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Ein geheimnisvoller Schatz und eine Liebe, die die Grenzen der Zeit überwindet
Der sinnliche und romantische Zeitreise Roman von Bestsellerautorin Linda Howard
Grace St. John, eine junge und ambitionierte Wissenschaftlerin, stößt in einem Stapel alter Dokumente auf ein besonderes Manuskript, welches die Spur zu einem sagenumwobenen keltischen Schatz enthält. Völlig fasziniert von ihrer Entdeckung ahnt Grace nicht, dass diese der Schlüssel zu unbegrenzter Macht darstellt und ihr bereits skrupellose und machthungrige Mörder auf den Fersen sind. Der Einzige, der Grace jetzt noch helfen kann ist Niall – ein Krieger, der das Gelübde abgelegt hat, den Schatz bis in alle Ewigkeiten zu schützen. Das Problem dabei ist nur, dass Niall in den schottischen Highlands des 14. Jahrhunderts lebt. Der jungen Frau bleibt also nichts anderes übrig, als die Grenzen der Zeit mit einem magischen Ritual zu überwinden und ihren Krieger zu finden. Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass die beiden nicht nur der geheimnisvolle Schatz verbindet, sondern eine unbändige Leidenschaft, die stark genug sein muss, um allen Gefahren zu trotzen …
Erste Leser:innenstimmen
„Grace und Niall sind ein traumhaftes Paar, deren Liebe über Zeit und Raum hinweg strahlt.“
„Eine leidenschaftliche Reise durch die Zeit!“
„Ein fesselnder historischer Liebesroman mit einer Prise Zeitreise-Magie!“
„Dieser schottische Liebesroman hat alles, was das Herz begehrt: eine starke Heldin, einen mutigen Krieger und eine packende Schatzsuche.“
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Seitenzahl: 706
Grace St. John, eine junge und ambitionierte Wissenschaftlerin, stößt in einem Stapel alter Dokumente auf ein besonderes Manuskript, welches die Spur zu einem sagenumwobenen keltischen Schatz enthält. Völlig fasziniert von ihrer Entdeckung ahnt Grace nicht, dass diese der Schlüssel zu unbegrenzter Macht darstellt und ihr bereits skrupellose und machthungrige Mörder auf den Fersen sind. Der Einzige, der Grace jetzt noch helfen kann ist Niall – ein Krieger, der das Gelübde abgelegt hat, den Schatz bis in alle Ewigkeiten zu schützen. Das Problem dabei ist nur, dass Niall in den schottischen Highlands des 14. Jahrhunderts lebt. Der jungen Frau bleibt also nichts anderes übrig, als die Grenzen der Zeit mit einem magischen Ritual zu überwinden und ihren Krieger zu finden. Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass die beiden nicht nur der geheimnisvolle Schatz verbindet, sondern eine unbändige Leidenschaft, die stark genug sein muss, um allen Gefahren zu trotzen …
Erstausgabe 1997 Überarbeitete Neuausgabe Oktober 2024
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-436-3
Copyright © 1997, Pocket Books Titel des englischen Originals: Son of the Morning
Copyright © 2004, Blanvalet Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2004 bei Blanvalet erschienenen Titels Wie Tau auf meiner Haut (ISBN: 978-3-44236-052-9).
Übersetzt von: Inez Meyer Covergestaltung: Jasmin Kreilmann unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © vichie81, © StefanHuman, © IgorVetushko shutterstock.com: © Book Cover Photos, © BaLL LunLa, © Roman Samborskyi
E-Book-Version 26.09.2024, 14:06:05.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Für Susan Bailey, meine liebenswürdige Bankerin, die mir alle Fragen über Computer beantwortete und die mich nicht wegen Planung eines Banküberfalls verdächtigte. Danke!
»Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie bist du zur Erde gefällt, der du die Heiden schwächtest!«
Jesaja 14, Vers 12
Dezember 1307 Frankreich
Innerhalb der feuchtkalten Felswände des unterirdischen Verlieses drang die Kälte durch Wolle und Leinen hindurch bis auf die Knochen. Die rußenden Fackeln gaben als einzige Lichtquelle zu wenig Wärme ab, als dass man sie bemerkt hätte. Die beiden vom flackernden Licht angestrahlten Männer schenkten der Kälte ohnehin keinerlei Beachtung. Derart nebensächliche Beeinträchtigungen ihrer Bequemlichkeit war ihnen keine Erwähnung wert.
Der eine Mann stand, während der andere vor ihm in einer Haltung kniete, die unterwürfig hätte sein sollen, wäre es nicht offensichtlich gewesen, dass eine solche Geisteshaltung dem großen Kopf auf den breiten Schultern vollkommen fremd war. Der stehende Mann sah gegenüber dem vitalen anderen Mann geradezu zerbrechlich aus. Der Kopf des knienden Mannes ging dem anderen bis zur Brust. Valcour wirkte im Vergleich mit dem Krieger, der er einmal gewesen war, und im Vergleich mit dem vor ihm knienden Mann tatsächlich schmächtig, aber Alter und Verzweiflung hatten ihre Spuren hinterlassen. Er war einundfünfzig Jahre alt und hatte die Blütezeit seiner Kräfte hinter sich. Kopfhaar und Bart waren bereits mehr grau denn braun und sein schmales Gesicht war von der Last seiner Bürden zerfurcht. Jetzt war es an der Zeit, die Verantwortung, die er so viele Jahre lang geschultert hatte, einem anderen zu übertragen. Bei diesem jungen Löwen glaubte er sie in guten Händen. Im Orden gab es keinen besseren Krieger als ihn. Das wiederum bedeutete, dass es keinen besseren im gesamten Christentum gab. Denn seit ihrer Entstehung waren sie eine Bruderschaft von Rittern gewesen, die Besten der Besten, die von allen Schlachtfeldern Europas auserlesen wurden. Unvermittelt war es damit jedoch zu Ende gewesen.
Vor zwei Monaten, am Freitag, dem dreizehnten Oktober des Jahres 1307 – ein Tag, der sicherlich in aller Zukunft als verhängnisvoll in Erinnerung bleiben würde, hatten Philipp IV. von Frankreich und sein Lakai, Papst Clemens V., ihrer Begierde nachgegeben und in einem Schlag das größte damals existierende Heer besiegt: die Ritter des Tempelordens. Einige konnten entkommen, die anderen starben auf grausame Weise. Ein noch qualvollerer Tod stand jenen bevor, die sich als Gefangene weigerten, ihren Glauben zu widerrufen.
Der Großmeister war erst sehr spät gewarnt worden und hatte die knappe Zeit lieber darauf verwandt, den Schatz zu verbergen, als sich selbst in Sicherheit zu bringen. Vielleicht hatte Jacques de Molay das Herannahen einer Katastrophe geahnt, denn er hatte Valcour mehrmals bedrängt, die riesige Seeflotte Philipps Zugriff zu entziehen. Aber sein eigenes und auch des geschätzten Kriegers Geoffroy de Charnays Hauptanliegen war es gewesen, den Schatz in Sicherheit zu bringen. Nach langer Beratung wurde der Schatz einem Schutzpatron unterstellt, nämlich Niall von Schottland. Er war sehr umsichtig ausgewählt worden, nicht nur wegen seiner einzigartigen Schwertfähigkeit, sondern auch wegen des Schutzes, den allein schon sein Name gewährte. In Schottland würde der Schatz sicher sein.
Der Großmeister war sich trotz Nialls Verbindungen nicht ganz klar, ob er die richtige Wahl getroffen hatte. In gewisser Weise war der Schotte trotz seiner ungebrochenen Treue und den beiden gegenüber Gott und dem Orden geleisteten Gelübden von einer ungezähmten Wildheit. Manche seiner Gelübde, insbesondere das der Keuschheit, hatte er nur unwillig geleistet. Niall wurde in den Orden gezwungen, weil ein Mönch niemals mehr König werden kann. Ein König muss Kinder haben können, um sein Königreich auch für die Zukunft zu sichern. Seine außereheliche Geburt hätte eigentlich eine unüberwindliche Hürde dargestellt, aber bereits in jungen Jahren war Niall groß und aufgeschossen, schlau und draufgängerisch gewesen. Kurz, er vereinte alle Eigenschaften eines großen Herrschers und Königs. Die Alternativen waren klar gewesen: entweder ihn umzubringen oder es ihm unmöglich zu machen, die Thronfolge anzutreten. Niall wurde von seinem Vater und seinem Halbbruder geliebt, also hatte es bezüglich der anstehenden Entscheidung überhaupt keinen Zweifel gegeben. Der junge Mann würde in den Dienst Gottes treten müssen.
Das war ein ausgesprochen kluger Schachzug gewesen. Denn sollte Niall seine Gelübde gegenüber dem Tempelorden jemals widerrufen, würde er sich gleichzeitig für die Krone untragbar machen, denn er wäre entehrt. Den jungen Niall dem Schutz des Tempels zu unterstellen hatte ihm das Leben gerettet. Gleichzeitig konnte er nicht mehr als schottischer Thronfolger gehandelt werden – jedenfalls nicht unter den gegebenen Umständen.
Wenn Niall schon nicht für den Thron vorgesehen war, so eignete er sich doch vorzüglich zum Krieger. Er hatte seine Fleischeslust in Tapferkeit auf dem Schlachtfeld verwandelt. Wenn sein Blick auch manches Mal an etwas Verbotenem hängenblieb, so war sich der Großmeister doch sicher, dass er seine Gelübde niemals gebrochen hatte, denn er war ein Mann, der zu seinem Wort stand. Dieser Charakterzug zusammen mit seinen kämpferischen Fähigkeiten hatten de Charnay schließlich dazu bewogen, Niall als den nächsten Schutzpatron auszuwählen. Wenn auch der Großmeister dem Orden vorstand, so war doch de Charnay unbestritten der einflussreichste Ritter. Außerdem hatte de Charnay die Verantwortung für den Schatz viele Jahre lang getragen, weshalb er in dieser Angelegenheit auch das letzte Wort haben sollte. Seine Wahl fiel auf Niall von Schottland, und Valcour hatte dem von ganzem Herzen zugestimmt. Der Schotte würde den Schatz unter Einsatz seines Lebens verteidigen.
»Schwöre«, flüsterte Valcour dem gebückten schwarzen Schopf zu. Er spürte die Wut des jungen Mannes, wusste aber nicht, wie er sie hätte mildern können. »Ganz gleich, was auch passiert, der Schatz darf niemals in fremde Hände fallen. Der Orden hat sich dem Schutze unseres Gottes anvertraut, und seine Anhänger dürfen in ihrer Pflicht niemals versagen.«
Den kalten harten Steinfußboden unter seinen Knien bemerkte Niall kaum. Auf seinem dichten, schwarzen und vorschriftsmäßig geschnittenem Haar glitzerte trotz der Kälte der Schweiß. Dampf stieg von seinem Körper auf. Langsam hob er den Kopf. Seine Augen hatten einen bitteren Glanz. »Auch heute noch?« fragte er mit tiefer, samtiger Stimme.
Valcour lächelte kaum merklich. »Gerade heute. Wir dienen Gott, nicht Rom. Mir scheint, der Heilige Vater hat vergessen, dass es da zu unterscheiden gilt.«
»Der zugrundeliegende Gedanke sollte ihm leicht verständlich sein«, erwiderte Niall verächtlich. »Er dient nicht Gott, sondern leckt lieber Philipps Hinterteil, wann immer der König ihm dieses entgegenstreckt.« Nialls nachtschwarzer Blick wanderte über die Sammlung der Kultgegenstände, die die Ritter vor mehr als hundert Jahren aus dem Tempel in Jerusalem mitgebracht hatten. Er betrachtete sie mit wachsender Verbitterung. Gute Männer waren eines grausamen Todes gestorben, um diese … Dinge zu beschützen. Der König von Frankreich war ganz erpicht darauf, den Orden seiner irdischen Güter, wie Gold und Silber, zu berauben. Aber das Geheimnis des Ordens beruhte eben gerade auf diesen Dingen und nicht nur auf Gold. Sicher, Gold war reichlich vorhanden – und es lag bei Niall. Seine eigentliche Aufgabe aber war die, die Sicherheit des tatsächlichen Schatzes zu gewährleisten, diese irritierende und magische Ansammlung von … Dingen. Ein ganz einfacher, zerkratzter Kelch. Ein Tuch, dem ein Geheimnis in den Stoff gewebt war. Ein Thron, verstörend und heidnisch – war das wirklich nur ein Thron? Eine Art Fahne, trotz ihres Alters dicht und schön, die laut Überlieferung eine merkwürdige Kraft in ihren alten Fasern verborgen halten sollte. Und eine altertümliche Schriftrolle, halb hebräisch, halb griechisch, die von einem Geheimnis und einer jenseits aller Vorstellung liegenden Macht kündete. »Ich könnte noch einmal in den Kampf zurückkehren«, sagte Niall und dachte dabei an das Schriftstück. Er hob seinen unerbittlichen Kämpferblick zu Valcour empor. »Sowohl Philipp als auch Clemens könnten unter meinem Schwert fallen. Die ganze Sache könnte sich in Wohlgefallen auflösen, und unsere Brüder müssten nicht sterben.«
»Nein«, entgegnete Valcour. Sein Gesichtsausdruck war stumpf, wie bei jemandem, der bereits jeden Schrecken und alle Müdigkeit hinter sich gelassen hatte. »Wir dürfen nicht um unseretwillen die Entdeckung des Geheimnisses riskieren. Nur um Gottes willen darf das Geheimnis benutzt werden.«
»Gibt es denn einen Gott?« fragte Niall bitter. »Oder sind wir ganz einfach nur Narren?«
Valcours magere, blutleere Hand hob sich und berührte Nialls Kopf in einer sowohl segnenden als auch verhaltenen Geste. Er fühlte die dampfende Hitze, die von dem muskulösen Körper des Kriegers aufstieg, denn Niall hatte gerade seinen Helm abgelegt und trug immer noch die schwere Rüstung. Hätte er doch einen Bruchteil von Nialls außergewöhnlicher Kraft, dachte Valcour müde. Der Schotte war wie aus Stahl, weder brach er zusammen, noch wurde er müde, ganz gleich, welchen Umständen er auch trotzen musste. Seine Schwerthand war unermüdlich, sein Wille schwankte nie. Es gab keinen größeren Krieger im Dienste Gottes als diesen vorbildlichen Schotten, in dessen Mischlingsvenen königliches Blut floss. Er war nicht nur adlig, sondern königlich. Es war ebendieses Blut, das ihm den Eintritt in den Orden überhaupt erst verschafft hatte, denn eigentlich wäre das mit unehelicher Abstammung nicht möglich gewesen. Der Großmeister hatte weise entschieden und in diesem Fall die Blutsbande für wichtiger erklärt als die Vorschriften. Diese Blutsbande waren es auch, die Niall Schutz gewährten. Clemens konnte seine blutigen, gierigen Hände nicht auf den Schotten legen, denn er würde in seiner Heimat, den zackengekrönten Bergen der Highlands, in Sicherheit sein.
»Wir glauben«, beantwortete Valcour schließlich Nialls Frage. »Du bist von allen anderen Gelübden befreit, aber bei dem Blut deiner Brüder musst du schwören, dass du dein Leben dem Schutz dieser heiligen Reliquien widmen wirst.«
»Ich schwöre«, wiederholte Niall inbrünstig. »Aber ihretwegen. Niemals wieder nur für Ihn.«
Valcour blickte ihn betrübt an. Der Abfall vom Glauben war eine schreckliche Sache – und keine Seltenheit in dieser furchterregenden Zeit. Noch mehr Männer würden ihren Glauben oder ihr Leben verlieren. Nicht alle Brüder waren ihm treu geblieben. Manche hatten sowohl dem Orden als auch dem Gott den Rücken gekehrt, der ihnen solch teuflische Dinge hatte widerfahren lassen. Freunde und Brüder waren gefoltert worden. Der Orden war auseinandergefallen – und alles nur aus Gier nach dem Gold. Es war schwer, außer an Verrat und Rache noch an etwas Gutes zu glauben.
Und doch versuchte Valcour, eine kleine, aber entscheidende Ecke seiner Seele reinzuhalten. Dort bettete er seinen Glauben, denn ohne Glauben erschien ihm alles bedeutungslos. Wenn er nicht glaubte, dann müsste er einsehen, dass so viele tapfere Männer umsonst gestorben waren. Mit diesem Gedanken hätte er nicht leben können. Er glaubte also, weil die Alternative unerträglich war. Er wünschte, dass Niall auch diesen Trost besäße, aber der Schotte war zu kompromisslos, sein Kriegerherz kannte nur schwarz oder weiß. Er war auf zu vielen Schlachtfeldern gewesen, wo die Wahl eine ganz einfache gewesen war: töten oder getötet werden.
Valcour hatte für den Herrn gekämpft, aber er war nie ein Krieger wie Niall gewesen. Die Hitze des Gefechts macht den Kopf in aller Regel klar, weil sie das Leben auf die einfachsten Wahlmöglichkeiten beschränkt.
Der Orden brauchte Niall, um seinem wichtigsten und geheimsten Gelübde nachzukommen. Die Bruderschaft war am Ende, jedenfalls in ihrer jetzigen Form. Ihre heilige Pflicht jedoch bestand fort. Und Niall war als ihr Hüter auserwählt worden.
»Gut, aus welchem Grund auch immer«, murmelte Valcour. »Beschütze sie gut, denn sie sind die wahren Schätze unseres Herrn. Sollten sie in die Hände des Bösen fallen, so wäre das Blut unserer Brüder vergeblich geflossen. So soll es denn sein: wenn nicht für Ihn, dann für sie.«
»Bei meinem Leben«, schwor Niall von Schottland.
Dezember 1309 Creag Dhu, Schottland
»Seit deinem letzten Besuch haben noch drei weitere Ritter den Weg hierher gefunden«, murmelte Niall an seinen Bruder Robert gewandt, während die beiden in Nialls Kammer vor dem knisternden Feuer saßen. Eine große, dicke Talgkerze stand auf dem Tisch, an dem sie eben ihre Bäuche gefüllt hatten. Ihre Flamme verstärkte den goldenen Schimmer des Feuers. Abgesehen davon lag das angenehm warme Gemach im Dunkeln. Keine Zugluft drang durch die Mauern, um die Luft mit ihrem eisigen Atem zu bewegen. Die Ritzen waren sorgfältig mit Ton verschmiert und die Wände mit schweren Behängen verkleidet worden. Die massive Tür zu Nialls Kammer war fest verriegelt. Trotzdem sprachen die beiden Männer nur leise und auf Französisch miteinander. Sollten sie dennoch von jemandem belauscht werden, würde man sie nicht verstehen können. Anders als die meisten Adligen sprach keiner der schottischen Diener französisch. Und hier draußen, in dieser alles abweisenden Festung in einem der entlegensten Winkel der schottischen Highlands, mussten sie sich ohnehin nur um die Dienerschaft und die bewaffneten Männer Gedanken machen.
Beide hielten schwere Kelche mit französischem Wein in den Händen. Robert nippte nachdenklich daran. Er hatte sich auf einem riesigen, geschnitzten Stuhl niedergelassen, während Niall eine schwere Bank herangezogen und sie so vor das Feuer gerückt hatte, dass er mehr den Besucher als die Flammen ansah. Robert beobachtete die tanzenden Flammen und trank von dem Wein. Als er sich wieder Niall zuwandte, brauchte er einen Augenblick, ehe sich seine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass Niall seine Bank aus diesem Grund so gestellt hatte. Sogar hier, in seiner eigenen Burg, in seiner eigenen Kammer und mit seinem eigenen Bruder war Nialls Instinkt der eines Kriegers. Er hatte sichergestellt, dass nichts seine Sicht behindern würde. Sollte er unvermutet von einem Feind überrascht werden, dann würde er jedenfalls nicht durch mangelndes Licht behindert sein.
Bei dieser Erkenntnis musste Robert leicht lächeln. Nach jahrelangen Kämpfen gegen die Engländer hatte auch er gelernt, seine nächtliche Sicht durch nichts zu beeinträchtigen. An diesem sicheren Ort jedoch hatte er sich etwas Entspannung gegönnt. Nicht so Niall. Der entspannte sich niemals, sondern war zu jeder Zeit wachsam.
»Haben denn manche der Ritter auch woanders Unterschlupf gesucht?«
»Nein. Sie bleiben hier, weil es kein anderes sicheres Refugium gibt. Aber sie wissen, dass sie bald weiterziehen müssen, denn allein ihre Zahl würde die Aufmerksamkeit auf Creag Dhu lenken, was sie ja selbst vermeiden wollen.«
Niall blickte seinen Bruder mit bohrendem dunklem Blick an. »Ich frage nicht um meinetwillen, um ihretwillen aber muss ich es fragen: Beabsichtigst du, Clemens’ Edikt gegen uns anzuwenden?«
Robert wich entsetzt zurück. »Wie kannst du das fragen!« knurrte er. Er war wütend genug, um dabei ins Keltische zurückzufallen. Nialls Blick aber war unnachgiebig, und nach einem Augenblick hatte Robert sich wieder unter Kontrolle.
»Du brauchst eine Allianz mit Frankreich«, erläuterte Niall ruhig. »Sollte Philipp meine Identität herausfinden, würde ihn nichts davon abhalten können, mich zu seinem Gefangenen zu machen. Dafür würde er sogar seine Kräfte, mit denen von Edward vereinen. Das aber kannst du nicht riskieren.« Niall hatte es unerwähnt gelassen, dass Schottland die Allianz brauchte. Die Unterscheidung war allerdings überflüssig, denn sein Bruder war Schottland, die Personifizierung all seiner Hoffnungen und Träume.
Robert atmete tief und sich beruhigend ein. »Nun ja«, gab er zu. »Das wäre eine empfindliche Schlappe. Aber ich habe bereits drei Brüder an Englands Barbarei verloren. Meine Frau, meine Tochter und unsere Schwestern sind bereits seit drei Jahren dort gefangen, und ich weiß nicht, ob ich sie jemals lebend wiedersehen werde. Dich will ich nicht auch noch verlieren.«
»Du kennst mich doch kaum.«
»Es ist wahr, dass wir nicht viel zusammen gewesen sind. Aber ich kenne dich«, widersprach Robert. Er kannte und liebte ihn, so einfach war das. Keiner der anderen Brüder hätte ihm die Krone streitig machen können. Seit der Zeit aber, als Niall ein großgewachsener, kräftiger Zehnjähriger gewesen war, waren sich sein Vater und Robert darüber im Klaren gewesen, dass der uneheliche Halbbruder das Zeug zum König hatte und dass er ungewöhnlich großen Mut und Verstand besaß, zwei Eigenschaften, die auch zu Roberts Charaktereigenschaften zählten. Um Schottlands willen durften sie keinen Kampf zwischen den beiden Brüdern entstehen lassen. Selbst wenn Niall erwachsen sein würde und ihm treu ergeben bliebe, besaß er eine jener Persönlichkeiten, denen die Menschen gerne folgten. Die Umstände seiner Geburt waren ein Geheimnis. Geheimnisse aber haben die Angewohnheit, irgendwann einmal gelüftet zu werden. Niall selbst hatte das bestätigt, als er Robert mit der Frage überrascht hatte, ob es denn stimme, dass sie Brüder wären.
Im Kampf um die Thronfolge war es nicht ungewöhnlich, dass man mögliche Konkurrenten durch Mord ausschaltete. Aber weder Robert noch seinem Vater, dem Grafen von Carrick, war auch nur der Gedanke an so etwas erträglich. Es wäre geradeso, als ob man eine lodernde Flamme löschen würde und alle im Dunkeln zurückließe. Niall sprühte vor Lebenskraft, er war frohgelaunt und zu Scherzen aufgelegt, und er zog Menschen magnetisch an. Er hatte unter den Jüngeren immer schon die Führerrolle übernommen, hatte seine Kameraden in irgendwelche Blödeleien hineingezogen, die Strafe aber stets ganz allein auf seine Kappe genommen.
Als er vierzehn war, rannten ihm die Jungs mit leuchtenden Augen und geschmeidigen Körpern hinterher. Seine Stimme war schon früh tief, Schultern und Brust bereits ausgeprägt. In seiner aufgeschossenen Länge hätte er gut und gerne den Körper eines Erwachsenen unterbringen können. Besonders talentiert hatte er sich im Umgang mit Waffen gezeigt, die ständige Übung mit Streitäxten und Schwertern hatte ihn weiter gestählt. Robert bezweifelte, dass er seine Nächte allein verbrachte, denn nicht nur die jungen Männer rannten ihm hinterher, sondern auch die Frauen, von denen einige sogar verheiratet waren.
Niall hatte sich jedoch verändert. Angesichts des Verrats, durch den der Tempelorden besiegt worden war, überraschte Robert das nicht. Nialls Anziehungskraft hatte nicht nachgelassen, aber er war jetzt härter, und seine schwarzen Augen hatten etwas Stählernes, wenn er lächelte. Als Junge war seine Kraft unerschöpflich gewesen. Jetzt war er erwachsen und ein gefürchteter Krieger. Er hatte die Kunst der Geduld erlernt. Seine Ruhe aber war die eines Jägers, der seiner nächsten Beute auflauert.
Betont deutlich sagte Robert: »Schottland wird sich nicht der Verfolgung des Tempelordens anschließen.«
Wieder bohrte sich Nialls Blick wie ein scharfes Schwert in ihn hinein. »Dafür hast du meine Dankbarkeit … und mehr, solltest du Gebrauch davon machen wollen.«
Was Niall unausgesprochen gelassen hatte, hing jetzt wie ein dunkler Schatten im Raum. Die wachsamen Augen blieben auf Robert gerichtet, der die Brauen hochzog. »Mehr?« hakte er nach und nippte an seinem Wein. Er war neugierig zu erfahren, was ›mehr‹ denn bedeuten mochte. Er wagte es kaum zu hoffen … vielleicht bot ihm Niall Gold an. Mehr als alles andere brauchte Schottland Gold, um gegen die englische Krone Widerstand leisten zu können.
»Die Krieger sind die besten der Welt. Sie dürfen sich zwar nicht hier versammeln, aber ich sehe keinen Grund, warum ihre Fähigkeiten ungenutzt bleiben sollen.«
»Ich verstehe.« Robert blickte nachdenklich in die Flammen. Jetzt kannte er Nialls Ziel, und in der Tat war es sehr verlockend. Nicht Gold bot er ihm an, dafür aber etwas beinahe ebenso Wertvolles: Ausbildung und Erfahrung. Die verstoßenen Ritter trugen zwar nicht mehr ihre roten Kreuze, aber sie waren noch genau dieselben, die sie auch vor der Zeit waren, als der Papst, gemeinsam mit dem König von Frankreich, sie zu zerstören suchte: nämlich die besten Kämpfer der Welt. Der endlose Krieg mit England hatte Schottlands Rücklagen so weit aufgebraucht, dass die Leute sich manchmal mit ihren bloßen Händen verteidigen mussten. Aber so tapfer seine Leute, besonders die rauen Hochländer, waren, so wusste Robert nur zu gut, dass sie mehr brauchten: mehr Geld, mehr Waffen und eine bessere Ausbildung.
»Misch sie doch unter dein Heer«, murmelte Niall. »Überlasse ihnen die Ausbildung deiner Leute. Suche ihren strategischen Rat. Nutze sie. Im Gegenzug werden sie Schotten und werden bis zum letzten Mann für dich und für Schottland kämpfen.«
Die Krieger des Tempelordens! Allein der Gedanke war bereits schwindelerregend. Roberts Kriegerblut wärmte sich angesichts der Vorstellung, solche Leute unter seiner Führung zu wissen. Was aber konnte eine Handvoll Männer ausrichten, ganz gleich, wie gut sie auch ausgebildet sein mochten? »Wie viele Männer sind es denn?« fragte er zweifelnd. »Fünf?«
»Fünf sind zurzeit hier auf der Burg«, erwiderte Niall. »Aber Hunderte sind noch auf der Suche nach einem Unterschlupf.«
Hunderte. Niall schlug ihm vor, Schottland zu einem Refugium für die entkommenen Ritter zu machen, die über ganz Europa verteilt nach Verstecken suchten. Wenn man sie festnahm, so hatten sie die Wahl, entweder die ihrigen zu verraten oder nach vorangegangener Folter auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Einige unter ihnen hatten sogar trotz ihrer Gefügigkeit ihr Leben lassen müssen.
»Kannst du sie denn hierherbringen?«
»Das kann ich.« Niall erhob sich von der Bank und stand mit seinem breiten Rücken dem Feuer zugewandt. Seine mächtigen Schultern warfen einen riesigen Schatten auf den Fußboden. Sein dichtes schwarzes Haar fiel auf seine Schultern herab. Nach keltischem Brauch hatte er zu beiden Seiten des Gesichts zwei kleine Zöpfchen geflochten. In seinem Jagdschottenrock, dem weißen Hemd und mit dem Schwert in seinem breiten Gürtel sah er durch und durch wie ein ungestümer Hochländer aus. Mit grimmigem Gesichtsausdruck meinte er: »Ich kann sie allerdings nicht bis zu dir hinbegleiten.«
»Das ist mir klar«, erwiderte Robert leise. »Das würde ich auch nicht von dir verlangen. Ich möchte keine Details erfahren, aber ich weiß, dass du dich in größerer Gefahr befindest als jene, denen du helfen möchtest. Und das nicht nur, weil du mein Bruder bist. Mit welcher Aufgabe auch immer dich der Orden beauftragt hat, sie könnte von keinem geringeren Mann als dir erfüllt werden. Wenn du meine Hilfe brauchst oder die der Ritter, die du mir unterstellen möchtest, so musst du mich nur benachrichtigen.«
Niall machte eine knappe Kopfbewegung, die seine Zustimmung ausdrücken sollte. Und doch wusste Robert, dass das niemals geschehen würde. Niall hatte sich hier, in dem wildesten, entlegensten Teil der Highlands, den nordwestlichen Gebirgen, eine Burg errichtet, die er gegen jede Bedrohung verteidigen würde. Er hatte eine starke Truppe disziplinierter Ritter und Bewaffneter, die Creag Dhu in eine gefürchtete Festung verwandelt hatten.
Die Leute auf dem Land tuschelten bereits darüber, und viele zogen näher an Creag Dhu heran, um so unter seinem Schutz zu stehen. Sie nannten ihn den Schwarzen Niall. In Schottland bezeichnete man jeden mit dunklen Haaren als schwarz. Den Gerüchten zufolge wurde Niall aber nicht nur seiner schwarzen Augen und Haare wegen so genannt, sondern auch wegen seines Herzens.
Robert, der von Nialls Herkunft wusste, erkannte die Ähnlichkeit zwischen seinem Halbbruder und seinem eigenen besten Freund, Jamie Douglas, dem berühmten Schwarzen Douglas.
Die zufälligen Übereinstimmungen sowohl des Namens als auch der Haarfarbe hatten ihn stutzig gemacht. Nialls Mutter war eine Douglas gewesen, und er und Jamie waren Cousins. Jamie war groß und breitschultrig, allerdings nicht ganz so kräftig gebaut wie Niall. Wenn man sie zusammen sehen würde, würde die Ähnlichkeit auffallen? Würde man dann sehen, dass Niall die körperliche Stärke eines Bruce besaß und zusätzlich noch die Schönheit von Nigel, einem weiteren Halbbruder Nialls?
Das Blut der Bruces und der Douglas’ hatte sich in Niall zu einem Mann ungewöhnlichen Aussehens und ungewöhnlicher Kraft vereinigt. Er war die Art von Mann, die nur alle hundert oder zweihundert Jahre einmal geboren wurde. Zu seiner eigenen Sicherheit und für das Gelingen der von dem zerbrochenen Orden auferlegten Mission durfte niemand erfahren, dass der berüchtigte Schwarze Niall einerseits der geliebte Halbbruder des Königs von Schottland und andererseits der uneheliche Sohn der wunderschönen Catriona Douglas war. Denn Catrionas Mann lebte noch und würde nichts unversucht lassen, den lebenden Beweis der Untreue seiner Frau zu ermorden.
Außerdem war Niall Mitglied des Tempelordens, somit von der Kirche ausgeschlossen und vom Papst mit dem Tod bedroht, sollte er jemals gefangen werden. Oberflächlich betrachtet war seine Existenz durchaus gefährdet.
Auf der anderen Seite würde nur ein Dummkopf versuchen, Creag Dhus Abwehr zu durchbrechen. Der Orden hatte eine gute Wahl getroffen.
Robert seufzte. Er musste die Zurückgezogenheit seines Bruders akzeptieren und sein eigenes Königreich den vielen verstreuten Rittern als sicheren Hafen anbieten. Angesichts des Gewinns, den Schottland daraus ziehen würde, war das wenig genug.
»Zeit für mich zu gehen«, meinte Robert, leerte seinen Kelch und stellte ihn beiseite. »Die Stunde rückt voran. Und der wunderschönen Dirne, die unten auf dich wartet, könnte es langweilig werden. Möglich, dass sie sich dann einen anderen sucht.«
Niall stand nicht mehr unter den Gelübden des Tempelordens, nämlich Armut, Keuschheit und Gehorsam. Robert fragte sich insgeheim, wie er die acht Jahre ohne Frau als Mönch hatte verbringen können. Er selbst war zwar auch ein Mann, aber er kannte nur zu gut die feurige sexuelle Komponente in Nialls Naturell. Robert hätte sich niemanden vorstellen können, der sich so wenig zum Mönch eignete wie Niall.
Niall lächelte. »Möglich«, meinte er ohne einen Anflug von Eifersucht oder den geringsten Zweifel. Denn es war äußerst unwahrscheinlich, dass Meg sich verzogen haben könnte. Sie erfreute sich ihres derzeitigen bevorzugten Status, wenngleich sie nicht seine alleinige Bettgenossin war. Robert lachte und klopfte ihm mit der Hand auf die breiten Schultern. »Während ich durch die kalte Nacht reite, werde ich dich um deinen Ritt zwischen ihren warmen Schenkeln beneiden. Gott sei mit dir.« Nialls Gesichtsausdruck zeigte keinerlei Regung, aber Robert wusste sofort, dass seine letzte Bemerkung die Erstarrung hervorgerufen hatte. Besorgt legte er seinen Arm um die Schulter seines Bruders. Es gab Zeiten, in denen der Glaube das einzige Gut der Menschen war, ob nun adlig oder nicht, um sie am Leben zu erhalten. Niall aber hatte diesem Glauben abgeschworen, als die Kirche ihm den Rücken gekehrt hatte.
Robert hatte jedoch nichts sagen oder versprechen können, außer dem, was er bereits gesagt und versprochen hatte. »Bring sie hierher«, murmelte er. »Ich werde sie willkommen heißen.« Mit diesen Worten drückte Robert der Bruce, König der Schotten, auf einen Stein neben der Feuerstelle, woraufhin sich eine ganze Wand auftat. Er hob die Fackel hoch, die er dort abgelegt hatte, und zündete sie am Feuer wieder an. Dann verließ er Creag Dhu genauso, wie er gekommen war, nämlich heimlich.
Niall beobachtete, wie sich die Tür, ohne eine sichtbare Spur zu hinterlassen, wieder in das Mauerwerk einfügte. Mit regungsloser Miene nahm er den Kelch seines Bruders, wischte den Rand sauber und füllte ihn erneut mit gutem Wein. Sein eigener Kelch war noch fast voll. Er stellte beide Gefäße neben das Bett, dann entriegelte er die Tür und suchte nach Meg. Seine Laune hatte sich trotz des Refugiums, das Robert den flüchtigen Tempelbrüdern gewähren würde, verfinstert. Seine Wut war allgegenwärtig. Während der letzten beiden Jahre hatte er sie zwar zu kontrollieren gelernt, aber im Grunde hatte sie kein bisschen nachgelassen.
Verfluchter Clemens, verfluchter Philipp, und vor allen Dingen verfluchter Gott, dem die Ritter so treu gedient hatten und der sie gerade in dem Augenblick verlassen hatte, als sie Seiner am meisten bedurft hätten. Wenn er wegen solcher Blasphemien in die Hölle kommen sollte, auch gut. Aber Niall glaubte nicht länger an eine Hölle, denn er hatte jeglichen Glauben verloren. Er würde seine düsteren Gedanken an Megs üppigem, willigem Körper auslassen, eng von ihren Armen und Beinen umklammert. Je heftiger das Liebesspiel, umso besser gefiel es ihr.
Meg zu finden war nicht schwierig. Sie hielt bereits am Fuß der breiten Steintreppe nach ihm Ausschau und kam ihm lächelnd entgegen, als er sich oben in der Tür zeigte. Niall blieb stehen und wartete. Meg hob ihre Röcke an und eilte die Stufen hinauf, wobei das lodernde Fackellicht ihre geröteten Wangen beleuchtete. Noch ehe sie oben angekommen war, wandte sich Niall um und ging wieder in seine Kammer zurück. Ihre schnellen, leichten Schritte folgten ihm. Er konnte ihren sowohl vom Laufen als auch von der Erwartung beschleunigten Atem hören.
Sie zog bereits ihren Schal aus und zerrte an den Bändern ihres Leibchens, als sie ihm durch die Tür in seine Kammer folgte. Er schloss hinter ihr zu und beobachtete sie dabei, wie sie fieberhaft ihre Kleidung abstreifte und ihm ihren üppigen Körper darbot. Sein pulsierender Schaft wurde hart und hob seinen Schottenrock wie ein Zelt an.
Sie entdeckte die beiden Weinkelche und lächelte zufrieden. Er hatte gewusst, dass sie es als ein weiteres Zeichen seiner Vernarrtheit in sie deuten würde. Aber sollte sie denken, was sie wollte, wenn sie nur nicht dahinterkam, dass er einen heimlichen Besucher empfangen hatte und dass dieser Besucher niemand anderes als der König selbst gewesen war. Obwohl er ihr gerne schmeichelte und sie liebkoste, war doch sein einziges Interesse an ihr die Lust und die körperliche Erleichterung, die er bei ihr finden konnte. Sie stand nackt da, hob den Kelch an und nippte an dem Wein. Sie war doppelt zufrieden, als sie, statt des gewohnten säuerlich verwässerten Weins, einen edlen Tropfen kostete. Der Schein des Feuers umspielte die vollen Kurven ihrer Brüste, färbte ihre Knospen dunkelrot ein und vertiefte ihren Nabel und die wirren Locken zwischen ihren Schenkeln.
Niall wollte nicht warten. Er trat auf sie zu, nahm ihr den Kelch aus der Hand und setzte ihn so heftig ab, dass ein paar Tropfen der roten Flüssigkeit über den Rand schwappten. Sie quiekste erschrocken auf, als er sie hochhob und auf das breite Bett warf. Schnell verwandelte sich ihr Schreien in Lachen, als er auf ihr landete.
Mit den Knien drückte er ihre Schenkel auseinander. »Willst du dir nicht wenigstens die Stiefel ausziehen?« fragte sie kichernd und griff nach einem Hemdzipfel.
Ihr Duft war betörend weiblich. Seine schmalen Nasenlöcher blähten sich, als er ihren Geruch einzog. »Warum?« fragte er sachlich. »Ich trage sie doch an meinen Füßen und nicht über meinem Schwanz.« Nun konnte sich Meg vor Lachen nicht mehr halten. Nialls Hand rutschte unter seinen Rock, umschloss sein steifes Glied und führte es auf ihre feuchte Spalte zu.
Er beugte sich vor und drang erwartungsvoll bebend in sie ein. Megs Lachen erstarb augenblicklich, als ihr Körper die volle Wucht seines Stoßes in sich aufnahm. Die Dunkelheit in ihm wich seinem Vergnügen. Solange er eine Frau in seinen Armen halten konnte, konnte er den Verrat und die erdrückende Last seiner Verantwortung wenigstens eine Weile vollkommen vergessen.
27. April 1996
Ein hustendes Rattern verkündete der gesamten Nachbarschaft, dass Christian Sieber von der Schule nach Hause gekommen war. Er fuhr eine Chevelle aus dem Jahre 1966, die mitsamt ihren gurgelnden acht Zylindern liebevoll restauriert worden war. Die Karosserie war ein mehrfarbiges Stückwerk, da die Teile verschiedenen anderen Chevelles entnommen worden waren. Bemängelte jemand das äußere Erscheinungsbild in irgendeiner Weise, brummte Christian nur, er werde sich schon noch darum kümmern. In Wahrheit aber scherte ihn das Äußere seines Autos nicht. Vielmehr begeisterte ihn, dass das Auto lief wie damals, als es nagelneu gewesen war und ein Mann jedes Mädchen mit seiner schnurrenden Kraft hätte einfangen können. In der Männern eigenen instinktiven, urwüchsigen Art, glaubte Christian, dass die Kraft des Autos sein eigenes Image als Außenseiter verbessern konnte, und dass die Mädchen sich dann darum reißen würden, mit ihm in seinem großartigen Auto mitfahren zu dürfen. Bisher war zwar nichts dergleichen geschehen, aber noch hatte Christian die Hoffnung nicht aufgegeben. Als das ratternde Auto an ihrem Haus vorbeifuhr und um die Ecke bog, kostete Grace St. John an ihrem eben gekochten Gulasch. »Christian ist gekommen«, sagte sie und sprang auf. »Nicht möglich«, neckte sie Ford. Er zwinkerte ihr zu, als sie die Aktentasche mit ihrem Laptop und den zahlreichen Seiten ihrer Übersetzung aufhob. Die weiche Ledertasche beulte sich nach außen aus, weil sie mit Disketten und Notizen vollgestopft war. Sie hatte schon vorher ihr Modem abgeschaltet, die Kabel aufgewickelt und es auf die Tasche gelegt. Sie hielt Tasche und Modem vor ihrem Körper und beugte sich zu Ford hinunter. Ihr Kuss war kurz, aber herzlich.
»Ein paar Stunden wird es wohl dauern«, meinte sie. »Wenn er den Fehler gefunden hat, will er mir noch ein paar seiner neuen Programme zeigen.«
»Früher waren es die Briefmarkensammlungen«, murmelte ihr Bruder Bryant. »Jetzt sind es die neuen Programme.« Die drei nahmen die meisten ihrer Mahlzeiten gemeinsam ein, eine Bequemlichkeit, die sie alle gleichermaßen schätzten. Als Bryant und Grace das Haus von ihren Eltern geerbt hatten, hatten sie daraus ein Doppelhaus gemacht. Grace und Ford lebten auf der einen Seite, Bryant auf der anderen. Die drei arbeiteten nicht nur für dieselbe archäologische Stiftung, Bryant und Ford waren obendrein bereits seit ihrer Studienzeit miteinander befreundet. Bryant hatte Ford mit Grace bekannt gemacht und klopfte sich angesichts des Resultats heute noch ständig anerkennend auf die Schulter.
»Du bist ja nur neidisch, dass du mir den Computer nicht reparieren kannst«, erwiderte Grace ungerührt, und Bryant stöhnte. Da sie beide Hände voll hatte, stand Ford auf und öffnete ihr die Küchentür. Er beugte sich nochmals zu ihr hinunter, um sie zu küssen. »Verliere dich nicht in Christians Programmen, und vergiss die Zeit nicht darüber«, mahnte er, und seine blauen Augen blitzten sie auf eine Art und Weise an, die sie nach acht Ehejahren immer noch bis in die Fingerspitzen elektrisierte.
»Werde ich nicht tun«, versprach sie. Als sie fast schon draußen war, hielt sie auf der obersten Stufe inne. »Ich habe meine Handtasche vergessen.«
Ford holte sie aus der Abstellkammer und hing ihr den Riemen über die Schulter. »Wozu brauchst du denn die Handtasche?«
»Da sind die Schecks drin«, erwiderte sie und pustete sich eine Haarsträhne aus ihren Augen. Sie bezahlte Christian für seine Reparaturen, obwohl der es auch umsonst getan hätte, da er leidenschaftlich gerne mit fremden Computern herumspielte. Seine eigenen Computer waren teuer, und er wusste besser mit ihnen umzugehen als die meisten anderen Fachleute, die sie kannte. Er hatte sich das Geld redlich verdient. »Außerdem lade ich ihn wahrscheinlich zu einer Pizza ein.«
»So viel wie der Junge isst, sollte er eigentlich zweihundert Kilo wiegen«, bemerkte Bryant.
»Er ist neunzehn. Natürlich isst er da eine Menge.«
»Ich glaube nicht, dass ich jemals in meinem Leben so viel gegessen habe. Was meinst du, Ford? Als wir auf der Uni waren, haben wir da so viel wie Christian verschlungen?« Ford warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Fragst du wirklich mich, nachdem du dreizehn Pfannkuchen und ein Pfund Würstchen zum Frühstück verdrücken konntest?«
»Ist das wahr?« erkundigte sich Bryant stirnrunzelnd. »Daran kann ich mich aber gar nicht mehr erinnern. Und wie war das mit dir? Ich habe dich vier Big Macs und vier große Tüten Fritten hintereinander herunterschlingen sehen.«
»Ihr habt beide so viel gegessen, als hättet ihr Bandwürmer«, entschied Grace die Auseinandersetzung und ging die Stufen hinunter. Ford schloss hinter ihr die Tür. Sein Lachen klang ihr noch in den Ohren.
Dichtes, widerstandsfähiges Gras federte ihre Schritte ab, als sie durch den rückseitigen Garten lief und über den langen Rasen der Murchinsons eine Abkürzung nahm. Die Nachbarn waren auf einem vierwöchigen Urlaub in South Carolina und würden erst gegen Ende der Woche wieder zurück sein. Es war wirklich schade: Sie waren dem schönen Wetter und dem Frühling hinterhergefahren und hatten ihn so zu Hause verpasst.
Es war ein ungewöhnlich warmer April gewesen, und der Frühling war in Minneapolis ausgebrochen. Der Rasen war grün und üppig, das Laub brach an den Bäumen aus, die Blumen blühten. Obwohl die Sonne bereits untergegangen und nur noch ein letzter Lichtschimmer geblieben war, duftete die warme Abendluft. Grace atmete wohlig ein. Sie liebte den Frühling. Eigentlich mochte sie jede Jahreszeit, denn sie hatten jede ihre Vorzüge.
Christian stand am Hintereingang der Siebers und wartete bereits auf sie. »Hallo«, grüßte er sie fröhlich. Er war immer bester Laune, wenn er mit ihrem Laptop herumspielen durfte. Er hatte kein Licht gemacht. Grace ging durch den dunklen Waschkeller hindurch in die Küche. Audra Sieber, Christians Mutter, schob gerade ein Blech Brötchen in den Ofen. Sie blickte lächelnd auf. »Hallo, Grace. Wir essen heute Abend Lammkoteletts. Isst du mit uns mit?«
»Danke, aber ich habe gerade gegessen.« Grace mochte Audra, die gute fünfzig Jahre alt war, ein wenig übergewichtig, und die die Obsession ihres Sohnes mit Gigabytes und Festplatten voll und ganz unterstützte. Äußerlich ähnelte Christian ganz seinem Vater Errol: groß, dünn, mit dunklem Haar und kurzsichtigen blauen Augen und einem unauffälligen Adamsapfel, der in seinem Hals auf und ab hüpfte. Selbst wenn man es Christian auf die Stirn tätowiert hätte, er hätte einem Computerfreak nicht noch mehr ähneln können.
Grace erinnerte sich an seinen Appetit und meinte: »Chris, das hier kann warten, bis du fertig gegessen hast.«
»Ich mache mir einen Teller und komme damit nach oben«, erwiderte er, nahm ihr die Computertasche ab und wiegte sie liebevoll in seinen Armen. »Das ist dir doch recht, Mama?«
»Aber sicher doch. Geh nur und amüsiere dich.« Audra lächelte die beiden an, und Christian verschwand sofort mit seiner Trophäe aus der Küche die Treppe nach oben in sein elektronisch vollgestopftes Zimmer.
Grace folgte ihm etwas langsamer und dachte, dass es jetzt wirklich an der Zeit wäre, die zwanzig Pfund wieder abzuspecken, die sie seit ihrer Hochzeit mit Ford zugenommen hatte. Das Problem war allerdings, dass sie sich bei ihrer Arbeit nicht bewegen konnte. Als Spezialistin und Übersetzerin alter Sprachen verbrachte sie viel Zeit mit einer Lupe über alte Fotos und Dokumente gebeugt. Selten mal las sie auch Originale, denn meistens waren diese zu empfindlich, als dass man sie hätte berühren dürfen. Den Rest der Zeit arbeitete sie an ihrem Computer, wo sie das Übersetzungsprogramm benutzte, das sie zusammen mit Christian ausgetüftelt hatte. Mit dieser Art von Gehirnarbeit fiel es allerdings schwer, Kalorien zu verbrennen. An diesem Tag hatte sie sich auch wieder in die Universitätsbibliothek einklinken und Informationen herunterladen wollen, aber der Computer war nicht ihren Anweisungen gefolgt. Sie war sich nicht sicher, ob es direkt am Computer oder aber am Modem lag. Sie hatte Christian mittags zu Hause abgefangen und sich nach der Schule mit ihm verabredet.
Die Warterei hatte sie beinahe verrückt gemacht. Sie war von dem Übersetzungsauftrag absolut fasziniert, den sie für ihren Arbeitgeber, die Amaranthine Potere Stiftung, ein riesiges archäologisches Forschungsinstitut, bearbeitete. Sie liebte ihre Arbeit auch sonst, aber dieser Auftrag war etwas Besonderes. Er war sogar so besonders, dass es ihr schwerfiel, ihrer eigenen Übersetzung Glauben zu schenken. Sie fühlte sich auf eine Weise in die Dokumente hineingezogen, wie sie es noch niemals vorher erlebt hatte. Ford hatte sie gefragt, worum es in den Dokumenten ging, und sie hatte ihm nur zögernd ein wenig davon erzählt, sich dabei allerdings auf das Thema beschränkt. Normalerweise erzählte sie Ford immer von ihrer Arbeit, diesmal jedoch war es anders. Ihre Gefühle gegenüber den merkwürdigen alten Dokumenten waren so stark, dass sie es kaum in Worte fassen konnte. Also hatte sie nur sehr beiläufig über die Angelegenheit gesprochen, so als ob sie nicht weiter interessant wäre.
In gewisser, ihr noch unbegreiflicher Hinsicht waren sie jedoch … sehr interessant. Sie hatte bislang kaum ein Zehntel der Arbeit übersetzt. Und doch spannten die sich daraus ergebenden Möglichkeiten sie buchstäblich auf die Folter. Sie konnte es noch nicht richtig begreifen, wie bei einem Puzzle, bei dem man erst den Rand fertig hat. In diesem Fall jedoch hatte sie keine Ahnung, wie das fertige Produkt aussehen würde. Sie wusste lediglich, dass sie nicht eher aufhören würde, bis sie es herausgefunden hatte.
Sie war oben auf dem Treppenabsatz angekommen und betrat Christians Zimmer, ein einziges Kabelgewirr, zwischen dem gerade ausreichend Platz für sein Bett war. Er besaß vier Telefonanschlüsse, einen für den Laptop, zwei für die Computer und einen für das Faxgerät. Einer der großen Computer war angestellt, auf seinem Monitor war ein Schachspiel zu sehen. Christian betrachtete es, seufzte und bewegte mit der Maus einen Läufer. Er dachte einen Augenblick lang über das Resultat nach, ehe er die Maus ein weiteres Mal betätigte, um auf das anstehende Problem zurückzukommen. Dann schob er einen Stapel Papiere zur Seite und legte einen weiteren auf dem Bett ab. »Was ist denn nicht in Ordnung?« fragte er, während er die Tragetasche öffnete und ihren Laptop hervorholte.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Grace, zog sich einen Stuhl heran und beobachtete, wie er geschickt die Verbindungskabel von dem zweiten Computer und dem Modem löste und damit ihren Laptop verkabelte. Er schaltete ihn ein, und der Monitor leuchtete blassblau auf. »Ich habe heute Morgen versucht, in die Universitätsbibliothek zu kommen, aber nichts passierte. Ich weiß nicht, ob es am Computer oder am Modem liegt.«
»Das werden wir gleich herausfinden.« Christian kannte sich in ihrem Bedienungsmenü genauso gut aus wie sie selbst. Er klickte das gewünschte Programm an, klickte zweimal auf das Telefonsymbol, wählte die Nummer der elektronischen Abteilung der Universitätsbibliothek und war keine zehn Sekunden später damit verbunden. »Modem«, diagnostizierte er. Seine Finger flogen über die Tastatur. »Was hattest du suchen wollen?«
Sie beugte sich näher zu ihm hinüber. »Mittelalterliche Geschichte. Genauer gesagt, die Kreuzritter.«
Er fuhr die Angebotsliste nach unten. »Das da«, sagte Grace und klickte mit der Maus. Die Inhaltsangabe füllte den Monitor.
Er rutschte etwas beiseite. »Hier, übernimm du das hier. Ich versuche derweil herauszufinden, was mit dem Modem nicht in Ordnung ist.«
Sie nahm seinen Platz vor dem Computer ein. Er knipste die Schreibtischlampe an, schob automatisch seine Brille die Nase hoch und fing an, das Modem auseinanderzunehmen.
Es gab mehrere Hinweise auf die kriegerischen religiösen Orden von damals, die Hospitalritter und den Orden des Tempels. Letzterer war es, den sie suchte. Sie klickte auf das gewünschte Kapitel, und der Monitor füllte sich mit Informationen.
Sie las aufmerksam, denn sie suchte einen ganz bestimmten Namen, den sie allerdings nicht finden konnte. Der Text fasste den Beitrag des Ordens zu den Kreuzritterzügen zusammen, aber abgesehen von ein paar großen Meistern war niemand weiter namentlich erwähnt.
Sie wurden kurz unterbrochen, als Audra den gefüllten Teller für Christian hereinbrachte. Christian stellte ihn neben das auseinandergebaute Modem und kaute zufrieden, während er arbeitete. Grace ging wieder zu der allgemeinen Auflistung zurück und suchte sich einen anderen Text heraus.
Etwas später merkte sie, dass Christian entweder ihr Modem bereits repariert oder aber die Reparatur aufgegeben hatte, denn er beugte sich über ihre Schulter und las mit. Es fiel ihr schwer, sich aus der mittelalterlichen Welt der Intrigen und der Bedrohung in die moderne Computerwelt zurückzureißen. Sie blinzelte, um sich zu orientieren und war sich dabei der merkwürdig starken Anziehungskraft der längst vergangenen Zeit bewusst. »Hast du es reparieren können?«
»Klar doch«, erwiderte er abwesend, da er immer noch las.
»Es war nur ein loses Kabel. Was war denn dieser Tempelorden?«
»Ein kriegerischer religiöser Orden des Mittelalters. Habt ihr das denn nicht im Geschichtsunterricht durchgenommen?«
Er schob seine Brille die Nase hoch und grinste sie ungerührt an. »Unsere Zeitrechnung beginnt mit dem Jahr 1946.«
»Es gab auch schon Leben vor den Computern.«
»Analoges Leben, willst du wohl sagen. Vorgeschichtlich.«
»Was für ein Tachometer hast du denn in diesem verrückten Ding, das du als Auto bezeichnest?«
Er blickte sie entsetzt an, als ihm bewusst wurde, dass sein geliebtes Gefährt hoffnungslos veraltet war. Es hatte ein analoges Tachometer anstelle einer digitalen Messanzeige. »Ich feile bereits daran«, murmelte er und hob seine schmalen Schultern. »Aber dieser Tempelorden, wenn sie wirklich so religiös waren, warum wurden sie dann wie Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt?«
»Ketzerei«, murmelte sie und wandte sich wieder dem Monitor zu. »Feuer war die Strafe für vielerlei Verbrechen, nicht nur für Hexerei.«
»Damals nahmen die Leute ihre Religion offenbar sehr ernst.« Christians Nase kräuselte sich angesichts einer Darstellung von drei an einen Pfahl gebundenen Männern, unter denen die Flammen bis zu ihren Knien aufloderten. Alle drei waren in weiße Tuniken gekleidet und hatten Kreuze vorne eingebrannt. Ihre Münder erschienen als schwarze Löcher, die gepeinigt aufschrien.
»Auch heute noch werden Menschen ihrer Religion wegen gehenkt«, erklärte Grace. Sie zuckte beim Anblick der Darstellung, als sie sich die grenzenlosen Qualen vorstellte, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden. »Im Mittelalter war die Religion der Mittelpunkt menschlichen Lebens. Jeder, der sich dagegen auflehnte, bedeutete eine Bedrohung. Religion gab einerseits die Regeln des zivilisierten Zusammenlebens vor, bedeutete darüber hinaus aber noch mehr. Damals gab es zu vieles, was noch unbekannt und unverstanden war. Die Menschen wurden durch Kometen erschreckt oder ohne Vorwarnung von Krankheiten befallen. Heute wissen wir, dass das ganz normale Ereignisse sind, aber damals hatten die Menschen keine Möglichkeit, solche Phänomene zu begreifen. Stell dir nur mal vor, wie beängstigend ein Herzinfarkt gewirkt haben musste. Sie wussten ja nicht, was ihnen da zustieß, welche Ursachen es hatte oder wie man es hätte verhindern können. Die Zauberei war ihnen ganz geläufig. Die Religion gab ihnen einen gewissen Schutz vor diesen unbekannten und beängstigenden Kräften. Selbst wenn sie sterben mussten, so stand ihnen doch Gott bei, und die bösen Geister konnten nicht die Oberhand gewinnen.«
Christians Augenbrauen zogen sich angesichts der Vorstellung zusammen, in einer Zeit solcher Ignoranz leben zu müssen. Das war für ihn als ein Kind der Computergeneration kaum vorstellbar. »Fernsehen hätte sie vermutlich vollkommen durcheinandergebracht, was?«
»Besonders dann, wenn sie sich eine Talk-Show angesehen hätten«, feixte Grace. »Denn dort gibt es tatsächlich böse Geister.«
Christian kicherte, wobei ihm seine Brille die Nase hinunterrutschte. Er schob sie wieder hoch und blinzelte den Monitor an. »Hast du denn gefunden, was du gesucht hast?«
»Nein, ich suche die Erwähnung eines ganz bestimmten Mannes aus dem Tempelorden. Jedenfalls glaube ich, dass er dem Orden angehörte.«
»Gibt es denn nicht irgendwelche anderen Anhaltspunkte, unter denen du ihn finden könntest?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie er mit Nachnamen hieß.« Niall von Schottland. Mehrmals war sie bereits auf seinen Namen gestoßen, als sie die in altem Französisch abgefassten Dokumente bearbeitet hatte. Warum wurde sein Nachname nicht erwähnt, wo doch damals Familie und Tradition eine so wichtige Rolle gespielt hatten? Soweit sie aus den Dokumenten bisher hatte in Erfahrung bringen können, war er innerhalb des Ordens der Tempelbrüder ausgesprochen einflussreich gewesen. Er selbst war Ritter, kam also aus adliger Familie und war kein Leibeigener. Ein Teil der Dokumente war auf Gälisch geschrieben, was auf eine nicht bekannte Verbindung mit Schottland schließen ließ. Sie hatte den schottischen Teil der Geschichte in ihrer Enzyklopädie nachgelesen. Dort allerdings fand der geheimnisvolle Niall nirgendwo Erwähnung, schon gar nicht zu Zeiten des Tempelordens. »Ist wohl eine Sackgasse«, meinte Christian gutgelaunt. Offenbar war er der Ansicht, dass sie nun bereits genügend Zeit für einen Mann vergeudet hatten, der schon lange vor dem analogen Zeitalter gestorben war. Christians blaue Augen leuchteten, als er seinen Stuhl etwas näher heranrückte. »Willst du mal in dieses coole Buchhaltungsprogramm hereinschauen, das ich ausgetüftelt habe?«
»Ich glaube nicht, dass das Wort ›cool‹ und Buchhaltung gut zusammenpassen«, bemerkte Grace, ohne mit der Wimper zu zucken.
Christian sah sie empört an. Er blinzelte mehrmals und sah dabei aus wie ein kurzsichtiger Kranich. »Du machst wohl Witze, was?«, brachte er schließlich hervor. »Es ist das allererste Programm seiner Art! Warte, bis du es gesehen hast. Du machst dich nur lustig, ich weiß es.«
Grace’ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie drückte auf die Tasten und kappte die Verbindung zur Universitätsbibliothek. »Ach ja? Woher willst du das denn wissen?«
»Du presst immer die Lippen zusammen, damit du nicht lachen musst.« Er sah auf ihre Lippen, dann wandte er schnell den Blick ab und errötete ein wenig.
Grace spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, und heftete ihren Blick auf den Monitor. Christian war ein klein wenig verliebt in sie, hauptsächlich wegen seiner Begeisterung für ihren teuren, sehr leistungsstarken Laptop. Aber ein paarmal hatte er auch etwas gesagt oder getan, was bezeugte, dass er auch körperlich von ihr Notiz genommen hatte.
Das hatte sie ein bisschen beunruhigt. Sie war immerhin dreißig Jahre alt und weiß Gott keine Femme fatale. Sie schätzte sich selbst als vollkommen durchschnittlich ein und besaß nichts, was die Lust eines Neunzehnjährigen ansprechen könnte. Andererseits konnte jedes beliebige weibliche Wesen bei Männern dieses Alters romantische Gefühle auslösen. Wo Christian der typische Computerfreak war, sah sie sich selbst als typisch akademischen Menschen: glattes dunkelbraunes Haar, bei dem sie Lockenfrisuren bereits seit langem aufgegeben hatte. Jetzt trug sie es zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Hellblaue, fast schon graue Augen, die gewöhnlich von einer Brille umrandet wurden, kein Make-up, weil sie damit nicht umgehen konnte, praktische Kleidung, meist Cordhosen oder Jeansröcke. Sie war wohl kaum das Material, aus dem erotische Träume entstehen.
Ford allerdings hatte seit jeher behauptet, sie hätte den schönsten Kussmund aller Zeiten. Es beunruhigte sie, dass Christian gerade ihre Lippen so aufmerksam betrachtet hatte. Um ihn abzulenken, sagte sie: »Also gut, schauen wir uns dein irres Programm doch einmal an.« Sie konnte nur hoffen, dass schon bald ein schickes Mädchen dem Zauber der Chevelle erlag und sowohl die PS-Stärke als auch Christians Computerprogramme schätzen würde.
Für den Themenwechsel dankbar, öffnete Christian eine Plastikhülle, entnahm eine Diskette und legte sie ein. Grace rückte etwas beiseite, so dass er die Tastatur besser bedienen konnte. Er instruierte den Computer, das Diskettenlaufwerk zu lesen, dann hörte man ein elektronisches Surren, bevor das Menü auf dem Bildschirm erschien.
»Wie heißt denn deine Hausbank?« fragte Christian.
Grace sagte es ihm und runzelte die Stirn, als er die Liste absuchte. Christian lenkte den Pfeil auf das gesuchte Wort, klickte, und wieder veränderte sich der Bildschirm. »Volltreffer!« gurrte er, als ein neues Menü erschien, diesmal das aller Bankdienstleistungen. »Ich bin doch super, findest du nicht?«
»Du bist illegal, und sonst gar nichts!« Grace beobachtete, wie er ein weiteres Wort eintippte. Sofort wurden alle ihre Transaktionen auf dem Girokonto angezeigt. »Du hast dich in das Computernetz einer Bank eingeschlichen! Geh da lieber wieder raus, ehe du richtigen Ärger bekommst. Ich meine das ernst, Chris! Das ist ein schweres Verbrechen. Du hast mir erzählt, du hättest ein Buchhaltungsprogramm und nicht einen Hintereingang zu allen Banken in der Umgebung.«
»Willst du denn gar nicht wissen, wie ich es geschafft habe?« fragte er, offensichtlich enttäuscht darüber, dass sie seine Begeisterung nicht teilte. »Ich stehle ja nichts. Hiermit kann man nur sehen, wie lange es dauert, ehe ein Scheck gebucht wird. Daraus kann man dann ein Muster ableiten. Manche Banken buchen nur ein einziges Mal in der Woche. Du hast deine Geldtransaktionen besser in der Hand, wenn du das weißt. Auf diese Weise kannst du deine Zinserträge erhöhen, du kannst deine Zahlungen zeitlich genau zu deinen eigenen Gunsten platzieren, so dass dein Guthaben nie unter das dafür notwendige Minimum fällt.«
Grace starrte ihn völlig verwundert über die Art und Weise seines Denkens an. Geldangelegenheiten waren für sie eine ganz einfache Sache: eine bestimmte Summe kommt aufs Konto, und dann muss man zusehen, dass die Ausgaben diese Summe nicht überschreiten. Ganz einfach also. Seit langem bereits teilte sie die Menschen in zwei Arten ein: mathematische Menschen und nichtmathematische Menschen. Sie war eine intelligente Frau, sie hatte einen Doktortitel. Aber mathematische Details, ob sie nun finanzieller Art waren oder ob es sich um Probleme der Quantenphysik handelte, hatten sie noch nie begeistern können. In Wörter dagegen konnte sie sich vollkommen versenken. Dort konnte sie fast besinnungslos die feinen Unterschiede in deren Bedeutung erkennen und ihren Zauber auf sich wirken lassen. Ford interessierte sich sogar noch weniger für Mathematik als sie, weshalb sie sich um die finanziellen Dinge kümmerte. Bryant gab sich Mühe, er las den Wirtschaftsteil der Zeitungen und abonnierte Anlageberatungszeitschriften – falls er jemals Geld haben sollte, das er anlegen könnte –, aber eigentlich hatte er auch keine Ahnung davon. Nachdem er eine Viertelstunde eine Investmentzeitschrift durchgeblättert hatte, schmiss er sie beiseite und griff nach irgendeiner beliebigen Veröffentlichung über Archäologie.
Christian aber war ein mathematischer Mensch. Grace hegte nicht den geringsten Zweifel, dass er mit dreißig bereits Millionär sein würde. Er würde ein brillantes Computerprogramm aushecken, die Profite daraus klug anlegen und sich dann zurückziehen, um seine Zeit mit noch viel innovativeren Programmen zu verbringen.
»Ich bin mir ganz sicher, dass es für Anleger eine wirklich fantastische Sache ist, aber es ist illegal. Du kannst es also nicht vermarkten.«
»Es ist doch nicht für die Öffentlichkeit, ich spiele nur gerne damit herum. Man würde annehmen, dass die Banken bessere Sicherheitsvorkehrungen getroffen hätten. Mir ist aber nicht eine einzige untergekommen, bei der ich ernstliche Probleme gehabt hätte.«
»Mein liebes Kind, entweder du wirst berühmt werden oder aber im Gefängnis landen.«
Er zog den Kopf ein wenig ein und grinste. »Ich habe noch etwas, was ich dir zeigen möchte«, sagte er aufgeregt, während seine Finger über die Tastatur huschten, um das Bankprogramm wieder zu verlassen.
Grace beobachtete, wie sich die Monitoroberfläche ständig veränderte, während er von dem einen in das nächste Programm schaltete. »Werden sie denn nicht merken, dass du in ihren Unterlagen warst?«
»Nicht mit diesem Programm hier. Ich gehe nämlich mit einem vollkommen legalen Codewort in ihr Programm. Ich ziehe mir sozusagen einen elektronischen Schafspelz über. So wissen sie nicht, dass sich ein Wolf in ihrer Gegend umgesehen hat.«
»Wie bist du denn an das Codewort gekommen?«
»Ich habe herumgeschnüffelt. Ganz gleich, wie kodiert die Information auch ist, es gibt doch immer eine Hintertür. Deine Bank hat für ihre Sicherheit nicht gerade den besten Computer«, stellte er mit offensichtlichem Missfallen fest. »Ich an deiner Stelle würde die Bank wechseln.«
»Ich werde es mir mal durch den Kopf gehen lassen«, versicherte sie ihm mit diesem etwas unglücklichen Lächeln, das ihn immer zum Lachen brachte.
»Das ist ja nur ein Teil des Programms. Hier ist das Buchhaltungsprogramm.« Er holte eine neue Oberfläche hervor und bedeutete Grace, näher heran zu rutschen. Gehorsam rückte sie ihren Stuhl etwas näher, während er ihr die vielen Aspekte seiner digitalen Erfindungen erläuterte. Grace hörte aufmerksam zu, denn sie erkannte, dass es tatsächlich ein gutes und vor allen Dingen unglaublich einfach zu bedienendes System war. Er hatte es so programmiert, dass man einen Neuzugang mit den bereits auf diesem Konto getätigten Eingängen vergleichen konnte. Wenn also jemand versehentlich 115 Dollar statt 15 Dollar eintippte, dann machte das Programm den Benutzer darauf aufmerksam, dass sich die Summe nicht mit der anderen deckte und forderte ihn auf, nachzusehen, ob ihm ein Eingabefehler unterlaufen war.
»Das gefällt mir«, sagte sie nachdenklich. Sie hatte ihre Rechnungen und ihre Buchhaltung immer auf ganz altmodische Art und Weise getätigt, nämlich mit Papier und Stift. Da sie sich aber mit Computern sehr sicher fühlte, gab es eigentlich keinen Grund, weswegen sie nicht ihre Haushaltsfinanzen elektronisch abwickeln sollte.
Christians Gesicht leuchtete auf. »Das hatte ich mir schon gedacht.« Seine langen Finger berührten die Tastatur und luden das Programm auf ihren Computer. »Es heißt Gehe zu zahlen.«
Bei dem lächerlichen Namen stöhnte sie auf, musste aber dann doch lachen. »Tu mir einen Gefallen. Wenn sie dich schnappen, weil du dich in die Bankcomputer einschleichst, dann verrate ihnen bitte nicht, dass ich auch eine Kopie besitze, okay?«
»Ich habe dir doch gesagt, es ist vollkommen sicher, solange die Banken ihre Codewörter nicht ändern. Dann wirst du einfach nicht mehr einsteigen können. Ich könnte aber immer noch reinkommen«, brüstete er sich. »Aber den meisten würde es dann nicht mehr gelingen. Ich gebe dir auch eine Liste der Codewörter mit.«
»Die will ich gar nicht haben«, wehrte sie eilig ab, aber Christian beachtete sie gar nicht. Er durchwühlte einen Haufen Papiere und zog drei eng bedruckte Seiten hervor, die er in ihre Computertasche steckte.
»Hier. Dann hast du sie wenigstens, falls du sie mal brauchen solltest.« Er hielt kurz inne und starrte auf den Monitor, auf dem immer noch das Schachspiel zu sehen war. Sein Gegner hatte einen Zug gemacht. Christian legte den Kopf zur Seite und blickte das Schachbrett an, dann frohlockte er. »Ach so! Den Zug kenne ich, aber er wird dir nichts bringen!« Zufrieden bewegte er einen Bauern und klickte die Maus.
»Gegen wen spielst du denn?«
»Keine Ahnung«, erwiderte er abwesend. »Er nennt sich der Fischermann.«
Grace starrte blinzelnd auf den Bildschirm. Nein, das konnte nicht wahr sein. Christian spielte gegen jemanden, der sich den Namen vermutlich mit einem Hintergedanken ausgesucht hatte. Der richtige Bobby Fischer würde nicht auf der Suche nach einem Schachpartner durch das Internet surfen. Er konnte überall gegen jeden seiner Wahl spielen und dafür auch noch hohe Geldsummen erhalten.
»Wer gewinnt denn normalerweise?«
»Wir sind ziemlich ausgeglichen. Er ist gut«, gab Christian zu und schloss derweil den zweiten Computer wieder an.
Grace öffnete ihre Handtasche und zog ihr Scheckheft hervor. »Möchtest du denn eine Pizza essen?« fragte sie. Er legte den Kopf zur Seite, als er sich von der Cyberwelt zurückzog und den Zustand seines Magens begutachtete. »Klar doch, immer«, erklärte er. »Ich bin kurz vorm Hungertod.«
»Dann bestell dir eine, ich lade dich ein.«
»Wirst du denn noch bleiben und sie mit mir teilen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich habe zu Hause noch so viel zu erledigen.« Sie konnte gerade noch ein Erröten verhindern. Ford hätte lauthals aufgelacht, wenn er sie hätte hören können.
Sie stellte einen Scheck über fünfzig Dollar aus, dann zog sie einen Zwanzigdollarschein hervor, um für die Pizza zu zahlen. »Danke, mein Lieber. Du hast mir das Leben gerettet.«
Christian nahm den Scheck und das Trinkgeld entgegen und betrachtete beides zufrieden. »Das wird eine steile Karriere werden, nicht wahr?« fragte er stolz.
Grace musste lachen. »Wenn du nicht ins Gefängnis kommst, schon.« Sie stellte den Laptop wieder in die Tasche zurück und legte das reparierte Modem auf ihre offene Handtasche. Christian nahm ihr galant die Computertasche ab und trug sie ihr die Treppe hinunter. Beide Eltern waren nicht zu sehen, aber das Geräusch von Pistolenschüssen aus dem Wohnzimmer verriet ihren Aufenthaltsort. Beide Siebers liebten vorbehaltlos alle Actionfilme mit Arnold Schwarzenegger. Christians Zuvorkommenheit hielt nur bis zur Küche vor, wo er sich an die noch nicht telefonisch bestellte Pizza erinnerte. Grace nahm ihm die Computertasche ab, und Christian blieb vor dem Wandtelefon stehen. »Danke, Chris«, sagte sie und verließ das Haus ebenso, wie sie gekommen war, erst durch den dunklen Waschraum und dann durch die Hintertür.
Sie hielt einen Augenblick inne, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Während sie bei Christian gewesen war, hatte es sich stark bewölkt. Die Sterne waren fast verdeckt, obwohl man hier und da ein Stück klaren Himmels erkennen konnte. Heimchen zirpten, und eine kühle, nach Regen duftende Brise wehte.
Das Licht aus ihrem Küchenfenster keine fünfzig Meter vor ihr wirkte auf sie wie ein Lockmittel. Ford war da und wartete auf sie. Bei dem Gedanken an ihn wurde ihr warm. Vorsichtig ging sie auf ihr Zuhause zu, um in der Dunkelheit nicht über eine Unebenheit zu stolpern. Die weiche Grasnarbe federte ihre Bewegungen lautlos ab. Sie durchquerte bereits Murchinsons Garten, als sie jemanden in ihrer Küche bemerkte, der für kurze Zeit am Fenster aufgetaucht war. Grace blieb stehen und legte die Stirn in Falten, denn bei dem Mann handelte es sich weder um Ford noch um Bryant.
Himmel, sie hatten Besuch. Ihre Stirnrunzeln vertieften sich. Vermutlich war es jemand, der sich für Archäologie interessierte und etwas mit der Stiftung zu tun hatte. Gelegentlich besuchten sie Jugendliche aus der Oberstufe, die sich für Archäologie interessierten. Manche von ihnen wollten Grace sprechen, wenn sie ein Problem mit einem griechischen oder lateinischen Begriff hatten. Wie auch immer, sie wollte jetzt mit niemandem reden, denn sie wollte mit ihrem Mann ins Bett gehen.