An der Bar von Rufus - Rafael Robert Pilsczek - E-Book

An der Bar von Rufus E-Book

Rafael Robert Pilsczek

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Beschreibung

Willkommen an Bord! Auf einem Schiff, das mehr zu bieten hat, als sich auf den Liegestühlen beim Pool in die Sonne zu legen oder im Casino sein Geld zu verspielen. Im "The Silent Palm" treffen mit Daniel Golin, Tom "The Noise" Smith und Rufus drei besondere Männer auf einen Ort großer Magie und auf Gleichgesinnte, die zu treffen jedem Besucher einer Bar zu wünschen ist ... wo auch immer es in der weiten Welt und auf seinen sieben Meeren sein möge.

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INHALTSVERZEICHNIS

Widmung

Zitat

I.

Kapitel Zwei Trauernde finden sich auf hoher See

II.

Kapitel Sternenklar

III.

Kapitel Verabredet, um zu reden.

IV.

Kapitel Spieler oder Männer

V.

Kapitel Party und Wahrheiten

VI.

Kapitel Männer, die sich vertrauen

VII.

Kapitel Milde, bitte

VIII.

Kapitel Unerhörtes

IX.

Kapitel Alles ein bisschen besser

X.

Kapitel Der letzte gemeinsame Abend

XI.

Kapitel Das Schiff legt an

Bisher erschienen vom Autor

Widmung

Für Armin, Carsten und Dirk

und all den Männerfreunden,

die, sich gegenseitig vertrauend,

einander nicht anders als

ehrlich begegnen.

Zitat

„Und was tust du?“,

fragt der Vater

seinen Sohn.

Ein Vater

Los Angeles, im Dezember 2021

I. Kapitel

Zwei Trauernde finden sich auf hoher See

Daniel Golin sah im „The Silent Palm“ in aller Ruhe vor sich hin. Er schaute in sich versunken auf das große Regal vor sich. Er dachte nicht viel nach. Und wenn er dachte, dachte er an die Beerdigung, von der er kam. Es waren gut beleuchtete Reihen voller Flaschen an der Wand. Die Reihen des Regals zogen sich von dem einen Ende der rückwärtigen Barwand bis an das ganz andere. Die Flaschen stammten aus der ganzen Welt und verführten zum Probieren.

Solche waren darunter, die voller dunkler Farben waren, Brauntönen der Cognacs etwa, aber auch solche weißer Durchsichtigkeit hervorragender Spirituosen und sogar giftigen Grüns von Kunstgetränken, die in Laboren gemixt worden waren. Die Palmen, übrigens, waren in der Bar, wiewohl sie „The Silent Palm“ hieß, aus Kunststoff und an allen vier Ecken bis unter die Decke aufgestellt.

Die Flaschen im „The Silent Palm“ standen bereit für die, die die Ausschenken für das nahmen, was sie im Grunde überall auf der Welt waren: Orte, die den einen in ein kurzes Glück und den anderen wiederum in das tiefste Unglück warfen.

Daniel hatte es nicht mehr nötig, groß in die Welt um sich herum zu schauen. Er hatte die Palmen überhaupt nicht bemerkt, und wenn, dann wäre es ihm nicht wichtig gewesen, dass diese unecht waren. Es machte ihm nichts aus, vor allem nach innen zu schauen, dorthin, wo er Herrscher über ein schönes Reich war, da er ein reiches Leben gelebt hatte.

Nichts von außen musste zwingend mehr herein, da Daniel alles in sich trug. Das, was insgesamt ein glückliches Leben ausgemacht hatte. Rufus schenkte seinem Gast nun Wasser nach. Nachdem er zwei Virgin Marys – bestehend aus Tomatensaft, Eiswürfeln, Tabasco-Spritzern, Zitronensaft und mit Pfefferminzblättern dekoriert – durch den Strohhalm ausgetrunken hatte, erkannte Rufus, von welchem Schlag sein erster Gast während dieser Überseefahrt war. Wasser war jetzt das nächste gute Getränk, befand er. Wasser, stilles, serviert mit zwei Scheiben von ungespritzten Zitronen, die der Einkauf aus Griechenland bezogen hatte und die sich für die Überfahrt gut gekühlt im Bauch des Schiffes lagern ließen.

Rufus, der Barkeeper, mochte Gäste wie Daniel Golin. Es waren stille, sehr höfliche, sehr ausgeglichene Gäste. Solche, die eine passable Kleidung an Bord trugen, woran sie für die Kundigen auf dem Schiff gut zu erkennen waren. Sie übertrieben nie mit ihrer Kleidung, auch nicht mit ihren Worten und ihren Gesten. Von ihnen ging Frieden aus, der sich über das ganze Deck des Kreuzfahrtschiffes legte, als wäre es eine wärmende Bettdecke. Diese an Bord zu haben, war einer der Gründe, warum Rufus seit bereits langem Barkeeper auf solchen Kreuzfahrtschiffen war.

Ein Shirt ihrer Lieblingssportmannschaft hatten diese alten Männer aus Ohio, aus Arkansas oder aus Los Angeles tagsüber an und, bei gutem Wetter, kurze Hosen dazu. Daniel hatte Shirts der UCLA dabei, der Universität von Los Angeles. Der Universität, auf die er selbst gehen durfte, nachdem er als armer Junge von New York in die Stadt der ewigen Sonne kam und auf der er erst, nachdem er eine KFZ-Schlosserlehre bei seinem Onkel abgeschlossen hatte, eingeschrieben wurde.

Sein Stipendium an der UCLA, womit er den Zugang zu dieser Universität erhielt, hatte zum einen auf seinen Fähigkeiten in den Lernfächern beruht und zum anderen darauf, dass er ein sehr guter Sportler gewesen war, der gut in das Stipendiensystem hineinpasste.

Gerne trug Daniel auch ein Cap der Lakers auf seiner Glatze, der Basketball-Mannschaft von Los Angeles, die er noch mehr verehrte, seitdem er einen der Stars persönlich getroffen hatte und mit ihm in einem japanischen Restaurant essen gewesen war, wo der Koch am Tischgrill für die Gäste von ganz nah die Speisen zubereitet hatte. Der Star und Daniel hatten sich an jenem Abend gut verstanden und der Fan – Daniel – hatte ihm versprochen, an seinen folgenden Geburtstagen die Jugendmannschaft dann und wann mit einer Spende zu unterstützen, wenn es nicht allein die Krankenhäuser wären, die für krebskranke Kinder sammelten und die er bis dahin vor allem finanziell gefördert hatte.

Daniel war Kleidung nicht besonders wichtig und er war ein wenig stolz darauf, dass er ein Mann war, der sich nicht über den schönen Schein bestimmte, sondern sich sein ganzes Leben lang über das gewichtige Sein hergeleitet hatte. Er sprach jeden Menschen ähnlich gleich an, machte keine Unterschiede und rülpste auch gerne beim Abendbrot und zog die Nase hoch, wenn es ihm gefiel. Es war kein Zeichen von Protest, sondern ein, wie er sagte, urmenschliches Verhalten.

Es war ein sehr menschlicher Zug in der Person Golin enthalten, der ihn weit gebracht hatte und nah an Menschen wiederum heran, denen der Wert der Menschlichkeit kein Fremdwort in ihrem Leben war. Zur Bar-Zeit am heutigen Abend bei Rufus hatte Daniel ein weißes Hemd vor der Brust und stets solche kostengünstigen ohne Namensstickereien, wie sie manche Träger des alten europäischen Geldes bis in die Gegenwart für sich anfertigen ließen.

Nur wenige dieser Hochwohlgeborenen wiederum tauchten auf dem Schiff auf, das nun vom Heck aus mit enormer Durchsetzungskraft in See gestochen war. Es war eine Kreuzfahrtreise, die zwar eine Menge Geld verschlang. Es war aber keine Reise, der die besondere Anziehungskraft einer großen Yacht zugesprochen werden konnte, wie sie solche Luxusschiffe boten, die im französischen Antibes auf ihre millionenschweren Besitzer warteten, wenn diese für einen kurzen Turn aus London, Moskau oder Zürich einflogen.

Auch wenn Daniel auf Accessoires des Geldes verzichtete, trug er einen sofort überall erkennbaren dicken Ring an der linken Hand auf dem Ringfinger. Einen Ehering. Aus purem Gold. In einer Reinheit, dass sich ein Raubüberfall lohnte. Wiewohl er Witwer war, trug er weiterhin dieses Symbol einer lebenslangen Liebe. Er zeigte an, dass Männer wie er eine Heimat, einen Rückzugsort an der Seite einer Frau hatten, oder, wie in seinem Fall, gehabt hatten. Männer voller Stärke waren diese.

Seine jetzige Freundin tat es ihm nach, da sie ebenfalls ihren Ehepartner verloren hatte. Ihr hatte Daniel wiederum einen Ring nach seinen Wünschen anfertigen lassen, dessen Auszeichnung ein großer Opalstein war, den er auf einer gemeinsamen Reise in Australien für sie gekauft hatte. Die Freundin war in sein Leben nach dem Tod seiner Ehefrau getreten. Seine Freundin trug zwei Ringe an ihrer linken Hand. Es war auch für sie zum einen das Zeichen der langen Ehe mit ihrem verstorbenen Ehemann und zum anderen das neue Zeichen für das jetzige Leben mit dessen würdigem Nachfolger, der ihr Daniel geworden war.

Ein Leben lang mit einer Frau verheiratet gewesen zu sein, ist keine einfache Sache, weder für den Mann noch für die Frau, und dadurch umso wertvoller, wenn beide die Ehe bis zum Scheiden im Tode gemeistert hatten. Männer wie Daniel hatten überhaupt eine Stärke an sich, die ihnen spätestens im hohen Alter zugewachsen war. Nicht allein Ruhe strahlten sie aus. Es war mehr.

Es war das Wissen darum, wie etwas unter den Menschen gelang und wie nicht, wie ein gesundes Leben ging und kein krankes und auch, wie Miseren und Furchtbarkeiten gemeistert werden. Es gelang, wenn diese Männer nur das Glück hatten, auf die richtige Frau in ihrem Leben gestoßen zu sein und vor allem an dieser unbedingten Nähe zu einer solchen Frau festgehalten zu haben.

Es war die magnetische Anziehungskraft, dass, wer mit ihnen Zeit und Raum teilen durfte, viel mehr an Reichtum erhielt als in Gold, Aktien und Immobilien aufzuwiegen wäre. Es waren Ratgeber, Unterstützer, Stärken-Stärkende. Es waren Männer, die eine Richtschnur boten, an denen entlang sich andere, jüngere Männer gut und gerne ausrichten konnten. Rufus erledigte bei diesen Gästen seinen Job auf zurückhaltende und dadurch kluge Weise.

Rufus wusste, dass diese damit sehr zufrieden waren. Der Barkeeper sah, dass Daniel das Wasser gerne zu sich nahm und bemerkte geradezu fröhlich, dass er annehmen durfte, sich mit ihm in den nächsten Tagen gut zu verstehen.

Es waren Männer wie Daniel, die alles gesehen hatten. Männer, die zugleich keine Notwendigkeit mehr in sich trugen, davon jedem erzählen zu müssen. Sehr gerne war Rufus, seit vielen Jahren bei dieser Reederei angestellt und damit einer der älteren Barkeeper dieses Unternehmens, ein Diener ihrer Gepflogenheiten und ihres Wunsches nach Bescheidenheit. Er musste nichts anderes anstellen, als das eine und andere Wort zu sagen.

Ein besonderes Getränk dann und wann empfehlen. Ein Barkeeper wie er, ein Experte auf seinem Gebiet, durfte von solchen Männern ein hohes Trinkgeld erwarten. Die, die in der Bar lärmend auftraten, waren oft die, die beim Trinkgeld zu mickrigen, geizigen Zwergen wurden.

„The Silent Palm“ wirkte dabei ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Kein Schnick und Schnack waren dort und keine Spielereien und keine Spiegel oder gar Aquarien und teure Gemälde an den Wänden, wie es in Asien und in Arabien in den letzten Jahren Mode geworden war. Dort waren es Protzbauten aus der Hand von größenwahnsinnigen Herrschern und ihren willfährigen Architekten, die vom eigentlichen Grund, eine Bar zu besuchen, nur ablenkten.

Bei Rufus lief der Tag aus, das machte eine gute Bar aus, wie es sich in allen Jahrhunderten für eine gute Ausschenke gehörte. Dort fand die Vorbereitung auf eine gute Nacht statt, was der eigentliche Schatz einer solchen Bar war, den zu heben nicht jeder Gast gut verstand. „The Silent Palm“ war ganz in die Farben alten Bordeaux’ getaucht, also so, wie es vor allem die alt gewordenen Amerikaner auf allen Kreuzfahrtschiffen dieser Welt liebten. Sie bildeten weiterhin ihr Kernpublikum.

Amerikaner waren es häufig, als Paare, als Ältere, auch Alleinreisende, die damit auf kommode Weise die Orte der Welt besuchten. Sie reisten, ohne sich dem Hin und Her des üblichen Reisens in stickigen Bussen, in von Turbulenzen geschüttelten Flugzeugen und den langen, öden Fußwegen in den Städten aussetzen zu müssen. Dort, auf dem Kreuzfahrtschiff, fuhren sie gemütlich dorthin, wo es die räumlichen, örtlichen Touristenattraktionen an Land zu besichtigen gab. Sie stiegen dann für ein paar Stunden aus, wenn sie es beim nächsten Andocken in einem der weltberühmten und dafür vorgesehenen Häfen nur wollten.

Und die Älteren und ganz Alten, die teilweise gehbehindert waren oder unter anderen körperlichen Mängeln litten, gingen unter Anleitung beschützt in der Gruppe den Markusplatz Venedigs entlang. Sie sahen trotz ihrer Behinderungen das Kolosseum in Rom oder sie kauften Souvenirs in den Geschäften der Hafenstädte an den Küsten des Pazifik und aller übrigen sechs Weltmeere.

Ein Mann im Stilleben war Daniel im Grunde, da er sich am Tresen kaum bewegte, während er sich im Leben oft bewegt hatte, und nun, im Alter, das Ruhen für sich entdeckt hatte. Ohne dass sein Stil von seinen großen Taten erzählte und dem Wohlstand, den er sich selbst erarbeitet hatte. Er hatte seinen Pullover, der für den Abend vorgesehen war, bereits über die Lehne gelegt, da die Heizung der Bar auf Zimmertemperatur eingestellt war. Es war ein Pullover, den er sich in seinem Wohnbezirk im Supermarkt gekauft hatte.

Nur selten hatte Daniel seine Kleidung in Beverly Hills gekauft, sondern weitgehend in den üblichen großen Geschäften im San Fernando Valley, die auch zu Schnäppchenpreisen Kleidung und anderes verkauften. Auch hatte er stets in diesen Supermärkten seine Armbanduhren gekauft. Solche einer Marke, die preiswert war, und mit der er, sie am Arm, große Geschäfte in Las Vegas ausgehandelt hatte.

Lange hatte er im Valley fernab der Villen mit seiner Familie gewohnt. Er hätte sich auch ein Haus oben auf den Hügeln von Beverly Hills leisten können. Er hatte sich, im Einklang mit seiner Ehefrau, Elenah, jedoch dagegen entschieden. Die Kinder sollten in einem guten und zugleich bescheidenen Umfeld groß werden, was das Ehepaar auch bestmöglich einlöste, da der Stadtteil Nord-Hollywood über Jahrzehnte hinweg genau diese Anforderung erfüllt hatte, bevor sich dort die Gegend wandelte. Später wurde Nord-Hollywood, der Teil, der zum Valley gehörte, zu einem schwierigen Stadtteil, der nun unter dem neuen Namen „Studio City“ auf eine Wiederbelebung alter Sicherheit und Größe hoffte.

Als Witwer, nun mit einer neuen, gleichaltrigen und ebenso wohlhabenden Freundin an seiner Seite, die er auf den Trauerabenden seiner Gemeinde kennengelernt hatte und die zum Glück ihr Vermögen als Witwe selbst organisieren konnte, hatte Daniel sich von dem Ort, wo sein Leben jahrzehntelang stattgefunden hatte, entfernt. Nach einer kurzen Episode an der Küste in Malibu hatte er zugestimmt, zu seiner Freundin die Hills hoch zu ziehen.

Er verkaufte dann das alte Haus. Es lag in Ruhe in einer Sackgasse und war eines mit vielen Zimmern, einem Außenpool und einem Jacuzzi und voll an schönen alten Gegenständen. Es zählte viele Souvenirs aus aller Welt, aussagekräftige Möbel und schöne, stets liebliche Gemälde. Im Wohnzimmer gab es eine sehr große Polstersitzgruppe und einen Spieltisch aus feinem Mahagoni, an dem Elenah jahrzehntelang an vielen Mittwochabenden mit ihrer Frauengruppe Bridge gespielt hatte.

Daniel kam es nach dem Tod Elenahs wie ein Museum ihrer Liebe vor und er verließ es, da seine neue Frau das Anrecht darauf hatte, wie er dachte, mit ihr auch etwas Neues zu beginnen. Er verschenkte das eine und andere aus dem Haus an Verwandte und Freunde und bewahrte die besten Stücke für sich selbst auf. Das Prachtstück, das er in das Haus seiner Freundin mitnahm, war ein Tisch. Der Tisch hatte, umgeben von Harz, bauchige Delfine-Figuren aus starkem Glas eingearbeitet, die in ein dunkles Türkisblau getaucht waren und figürlich gekonnt sowohl auf- als auch abtauchten. Die Glasplatte über ihnen, die Daniel nach seinen Vorgaben zurecht schneiden ließ, stellte das Wasser an der Oberfläche eines Meeres in schönen Schwüngen am Rand der Tischplatte dar.

Der Tisch wäre ein wunderbares Element in jedem Wohnzimmer und, weil er so schön war, stimmte die Freundin mit ihm überein, dass er in der Mitte ihres Wohnzimmers vor dem Fernseher und vor den gemütlichen Sofas seinen neuen Platz finden durfte. Beide Töchter waren dagegen ein wenig säurig darüber, dass der Vater entschied, das Heim aufzugeben. Dass sie sich beschwerten, war zugleich nicht so ernst gemeint, da die eine eh weit weg im Ausland lebte und die andere ein schönes Haus an einem anderen, nahen Ort im Valley geschenkt bekommen hatte.

Es machte also für Daniel keinen großen Unterschied aus, wie er im „The Silent Palm“ auftrat, ob mit reichem Geschmeide oder mit üblichen Dingen an sich. Er hatte auch so gute Geschäfte abgewickelt. Er war sogar während mancher Geschäftsessen eingeschlafen und es machte für die Runde an Unternehmern – seinen Kunden – keinen großen Unterschied aus, dass dieser solide Unternehmer aus Los Angeles mal wegnickte, wenn ihm danach war. Die Partner wussten aus den Jahren davor von ihm, dass er das berühmte kaufmännische Dreieck aus Preis, Service und Qualität beherrschte und dass sie in seinem Unternehmen stets und durchgehend einen guten Dienstleister hatten. Er stand dafür ein, die Ware pünktlich zu liefern, während Marktbegleiter die Lieferfristen regelmäßig rissen.

Daniel, dann und wann auf seine preiswerte Uhr angesprochen, lachte dann gerne laut auf. Er drückte dann stets auf einen kleinen, dafür vorgesehenen Knopf an seiner Uhr und, wenn sie begann, auf dem Zifferblatt zu leuchten, sagte er gerne, dass eine Uhr dieser Marke sogar nachts die Zeit anzeigte, wenn es im Schlafzimmer dunkel war, und noch lange nicht jede Uhr zur nächtlichen Zeit die Helligkeit spendete zu erkennen, welche Stunde es geschlagen hatte.

Auf jeden Fall hatte das Kreuzfahrtschiff zur Mittagszeit in Hamburg unter beachtlicher Neugierde der Menschen an den Landungsbrücken abgelegt. Es war umsichtig und begleitet von zwei Schleppern – dem einen am Bug, dem anderen am Heck – bis Cuxhaven mit halber Kraft gefahren. Dann ging das große Schiff auf seine lange Fahrt nach New York und war vom europäischen Kontinent in die Nordsee entlassen worden.

Es war der erste Abend auf dem Kreuzfahrtschiff und alle versuchten sich zurecht zu finden und manche ließen den anstrengenden ersten Tag gleich an der Bar von Rufus ausklingen. Daniel hatte sich dorthin aufgemacht, weil er ein wenig seine Gedanken schweifen lassen und – währenddessen – zur Nacht müde werden wollte. So hatte er sich auf einen ruhigen Abend eingestellt. Doch dann kam es anders als erwartet. Wie es das Leben nur schrieb, geschah an jenem Abend etwas, das die Kreuzfahrtreise doch zu etwas Besonderem werden ließ.

Es war ein weiterer Mann, der nun in das Leben von Daniel Golin trat, und er tat es kräftig. Als Tom Smith am ersten Abend so um einundzwanzig Uhr dreißig die Bar betrat, in der Daniel an der Theke saß, waren vielleicht fünfzehn Gäste im „The Silent Palm“ anwesend. Die meisten hatten es sich in den tiefen Ledersesseln bequem gemacht, die, in Gruppen gesammelt, luftig im Raum verteilt standen. Es waren Sessel von der Art der Chesterfield-Möbel, in denen sie versanken, als wären die Sessel in einer besonderen Mischung aus Wasser und Sand gebaut.

Tom betrat die Bar und blieb erst einmal im Türrahmen stehen. Er musste blinzeln und sich an das Barlicht gewöhnen. Es war, als würde er eine weitere Bühne in seinem Leben, das reich an Bühnen gewesen war, betreten. Eine solche, vor der schwere Scheinwerfer auf ihn ausgerichtet wären. Tom untersuchte den Raum und erledigte dies in routinierter Schnelligkeit.

Er hatte sich dazu sehr jung die Fähigkeit angeeignet, alles von links nach rechts und von rechts nach links anzusehen, ohne dass es sein gesamtes Publikum bemerkte, dass er den Raum und das Publikum einzuschätzen versuchte. Zwei Engländerinnen, beide in seinem Alter, waren gleichwohl sofort von seiner Erscheinung angefasst. Tom aber blickte sich im Eingang um, als hätte er allein die Macht zu entscheiden, wer ihn mochte und wer nicht, was selbstredend einer der großen Trugschlüsse in seinem Leben war.

Er trug eine nagelneue, blau schimmernde Anzughose und ein hochwertiges Hemd mit Haifischkragen, das Blüten auf sehr hochwertiger Baumwolle explodieren ließ. Dazu trug er einen samtenen Carban, kurz geschnitten, der, wegen dessen Strenge, den Eindruck von Entschiedenheit und Stärke vermittelte. Seinen beobachtenden Blick aus eisblauen Augen fingen manche Gäste ein, da im Eingang das Licht auf den Eintretenden geworfen wurde. Er fiel aber vor allem dadurch auf, dass er wie eine Statue im Eingang etwas zu lang und steif auf der Stelle stehen blieb.

Auf seinem linken Auge war das klare Blau von einem schwarzen Strich durchzogen. Es war eine Pigmentstörung, die über ihn als Jugendlicher gekommen war. Vielleicht kam es von einem Schlag beim Boxen, das er damals drei Jahre lang betrieb, bevor es mit der Musik richtig zur Sache ging. Seine Nase war zudem auf der linken Höhe ein wenig eingedrückt. Das kam von einem legendären Kampf mit einem älteren Sparringspartner, der seine Sache zu ernst genommen hatte und der doch am Ende zum Erstaunen aller in der Boxhalle gegen den jüngeren Tom verlor.

So entstand auf jeden Fall der Spitzname, der Tom sein Leben lang – vor allem in den folgenden Jahren in der Rockwelt – begleitete. Er wurde zuerst Tom „The Nose“ Smith genannt, was seine Verwegenheit, die er ausstrahlte, ausdrücken sollte.

Später, als er Frontmann der Band war, der „The Berlins“, die durch besonders laute, einprägsame und klug erfundene Riffs und für das Stadion erfundene Rockmusik berühmt geworden war, fand sein Rufname immer stärkeren Widerhall. Er, der mit seinen Bandmitgliedern in der Musik der klaren Acht-Tonmusik des Westens aufspielte, lernte, dass die Kritiker der Musikzeitungen seinen Namen perfektionierten. Er hieß fortan Tom „The Noise“ Smith.

Die Doppelbedeutung seines Spitznamens zu erklären, nervte Tom die ersten Jahre, bis er erkannte, dass dieser half, in der Öffentlichkeit dadurch erkennbar und sichtbar zu bleiben. Auch während der Interviews, so benannt, wuchs mit diesem Namen das Bild von ihm. Es wurde geradezu der Kern der Botschaft, die er als Rockmusiker in die Öffentlichkeit sendete.

Die Frauen jüngeren und auch höherem Alters unter den Gästen im „The Silent Palm“ wiederum sahen selbst im Halbdunkel, dass er ein guter Fang wäre, für etwas Schnelles auf jeden Fall. Ein seltener Fisch war er, eher ein Hecht als ein Karpfen, eher räuberisch als fürsorglich. Einer, der sich nur auf dem Grund aufhielt und kaum an die Oberfläche zu bringen war. Einer, der den Frauen das Leben rettete, das in Routine und in Langeweile ertrunken war, oder ein Mann wäre, der sie auch rasch – nur kurz glücklich machend – vernichtete.

Tom besaß erdnussbraune, durchaus zugleich hell schimmernde Haare, dichte dazu, die er seit der Jugend sehr lang trug und zwar bis zum Ende seines hohen, schlanken Halses, so dass sie ihm manchmal in das Gesicht fielen und er sie, mittels einer dramatischen Geste, stets aus dem Gesicht wischen musste, wollte er mit seinen beiden Augen freie Sicht haben. Er pflegte diese Geste, und das auch jetzt, da er aus Erfahrung wusste, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlte.

Er hatte ein wenig Gewicht auf den Rippen und war ein wenig speckig im Gesicht geworden. Es sah von der nächsten Nähe aus nicht ganz gesund aus, da ein Mann seines Alters durchaus Gewicht auf den Knochen haben durfte und vielleicht auch haben sollte, es aber gleichwohl den Ausdruck leichter Aufgedunsenheit vermittelte, der kundigen Beobachtern Rückschlüsse auf die Einnahme von Medikamenten ziehen ließ. Das ehemals strenge Kinn von Tom war in Weichheit übergegangen, was ihm nicht vorzuwerfen war, weil es einfach jeden traf, der älter wurde. Eine Schönheitsoperation, wie es ihm sein Management vorgeschlagen hatte, hatte er bis heute abgelehnt, weil er schlicht und einfach davor Angst hatte, dass diese wie bei so vielen auch bei ihm schief liefe.

Tom hatte sich in den Neunzigern einige Tattoos auf die Haut prägen lassen und bereits während der Zeit als Boxer die ersten Tattoos in der Heimatstadt an sich gehabt, die damals noch als Ausdruck von Gewalt und Verbrechen galten. Sein ihm wichtigstes Brandzeichen war der Anker gewesen, den er auf dem linken Bizeps trug und der ihm beweisen sollte, was er damals für andere sein wollte und niemals gut genug in seinem Leben erreicht hatte: ein Hafen zu sein für sich, seine Eltern, seine Freunde und für die Frau, die er finden würde.

Damals, mit fünfzehn Jahren, dachte er klar und eindeutig daran, wie von den Eltern als Geschenk für ein gutes Leben in ihrer Tradition an den Sohn überreicht, dass er eine Frau haben würde, mit der er zwei, drei Kinder großzöge, die ihrer beider Leben bereicherten. Nun, da sein Leben ein einziges Chaos gewesen war, bedauerte er auch manche seiner Tattoos. Er hatte sich ja sogar mehrere Frauennamen auf die Haut ritzen lassen und kurze, dumme Sprüche über die Liebe, die zu leben und nicht nur wahllos zu verschenken er offensichtlich nicht genügend in der Lage gewesen war.

Auf jeden Fall war Tom, wie sollte es anders sein, ein passabel anzuschauender Mann geblieben, der mit der Fähigkeit zu strahlen bewusst umging, und stets auf das Neue in Gewässer geriet, die ihn dorthin getrieben hatten, wohin er vielleicht niemals hatte hin kommen wollen. Einen Hafen, im alten Sinne, hatte er bis heute nicht angelaufen. Er war auf einem Treibfloß des Lebens geblieben.

Tom entschied sich nun, das zu machen, was er immer bei solchen Gelegenheiten tat. Es tat es in Wahrheit aus wenig eigenem Willen. Es war eine Sucht, es so zu tun. Wenn er auftrat, dann suchte er sich stets den Mittelpunkt des Raumes aus. So steuerte er mit aller gelernten und gespielten Langsamkeit durch die Mitte der Bar das halbe Rund der Theke an, zog die Blicke von der Seite zwangsläufig auf sich und platzierte sich dort für alle gut sichtbar neben einem Mann, der sich nicht nach ihm umgedreht hatte.

Daniel nahm als wohl Einziger im „The Silent Palm“ nicht wahr, dass nun ein Komet der Bar die Ehre erwies. Was in seinem Rücken geschah, war ihm auch recht gleichgültig. Er ließ seine Gedanken ziehen und überlegte sich, ob er noch etwas bestellen wollte.

Tom fühlte sich nicht wohl an diesem ersten Abend auf dem Kreuzfahrtschiff. Das ihm wiederum während seines Auftritts in der Bar anzumerken, war beinahe ausgeschlossen. So sehr war er stets ein Schauspieler gewesen, dass er auch darunter gelitten hatte, dass seine Unpässlichkeiten ihm kaum abgenommen worden waren, weil er diese nicht nach außen zeigte.

Tom hatte heute versucht, früh schlafen zu gehen. Die Schlafmittel hatte er noch nicht nehmen wollen. Immerhin das hatte er geschafft. Es war dafür zu früh gewesen, wusste er. Als er im Bett lag, kaum ausgezogen, hörte er die Geräusche des Schiffes. Die Wellen, die das Schiff brach, spülten durch die dicken Fenster unheimliche Töne in seine Kabine.

Es war nicht so, wie er es sich gedacht hatte, dachte er, im Bett liegend, das ihm zu schmal war, da er an die Betten in den berühmten Hotels gewöhnt war, in denen er Stammgast war. Er war ja an vielen Stränden gewesen. Dort mochte er die Brandung, die Wellen, deren Kraft sie bis an das Land trugen. Besonders die an der Küste San Franciscos liebte er, wo er sich, umgeben von seinen Bandkollegen, als junger, aufstrebender Rock-Star wie ein Held vorgekommen war, die Sicht nach Asien werfend, diesem unverständlichen Teil der Welt, den er sich auch noch erobern wollte.

Oder angenehm waren ihm die Geräusche des Hudson River an der Küste New Jerseys, wo er als Kind mit seinem Vater oftmals angeln gegangen war und seinen Vater dafür geliebt hatte, dass er mit ihm viele Stunden dort im Schilf verbracht hatte, in denen der Vater seinem Sohn geduldig das Handwerk des Angelns erklärte und besonders die Kenntnis davon, Aale geduldig nach oben zu holen.

Oder es war die Brandung an der französischen Atlantik-Küste, die Tom lieben lernte, wohin er ja mit ihr, mit Britta Klein, gefahren war, als beide, wahrscheinlich ineinander verliebt, sehr unbeschwerte Wochen verlebten und in einem schönen Auto – einem Bully, der zum Schlafen geeignet war – eine Rundreise durch den Süd-Westen Frankreichs unternahmen. Eine Rundreise, voll an Sommersonne, weiten Stränden, matschbraunem Sand, Lavendelfeldern, gutem Essen, gutem Wein und vor allem voll an Küssen, die nach Himbeeren schmeckten.

Meeresgeräusche taten Männern wie Tom gut. Diese milderten auch die Töne seines Tinnitus, den er bereits mit fünfundzwanzig Jahren bekam als Folge seiner lärmgeprägten Arbeit, der er in den Stadien der Welt nachging. Diese Nacht nun, die sich ankündigte, in dieser Gefängniszelle auf dem Schiff, versprach ihm nichts Gutes und er zahlte einen Preis dafür, dachte Tom, dass er geglaubt hatte, seiner Trauer über den Tod seiner geliebten Freundin auf einer Kreuzfahrtreise eher, besser entkommen zu können.

Dieses Mal, dieses weitere Mal, im Bauch des Schiffes alleine zu Bett, war er erneut in die panischen Momente gefallen. Es fühlte sich für wenige, schlimme Minuten an, als wäre er lebendig unter dem Stahl begraben. Er dachte, er fiele in Ohnmacht. Er fühlte, dass sein Herzschlag schneller ging und dass sich kalter Schweiß auf der Haut bildete. Er kannte den Verlauf seiner Panikattacken. Wiewohl er im Kopf wusste, dass diese nach zehn bis fünfzehn Minuten endeten, als wären sie von einer Maschine auf Pünktlichkeit eingestellt, waren sie derart schlimm, dass er zugleich dachte, sie würden niemals enden und er müsse sterben.

Sie waren furchtbar, diese Attacken, die Tom seit Jahrzehnten befielen, und noch war kein Arzt und noch kein Hilfsmittel gefunden worden, die geholfen hätten, dass diese Dämonen, diese Geister des Bösen aus seinem Leben verschwänden.

Sein Ausblick aus seiner Suite war zwar schön. Er hatte ein Premium-Zimmer gewählt. Eines, das einen Balkon hatte und eine Fensterfront. Doch, die Vorhänge zugezogen, übermannten ihn die üblichen Ängste und Sorgen. Er hatte nicht einmal die Kraft, die Vorhänge zu öffnen. Es war alles steif und anstrengend in ihm, wenn die dunklen Reiter kamen. Auch das, was er in Hamburg erledigt hatte, steckte ihm in den Knochen. Der Besuch des Friedhofs, das Verharren an ihrem Grabstein, all das spülte alles Schlechte, das in ihm lag und das von ihm ausging, hoch.

Er wusch schnell, nachdem sich die Attacke verzogen hatte, sein Gesicht, knöpfte sein Hemd zu, zog die Schuhe an, die weit über fünfhundert Dollar gekostet hatten, und fühlte erneut, dass alles an ihm Ausrüstung war. Und, dann, entschied er sich bei der Auswahl der vielen Bars für die, die weit oben an Deck lag und doch ohne Außenfenster war. Oberhalb des schützenden Tresors oder des stählernen Grabes, je nachdem, wie man es sehen wollte, befand sich die Bar, und das auf einer Reise, die er für sich gewählt hatte, weil es doch genau anders sein sollte auf diesem Weg zurück in die Heimat.

Ruhiger in der Seele sollte ihn diese Reise machen, da Schnelligkeit ausgehebelt wäre. In gemächlicher Langsamkeit des Reisens alter Tage fort gehend, wollte er, ohne alles wie im Flug erlebt zu haben. Besser mit sich sein, war der Plan, weil er von Meile zu Meile trauern konnte, indem er sich vom Ort der Trauer ohne Eile entfernte.

Das „The Silent Palm“ war keine der Außenbars, wohin er ging. Dafür, dass es dort angenehme wäre, war es vor der Küste Englands im Ärmelkanal, den das Schiff nun passierte, abends noch zu kühl und der Hochsommer zumindest heute noch nicht stark genug auf dem Schiff angekommen. „The Silent Palm“, als er davor stand, sprach ihn gleichwohl sofort an. Er hatte, als er eintrat, einen Auftritt hingelegt, der ihn mit einem lächerlichen Stolz erfüllte, von dem er wusste, dass dieser unnütz war und doch, tatsächlich, immer wieder schön. Die Bar hatte eine aus Nussbaum gezimmerte Tür mit zwei Flügeln als Eingang und ein Flügel stand offen, als Tom hinein flog.

An der Theke nahm Tom auf einem der drei freien Hocker Platz. Einem, der eine genietete Rückenlehne hatte. Die er brauchte. Da er unter starken Rückenschmerzen litt und dies ein weiterer Preis dafür war, jahrelang eine anstrengende Bühnenshow hingelegt zu haben, wenn er mit „The Berlins“ aufgetreten war. Er sah die Regale hoch. Als Rufus ihm wenig später eine Serviette hinlegte, das Zeichen, dass er bestellen möge, gab er hektisch seinen Wunsch an. Einen Whiskey Sour und den, wie sollte es bei mir anders sein, dachte Tom, doppelt und ohne Eis.

Dann nahm er wahr, dass ein Mann in seiner Nähe saß und das direkt neben ihm. Tom hatte sich, wie gesteuert durch den Wunsch, menschliche Nähe zu finden, auf den rechten der drei freien Hocker gesetzt. Der alte Mann links von ihm sah groß aus, bemerkte Tom aus den Augenwinkeln, wie ein kräftiger Basketballer im Ruhestand war er, einer, der im Zentrum unter dem Korb gespielt hatte, sehr hochgewachsen war, bestimmt ein Meter fünfundneunzig, und noch immer von einer enormen Muskelmasse geprägt.

Wie ein ganzer Kerl, der in die Jahre gekommen war, und doch ein Mann war, von dem keine Bücklinge zu erwarten waren. Einer mit Glatze. Einem, den seine Glatze nicht groß störte, dachte Tom. Einer, der bestimmt einer der vielen Rentner auf dem Schiff sein musste. Einer der ganz Alten. Wo bin ich nur hingekommen, flüsterte sich Tom in dem Jugendslang der alten Tage zu, als er den ersten Schluck des Whiskey zu sich genommen hatte und sich selbst zuprostete. Zur Hölle mit mir in diesem Leben, einem Leben, das ohne Weiß war und von Schwarz gemalt, flüsterte er sich selbstironisch zu und verwendete leise eine Liedzeile aus einem Song, den er vor über dreißig Jahren geschrieben hatte.

Beide Männer – Daniel und Tom – wussten noch nicht, dass sie die nächsten elf Tage ein gesprächiges, zugewandtes Paar würden. Zwei Männer, die eine Überfahrt von Hamburg nach New York gebucht hatten. Und die einen Grund dafür hatten, der vermutlich fern von all den Gründen der anderen Mitreisenden lag, warum diese zwei die Kreuzfahrtreise unternahmen.

Tom war ein Mann geworden, der stets in jedem Jahr seiner Karriere sich selbst ruinierte, als „The Berlins“ wie eine Rakete in die Liga der Berühmtheit hoch schoss. Er hatte die Geborgenheit von New Jersey verlassen und war nun in der Bar der, der die Repräsentanz des Lebens seines Bar-Nachbarn ungläubig und hart hinterfragte. Er suchte geradezu danach, dass der goldene Anschein Daniels die Risse bekäme, die zuvorderst nicht sichtbar waren. Er wiederum wäre wohl der böse Junge, der in seinem ganzen Leben wenig richtig und viel falsch gemacht hatte. Beide fühlten – ohne es bereits voneinander zu wissen – gemeinsam etwas Ähnliches, das Trauern, das ganz anders denn als ein angenehmes Gefühl zu beschreiben war. Es würde sie beide zu etwas verbinden, was ganz anders war als ein Missempfinden.

Sie wussten nicht, dass sie sich helfen würden, über etwas ein wenig mehr hinweg zu kommen, das beide nun stark beschäftigte. Über das ein wenig mehr gefasst zu werden, was geschehen war, das in Beiden nur eines bewirkte: tiefe Traurigkeit.

Tom war ein alternder Rockstar aus New Jersey und zweiundfünfzig Jahre alt. Geboren 1968 und damit in dem Jahr, als die Leichtigkeit Amerikas ihrem Ende entgegen ging. Daniel war ein jüdischer Amerikaner, der in der Bronx groß geworden war, in Los Angeles ein lebenslanger Unternehmer wurde, und der mit seinen fünfundsiebzig Jahren zu seiner eigenen Überraschung noch immer am Leben war.

Der alte Mann trug seit zwei Jahren einen Herzschrittmacher und einen Schockgeber und beides, in der Funktion gut auf das Herz abgestimmt, ermöglichte es ihm gar bis heute, seinen Übungen im örtlichen Fitness-Studio in Encino. L. A., nachzugehen. Diese Besuche wurden geradezu zur Pflicht, wollte er länger leben. Der Altersunterschied zwischen Tom und Daniel war wie der eines Vaters zum Sohn und der eines Sohnes zu seinem Vater. Das denkwürdige Aufeinandertreffen, das nun seinen Lauf nahm, geschah im Jahr vor den neuen großen Weltkrisen. In einer Zeit, in der nicht alles gut war. Nein. Aber als alles noch anders war. Gemäßigter, wie wir heute sagen würden.

Es war damals ein heißer Sommer im Jahr 2019, als Daniel Golin kurz nach rechts schaute, Tom Smith ansah und ihn höflich und ohne innere Aufforderungen nach mehr Austausch fragte, wie es ihm ginge.

Das laufende Jahr, vor der Zeit der weltweiten Verseuchungen und erneuter Verrohungen heutiger Tage, war in der Rückschau ein ganz gutes Jahr geworden. Es brachte etwas Besonderes hervor, etwas Gehaltvolles. Zumindest berichteten dies die Winzer von den Rebstöcken in Deutschland und in Frankreich und von vielen Orten der Welt in ihren Fachzeitschriften. Besonders ihren Bordeaux priesen die Franzosen bereits als einen der besten Jahrgänge ihrer Geschichte an.

Dass es heißer in der Welt wurde, sich die Hitzegrade der Welt rasch veränderten, war ein Seitenaspekt, der bei den Winzern und Weintrinkern noch keine besonders bedrohliche Gefühlslage hervorrief. Das Glücksspielparadies Las Vegas zum Beispiel verzeichnete in jenem Sommer Höchststände an Hitze und das daneben gelegene Tal des Todes – das Death Valley – war ein Ort geworden, durch das wohl kein Cowboy mehr freiwillig hindurch ritt und an dem die Touristen lediglich in bestens klimatisierten Bussen vorbeischauten und dann auch nur kurz wie im Vorbeifahren.

Auch diese Geschichte der Angst vor der Sonne, die sich von einem stets hoffnungsvollen Himmelsgestirn zu einem unaufhaltsamen und durchdringenden Boten der Angst vor ihr gewandelt hatte, von einem Gefühl der Wärme und Geborgenheit zu einem Gefühl, von ihr bei lebendigen Leibe verbrannt zu werden, da die Menschen auf der Erde die Erde verwursteten, als wäre sie eine kostenfreie Leckerei zum Abendessen, die jeder sich nehmen konnte, wie er es nur wollte, diese Geschichte wurde erst später und dann mit aller Wucht in allen Regionen der Welt geschrieben.

Schwer würde er am Ende sein, dieser Jahrgang des Bordeaux, war noch das unbekümmerte Loblied im Jahr vor den Weltkrisen, und dass er sich sehr reif nach all diesen Sonnenstunden in jenem Jahr entwickelte. Er würde reich an Aromen werden und dazu gut geeignet, einen tiefen Abgang in der Kehle auszulösen.

Auf jeden Fall schaute Tom, der von alledem nicht viel verstand und eh das trank, was eine Bar ihm bot, auf Daniel und antwortete auf die Frage des Nachbarn, ohne dass es eine tiefere Bedeutung für ihn gehabt hätte, mit einem verlogenen „Fein. Mir geht es gut. Dank der Nachfrage.“ Er dachte, dass es sich mit der Wiederholung der Frage, an seinen Nachbarn gerichtet, erledigt hätte. Was sollte er auch mit solch einem alten Mann nur anfangen?, sagte sich Tom und nippte drei Mal rasch hintereinander an seinem Getränk. „Wie geht es Ihnen heute?“, antwortete Tom.

Tom schüttelte sich und dachte, dass die Reise, nach New York mittels eines Kreuzfahrtschiffes in die Heimat zu gelangen, ein doch sehr falscher Gedanke gewesen war. Doch der Eindruck, am falschen Ort zu sein, war ein falscher.

Rufus hatte das Gespräch eröffnet, dass diese Beiden leicht – falls sie es wollten – zueinander ins Gespräch kommen konnten. Er hatte wie aus dem Nichts Tom und Daniel auf Barkosten je einen Tequila hingestellt. Dann sagte er mit gewinnenden Augen den Satz, den jeder gute Barkeeper in der Welt beherrschte, wenn er aus einsamen Gästen zweisame Gesellen machen wollte. Rufus schaute beide an, legte den gesunden Arm, da er den anderen im Krieg verloren hatte, auf dem Tresen ab und sagte dann in der freundlichsten Stimme, die ein Verkäufer nur haben konnte: „Ich sage gerne noch einmal ein herzliches Willkommen im ‚The Silent Palm’. Auf eine gute Zeit an Bord. Mein Name ist Rufus und ich bin in den nächsten Tagen für ihr Wohlbefinden da.“

Dann hoben alle drei, da Rufus sich ebenfalls einen Tequila bereit gestellt hatte, tonlos die kleinen Gläser hoch und tranken. Den Tequila stürzten Tom und Rufus in einem Zug hinunter, nachdem sie die dazugehörige Zitrone ausgequetscht und das Salz zu ihrem Mund geführt hatten, während Daniel von dem Getränk nur ein wenig zu sich nahm. Tom verdrehte kurz seinen Kopf.

„Cheers!“, sagte Rufus zum Abschluss seiner kleinen Zeremonie. „Auf Sie beide!“, fügte er an. „Sie werden es gut bei mir haben!“ Dann ging Rufus, höflich, wie er war, vor allem unaufdringlich, wie er war, ohne weitere Worte wieder von diesem Ort in seiner Bar weg und ging seinen Geschäften bei den anderen Gästen im „The Silent Palm“ nach. Daniel und Tom hatten Rufus nichts entgegnet und sich selbst außer dem Trinkspruch nichts zukommen lassen.

Daniel war ein wenig neugierig auf seinen Nachbarn geworden und schaute erneut in seine Richtung. Er ordnete Tom ein, so gut er es konnte, und gab dem jungen Mann zur Antwort auf dessen Frage etwas mehr mit als es die kurze, im Grunde zugleich abwehrende Antwort von Tom verlangt hatte: „Fein geht es Ihnen! Das freut mich für Sie“, sagte Daniel.

„Für mich ist es heute Abend wenig fein“, sagte Daniel. „Das muss ich Ihnen sagen. Ich habe einen treuen Freund verloren.

Er war sogar in ihrem Alter, wissen Sie?“

Tom hatte sich dem alten Mann zugewandt. Noch schaute Tom recht ausdruckslos drein.

„Ich bin wohl tatsächlich in Trauer“, sagte Daniel, „obwohl er weder ein Verwandter noch ein Amerikaner war. Verstehen Sie? Bei ihnen ist alles gut? Das freut mich tatsächlich für Sie. Oder ist es anders? Für einen Mann, der seinen Whiskey gleich am ersten Abend so schnell austrinkt, als wäre er auf der Flucht und nicht an einem der schönsten Orte der Welt, wie doch so viele ihre Urlaube auf Kreuzfahrten, die sie um die Welt bringen, beschreiben.“

Tom lächelte ein wenig gequält. Er wusste noch nicht, was er mit dieser Situation anzufangen hatte.

Daniel wartete keine Antwort ab. Der alte Mann fasste sich für seinen neuen Bar-Nachbarn das Herz alter Tage, als er die Menschen überall ansprach. Es war in Ghettos geschehen, wo er mit Menschen leicht und locker sprach, und wohin er seine Auszubildenden nach Hause gefahren hatte, Oder es waren Menschen auf den Straßen an vielen Orten der Welt gewesen, wohin er gereist war. Oder es waren freundliche Verkäufer in einem jüdischen Quartier an Orten gewesen, von wo Juden vertrieben worden waren, die er bereiste. Oder es waren vor allem seine Mitarbeiter in der Produktion, die das eine und andere aufmunternde Wort von ihrem Chef gut gebrauchen konnten.

Daniel atmete tief ein. Sodann sagte er für sich erstaunlich wohlgelaunt und so wie in alten Tagen:

„Ich heiße Daniel Golin. Sehr angenehm, Sie kennenzulernen, junger Mann, Ich bin aus Los Angeles.“

Daniel legte keine Pause ein. Er schaute den jungen Mann neben sich dann in aller entwaffnenden Offenheit an, für die Amerikaner gemäß ihrer Kultur berühmt und berüchtigt waren. Geradezu liebevoll schaute er ihm in die Augen und fügte sogleich etwas an, das der Beginn eines guten Gespräches an diesem Abend werden konnte.

„Wie heißen Sie?“, fragte Daniel.

Tom wusste im Grunde nicht, was er darauf sagen wollte.

„Ich heiße Tom Smith“, sagte er. Er riss sich zusammen, da er ansonsten sehr oft von Menschen angesprochen wurde, die ihn aus der Klatschpresse kannten, und dieser Mann offensichtlich nicht. Er fügte dann schüchtern als auch ehrlich an: „Ich bin ein Junge aus New Jersey“.

„Schön, Sie kennenzulernen, Herr Golin. Nennen Sie mich einfach Tom“, sagte er. „Einverstanden? Darf ich Sie Daniel nennen?“

Tom machte es sich, so gut es für ihn ging, auf dem Hocker bequem. Er streckte seinen Rücken durch. Das tat er immer, wenn die Schmerzen in den Lendenwirbeln und am Ischias zu groß wurden. So, wie er nun saß, ging es ganz gut. „Alles okay?“, fragte Daniel.

„Ja, ja, alles gut“, antwortete Tom. „Es ist nicht so schlimm. Ich kann, Gott sei Dank, im Liegen mit den Schmerzen gut auskommen. Wenn ich dagegen sitze, dann kommen sie manchmal.“

„Ja“ , sagte Daniel. „Das kenne ich. Es ist ein Segen. Die, die nachts beim Liegen unter Schmerzen leiden, haben es viel schlechter. Meine Freundin ist so ein Pechvogel. Ich beneide sie nicht. Sie schläft selten durch.“

„Du hast eine Freundin?“, fragte Tom. „Darf ich fragen, wie alt sie ist?“

Daniel lachte auf, da er hinter der Frage seines Nachbarn einen besonderen Hintergrund vermutete. „Nein, nein, keine Sorge. Sie ist nicht dreißig oder vierzig oder so. Sie ist Mitte Siebzig wie ich und meine Freundin geworden, nachdem meine Frau Elenah verstarb. Wir haben uns in der Gemeinde im Trauerkurs kennengelernt. Nein, nein. Es ist nicht so, Tom, dass ich ein Sugar Daddy war oder bin, von denen es nicht wenige in Los Angeles gibt. Das wäre ja unmöglich und ich gebe mein Geld auch lieber für sinnvolle Sachen aus, für Souvenirs, für Essen oder die Werkstatt, wenn mein 50er Cadillac pustet und röhrt, als würde er gleich in sich zusammenfallen.“

„Im übrigen“, sagte Daniel, „im übrigen sind die Verrenkungen der Jugend im Bett dann eine Tugend, wenn ein Mann selbst jung ist. In meinem Alter ist man schon froh, wenn man die Treppen auf diesen Decks gut nehmen kann. Verstehst du?“

„Ich“, stammelte Tom ein wenig, „ich wollte es nicht so sagen. Nein, Herr Golin. Ich meine, Daniel. Das war unhöflich von mir. Sicherlich. Aber ja, es hätte sein können. So kräftig, wie du ausschaust und, das darf ich sagen, so gesund und in Ruhe mit sich. Da hätte es passen können. Aber schön. Eine Freundin in deinem Alter. Das klingt schön.“

„Auf mich warten viele gleichaltrige Frauen“, sagte Tom, „die mich sogar alle heiraten wollen. Die kennen mich aus der Videozeit, dem Radio, den Klatschzeitungen, woher auch immer. Die Jüngeren wollen mich auch gleich an sich ketten und Kinder mit mir haben, am besten drei, aber von denen kennen nicht mehr so viele meine Musik. Wenn sie erfahren, wer ich bin, drehen die durch, als hätte sie das Bild, das sie dann von mir haben, auf Droge gepackt.“

„Ist so. Ist einfach so. Bis heute.“

Tom fuhr fort, sich zu erklären. Er hatte dabei das Gefühl, sich zu verheddern.

„Manche denken sogar“, sagte Tom, „es ist unglaublich, sie glauben, dass meine Gene so gut sind, dass nur ich es sein kann, der ihnen ihre Brut gibt. Was für ein hässlicher Gedanke, ich weiß, es ist aber so. Dass das manche von denen denken. Darüber haben Rockstars sogar Songs geschrieben, solche, die sich nur dem erschließen, der mit diesem Drama zu tun hat.“

„Ich bin umgeben von Heiratsschwindlerinnen“, sagte Tom zum Schluss. „Und das ist nicht allein ein Fall für Männer, weißt du?“

„Kennen dich?“, sagte Daniel. „Was heißt das denn? Du bist bekannt?“

„Kennst du nicht ‚The Berlins‘?“

„Nein, leider nicht.“

„Müsste ich?“

„Das ist meine Band. ‚The Berlins‘. Wir haben bis Ende der Neunziger riesengroße Erfolge gefeiert. Ich war ihr Frontmann und ihr Sänger. Wir waren die New Jersey-Jungs, die in die weite Welt zogen, weil meine Bandkollegen und ich alle aus New Jersey stammen.“

„Musiker, ach. Nein, euch kenne ich nicht. Entschuldige das, bitte.“

„Wir haben Mitte der Neunziger ganze Stadien gefüllt. In den USA, in Südamerika, auch in Europa und in Asien. Es war die Hochzeit des ehrlichen Rock, den wir bedienten, und nicht der weichgespülte Spaß-Pop, der mit uns im Ring um die Hoheit der besseren Musik kämpfte. Wir haben das alles ganz gut gemacht, finde ich noch heute.“

„Nein, tut mir leid“, sagte Daniel. „Ich höre nicht viel Musik. Außer in Bars. Ich mag es, wenn in Bars Musik als ein sanftes Grundrauschen den Raum füllt. Ein wenig Jazz, ein wenig Blues, ein wenig Pianomusik. Ein großer Zuhörer war ich nicht. Habe ich noch nie getan. Musik hören und das viel. Im Radio höre ich eher die Sachformate. Wenn Elenah aber auf dem Klavier bei uns im Wohnzimmer übte und spielte, dann habe ich ihr oft zugehört.“

„Während ich die Papiere am Küchentisch sortierte, weisst du?“, sagte Daniel. „Aber auch nie besonders lange, weil es stets Aufgaben zu erledigen gab, Dinge, denen ich nachgehen musste. Hier ein Anruf, dort ein Anruf. Viel Ruhe war nicht.“

„Aber sie spielte mit so viel Freude“, sagte Daniel, „dass es mich stets anrührte und mein Herz erwärmte, wenn sie den Abend am Klavier ausklingen ließ. Sie war danach stets so friedvoll, so ausgeglichen und sie konnte dann auch ihre Einschränkungen vergessen. Sie war von Kindesbeinen an herzkrank, musst du wissen. Das Klavierspiel lenkte sie von ihren Schmerzen und ihren Sorgen um sich ab.“

„Später, als die Kinder groß waren“, fuhr der alte Mann fort, „das war bedrückend, sehr erstaunlich im Grunde, spielte sie nur noch selten. Es hätte ihre Zeit des Klavierspielens werden können. Niemand hätte sie gestört. Die Kinder waren ja nicht mehr im Haus. Es wurde aber nichts. Es war noch später fast so, als ob sie damit, dass sie das Klavierspiel einstellte, auch fast ihr Ende ankündigte.“

„Das tut mir leid“, sagte Tom und fühlte zu seinem Erstaunen, dass es ehrlich gemeint war.

„Muss es nicht. Es ist schon eine Weile her. Es hat lange gedauert, bis ich ein wenig über ihren Tod hinweg kam. Mein ganzes Leben habe ich mit ihr verbracht. An ihrer Seite, mit ihren Gedanken in meinen Ohren und ihren Taten vor meinen Augen. Dem gemeinsamen Älterwerden, dem Gemeinsamen überhaupt, was wir zueinander waren, Großeltern, Ehemann und Ehefrau, Vater und Mutter, Onkel und Tante. Am Ende war es schlimm geworden.“

„Ganz am Ende haben wir die Medikation eingestellt. Es war noch die Hepatitis hinzu gekommen. Es erschüttert mich manchmal nachts, dass nicht sie neben mir liegt, sondern meine Freundin, die ein guter Mensch und eine bewundernswerte Frau ist. Und zugleich nicht der Mensch, mit dem ich mein ganzes Leben im Guten wie im Schlechten gemeistert habe. Wir hatten eine recht große Firma. Und die Firma wurde von mir geleitet, ja.“

„Doch Elenah war jeden Tag mit mir im Büro“, erklärte Daniel. „Wenn wir abends am Tisch aßen, sprachen wir weiterhin über Kunden und über alles, was in der Firma anfiel. Es gab nicht die Trennung des Privaten und des Beruflichen und den Kindern und dem Haus und so weiter. Es gab alles in Einem. Das machte es so schön, so reich, so nah, so sicher, dass ich ihr stets alles bot. Ich versuchte, ihr das zu geben, von dem ich dachte, es würde ihr helfen, ihre Schmerzen und ihre Sorgen ein wenig zu vergessen.“

„Sie sagte mir die letzten Jahre ihres Lebens, ich sei ihr Fels. Stets, wenn sie das sagte, stiegen die Tränen in mir hoch und es fiel mir schwer, die Tränen vor ihr zu verbergen. Eines Tages, als wir in Venedig den Markusplatz entlang spazierten, sie bereits schlecht unterwegs zu Fuß, sagte sie es sogar meinem