die meisten Goldgräberstädte längst zu verwitterten Skeletten verfallen wären.
Es war ein handfestes kleines Städtchen, ein guter Ort, um Kinder aufzuziehen, was die dreihundertachtundzwanzig Seelen zählende Einwohnerschaft belegte. Sämtliche Unternehmen lagen längs der langen Hauptstraße, um die herum sich neun Wohnstraßen gruppierten. Die meisten Häuser waren klein und schlicht, doch einige Bürger, wie zum Beispiel der Bankier Wilson Millican, waren schon vor ihrer Niederlassung in Prosper vermögend gewesen. Deren Häuser hätten auch in Denver oder den größeren Städten im Osten nicht fehl am Platz gewirkt.
Prosper besaß nur einen Saloon und kein Bordell, wenngleich die Männer in der Stadt – und die Frauen auch, was die Männer allerdings nicht ahnten – wussten, dass die beiden Saloon-Girls für einen gewissen Preis etwaige Sondergelüste stillten. Am nördlichen Stadtrand standen eine Kirche und eine Schule für die Kinder. Prosper verfügte über eine Bank, zwei Hotels, drei Restaurants, einen Gemischtwarenladen, zwei Pferdestationen, einen Friseursalon, einen Schuster, einen Schmied und sogar über ein Hutgeschäft für die Damen. Einmal pro Woche fuhr die Postkutsche durch die Stadt.
Die Stadt als solche existierte einzig und allein, weil die Cochrans aus dem Nichts die große Double-C-Ranch aufgebaut hatten. Sie hatten sich gegen die Komantschen und die Arapaho behauptet und mit ihrem eigenen Blut für das Land bezahlt. Lucas war der erste in Prosper geborene Cochran, und jetzt war von der ganzen Familie nur noch er übrig. Während der Indianerkriege hatte er seine zwei Brüder und seine Mutter begraben müssen, und sein Vater war vor einem Monat gestorben. Andere Rancher waren zugezogen, doch die Cochrans waren die ersten gewesen. Jeder, der lange genug in Prosper lebte, wusste, dass das Fundament der Stadt nicht die lang gezogene Hauptstraße war, sondern die Reihe der Gräber auf der Familiengrabstätte der Double-C-Ranch.
Auf seinem Weg zum Laden knallten Lucas’ Stiefelabsätze auf dem Gehsteig. Ein kalter Wind blies und brachte den Geruch von Schnee mit sich. Tief hängende graue Wolken türmten sich über den Bergen und kündeten von einer neuerlichen Verzögerung des Frühlingsanfangs. Eine Frau mit fest um die Schultern gezogenem Schal kam Lucas entgegen, und er tippte an seinen Hut. „Sieht nach noch mehr Schnee aus, Mrs Padgett.“
Beatrice Padgett schenkte ihm ein freundliches Lächeln. „Weiß Gott, Mr Cochran.“
Er betrat den Gemischtwarenladen und nickte dem Besitzer Mr Winches zu. Winches’ Geschäft hatte sich in den zehn Jahren von Lucas’ Abwesenheit gemacht. Inzwischen konnte er sich sogar einen Angestellten leisten, der sich um die Lagerhaltung kümmerte.
„Hosea“, grüßte Lucas ihn bei seinem Namen.
„Wie geht’s, Lucas? Wird ein bisschen kalt da draußen, wie?“
„Morgen früh schneit es. Die Schneegipfel haben es nötig, aber mir persönlich wäre der Frühling lieber.“
„So geht’s uns allen! Brauchst du etwas Bestimmtes?“
„Nur etwas Waffenöl.“
„Da links, ziemlich weit hinten.“
„Danke.“
Lucas schritt den Gang entlang und wäre fast mit einer Farmersfrau zusammengeprallt, die beim Zaumzeug stand. Geistesabwesend entschuldigte er sich und ging ohne einen zweiten Blick weiter. Die Farmarbeit war schwer für Frauen und ließ sie frühzeitig altern. Außerdem hatte er gerade einen vertrauten blonden Kopf drüben bei den Mehlsäcken erspäht. Etwas wie Zufriedenheit erfüllte ihn. Olivia Millican war genau der Typ Frau, den er sich wünschte, wenn er mal heiraten würde: gut erzogen, von angenehmem Wesen und so hübsch, dass er gern für den Rest seines Lebens mit ihr ins Bett gehen würde. Er hatte Pläne für die Double-C-Ranch und gedachte, sie auch in die Tat umzusetzen.
Zwei Frauen standen neben Olivia. Darum verzichtete er darauf, zu ihr zu gehen, und zog nur knapp seinen Hut zum Gruß, als sie zufällig in seine Richtung blickte. Es sprach für sie, dass sie nicht anfing zu kichern wie die beiden jungen Frauen in ihrer Begleitung. Stattdessen nickte sie ihm nur ernst zu. Dass ihre Wangen dabei leicht erröteten, machte sie nur noch hübscher.
Er bezahlte das Waffenöl und ging. Die Tür war noch nicht hinter ihm ins Schloss gefallen, als ein gedämpftes Quieken und Kichern losbrach, an dem Olivia auch dieses Mal nicht beteiligt war.
„Er hat zwei Mal mit dir getanzt!“
„Was hat er gesagt?“
„Als er mich aufgefordert hat, war ich so aufgeregt, dass ich beinahe in Ohnmacht gefallen wäre!“
„Kann er gut tanzen? Bei der Vorstellung, dass er den Arm um meine Taille legt, hatte ich doch wahrhaftig Schmetterlinge im Bauch! Ein Glück, dass er mich nicht aufgefordert hat, sonst hätte ich mich schrecklich blamiert. Aber trotzdem muss ich gestehen, dass ich verflixt eifersüchtig auf dich war, Olivia.“
Dee Swann streifte die drei jungen Frauen mit einem Blick. Die zwei Kichererbsen plapperten abwechselnd drauflos, ohne Olivia Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. Olivia errötete leicht, verlor aber nicht die Haltung. Schon bei dem kurzen Blick begriff Dee, dass wie üblich über einen Mann geklatscht wurde, in diesem Fall über Lucas Cochran. Während sie neues Zaumzeug aussuchte, spitzte sie die Ohren. Auf der Suche nach einem möglichst geschmeidigen Zügel ließ sie die starren Riemen durch ihre Finger gleiten.
„Er war ganz Kavalier“, sagte Olivia mit fester Stimme. Die Bankierstochter ließ sich selten aus der Fassung bringen. Dee hob den Blick. Belustigung über Olivias unerschütterlich gutes Benehmen blitzte in ihren Augen auf, und in stummer Zwiesprache kreuzten sich ihre Blicke über den Gang hinweg. Olivia erkannte Dees Erheiterung so klar, als hätte sie laut gelacht. Ebenso gut verstand sie, warum Dee sich nicht zu ihnen gesellte, sondern es lieber sah, dass Olivia ihre Anwesenheit lediglich mit einem höflichen Nicken zur Kenntnis nahm. Dee hütete ihre Privatsphäre sorgfältig, und Olivia respektierte ihre alte Freundin genug, um sie nicht in eine Unterhaltung einzubeziehen, die sie nicht interessierte und womöglich sogar ärgerte.
So klein Prosper auch war, die Stadt hatte trotzdem eine klare Gesellschaftsordnung. Normalerweise wäre Dee in den Kreisen, in denen Olivia sich bewegte, nicht willkommen gewesen. Und sie hatte von Anfang an mit ihrer Freundin geklärt, dass sie nicht die Ausnahme von der Regel sein wollte. Außerdem verspürte Dee nicht das geringste Interesse an dieser Art von Umgang. Ihre Vorliebe für ein zurückgezogenes Leben war so ausgeprägt, dass nur sie und Olivia wussten, wie eng ihre Freundschaft eigentlich war. Aber natürlich wussten alle, dass sie sich kannten und zusammen die Schule besucht hatten. Dee besuchte Olivia nie; stets war es Olivia, die allein zu Dees kleinem Häuschen ritt. Doch diese Regelung gefiel beiden. Sie schützte nicht nur Dees Privatsphäre, sondern schenkte Olivia auch eine gewisse Freiheit, ein Gefühl der Erleichterung, wenn auch nur für ein paar Stunden. Nur in Dees Gegenwart konnte sie wahrhaft sie selbst sein. Das hieß nicht etwa, dass sie ihre Damenhaftigkeit abgelegt hätte, sondern nur, dass sie es genoss, sagen zu dürfen, was sie dachte. Olivias Blick enthielt das Versprechen, bald zu Dee hinauszureiten und ihr zu erzählen, was sich seit ihrem letzten Treffen ereignet hatte. Wegen des langen Winters lag Olivias letzter Besuch schon über einen Monat zurück.
Dee hatte ihre Wahl getroffen und ging mit dem Zaumzeug und ihren übrigen Einkäufen zum Tresen, wo Hosea Winches wartete. Gewissenhaft trug er die Waren auf der Seite mit ihrem Namen in das Hauptbuch ein und zog die Summe von dem Restguthaben aus dem letzten Jahr ab. Sie las die Zahlen auf dem Kopf und sah, dass nur noch eine geringe Summe übrig blieb, doch sie würde reichen, bis sie im Sommer ihre Ernte eingebracht hatte.
Mr Winches drehte das Hauptbuch um, damit sie seine Rechnung überprüfen konnte. Während sie mit dem Finger an der Zahlenreihe entlangfuhr, fasste er die Gruppe junger Frauen hinten im Laden ins Auge. Ersticktes Lachen, hell vor Aufregung, ließ ihn durch die Nase schnauben. „Hört sich an, als wäre ein Fuchs im Hühnerstall, dieses Gegacker“, knurrte er.
Zufrieden mit der Rechnung nickte Dee, drehte das Buch wieder um und sammelte ihre Einkäufe ein. „Danke, Mr Winches.“
Er schüttelte geistesabwesend den Kopf. „Sei dankbar, dass du vernünftiger bist als manche andere“, brummte er. „Man könnte meinen, sie hätten noch nie ein Mannsbild gesehen.“
Darauf sah Dee sich zuerst nach den anderen um und dann zu Mr Winches. Beide zuckten mit den Schultern. Lucas Cochran war also nach zehn Jahren Abwesenheit wieder in der Stadt. Na und? Ihnen war das völlig gleichgültig.
Natürlich hatte sie Cochran erkannt, als sie im Laden fast mit ihm zusammengestoßen wäre. Doch weil Erkennen schließlich nicht das Gleiche wie Kennen ist, hatte sie ihn nicht angesprochen. Außerdem bezweifelte sie, dass er sie erkannt hatte. Schließlich hatte er Prosper verlassen, kurz nachdem ihre Eltern sich in der Gegend angesiedelt hatten. Damals war sie ein Schulmädchen von vierzehn Jahren gewesen, er war acht Jahre älter, ein erwachsener Mann. Sie kannte zwar sein Gesicht, wusste aber nichts über Lucas.
Dee hatte sich angewöhnt, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, und erwartete das Gleiche auch von anderen Menschen. Trotzdem wusste sie, was auf der Double-C-Ranch vor sich ging. Es war die größte Ranch in der Gegend, daher zollten ihr alle eine gewisse Aufmerksamkeit. Lucas’ Vater Ellery Cochran war vor wenigen Wochen gestorben. Dee hatte den Mann nicht persönlich gekannt und konnte ihm gerade seinen Namen zuordnen, wenn er ihr in der Stadt über den Weg gelaufen war. Sein Tod bedeutete kein außergewöhnliches Ereignis für sie. Der Tod war normal, und Ellery war friedlich gestorben. Mehr konnte ein Mensch kaum verlangen.
Der Vorfall interessierte sie nur beiläufig, etwa so wie die Geburt eines Kindes bei einem Nachbarn. Da sie mit Ellery nie etwas zu schaffen gehabt hatte, erwartete sie auch keinen näheren Umgang mit seinem Sohn. Als sie hinaus in den eisigen Wind trat, hatte sie die Cochrans bereits wieder vergessen. Sie zog den alten Mantel ihres Vaters fester um den Körper, stülpte sich seinen zu großen Hut über die Ohren, senkte den Kopf, um das Gesicht vor dem Wind zu schützen, lief eilig zu ihrem Wagen und stieg ein.
Spät an diesem Nachmittag fing es an zu schneien. Das stille Wirbeln der weißen Flocken war ein Anblick, den Dee liebte. Er erfüllte sie mit Zufriedenheit und nicht mit Unruhe wegen der weiteren Verzögerung des Frühlings. Dee liebte den Wechsel der Jahreszeiten. Jede hatte ihren eigenen Zauber und ihre eigene Schönheit, und sie lebte so eng verbunden mit dem Land, dass sie fest in den unaufhaltsamen Rhythmus der Natur eingebunden war. Ihre Tiere standen behaglich im Stall. Die Arbeit des Tages war erledigt, und sie saß geborgen in ihrem Häuschen, in dem ein munteres Feuer fröhlich prasselte und sie von außen wärmte. Von innen wärmte sie sich mit einer Tasse Kaffee. Sie hatte nichts Dringenderes mehr zu tun, als die Füße ans Feuer zu strecken und eines der wenigen kostbaren Bücher zu lesen, die sie sich für den Winter zugelegt hatte. Der Winter war die Zeit des Ausruhens für sie. In den übrigen drei Jahreszeiten war sie zu beschäftigt, um Zeit oder Energie aufs Lesen verwenden zu können.
Doch bald schon ließ sie das Buch in den Schoß sinken, lehnte den Kopf zurück an die hohe Lehne des Schaukelstuhls, richtete den Blick nach innen und plante ihren Garten. Der Mais war im vergangenen Jahr so gut gediehen, dass es vielleicht ratsam war, mehr davon anzubauen. Mais war nie verschwendet; was die Stadtbewohner nicht kauften, konnte sie immer noch als Futter für ihr Pferd verwenden. Doch wenn sie mehr Mais anbaute, musste sie Einsparungen bei anderen Gemüsesorten vornehmen, und sie war nicht sicher, ob das klug wäre. Dank sorgfältiger Planung und etlicher Experimente wusste sie auf den Quadratmeter genau, wie viel sie allein bewirtschaften konnte. Sie hatte nicht die Absicht, auf Kosten der Qualität ihres Gemüses zu expandieren. Und sie wollte auch nicht irgendeinen Jungen als Aushilfe einstellen. Vielleicht war es egoistisch von ihr, aber die größte Freude, die sie aus ihrem Garten zog – abgesehen von der urtümlichen Befriedigung über das Wachsen von Pflanzen –, war ihre völlige Unabhängigkeit. Sie war allein und war es mit Wonne.
Anfangs hatte es ihr Angst gemacht, damals mit achtzehn Jahren plötzlich ganz alleine dazustehen. Als Dee sechzehn war, nur ein paar Jahre nachdem die Familie sich in dem schmalen, fruchtbaren Tal knapp außerhalb der Grenzen von Prosper in Colorado niedergelassen hatte, starb ihre Mutter. Sie war Lehrerin und hinterließ ihrer Tochter ihre Bücher, ihre Wertschätzung harter Arbeit und einen gesunden Menschenverstand. Kaum zwei Jahre später handelte sich ihr Vater George Swann einen Tritt an den Kopf von einem Maultier ein. Er starb am nächsten Tag in seinem Bett, ohne noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Stille und Leere hatten sie heimgesucht. Die Einsamkeit und ihre Verletzlichkeit machten ihr Angst. Eine Frau allein war schutzlos. Dee hatte ihrem Vater eigenhändig ein Grab geschaufelt und ihn begraben. Niemand sollte wissen, dass sie völlig allein auf dem Gehöft lebte. Wenn sie zum Proviantkauf nach Prosper kam, ignorierte sie freundliche Erkundigungen nach ihrem Vater und sagte nur, er könnte die Ranch im Moment nicht verlassen. Ihr Gewissen beruhigte sie damit, dass sie ja nicht log, auch wenn sie nicht die ganze Wahrheit preisgab.
George war zu Beginn des Winters verstorben, und während der langen kalten Monate hatte Dee getrauert und über ihre Lage nachgedacht. Das kleine Tal gehörte jetzt ihr. Es war zu klein für Viehhaltung im großen Stil, aber zu groß, um es allein zu bewirtschaften. Der Boden war fruchtbar, bewässert vom kristallklaren Angel Creek, der sich aus der Prosper-Schlucht ergoss und mitten durch das Tal floss. Sie konnte sich später nie genau an den Tag erinnern, an dem sie entschied, wie sie ihr Leben zukünftig gestalten wollte. Mit jedem Tag, der kam, hatte sie einfach getan, was getan werden musste.
In erster Linie musste sie lernen, sich zu verteidigen. Mit verbissener Entschlossenheit nahm sie sich Tag für Tag die Waffen ihres Vaters vor: einen 36er-Colt, ein altes Sharps-Gewehr und eine glänzende, ein Jahr alte, doppelläufige Schrotflinte. Der Colt war lange nicht benutzt worden und eingerostet. Seit Georges Ankunft am Angel Creek hatte er ihn nicht mehr aus dem Halfter genommen. Er konnte nicht gut mit Handfeuerwaffen umgehen, hatte er oft im Scherz gesagt. Mit einer Schrotflinte dagegen brauchte er nur ungefähr die Richtung seines Ziels ins Visier zu nehmen.
Dee ging es ähnlich. Sie reinigte und ölte alle drei Waffen, wie sie es sich bei ihrem Vater abgeschaut hatte, und übte Stunde um Stunde das Laden und Entladen, bis sie es automatisch und ohne nachzudenken beherrschte. Erst dann begann sie, auf Ziele zu schießen. Als Erstes nahm sie sich den Colt vor, weil sie glaubte, es wäre am einfachsten. Doch sie begriff sofort, warum George diese Waffe nicht sehr gemocht hatte. Auf einige Entfernung war sie einfach nicht zielgenau genug, um sich auf sie verlassen zu können. Dee experimentierte, bis sie wusste, aus welcher Entfernung sie die Zielscheibe traf, die sie an einen dicken Baumstamm gemalt hatte. Mit dem Gewehr fiel es ihr viel leichter, ein Ziel zu treffen, noch dazu aus viel größerer Entfernung. Doch wie ihr Vater hatte auch sie eine Vorliebe für die Schrotflinte. Jemand, der Böses im Sinn hatte, mochte denken, mit einer Pistole oder selbst mit dem Gewehr würde sie nicht treffen. Aber kein Mann bei klarem Verstand käme je auf die Idee, dass sie ihn mit einer Schrotflinte verfehlen könnte.
Sie verschwendete ihre Zeit nicht mit dem Versuch, möglichst schnell mit der Pistole bei der Hand zu sein. Das war etwas für Revolverhelden auf der Suche nach zweifelhaftem Ruhm, und das brauchte sie nicht. Sie strebte Zielsicherheit an, und daran arbeitete sie Tag für Tag, bis sie sich für geschickt genug hielt, um sich mit der Waffe zu verteidigen, die ihr gerade zur Verfügung stand. Mehr als geschickt würde sie nie sein, aber Geschicklichkeit reichte ihr.
Auch den Garten bewirtschaftete sie pragmatisch. Sie und ihre Mutter hatten ihn stets gepflegt und jeden Sommer stundenlang Gemüsevorräte für den Winter eingekocht. Dee arbeitete gern im Garten, sie mochte den Rhythmus dieser Arbeit und genoss es, die Früchte ihrer Mühen zu ernten. Der Verlust ihrer Eltern hatte sie mit der Erkenntnis konfrontiert, dass das menschliche Leben vergänglich war, und sie hatte etwas Dauerhaftes gebraucht, um die Trauer überwinden zu können. Das Land war ihre Rettung, denn es blieb. Ein Garten war etwas Produktives, er bot Fülle für die grundlegendsten Bedürfnisse. Es milderte ihren Schmerz, wenn sie sah, wie aus dem Boden Leben entstand, und die körperliche Arbeit bescherte ihr die Erfüllung einer anderen Art. Das Land gab ihr einen Lebensinhalt.
Zu Frühlingsbeginn wurde in der Stadt bekannt, dass George Swann im Winter gestorben war. Dee sah sich etlichen Fragen ausgesetzt. Menschen, die sie lediglich vom Sehen kannte, fragten sie unverblümt nach ihren Plänen, ob sie Verwandte hätte, die sie aufnehmen würden, wann sie zurück nach Osten ginge. Sie hatte Cousinen in Virginia, aber selbst wenn sie zurückgewollt hätte, was nicht der Fall war, gab es niemanden, der ihr nahestand. Außerdem war sie der Meinung, dass es außer ihr niemanden etwas anging. Die Neugier der Stadtbewohner empfand sie als nahezu unerträglich. Dee war seit jeher gern allein, und dieser Charakterzug hatte sich in den vergangenen Monaten noch verstärkt. Die Leute waren empört, als sie ihre Absicht erklärte, auf dem Gehöft zu bleiben. Sie war nichts weiter als ein Mädchen, noch nicht einmal neunzehn Jahre alt. Nach der Meinung der Stadtleute hatte sie kein Recht darauf, dort draußen ganz allein zu leben. Eine anständige Frau tat so etwas nicht.
Ein paar junge Viehtreiber von den Ranches der Umgebung und auch einige andere, denen man als Entschuldigung nicht ihre Jugend zugutehalten konnte, glaubten, sie sehnte sich nach dem, was ein Mann ihr geben könnte. In den Sommernächten machten sie sich allein, manchmal auch zu zweit, auf den Weg zu Dees Häuschen. Mit der Flinte in der Hand sorgte Dee dafür, dass sie schneller wieder von ihrem Grundstück verschwanden, als sie gekommen waren. Allmählich sprach sich herum, dass die kleine Swann nicht an Männern interessiert war. Ein paar mussten sich jedoch erst eine Schrotladung in den Allerwertesten einhandeln, bevor sie das begriffen.
In diesem ersten Frühling hatte Dee aus reiner Gewohnheit wie früher im Garten Gemüse angebaut, das gut und gern für zwei gereicht hätte. Die Ernte stand bereits kurz bevor, als sie erkannte, dass sie einen großen Überschuss erwirtschaften würde. Was sie selbst nicht benötigte, brachte sie in die Stadt und verkaufte es dort vom Wagen. Doch das bedeutete, dass sie selbst den ganzen Tag lang in der Stadt bleiben musste. Nach einigen Überlegungen kam sie mit Mr Winches überein, dass er ihr das Gemüse manchmal für Bargeld und manchmal gegen Guthaben in seinem Hauptbuch abkaufte und es in seinem Laden anbot. Diese Regelung bot beiden Vorteile: Dee hatte mehr Zeit für ihren Garten, und Mr Winches konnte das Gemüse mit einem hübschen kleinen Gewinn an die Einwohner verkaufen, die keinen eigenen Garten besaßen.
Im nächsten Jahr pflanzte Dee, dieses Mal vorsätzlich, wieder einen riesigen Gemüsegarten an und stellte bald fest, dass sie ihn nicht angemessen pflegen konnte. Das Unkraut wuchs schneller, als sie jäten konnte, und das Gemüse litt darunter. Trotzdem erzielte sie bei Mr Winches einen hübschen Gewinn und kochte mehr als genug ein, um sich selbst über den Winter zu bringen.
Als Dee im darauffolgenden Jahr zum dritten Mal ihren Garten bewirtschaftete, ließ sich südlich von Prosper ein neuer Rancher nieder. Kyle Bellamy war jung, erst Ende zwanzig, und er sah besser aus, als gut für ihn war. Dee fasste auf den ersten Blick eine Abneigung gegen ihn. Er war übertrieben aggressiv und butterte andere in Gesprächen rücksichtslos unter. Kyle wollte sich eine große Ranch aufbauen und machte kein Geheimnis daraus, als er begann, Land zu kaufen. Allerdings achtete er sorgsam darauf, Ellery Cochran nicht auf die Füße zu treten.
Da Bellamy eine weitere gute Wasserquelle für sein wachsendes Imperium benötigte, bot er Dee an, ihr das Angel-Creek-Tal abzukaufen. Beinahe hätte sie über sein lächerlich niedriges Angebot laut gelacht. Doch sie riss sich zusammen und lehnte höflich ab.
Sein nächstes Angebot fiel schon höher aus. Wieder lehnte sie höflich ab.
Sein drittes Angebot war noch höher und Kyle inzwischen eindeutig wütend. Er warnte sie, dass er nicht mehr bieten würde. Dee sah ein, dass er ihren Standpunkt nicht begriff.
„Mr Bellamy, es geht nicht um Geld. Ich will an niemanden verkaufen, um keinen Preis. Ich will nicht fort von hier. Hier bin ich zu Hause.“
Bisher hatte Bellamy alles kaufen können, was er wollte. Es hing nur davon ab, wie viel er auszugeben bereit war. Darum schockierte ihn Dees Antwort. Denn ganz gleich, wie viel er ihr bot, sie würde nicht verkaufen.
Doch er wollte das Land.
Also bot er ihr an, sie zu heiraten. Das hätte Dee amüsiert, wäre da nicht die erschreckende Erkenntnis gewesen, dass ihre Abneigung gegen eine Ehe mit wem auch immer mindestens genauso groß war wie die, das Land zu verkaufen. Wenn sie an ihre Zukunft dachte, war sie immer verschwommen davon ausgegangen, dass sie irgendwann heiraten und Kinder haben würde. Daher verblüffte es sie selbst, zu erkennen, dass sie das im Grunde gar nicht wollte. In den zweieinhalb Jahren ihrer Unabhängigkeit hatte sie festgestellt, wie sehr es ihr gefiel, allein und selbstständig zu sein und niemandem außer sich selbst Rechenschaft zu schulden.
Statt zu lachen, erwiderte sie also: „Danke, Mr Bellamy, aber ich habe nicht die Absicht, jemals zu heiraten.“
Nach dieser Abfuhr fanden ein paar Viehtreiber großen Spaß daran, durch ihren Gemüsegarten zu reiten und unter Lachen und Johlen in die Luft zu schießen, um ihr Vieh zu erschrecken. Falls sie erwartet hatten, dass sie sich vor Angst unter ihrem Bett versteckte, erfuhren sie ebenso wie Dees vormalige Verehrer, wie gefährlich es war, sie zu unterschätzen. Der Gemüsegarten war ihre Lebensgrundlage, und sie verteidigte ihn mit der doppelläufigen Flinte. Dabei zweifelte sie keine Sekunde daran, dass der Großteil der Viehtreiber von Bellamys Ranch kam. Aber immer mehr kleine Ranches schossen aus dem Boden und lockten Fremde an, die lernen mussten, dass man die kleine Swann am besten in Ruhe ließ. Während der Saatzeit schlief sie mit griffbereiter Flinte, um die grölenden Cowboys abzuwehren, die sie belästigten. Abgesehen davon kam sie gut zurecht. Falls sich die johlenden Horden zu mehr als nur zu Belästigungen hinreißen lassen sollten, falls sie sich bedroht fühlte, würde sie drastischere Maßnahmen ergreifen und nicht nur mit Schrot schießen.
Seit dem Tod ihres Vaters waren sechs Jahre vergangen. Dee sah sich in ihrem Häuschen um und war zufrieden mit dem, was sie sah. Sie besaß alles, was sie brauchte, und noch ein paar kleine Annehmlichkeiten obendrein. Im Stall standen zwei Milchkühe und ein Bulle, der stets den nötigen Nachwuchs für ihre Rindfleischversorgung produzierte. Irgendwann würden seine Kälber ihn und die Kühe ersetzen, und das Leben ging weiter. Sie hatte ein Pferd, ein stämmiges Tier, das den Pflug und den Wagen zog und auf dem sie gelegentlich auch reiten konnte. Eine kleine Hühnerschar versorgte sie mit Eiern und bot Abwechslung vom Rindfleisch. Das alles gehörte ihr.
Wenn eine Frau heiratete, ging ihr Besitz automatisch an ihren Mann über und unterlag – wie die Frau selbst – seinen statt ihren Wünschen. Dee sah keinen Grund, die Kontrolle über sich und ihr Land jemals abzugeben. Wenn sie deshalb zur alten Jungfer werden sollte, nun ja, es gab Schlimmeres im Leben. Sie war wahrhaft unabhängig, was nur auf wenige Frauen zutraf, bewirtschaftete ihr eigenes Land und konnte sich selbst ernähren. Die Leute in Prosper mochten sie für ein bisschen seltsam halten, doch man respektierte sie als hart arbeitende, ehrliche Geschäftsfrau. Das reichte ihr.
Die Bäume auf Double C bekamen endlich Knospen, ein deutlicher Hinweis auf den Frühling. Wenngleich der Wind von den immer noch schneebedeckten Berggipfeln nach wie vor kalte Luft mitbrachte, spürte Lucas Cochran den undefinierbaren Duft nach neuem Leben, Frische und jungem Grün. Zehn Jahre hatte er fern von dem Land zugebracht, das er liebte. Jetzt, da er zurück war, konnte er nicht genug davon bekommen, als wäre ein verloren gegangener Teil von ihm erneuert worden.
Nur knapp fünf Monate nachdem sein Vater mit der kleinen Familie von Tennessee aus nach Westen gezogen war und sich in dem breiten Tal niedergelassen hatte, war Lucas auf die Welt gekommen. Manchmal staunte er über den Mut seiner Mutter, mit einem gerade erst einjährigen Baby und schwanger mit dem zweiten ihr gemütliches Heim zu verlassen und in einer Höhle zu leben. Noch dazu in einer Zeit, als die Cochrans im Umkreis von Hunderten von Meilen die einzigen Weißen gewesen waren. Diese frühen Tage jedoch waren noch die sichersten gewesen, da die Indianer damals von den sonderbaren Menschen, die in ihr Territorium eindrangen, noch nicht in Angst und Schrecken versetzt worden waren.
Rückblickend sagte er sich, dass wohl der Goldrausch in Kalifornien im Jahr 1849 Auslöser der ernsten Feindseligkeiten zwischen Indianern und Weißen gewesen war. Tausende von Menschen waren Richtung Westen geströmt, und nach dem Ende des Goldrauschs gingen nur wenige wieder zurück. Entsprechend wuchs die Zahl der Weißen westlich des Mississippi, und mit ihr wuchsen naturgemäß auch die Spannungen zwischen den beiden Völkern. Dann erlebte Colorado 1858 seinen eigenen Goldrausch, und die zweite große Zuwanderungswelle von Weißen führte zu offenem Krieg.
Zu dem Zeitpunkt hatte die Double-C-Ranch bereits ihre jetzige Größe erreicht und beschäftigte an die hundert Mann. Die Erdhöhle war längst einem roh gezimmerten Blockhaus gewichen, und Ellery baute an einem großen, anspruchsvollen Haus für seine Familie. Lucas war damals vierzehn, schon beinahe einen Meter achtzig groß und dank lebenslanger harter Arbeit stark wie ein Mann. Sein älterer Bruder Matthew war fast sechzehn und wild und ungestüm wie alle jungen Männer an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Die beiden Jungen waren unzertrennlich. Matts Frohsinn glich Lucas’ düstere Art aus, und Lucas’ Vernunft gelang es weitgehend, Matts Abenteuerlust zu zügeln.
Der jüngste Cochran, Jonah, war sechs Jahre jünger als Lucas und von Anfang an von der engen Verbundenheit der beiden älteren Jungen ausgeschlossen. Das geschah nicht etwa aus Boshaftigkeit, sondern schlicht und einfach wegen des unüberbrückbaren Altersunterschieds. Matt und Lucas waren als Kleinkinder zusammen aufgewachsen, sie waren Spielkameraden gewesen und hatten unter einer Decke geschlafen. Jonah hingegen blieb weitgehend sich selbst überlassen. Er war ein stiller, zurückgezogener Junge, stand immer abseits und sah seinen beiden älteren Brüdern zu. Nur selten nahm er an ihren ruppigen Spielen teil. Lucas fand es oft merkwürdig, dass Jonahs schmales, ernstes Gesicht ihm trotz seiner Verbundenheit mit Matt bis heute am deutlichsten in Erinnerung geblieben war.
Die Indianer griffen eines Tages die Ranch an, als der Großteil der Männer außerhalb beschäftigt war. Matt und Lucas waren rein zufällig zu Hause. Sie kamen frühzeitig zurück, weil Matts Pferd ein Eisen verloren hatte, und der eine ging niemals ohne den anderen irgendwohin. Ihre Mutter Alice bestand darauf, dass sie zu Mittag aßen, bevor sie zurück in die Berge ritten. Sie saßen mit ihr und Jonah am Tisch, als sie die ersten Schreie hörten.
Die Indianer besaßen nicht viele Feuerwaffen, doch zahlenmäßig waren sie den wenigen Verteidigern der Ranch fünffach überlegen, und die Vorderlader der Cochrans benötigten Zeit zum Laden. Lucas erinnerte sich nur noch verschwommen an Lärm und Hektik, an die Explosionen von Schießpulver an seinem Ohr, an die Panik, wenn er beim Laden gleichzeitig die Indianer im Auge behalten wollte. Er, Matt und Alice bezogen jeweils an einem Fenster Posten. Noch heute erinnerte er sich an Alices plötzlichen Schrei, als sie den achtjährigen Jonah ungeschützt an einem Fenster stehen und mutig mit einer Pistole zielen sah. Die Waffe war so schwer, dass er sie mit beiden Händen halten musste. Lucas, der ihm am nächsten stand, packte seinen kleinen Bruder, brachte ihn hinter einem umgestürzten Tisch in Sicherheit und befahl ihm, dort zu bleiben. Im selben Moment, als er sich umwandte, wurde die Tür eingetreten, und Matt prallte gegen einen Indianer. Der Indianer hielt in einer Hand ein blitzendes Messer. Lucas packte die Pistole, die Jonah fallen gelassen hatte, ließ sich auf ein Knie nieder und zielte. Unter dem Angriff des stärkeren Indianers brach Matt zusammen, und das lange Messer drang tief in seine Brust. Im selben Moment feuerte Lucas zielsicher, doch für Matt war es zu spät.
Der Angriff war so rasch vorüber, wie er begonnen hatte. Vielleicht weil die Indianer wussten, dass die Männer draußen in den Bergen, alarmiert von den Schüssen, wie der Blitz zur Ranch reiten würden. Der Kampf hatte insgesamt keine fünf Minuten gedauert.
Nach Matts Tod fühlte Lucas sich wie ein verwundetes Tier und fand keinen Trost. Seine Eltern halfen sich gegenseitig über den Verlust ihres Ältesten hinweg. Jonah, ans Alleinsein gewöhnt, zog sich noch stärker in sich selbst zurück. Lucas aber war aus der Bahn geworfen, seine Welt war aus den Fugen geraten. In jenem Jahr war er erwachsen geworden, er hatte den Tod gesehen, und er hatte getötet. Ohne Matt als Korrektiv prägten sich die scharfen Kanten seines Wesens noch stärker aus.
Im Jahr 1861 begann der Bürgerkrieg, und die Armee zog von Colorado aus in den Kampf. Damit waren die Einwohner dieses Gebiets den zunehmenden Angriffen der Indianer relativ schutzlos ausgesetzt. Nur die wenigen besiedelten Städte waren sicher. Prosper war inzwischen groß genug, um sich selbst zu schützen. Doch die Güterzüge und die abgelegenen Ranches mussten sich selbst verteidigen, so gut sie konnten. Alice Cochran überlebte nicht, allerdings fiel sie keinem Indianerangriff zum Opfer. Eine Erkältung im Winter 1863 entwickelte sich zu einer Lungenentzündung, und binnen einer Woche nach dem Beginn der Krankheit wurde sie zu Grabe getragen.
Dann, 1864, verschlimmerten sich die Indianerkriege sogar noch. Im November jenes Jahres führte Colonel John Chivington seine Truppen aus Colorado bei Sand Creek gegen eine Gruppe von Indianern und metzelte Hunderte von Frauen und Kindern nieder. Das löste eine Lawine der Gewalt aus, die sich von Kanada bis Mexiko verbreitete und die Prärie-Indianer in ihrem Rachedurst vereinte. Nach dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1865 kehrten die Truppen zurück, doch zu dem Zeitpunkt steckte Colorado bereits in seinem eigenen Krieg.
Trotz aller Gefahren strömten weiter Siedler nach Westen. Prosper wuchs rasch zu einer umtriebigen kleinen Stadt. Sogar eine Lehrerin wurde angestellt, ein deutliches Zeichen der Zivilisation. Eine Gemeinde brauchte eine Schule, um neue Siedler anzulocken. In Boulder wurde 1860 die erste Schule gebaut, und die Einwohner von Prosper waren sehr stolz, dass sie bereits fünf Jahre später eine eigene Schule besaßen. Lucas und Matt waren zu Hause von ihrer Mutter unterrichtet worden, Jonahs Schulbildung endete mit seinem Tod. Mit fünfzehn ging Jonah zum ersten Mal in die Schule, und von da an ritt er täglich nach Prosper zum Unterricht.
Der jüngste Cochran hatte nie viel geredet, sondern immer nur beobachtet. Als Lucas älter wurde, begann er, die mangelnde Nähe zwischen sich und seinem jüngeren Bruder zu bedauern. Jonah dagegen schien eine solche Beziehung gar nicht zu wünschen. Der Junge lebte in sich zurückgezogen und behielt seine Gedanken und Träume für sich. Manchmal fragte Lucas sich, was wohl im Kopf des Jungen mit den ernsten blauen Augen, die seinen so ähnelten, vor sich ging. Er erfuhr es nie.
Eines Nachmittags brachte Jonahs Pferd den Jungen von der Schule nach Hause. Er klammerte sich an den Sattel, ein Pfeil steckte in seiner Brust. Lucas war als Erster bei ihm. Jonah fiel seinem Bruder aus dem Sattel in die Arme und sah zu Lucas auf. Zum ersten Mal war der Blick seiner blauen Augen nicht ernst, sondern erhellt von inniger Liebe und Freude. „Ich wollte …“, begann er, doch mit dem nächsten Atemzug starb er.
Lucas hatte auf dem Boden gekniet und seinen Bruder in den Armen gewiegt. Was hatte er gewollt, dieser kleine Junge, der kaum Zeit zum Leben gehabt hatte? War es ein schlichter Wunsch gewesen, vielleicht der Wunsch, dass die Schmerzen aufhörten? Oder hatte er sich etwas für die Zukunft gewünscht? Lucas wusste es nicht. Er wusste nur, dass Jonahs Augen unmittelbar vor seinem Tod lebendiger gewesen waren als je zuvor.
Die Double-C-Ranch war mit dem Blut der Cochrans getränkt, genau wie mit dem Blut von Indianern. Und nach Ellerys Tod war Lucas der einzige Cochran, der noch übrig war.
Seine Träume kreisten um die Double-C-Ranch, wie immer schon. Diese Tatsache hatte zum Zerwürfnis mit seinem Vater geführt. Wenn Jonah nicht gestorben wäre, hätte Lucas sich vielleicht nicht so verletzt, so gewaltbereit gefühlt. Doch das war nur eine Hypothese, und er verbot sich alle weiteren Gedanken darüber. Tatsache war schlicht und ergreifend, dass die Ranch nur einen Boss verkraftete, und die zwei verbleibenden Cochrans schlugen sich immer wieder fast die Köpfe ein. Ellery war zufrieden mit dem, was er hatte, doch Lucas wollte expandieren.
Schlussendlich gehörte die Double-C-Ranch Ellery, also war Lucas derjenige, der gehen musste. Vater und Sohn schlossen Frieden, wussten sie doch beide, dass zwei Hengste nicht auf einer Koppel leben konnten. Sie bedauerten den Bruch, akzeptierten aber, dass es für beide besser war, wenn Lucas fern von Double C sein eigenes Leben führte. Zwar hatten sie einander geschrieben und sich sogar ein paar Mal in Denver getroffen, doch bis zu Ellerys Tod war Lucas nie auf die Ranch zurückgekehrt.
In diesen zehn Jahren hatte er keineswegs in Luxus geschwelgt und sich auf verschiedenste Art und Weise über Wasser gehalten: als Viehtreiber, mit Poker und eine Zeit lang sogar als Sheriff. Lucas Cochran war keiner, mit dem man sich gern anlegte. Wenn er etwas wollte, durfte sich ihm nichts in den Weg stellen. Mochten die Kosten noch so hoch sein, er war bereit, den Preis zu zahlen, wenn er etwas wirklich haben wollte.
Nach Ellerys Tod ging die Double-C-Ranch in seinen Besitz über. Sie war ohnehin schon einträglich, doch er wollte den Profit noch steigern. Colorado stand kurz davor, zum Staat erklärt zu werden. Das eröffnete einem Mann, der klug und hart genug war, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen, eine Goldgrube an Möglichkeiten. In den letzten zwei Jahren hatte Lucas in Denver mit dem Gouverneur auf die Eigenstaatlichkeit hingearbeitet. Er wusste, wie die Macht funktionierte, und erkannte auf Anhieb ihr enormes Potenzial. Im vorigen Dezember hatte er in Denver an der Versammlung teilgenommen, die die Verfassung formulieren sollte. Im Juli sollte über den Entwurf abgestimmt werden.
Die Eigenstaatlichkeit war von unschätzbarem Wert für die Double-C-Ranch. Mit ihr würden Siedler kommen, und mit den Siedlern kam die Eisenbahn. Die Eisenbahn erleichterte ihm den Transport seines Rindfleischs an den Markt ganz ungemein. Er wollte, dass die Double-C-Ranch die größte und beste Ranch überhaupt wurde. Sie war alles, was ihm geblieben war. Und während die Double-C-Ranch reicher würde, wollte er die Kontakte nutzen, die er in Denver geknüpft hatte. Beide Stränge würden einander befruchten: Die Ranch würde mehr Geld einbringen, und er würde größeren Einfluss in Denver bekommen. Je größer sein Einfluss in Denver war, desto stärker konnte er Entscheidungen beeinflussen, die die Ranch betrafen, und ihr dadurch zu noch größerem Reichtum verhelfen.
Zwar gelüstete es ihn nicht nach politischer Macht, aber er musste dafür sorgen, dass die Ranch weiterhin florierte. Und er war bereit, den Preis zu zahlen. Die zehn Jahre, als er auf sich allein gestellt war, hatten ihn so manche Lektion gelehrt. Und diese Lektionen kamen ihm jetzt beim Aufbau seines Imperiums zugute.
Ein Imperium aber benötigte Erben.
Im Grunde hatte Lucas es nicht eilig, sich zu binden, und doch stach ihm bereits kurz nach seiner Rückkehr Olivia Millican ins Auge, die Tochter des Bankiers Wilson Millican. Sie war hübsch, kühl und kultiviert, gesellschaftlich hoch angesehen und wohlerzogen. Sie wäre die ideale Ehefrau. Einer Frau wie ihr musste man den Hof machen. Dazu war Lucas durchaus bereit. Er mochte Olivia; vermutlich würden sie sich besser verstehen als viele andere Ehepaare. In einem Jahr würde sie ihm eine gute Frau sein.
Doch in diesem Jahr war er damit beschäftigt, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Er wollte so vieles schaffen. Zum einen wollte er die Herde verbessern, neue Bullen einführen, Rassen kreuzen, um ein robusteres Rind ohne Einbußen bei der Fleischqualität zu züchten. Außerdem wollte er verschiedene Weidegräser erproben, anstatt die Herde das fressen zu lassen, was zufällig gerade wuchs.
Und er wollte expandieren. Nicht sofort in allzu großem Umfang, schließlich wollte er sich nicht gleich zu Anfang übernehmen. Doch sobald er die Qualität seiner Herde verbessert hatte, wollte er sie auch vergrößern. Das erforderte mehr Weideland und mehr Wasser. Der Wert einer guten Wasserquelle war ihm durchaus bewusst; sie konnte über Leben und Tod der Herde entscheiden. So mancher Rancher war schon untergegangen, weil sein Wasser versiegt war.
Der Ausbau der Ranch bot ihm die solide Grundlage, die er benötigte, um seine übrigen ehrgeizigen Pläne zu verwirklichen. Er war der erste Schritt, der allernotwendigste Schritt.
Zum Land der Cochrans gehörte eine gute Wasserquelle, ein kleiner, träge fließender Fluss, der sich um die Ranch schlängelte. Solange Lucas sich erinnern konnte, war er nie ausgetrocknet, doch in einigen Jahren schrumpfte er im Sommer zu kaum mehr als einem Rinnsal zusammen. Bisher hatte es immer geregnet, bevor die Lage bedrohlich wurde, aber eines Tages kam der Regen vielleicht nicht rechtzeitig. Colorado war ohnehin nicht reich an Niederschlag. Der Großteil des Wassers stammte von den Schneegipfeln. Ein gutes Jahr hing stärker vom winterlichen Schneefall ab als vom Sommerregen, und im vergangenen Winter hatte es nicht viel geschneit. Ein kluger Rancher besaß mehrere Wasserquellen, für alle Fälle. Einige Bäche führten immer Wasser, andere trockneten aus.
Einer der Streitpunkte zwischen Ellery und Lucas war die Notwendigkeit einer weiteren guten Wasserquelle gewesen, genauer gesagt Angel Creek. Angel Creek und der Fluss auf dem Land der Double-C-Ranch entstammten derselben Quelle, einem größeren Bach, der sich aufteilte und auf entgegengesetzten Seiten den Berg herabfloss. Während der Trockenzeit floss das Wasser vom Berg in den Angel Creek ab, und der zweite Fluss blieb trocken.
Lucas hatte das schmale Angel-Creek-Tal allein des Wassers wegen für sich beanspruchen wollen. Doch Ellery hatte abgelehnt und behauptet, die Wasserversorgung der Double-C-Ranch sei ausreichend. Außerdem floss der Angel Creek auf der anderen Seite des Bergs, der keinen geeigneten Zugang für die Herde bot. Sie müsste um den Berg herumgetrieben werden, und das sei viel zu aufwendig. Obendrein war das Tal zu klein, um eine große Herde zu ernähren.
Angel Creek. Lucas kniff die Augen zusammen und stellte sich vor, wie üppig grün das Tal war. Vielleicht würde es nun doch bald zum Cochran-Land gehören.
Er sprach seinen Vormann darauf an. „Hat sich nicht vor Jahren jemand am Angel Creek niedergelassen?
William Tobias, der als Vormann auf der Ranch arbeitete, seit Lucas denken konnte, brummte eine Bestätigung. „Ja. Ein Siedler, er hieß Swann.“ Ein leichtes Kräuseln der Oberlippe verriet, wie zuwider es ihm war, das Wort „Siedler“ auch nur auszusprechen.
Auch Lucas brummte, und seine Miene verfinsterte sich. Wie alle Rinderzüchter hielt er nichts von Siedlern und den Zäunen, die sie auf vormals freiem Land errichteten. Aber vielleicht zog der Siedler am Angel Creek ja einen Verkauf in Erwägung. Allerdings waren die meisten Siedler starrsinnig wie Maultiere.
Möglicherweise besaß dieser Mann mehr Verstand. Es war immerhin einen Ritt zum Angel Creek wert, denn wenn er nicht fragte, würde er es nie erfahren.
Zu Pferde waren die engen Pässe zu bewältigen, doch eine Herde über sie hinwegzutreiben wäre pure Dummheit gewesen. Lucas fasste die Sonne ins Auge und rechnete sich reichlich Zeit bis zum Einbruch der Nacht aus, um hin- und wieder zurückreiten zu können. Warum sollte er also noch warten?
Dass er nicht recht daran glauben konnte, den Siedler zum Verkauf überreden zu könnte, ärgerte ihn. Wenn Ellery auf ihn gehört hätte, wäre Angel Creek längst in seinem Besitz. Aber solche Gedanken waren nichts weiter als Zeitverschwendung.
Das kleine Gehöft überraschte Lucas, als er den breiten Hang zu den Farmgebäuden hinunterritt. Es gab nur zwei Kühe und einen Bullen, doch alle drei waren dick und gesund. Das einzige Pferd in der Einzäunung sah seidig glänzend und gut gepflegt aus, wenn es auch kein Exemplar der Spitzenklasse war. Hühner pickten zufrieden im Boden und schenkten ihm kaum Beachtung, als er absaß und den Zügel an einen Pfosten band, wobei er sich interessiert umsah. Das Häuschen war zwar grob gemauert, aber adrett und robust, genau wie der Stall und die Zäune. Hinter dem Haus lag ein großer Gemüsegarten, frisch zur Vorbereitung der Frühlingsaussaat umgegraben, auch wenn es dafür noch ein bisschen früh war. Lucas entdeckte nichts, was fehl am Platz oder vernachlässigt war, und seine schwache Hoffnung auf den Verkauf des Grundstücks schwand. Wäre die Farm heruntergekommen gewesen, hätte er sich eine Chance ausgerechnet, doch dieses Gehöft florierte. Der Mann hatte es nicht nötig wegzugehen.
Im nächsten Moment öffnete sich die Haustür, und eine schlanke junge Frau mit einer Flinte in der Hand trat hinaus auf die Veranda. Ihre Miene war ruhig, aber wachsam, und Lucas sah ihren Finger am Abzug.
„Was wollen Sie, Mister?“, erkundigte sie sich.
Eine Schrotflinte ließ ihn immer auf der Hut sein, doch doppelt nervös machte sie ihn in den Händen einer Frau. Wenn sie sich aufregte, könnte sie versehentlich ihn oder sein Pferd erschießen – oder beide. Er kämpfte seine rasch aufsteigende Wut nieder und sagte leise und beschwichtigend: „Ich will Ihnen nichts Böses, Ma’am. Sie können die Waffe herunternehmen.“
Die Flinte blieb, wo sie war. Der Doppellauf wirkte riesig. „Das entscheide ich selbst“, erwiderte sie ruhig. „Zu viele Cowboys finden es witzig, mir meinen Garten zu zertrampeln.“
„Noch haben Sie keinen Garten“, wandte er ein.
„Aber ich besitze Vieh, das gestohlen werden könnte. Darum bleibt die Flinte, wo sie ist, bis Sie mir meine Frage beantwortet haben.“
Selbst im Schatten der Veranda konnte er erkennen, wie grün ihre Augen waren. In ihrem Blick lag keine Angst oder Unsicherheit, im Grunde auch keine Feindseligkeit, nur eine gewisse Entschlossenheit. Leichte Bewunderung mischte sich in seinen Ärger. Der Siedler kann sich glücklich schätzen, eine dermaßen tatkräftige Frau zu haben, sagte er sich. Plötzlich war Lucas überzeugt, dass sie ihr Ziel sicher treffen würde. Sorgsam darauf bedacht, sich nicht zu hastig zu bewegen, hob er die Hand und nahm den Hut ab. „Ich bin Lucas Cochran von der Double-C-Ranch. Ich komme, um Ihren Mann kennenzulernen, Mrs Swann, und etwas Geschäftliches mit ihm zu besprechen.“
Die Frau bedachte ihn mit einem kühlen, festen Blick. „George Swann war mein Vater, nicht mein Mann. Er ist vor sechs Jahren gestorben.“
Allmählich ärgerte es ihn, so in Schach gehalten zu werden. „Dann könnte ich vielleicht mit Ihrem Mann oder mit Ihrem Bruder sprechen, mit dem Besitzer dieses Hofs.“
„Ich habe keinen Mann und keinen Bruder. Ich bin Dee Swann. Das hier ist mein Land.“
Sein Interesse war geweckt. Noch einmal ließ er den Blick über das ordentliche Anwesen schweifen und fragte sich, wer ihr bei der Arbeit half. Vielleicht lebten hier noch weitere Frauen, doch selbst das wäre noch nie da gewesen. Frauen bewirtschafteten einen Hof einfach nicht allein. Wenn die Männer starben, zogen sie zu irgendwelchen Verwandten. Er horchte, hörte jedoch keine Stimmen oder andere Geräusche aus dem Haus. „Sind Sie allein hier?“
Sie lächelte, doch ihr Gesichtsausdruck blieb kalt und herausfordernd. „Nein. Ich habe meine Flinte.“
„Sie können sie herunternehmen“, erwiderte er scharf und mit unverhohlenem Ärger. „Ich bin nur gekommen, um Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich will Ihnen nichts Böses.“
Daraufhin musterte sie ihn eingehend. Lucas hatte das Gefühl, dass nicht seine Worte sie beruhigten, sondern ihre eigene Einschätzung seiner Person sie veranlasste, den Lauf der Flinte zu Boden zu richten und ihm zuzunicken. „Es ist Abendbrotzeit“, sagte sie. „Ich esse früh. Sie dürfen mir gern Gesellschaft leisten, wenn Sie möchten.“
Zwar hatte er keinen Hunger, doch er nahm die Gelegenheit wahr und folgte ihr ins Haus. Es bestand lediglich aus zwei Räumen und einem Speicher, war aber innen genauso gepflegt wie außen. Die Küche lag zur Linken, der Raum zur Rechten war vermutlich ihr Schlafzimmer. Am Kamin standen ein bequemer Sessel und ein Tischchen mit einer Öllampe. Auf dem Tischchen lag zu seiner Überraschung ein aufgeschlagenes Buch. Er sah sich um und bemerkte grobe, selbst gebaute Regale voller Bücher. Analphabetin war sie also nicht.
Dee Swann ging geradewegs zu ihrem Herd und schöpfte dampfende Suppe in zwei Schüsseln. Lucas nahm seinen Hut ab, setzte sich an den robusten Tisch, und sie stellte eine Schüssel vor ihm ab. Ein Teller mit Brot und eine Kanne Kaffee standen schon bereit. Die Suppe war sämig von Gemüse und zarten Rindfleischbrocken. Und Lucas ertappte sich dabei, dass er aß, als hätte er den ganzen Tag nichts gegessen.
Seine Gastgeberin setzte sich ihm gegenüber und aß so gelassen, als wäre sie allein. Lucas beobachtete sie, forschte in ihrem Gesicht. Diese Frau gab ihm Rätsel auf. Sie flirtete nicht mit ihm, wie er es von Frauen gewohnt war, schien sich über die reine Kenntnisnahme seiner Anwesenheit hinaus nicht einmal bewusst zu machen, dass er ein Mann war. Sie war geradeheraus in Rede und Handeln, doch er vermutete hinter ihrer Ruhe lediglich eine Tarnung für eine verborgene Heißblütigkeit. Die konnte er in ihren Augen erkennen, die voll verhaltenem Feuer waren.
Auf den ersten Blick war sie unscheinbar, doch bei näherem Hinsehen bemerkte er, dass dieser Eindruck wegen der zweckmäßigen Kleidung und der strengen Frisur entstand. Das schwarze Haar trug sie zurückgekämmt und im Nacken zu einem festen Knoten geschlungen. Sie war auf exotische Weise attraktiv, mit hohen Wangenknochen und einem großen, weichen Mund, besaß aber nicht die Art von Schönheit, die sofort bezauberte. In seinen Lenden und seinem Bauch erwachte hitzige sexuelle Erregung, als er ihr beim Essen zusah. Anmutig tauchte sie den Löffel in die Suppe und aß, als wäre sie sich seiner Anwesenheit überhaupt nicht bewusst.
„Haben Sie keine Verwandten mehr?“, fragte er unvermittelt – entschlossen, ihre Aufmerksamkeit zu erzwingen.
„Ich habe Cousinen, aber niemanden, der mir nahesteht.“
„Wollen die Sie nicht bei sich aufnehmen?“
Die grünen Augen musterten ihn lange, bevor sie sich zu einer Antwort herabließ. „Vermutlich hätten sie mich aufgenommen, wenn ich sie gefragt hätte. Ich lebe aber lieber hier.“
„Warum? Es muss doch einsam sein für Sie – und auch gefährlich.“
„Ich habe die Flinte“, erinnerte sie ihn. „Und nein, ich fühle mich nicht einsam. Mir gefällt es hier.“
„Wahrscheinlich haben Sie viele Männerfreundschaften.“ Wie sollte sie nicht? Eine junge attraktive Frau, noch dazu alleinstehend, musste doch die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Sie lachte. Es war kein mädchenhaftes Kichern, sondern das kehlige Lachen einer Frau, die gern Spaß hatte. „Nicht seit sie wissen, dass ich mein Ziel zu treffen pflege. Nachdem ein paar von ihnen eine Schrotladung abbekommen haben, lassen die anderen mich in Ruhe.“
„Warum haben Sie das getan? Sie könnten längst verheiratet sein.“ Ihr Lachen verstärkte seine Erregung. Aus welchem Grund auch immer war er jedenfalls froh, dass sie unverheiratet war. Er hatte immer Wert darauf gelegt, um die Frauen anderer Männer einen großen Bogen zu machen, selbst wenn besagte Frauen noch so willig waren.
„Oh, Heiratsanträge habe ich schon bekommen, Mr Cochran. Drei, glaube ich. Ich bin nicht verheiratet, weil ich es nicht will. Ich habe nicht vor, jemals zu heiraten.“
Seiner Erfahrung nach wollten alle Frauen heiraten. Er schlürfte seinen Kaffee und fasste sie über den Becherrand hinweg ins Auge. „Wenn Sie heiraten würden, hätten Sie einen Mann für die Arbeit auf der Farm.“
„Ich schaffe meine Arbeit ganz gut. Und wenn ich heiraten würde, würde das Land nicht mehr mir gehören, sondern ihm. Ich möchte lieber unabhängig und selbstständig sein.“
Wie von selbst war das Gespräch viel persönlicher geworden, als eine erste Begegnung es gerechtfertigt hätte. Eine Aura der Vertrautheit weckte die Lust in Lucas, sie auf seinen Schoß zu ziehen, als wäre sie seine Frau. Das war jedoch nur ein Traum, denn der beherrschte Ausdruck ihrer grünen Augen ließ außer Unterhaltung nichts zu. Das ärgerte ihn maßlos, denn er war es gewohnt, dass Frauen ihm bedeutend mehr Aufmerksamkeit schenkten. Selbst Olivia, perfekt, was Haltung und Manieren betraf, reagierte so auf ihn, wie er es erwartete.