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Hier ist die junge Maria, eine aufstrebende Geigerin in Ost-Berlin, und dort ist die chilenische Tango-Tänzerin in New York, die ausge- rechnet auch Maria heißen muss. Dazwischen steht der junge Mann Michael Mai, der von beiden nicht zu halten ist. Oder doch? Und dann taucht noch Mausland auf, der dem talentierten Reporter den Aufstand der Ex-Spione vorhersagt. Es sind halt turbulente Zeiten in der jungen wiedervereinigten Republik, in Amerika und überhaupt in der Welt, in der es vor allem um die Frage geht, ob die neue Zeit die neuen Hoffnungen rechtfertigen wird, nach deren Erfüllung sich alle so sehr sehnen. Was der Umbruch der ganzen Welt mit den jungen Leuten macht und ob Mai erwachsen wird, was Erwachsene darunter verstehen, davon erzählt der Roman Mai. Ein junger Mann, der nicht zu halten war, der eine wunderbare Liebesgeschichte und ein fesselnder Thriller in einem ist. Und das Buch zum Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges ist, das zwischen den Welten steht, wie die deut- sche Verlagsbranche sagt: sowohl zu hintergründig für nur leichte Unterhaltung als auch zu einfühlsam für nur reine Literatur. Es sind zwei entscheidende Jahre, 1990 und 1991, die die Welt und das Leben der Romanfiguren dramatisch verändern und alles auf Null setzen, was davor ein ganz anderes Spiel war. Mai ist genau richtig als Sommerlektüre in diesen Jahren. Ein Ro- man zum Lesen am Pool, an der Bar oder auf dem Sofa. Was war demnach der Plan? Mit Mai eine erfundene Geschichte der Leser- schaft zum Genießen vorzulegen, und das mit dem jungen Mann, der auch dort Platz nehmen könnte: an der Seite seiner Leser und wie nebenbei als Freund, den man halten mag, bevor er für das nächste Abenteuer wieder davon zieht.
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Seitenzahl: 835
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Hier ist die junge Maria, eine aufstrebende Geigerin in Ost-Berlin, und dort ist die chilenische Tango-Tänzerin in New York, die ausgerechnet auch Maria heißen muss. Dazwischen steht der junge Mann Michael Mai, der von beiden nicht zu halten ist. Oder doch? Und dann taucht noch Mausland auf, der dem talentierten Reporter den Aufstand der Ex-Spione vorhersagt. Es sind halt turbulente Zeiten in der jungen wiedervereinigten Republik, in Amerika und überhaupt in der Welt, in der es vor allem um die Frage geht, ob die neue Zeit die neuen Hoffnungen rechtfertigen wird, nach deren Erfüllung sich alle so sehr sehnen.
Was der Umbruch der ganzen Welt mit den jungen Leuten macht und ob Mai erwachsen wird, was Erwachsene darunter verstehen, davon erzählt der Roman „Mai. Ein junger Mann, der nicht zu halten war“, der eine wunderbare Liebesgeschichte und ein fesselnder Thriller in einem ist. Und das Buch zum Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges ist, das zwischen den Welten steht, wie die deutsche Verlagsbranche sagt: sowohl zu hintergründig für nur leichte Unterhaltung als auch zu einfühlsam für nur reine Literatur. Es sind zwei entscheidende Jahre, 1990 und 1991, die die Welt und das Leben der Romanfiguren dramatisch verändern und alles auf Null setzen, was davor ein ganz anderes Spiel war.
„Mai“ ist genau richtig als Sommerlektüre in diesen Jahren. Ein Roman zum Lesen am Pool, an der Bar oder auf dem Sofa. Was war demnach der Plan? Mit „Mai“ eine erfundene Geschichte der Leserschaft zum Genießen vorzulegen, und das mit dem jungen Mann, der auch dort Platz nehmen könnte: an der Seite seiner Leser und wie nebenbei als Freund, den man halten mag, bevor er für das nächste Abenteuer wieder davon zieht.
Der Schriftsteller Rafael Robert Pilsczek, Jg. 1968, schaut in seinen Werken stets in das Leben einzelner Menschen und zieht daraus Schlüsse auf das Leben selbst. Ein bewusster deutscher Europäer, in jungen Jahren erfolgreicher Reporter und Journalist, der in fast allen renommierten Medien veröffentlicht hat, zieht der Autor ununterbrochen hinaus in die nahe und weite Welt, um ausgehend von seinen Erlebnissen mehr zu erzählen als von Einzelteilen des Lebens selbst. Studierter Philosoph sowie Literatur- und Politikwissenschaftler, war der Autor auf vielen Feldern erfolgreich.
Als Schriftsteller, erfahren in Ehrenämtern und ehemaliger Politiker, versteht sich Pilsczek als entschiedener Anhänger der Aufklärung und der offenen Gesellschaften. Dass Denken hilft, ist die große Überzeugung, zu der er in seinen Büchern auf jeder Seite seine Leser einlädt. Er hat bislang acht Bücher veröffentlicht, darunter „Wie ich 10 Tausend Menschen nahe kam“ (2014), „Friedenskinder“ (2015) und das Theaterstück „Kriegskinder“ (2016). In dem Doppelwerk „Meine West End Story“ (2017) gibt er umsichtige Antworten auf die wohl wichtigste Frage dieser Epoche, ob der Westen, wie wir ihn kannten, an sein vorläufiges Ende gekommen ist. In seinem Gedicht- und Liederband „Groß werden“ (2018) wiederum variiert Pilsczek das Thema Älterwerden auf beeindruckend sensible Weise. Lesungen führen den Autor seit Jahren durch ganz Deutschland und bis nach Amerika.
Die Werke Pilsczeks als Maler und Zeichner zeigen weitgehend die Kraft epischer Kunst, Geschichten von Bedeutung zu erzählen, die sich nicht sogleich und sofort dem Publikum erschließen müssen und gleichwohl tief berührend am Ende vom Leben, der Liebe und dem unausweichlichen Tod berichten. Die inzwischen rund 100 Werke sind zumeist in Öl entwickelt, dazu auch in Graphit und Acryl. Integraler Bestandteil des ästhetischen Konzeptes ist es, nicht über die Kunst zu reden außer mit seinem Lehrer, dem bekannten Maler in Lübeck, Martin Fischer.
Rafael R. Pilsczek, geboren am linken Niederrhein, darf die Hansestadt Hamburg seit Jahrzehnten zur Heimat haben und empfindet sich vor allem bei freundlichen und friedlichen Menschen in der ganzen, weiten Welt zu Hause, und das am liebsten bei einem weichen, hellen Bier.
Weitere Informationen unter www.pilsczek.com
Für die Ost-Berlinerin
und Hamburgerin, die das
Buch erst ermöglicht hat, weil
sie dreizehn Jahre alt war,
als die Mauer fiel.
Und das neue Deutschland
begann zu werden.
Für meine Lektorin und
Agentin Simone Schmuck,
die eine große Seele voll von
Magie in sich trägt, die es braucht,
damit dieses Buch zum Scheinen
kam und sein Autor diese Zeit
in der Welt überlebt hat.
… und, übrigens, nicht nur für
die Marias dieser Welt, sondern
auch für all die vielen andren,
die vielleicht dort waren, wo sie
Mai zu ihrem Glück
getroffen haben.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
Nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
Der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.
(Rainer Maria Rilke)
Kapitel: DDR, BRD, USA, Dezember 1989 bis Januar 1990
Kapitel: BRD, im Januar ’91
Kapitel: USA, im Februar ’90
Kapitel: BRD, im Februar ’91
Kapitel: USA, im März ’90
Kapitel: BRD, im März ’91
Kapitel: USA, im April ’90
Kapitel: BRD, im April ’91
Kapitel: USA, im Mai ’90
Kapitel: BRD, im Mai ’91
Kapitel: USA, im Juni ’90
Kapitel: BRD, im Juni ’91
Kapitel: USA, im Juli ’90
Kapitel: BRD, im Juli ’91
Kapitel: USA, im August ’90
Kapitel: BRD, im August ’91
Kapitel: USA, im September ’90
Kapitel: BRD, im September ’91
Kapitel: USA, im Oktober ’90
Kapitel: BRD, im Oktober ’91
Kapitel: USA/Berlin, im November ’90
Kapitel: BRD, im November ’91
Kapitel: BRD, im Dezember ’90
Kapitel: BRD/USA, im Dezember ’91
Kapitel: USA, im Dezember ’91
Kapitel: USA, an Silvester ’91/’92
Epilog
Es war Silvester. Ein Abend in der Zeitenwende, an dem Michael Mai alles möglich erschien, was es in seinem Leben nur geben konnte. Es war das zweite Mal, dass Maria ihn heute an sich heranzog. Beide, Mai und sie, feierten den Beginn des neuen Jahres in der Mühle am Ende der Straße. Zur Begrüßung hatte sie ihn vormittags zärtlich umarmt. Er hatte es vermisst, hatte sich danach gesehnt, irgendwie. Auch wenn sie nicht die Einzige war, in deren Arme er fiel, wenn sie sich ihm darboten. Nun geschah es ein schönes nächstes Mal. Maria legte ihren linken Arm gekonnt um seinen Hals. Und den rechten Arm hinter seinen Rücken, auf der Höhe des Schulterblattes. Sie zog ihn an sich heran, und das ganz langsam. Gekonnt langsam. Immer ein wenig fester. In einer fließenden Bewegung. Wie kleine Wellen, die zum Strand hinauslaufen. Er erwiderte ihre Umarmung. War ihr wieder nah. Mai schloss kurz die Augen, atmete ein. Dann öffnete er sie wieder, atmete aus. Sie sah ihn eindringlich an, aus ihren hellblauen Augen. Maria war etwas kleiner als er, er war mittelgroß. Das passte gut, natürlich. Bei allem. Sie trug ihren taubeneierblauen, flusigen Pullover.
Der Stoff lag eng an, sehr eng. Gab ihre ganze schöne Form wieder, ihre Zartheit, ihre scheinbare Unschuld, ihre junge Fraulichkeit.
Mai beugte sich ihr entgegen. Langsam, sehr langsam. Und doch entschieden, irgendwie. Er roch mit einem Mal ihr Shampoo, saugte den Duft so tief ein, dass es fast schmerzte. So etwas wie Pfirsich. Er wusste, dass sie abends vor dem Schlafengehen duschte. So war im Pfirsich auch eine Melange aus Nacht, aus Leben. Mai schwindelte es leicht, als stünde er vor dem Sprung in eine angenehme Tiefe von etwas, für das es kaum Worte gab. Tatsächlich. Es war so besonders für ihn. Wieder einmal. Es war sie, die ihn jetzt küsste. Sie tat es immer als Erste. Sie drückte ihre Lippen auf seine Lippen. Sanft, weich, zärtlich, doch fordernd. Wie reine Zuckerwatte im Geschmack und dem Fleisch einer Orange auf den Lippen. So schön.
Es war für diesen einen Moment für ihn wie ein Versprechen auf ein langes gemeinsames Leben. Kinder, zwei, drei. Das gemeinsame Älterwerden war möglich geworden.
Um sie herum war es laut, lärmend laut. Nachbarn und Freunde Marias’. Es gab Bier und Schnaps, viel Schnaps. Alle warteten. Dass Mitternacht kam. Dass das neue Jahr begann. Ein Jahr der Hoffnung sollte es werden. Der großen Veränderungen. Einer Umwälzung, wie ihr Onkel die Zeitenwende, in der sie lebten, genannt hatte. Sie sagte nichts, als sie sich von seinen Lippen löste. Nun war es an ihm, er musste etwas tun. Voran, voran, machte er sich selbst Mut. Er erledigte die Aufgabe gerne und doch war sie nicht so frei, wie sie sein sollte. Er verschwand nun tief hinter ihrem Ohr. In ihrem Haar, das nach Pfirsich roch. Aus der Farbe wie hochstehender Weizen im Sommer auf den Äckern seiner Heimat, blond, ein richtiges Blond.
Er kannte den Weizen, auch wenn er im Schwarzwald groß geworden war. Von dem erzählt wird, dass er jede Helligkeit dem Boden und der Luft genommen hatte, weil nur Teufel und Hexen in ihm wohnten. Er hörte ihren tiefen Atem trotz der Musik, des Gelächters der andren. Der Lärm, die Geräusche, die Welt waren für einen Moment nicht dort, am Ohr, in ihrem Haar. Dort war nur die noch immer schüchterne Begegnung eines jungen Mannes und einer jungen Frau. Er aus West. Sie aus Ost. Kopf an Kopf. Atem an Atem. Die sich davor heimlich getroffen hatten. In einem dritten Land, weil ihre beiden Länder getrennt gewesen waren, in Amsterdam, für kurze Momente, als die Spione über sie und ihre Leute gewacht hatten. Nun war alles anders, alles. Das Tosen der Weltumwälzung war da, tatsächlich, war überall, auch dort, im Dorf.
Seit der schmerbäuchige Mann im TV ungewollt die Grenzbeamten anwies, die Kontrollen sein zu lassen, und die Mauer fiel.
Das war gleichwohl eine andre Geschichte.
Dann traten Marias Schwester und sein Freund Johannes an beide heran. Das Bild der Zweisamkeit löste sich auf. Rasch, viel zu rasch. Alles wurde wieder konkret, bildlich. Sie war wieder da, die Welt, die Feier, die Mühle, die Nachbarn, die eifersüchtigen Freunde. Ein neues Jahr. Die Sprüche, das Lachen, ein stets wiederkehrendes Grölen darunter. Mai und Maria erneut Getrennte. Johannes sagte etwas. Was, war nicht wichtig. Es war nicht zu verstehen. Es wurde Mitternacht. Es war das Ende des wütenden und zugleich friedlichen Jahres 1989, des friedlich gebliebenen, gegen alle Wahrscheinlichkeiten friedlich gebliebenen.
Sie sprachen nach Mitternacht zu viert vom neuen Jahr, von ihren Plänen. Sie lästerten über die andren, die für beide westdeutschen Männer noch beim ersten Besuch beinahe eine Bedrohung geworden waren. Maria hatte klug behauptet, dass Mai ihr Cousin war. Die andren fragten genau nach. Cousin? Woher? Wie? Du hast nie von ihm erzählt. Sie blieb standhaft. Das hatte geholfen. Ein wenig. Als die andren die jungen Westdeutschen aus der Mühle raus durch das Dorf gejagt hatten. Ihnen vieren auf die Straße hinaus gefolgt waren. Nachts. Vor genau einem Jahr. An derselben Stelle. Dann zurückfielen. Stehenblieben. Aufgaben. Sich wieder hinein begaben, um weiter Schnaps und Bier zu trinken.
Johannes klopfte ein wenig später seinem Freund auf die Schulter und stieß kameradschaftlich eine Faust zwischen sein Schlüsselbein.
„Gutes neues Jahr, Michael“, sagte er. „Bald bist du in Amerika. Weg bist du. Wie ich dich beneide.“
„Happy New Year, Johannes“, sagte Mai und schaute ihm fast ein wenig traurig in die Augen. „Und du bleibst in Frankfurt, warum auch immer. Du hast nicht mitgewollt.“
„Du bist der, der nicht zu halten ist.“ Johannes Stimme wurde ein wenig vorwurfsvoll. Das konnte er gut.
„Du bist der, der geht. Ich bin der, der bleibt.“
„Wegzugehen ist einfacher als bleiben, denkst du. Ich weiß, dass du das denkst. Es ist nicht so. Nicht so einfach. Vergiss das nicht. Und, übrigens“, Mai schlug einen versöhnlichen Ton an, „du warst schon überall. In Afrika, in Paris, überall. Ich noch nicht.“
Maria schob sich geschickt zwischen die beiden. Sie legte ihre rechte Hand in seinen Nacken und machte sich kerzengerade, was wie ein stiller Protest wirkte, und zugleich nicht die Haltung eines Störenfriedes ausmachte.
„Und du kommst erholt wieder. Hörst du. Und braun gebrannt. Schön braun gebrannt. Florida, Kalifornien. Hörst du!“ Die Schwester, nur ein wenig jünger als Maria, stand dabei. Sie machte nicht so viele Worte in solchen Momenten. Sie vermittelte allen andren stets das Gefühl, zu den dreien dazuzugehören. Johannes nah zu sein, besonders ihm.
Eine andre Geschichte.
Allen vieren war ein wenig wehmütig zumute. Sie wussten, dass es nie wieder so sein würde wie heute, jetzt. Wie konnte es auch anders sein. Maria wollte im kommenden Jahr nach Ost-Berlin. Sie hatte ein Engagement in einem großen Orchester in Aussicht. Ihre Schwester wollte vielleicht einen Ausbildungsberuf ergreifen, auf jeden Fall etwas für sich finden, was sie von diesem Dorf wegbrachte. Johannes wusste noch nicht, was aus ihm wurde. Sein Vater hatte ihm die Verpflichtung aufgeladen, Rechtswissenschaften in Bonn zu studieren. Es war noch nicht ausgemacht, ob der Sohn dem Ruf seines Vaters, eines Diplomaten im Auswärtigen Dienst, folgte. Mai war in diesen Tagen auf dem Weg nach Amerika. Für länger. Wie lange, wusste nicht einmal er selbst. Seine Flausen im Kopf waren groß und derer viele. So groß und derer so viele, dass viele Sorge um ihn hatten. Ohne es ihm zu sagen. Er galt als naiv, als unbekümmert.
Es war die Umschreibung für jemanden, den man mochte und der…
… der nicht zu halten war.
Mai hatte sich gut ein Jahr gewissenhaft auf die Reise vorbereitet. Sein Ziel war es, in Übersee an einer berühmten Universität zu studieren, am besten an der Westküste, warum nicht Berkeley. Sein zweites Ziel war es, irgendwie zur „New York Times“ zu gelangen, der berühmtesten Tageszeitung der Welt, zu den besten Journalisten dazu zu gehören, von ihnen zu lernen, so gut wie sie zu werden. Träumereien, Spinnereien, sagten viele und trauten ihm doch irgendwie zu, dass er es schaffen konnte. Er hatte denen schon viel bewiesen. Vielen bewiesen, dass vieles von dem eintrat, was er ankündigte. Es war ein Versprechen für die andren. Eine Verheißung, dass das Leben von einem selbst gestaltet werden konnte.
So besonders war das erneute Zusammentreffen, dass sie an Silvester im Jahr der Wende spürten, wie großartig ihre Freundschaft war. Und wie zerbrechlich zugleich. Vor wenigen Wochen erst war das große deutsche Kapitel Mauer, Todesstreifen und Stacheldraht gefallen. Eingefroren war die Zeit davor. Geregelt. Eingerahmt. Unveränderlich. Jetzt schmolz sie dahin, die Zeit, von Tag zu Tag. Die Zeit war wieder eine Verbündete, eine Abenteurerin, für junge Leute eine Göttin der freien Wahl geworden.
Es war eine elektrisierende Freundschaft entstanden. Sie hatten sich davor dreimal getroffen. Die Schwestern hatten ihre Besucher unter dem Dach des Hauses der Großmutter untergebracht. Sie hatten ostdeutsche Zigaretten neben die Aschenbecher drapiert. Dreie, viere der Stengel waren verlockend herausgezogen. Sie hatten Schokolade, Kekse und Bierflaschen auf die Nachttische gestellt. Und Blumen aus dem Garten. Tulpen gar einmal, die im Dorf als sehr wertvoll und selten angesehen waren. Sie, beide Schwestern, wollten es so. Sie sollten es gut haben bei ihnen, die beiden Freunde. In ihrem Dorf, kurz vor der polnischen Grenze. Die Wege aus festgestampftem Sand. Jahrzehntelang kein West-Fernsehen.
Nicht einmal West-Rundfunk, dort am Ende der Welt.
Beim ersten Besuch hatte Mai vorgeschlagen, in die Dorfkirche zu gehen. Die Kirche lag abseits. Beide Mädchen waren bis dahin nie dort gewesen. Als sie vor dem steinernen Altar standen, trat der Dorfpastor aus der Sakristei. Er war ein drahtiger Mann, hochgewachsen, in Jeans. Es wurde sehr verwirrend für beide Mädchen. Zum ersten Mal hörten sie Aussagen und Meinungen, die bis dahin nie an ihre Ohren gedrungen waren. Der Pastor war kein Dissident, kein Verfolgter, kein Liedermacher, kein Schriftsteller, ein Pastor nur. Er war gleichwohl einer, der die Fragen Mais kurz, offen und entschieden beantwortete. Er sagte mutig, dass dies dort eine Diktatur war. Dass dies, ihre Heimat, keine gute Heimat war, etwas, was sich überleben wird.
Dass ihr Land nicht gegen den Faschismus des Nachbarlandes kämpfte, weil es selbst ein faschistischer Staat im Gewand des Kommunismus war. Solche Sachen sagte er. Beide Mädchen schwiegen lange, als sie aus der Kirche traten. Ihnen dröhnte der Kopf, als hätte jemand eine Wäschetrommel im Kopf angestellt, eine alte, eine solche, die von großen Riemen angetrieben wurde.
Johannes bemerkte als erster ihre Verunsicherung. Er machte einen Scherz über das Kreuz über dem Altar, dass dort ein wenig windschief hing, irgendwie verquer. Dass der Pastor wohl schon lange keinen Spaß mehr gehabt hatte und in der Mühle mal Schnaps und Bier saufen musste. Dass der Pastor nicht so ernst zu nehmen war, ein Hinterwäldler, ein humorloser Typ. Ein Pastor halt. Besonders die jüngere Schwester war verstört, bemerkte Johannes.
Maria war in Bulgarien und woanders gewesen. Sie war sogar in den Niederlanden gewesen, wo sie Mai heimlich getroffen hatte. Der Onkel erzählte ihr viel von seinen Reisen, die Eltern hingegen sprachen nicht über Politik, nie. Gleichwohl lag seine Politik stets in der Luft, bedrohlich und beschützend. Beide Mädchen wussten nicht viel über den Rest. Den Dingen, die die beiden jungen Männer bis dahin gelesen, gehört, gesehen und erlebt hatten. Für beide jungen Männer war es eine Expedition. Ein Abenteuer.
Nicht nur der Liebe wegen. Eine so große Entfernung war zwischen ihnen, eine, die kaum Brücken zueinander erlaubte. Sie kreisten um sich, ohne je ankommen zu können. Daher hatte es gepasst. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft wie aus einem Kinderbuch geworden. Kinder, die spielen wollten.
Mai hatte dafür gesorgt, dass sie dorthin gereist waren. Seine Art, Menschen aufzureißen, wie auch immer und wo auch immer, hatte ihn dazu gemacht. Johannes war der Hübschere. Sein kohlrabenschwarzes Haar, seine dichten Koteletten, seine Haut, seine Haltung, Sohn einer Italienerin, die Kunstgeschichte studiert hatte, alles sprach zuerst die Mädchen an. Er war gleichwohl schüchterner als Mai und fand dann nicht die Worte, die Begegnungen tiefer werden lassen. So bewunderte er seinen Freund Mai dafür, dass er stets etwas zu erzählen hatte. Die Macht, im Grunde der Magnetismus, der von seinen Worten ausging, war sehr stark. Johannes und Mai waren oft durch die Wälder gezogen, hatten im Freien Spiele gemacht oder waren auf den Mopeds durch die Gegend gefahren, die sie beide ein wenig aufmotzten und sich vorstellten, es wären Motorräder, die sie durch Kalifornien brachten, nicht allein von Dorf zu Dorf und von Kleinstadt zu Kleinstadt im Schwarzwald. Johannes’ Familie lebte vorwiegend in Frankfurt am Main und auch in ihrem Ferienhaus im Schwarzwald, wo Johannes früh auf Mai traf. Mai wirkte auf Johannes ein wenig windschief und zugleich als ein Freund, der der Welt mehr zu sagen hatte als er selbst, obwohl er es doch war, der die größere Anzahl von Büchern gelesen hatte.
Mai war der, der die Welt eroberte. Mit jedem Atemzug feuerte er seinen Ehrgeiz an, das bewunderte Johannes, der selbst aus geordneten Verhältnissen kam. Mai war stets unterwegs. Immer mutig, unberechenbar. So naiv wie er war kaum jemand sonst, derart schrankenlos. Unbekümmert war er, sein Schicksal als junger Mensch.
Mai hatte eine Reportage über ihre erste Reise durch die DDR geschrieben. Es war im ersten Jahr seines jungen Reporterlebens, neben der Schule und dem Ersatzdienst. Der Chefredakteur der Regionalzeitung empfahl, die Story unter einem Pseudonym zu veröffentlichen. Er sagte, er hätte gewisse Erfahrungen aus der DDR-Geheimdienstmaschinerie. Michael willigte ein, klar. Seine Reportage erschien groß auf zwei Seiten. Es war nicht seine erste Reportage. Es war gleichwohl die bis dahin wirksamste. Es war eine Veröffentlichung, die viel Ärger nach sich zog. Während er aufgeschrieben hatte, was dort war, hinter der Grenze, warfen ihm Freunde und Bekannte Hetze vor. Mai hatte die Kritik nicht verstehen können, war sprachlos. Hatte er die Revolutionäre gelesen und sie gemocht, Che und solche Leute, hatte er sich von ihnen während der Reise losgesagt. Er fand, er hatte nur eine harte, verlogene Wirklichkeit beschrieben, die fremd im Wesen und doch nur scheinbar nah in derselben Sprache war. Eine Freundin meinte, er sei ein amerikanischer Kommunistenfresser geworden. Einer aus der alten Zeit. Er hatte auch den Besuch in der Dorfkirche beschrieben. Beide Mädchen hatte er zum Teil der Geschichte gemacht, die er sich nicht getraut hatte, ihnen mitzubringen.
So hatten Mai und Johannes die Mädchen und den Onkel mehr und mehr kennengelernt. Alle drei hatten die beiden eingeladen, der Onkel hatte sie stets in der Behörde angemeldet. Der Onkel, einer mit einem spitzen Bauch vor sich, nie in Jeans, stets im Anzug, hatte beide in der Folge mehrfach gesprochen. Er war komisch, dachten die beiden Freunde. Auch nach mehreren Besuchen bei ihm wurde ihnen nicht klar, was er eigentlich beruflich machte. Er war auf jeden Fall sehr liebenswürdig, weil er sie stets früh morgens vom Bahnhof in der großen Stadt abholte. In einem Wartburg. Er war der einzige, der im Dorf einen solchen größeren Wagen fuhr.
Maria Stachnitz, 18, war eine Geigerin, deren Violine der Onkel in Thüringen gekauft hatte, wo Johann Sebastian Bach gelebt hatte, ein Mädchen der Diktatur, die ihren Schulabschluss mit Bravour und ohne besondere Vorkommnisse erledigt hatte. Diese Maria war mit ihrer Schwester in Ost-Berlin gewesen. Sie hatten eine kurze Unterbrechung ihrer verordneten Bildungsreise in die Hauptstadt nehmen können. Es war Hochsommer in Berlin, die Sonne brannte. Die Schwestern sahen Mai und Johannes zum ersten Mal auf eine für sie lächerliche Weise. Beide Abiturienten, einer im Sakko, aus dem Schwarzwald, der andere im Shirt, vornehmlich aus Frankfurt, saßen ungelenk auf einer der wenigen Parkbänke unter dem Fernsehturm direkt am Alexanderplatz. Beide hatten an einem Seminar teilgenommen, das sie mitten in die Politik Berlins führte. Weil es vom Bundeskanzleramt finanziert wurde, waren beide sogar großspurig nach Tegel geflogen und mussten keine Fernbahn ab Frankfurt nehmen. Fünf Tage ging es für sie durch West-Berlin, durch Behörden und Ministerien.
Ein Tag war für Ost-Berlin vorgesehen. Sie kamen gerade vom Sitz des Fernsehkorrespondenten des West-Fernsehens und hatten noch zwei Stunden Zeit, sich am Alexanderplatz umzuschauen, bevor es wieder durch den sogenannten Tränenpalast zurück nach West-Berlin ging. Die beiden Geschwister hatten wie zufällig neben ihnen Platz genommen. Mai blätterte im „Kommunistischen Manifest“, einem kleinen Buch auf schlecht und billig gedrucktem Papier. Er hatte sich in einer der Buchhandlungen am Alexanderplatz mit Büchern eingedeckt, da diese dort sehr preiswert waren für West-Deutsche. Darunter waren Reportagebücher, eine Biografie des derzeitigen Staatschefs und eben das Gründungspapier der kommunistischen Bewegung. Maria sprach diesen seltsamen jungen Mann an.
Als er fragte, warum sie ihn angesprochen hatte, hatte sie damals gleich eine Antwort parat: „Niemand von uns liest das. Außerhalb des Unterrichts. Schon gar nicht in der Freizeit. Erst recht nicht am Alexanderplatz, wenn die Sonne scheint.“ Dann lächelte sie Mai geschickt, derart gekonnt aus ihren eisblau schmelzenden Augen an, mit einem geradezu aufdringlichen, fest zugreifenden und zugleich offenen Blick, dass Mai zu Boden schaute. Mai konnte dann nicht anders. Er war sogleich gefangen, wieder einmal gefangen von einem besondren Mädchen. Sie packte ihn dort hinter der Mauer, sodass eine innere Saite in ihm zu schwingen begann. Sie sprachen nicht allzu lange miteinander.
Sie mussten bald wieder zum Treffpunkt.
Beide Mädchen mussten den Fernzug ihrer Gruppe erreichen.
Dort oben, auf den Gleisen am Alexanderplatz.
Daraufhin begann ein reger Austausch mit Briefen, sicherlich abgehörten Telefonaten, Begegnungen und einer Liaison à quatre. Mai und Johannes hatten sie bis an das Ende der nun untergehenden Welt dieses Landes in das Dorf geführt. Beide Mädchen hatten nun Freunde aus dem Westen, das machte sie ein wenig stolz. Sie feierten eine brennende Neugierde aufeinander, die sie oft aneinander denken ließ. Und sehen ließ, in diesem Dorf. Wo es keine Straßen gab. Nur Sandwege. Ein paar Häuser, ein paar Straßen. Zwei, drei Höfe, Äcker, Wiesen, ein Wald vor den Dünen. Und die Mühle etwas abseits, deren Mühlrad an einem Bach klapperte wie in einem alten deutschen Märchen.
„Lasst uns gehen“, sagte Johannes, als das neue Jahr mit zu süßem Sekt begrüßt worden war. „Lasst uns in der Ostsee baden gehen. Wie früher.“
„Es ist viel zu kalt“, sagte Marias Schwester, die bei Johannes stand und ihn noch nie geküsst hatte. Obwohl sie es längst hatte tun wollen. Mehrere Momente war sie kurz davorgestanden, ihn an sich heranzuziehen, wie es ihre Schwester beherrschte.
Jedes Mal verlor sie kurz davor der Mut.
„Es ist doch viel zu kalt, Johannes“, wiederholte sie fast kindlich, ein wenig trotzig.
„Wir beide sind abgebrüht“, legte Johannes scheinbar stark und entschieden nach. „Du und ich. Die beiden anderen sind Frostbeutel.“
Er legte wieder nach, das war neu, und schaute die Schwester liebevoll an: „Lass uns wieder Nacktbaden gehen. Du weißt schon. Beim alten Baum die Klamotten lassen. Ganz kurz. Wie vor einem Jahr. Die beiden bleiben einfach beim Baum. Wir hängen die Klamotten in die Äste, die beiden warten dort einfach auf uns.“
„Es ist viel zu kalt“, sagte die Schwester erneut, dann milder: „Nur kurz, Johannes. Nur kurz.“
„Dabei?“
Maria und Mai schalteten sich ein. Maria sprach für sie beide: „Nur, wenn wir hinterher in die Datscha gehen. Die Decken liegen schon bereit.“
„Meinst du die Badetücher oder die Bettlaken?“ Johannes grinste über seine Anspielung, da sie dort auch ein paar Mal zur Nacht gewesen waren. Ohne, dass es anders als unschuldig gewesen war. Zu zweit, jeweils in einer der beiden Kojen, die durch einen Vorhang aus altem, miefigem Stoff getrennt waren. Nah beim andren, doch zugleich fern.
„Dabei?“, fragte Johannes. Ohne auf eine Antwort zu warten ging er in Richtung Ausgang. Sie hatten sich genauso von Anfang an gut, sehr gut, verstanden. Ohne viel dummes Zeug sprechen zu müssen. Wie das so ging, dass sie ein scheinbar gemeinsames Deutsch sprachen und doch wie auf fremden Planeten groß geworden waren, das war ihnen selbst nicht leicht zu erklären. Vielleicht war die ergiebigste Erklärung folgende, und die war so alt wie die Menschheit selbst: Sie waren jung, ungebunden, freie Männer und Frauen, fast noch Jugendliche. Sie suchten Nähe zum brennenden Gefühl und dem besonderen Geschmack am Leben.
Sie nahmen ihre Mäntel und Jacken von der Garderobe, ihre Schals und Handschuhe, verabschiedeten sich klug von dem einen und andren und brachen ansonsten möglichst unauffällig auf. Das Quatre verließ die Mühle zur angebrochenen Zeit einer vielleicht neuen Republik, die entstehen könnte, überall sichtbar bei gleichzeitig offenem Ende. Dieses Mal folgte ihnen niemand. Sie gingen rasch die bekannten Wege entlang, Hand in Hand. Der Schnee knirschte lustig unter ihren Schuhen, wie es nur Pappschnee kann. Mai trug seine Turnschuhe als durchaus lächerliche Trophäe eines jungen Rebells konsequent überall und zu jeder Zeit. Er bemerkte jetzt, Hand in Hand mit Maria, wie die Nässe durch die Turnschuhe in die Socken eingedrungen war. Es war nicht schön, im Grunde. Die Nässe, die Kälte. Wie so vieles, was andre störte, war ihm sowas gleichwohl egal.
Er drückte Marias Hand und umschloss ihren Zeigefinger fest. Obwohl beide Handschuhe trugen, spürte Maria das und freute sich.
Der Weg war nicht weit. Sie kamen an ihr Ziel, an die Ostsee, gleich an ihren Strand. Jetzt war bereits der besondre Wald vor ihnen, der wiederum vor den Dünen lag. Es war windstill, frostig kühl, zugleich waren sie alle umgeben von einer klaren Luft. Sie traten in den Wald. Er verschluckte sie augenblicklich, so dicht war er, bevor er sich der Düne und dem Strand preisgab. Sie waren nun zu viert in die Nacht entschwunden. Alles schien weit weg. Ihre Wünsche, die Träumereien waren jetzt ohne Bedeutung. Jetzt waren sie zwei Paare auf dem Weg an das Meer, ohne dass sie sich zu Paaren erklärt hatten. Der Wald dort war ein wenig wie im Schwarzwald, hatte Mai beim ersten Mal bemerkt, dicht, hoch, gesundes, knorriges Nadelgehölz, mit wenig Luft und Lichtungen, dunkel, warm und schwarz eben. So ist es in Deutschland, hatte er klüger gesagt, als er war.
Alle Bäume sind überall ähnlich, hatte er triumphierend erklärt.
Der Himmel über ihnen trug sehr, sehr viele Sterne. Es waren hellstrahlende darunter, ein Fischer-Netz an Lichtern, das über sie geworfen war. In einer ganz und gar wolkenlosen Nacht. Der Mond stand scheinbar nah und groß über ihnen. Ein Mond wie für sie gemacht. Mai nahm den Mond zum ersten Mal als ganz und gar runden, der Erde nah stehenden Satelliten wahr. Eine besondre Nacht, ja, es war besonders, weil der Mond alles besonders machte, ohne zu wissen, warum der Eindruck entstand, dass er besonders war. Der Mond stand dort oben wie eine Torte, die allen vieren Lust machte. Auf Leben, auf Sinnlichkeit, auf Geschmack und große Gefühle.
Viele Sterne schienen dort am Himmel über dem Strand. So viele helle waren unter ihnen, als wären die Sterne in dieser Nacht ein einziges Feuerwerk und nur für sie gemacht.
***
Das Schwerste, was noch vor ihm lag, waren die allerletzten Abschiede. Er machte sie sich gleichwohl einfach. Mai hatte einen ausgeklügelten Plan, wann er wen wie verlassen wollte. Im lokalen Café seiner Heimatstadt hatte er alle bereits zwischen den Jahren zusammengetrommelt und eine kleine Feier veranstaltet. Er war dort umtriebig gewesen. Er hatte den Journalismus ernst genommen, für die Regionalzeitung geschrieben, ein eigenes Blatt gemacht, für den Rundfunk gearbeitet, sogar für das Fernsehen in München, in einer überregionalen Zeitung veröffentlicht.
Es waren noch zwei Tage bis zum Flug nach New York. Er hatte einiges Geld gespart. Zehn Kilo Mark, nannte Johannes das Vermögen, das sich Mai erarbeitet hatte. Er war froh, dass seine Mutter die Kosten für den Flug übernahm. 800 Mark kostete der Überflug. Das war eine Menge Geld für die Verhältnisse seiner Familie. Maria hatte ihm zum Abschied in die Hand versprochen, dass sie sich in Berlin wiedersehen, wenn er zurückkam, ja, wenn er zurückkam. Und er möge ihr die Jeans mitbringen, die er auf der Reise trug. Die Jeans, die aus derart vielen Flicken bestand, dass sie für Maria ein Schmuckstück war. Sie hatte natürlich nicht geweint, als Mai und Johannes in den Wartburg des Onkels eingestiegen waren. Sie hatte ihn nur kurz in die Arme genommen.
Ihre Schwester und sie blieben dieses Mal eine ganze Weile auf dem Sandweg stehen. Sie schauten dem Wagen nach und winkten lange, wie sie es bis dahin nie getan hatten. Die Tage bis zum Abflug vergingen für Mai zugleich wie im, ja, wie im Fluge. Der Januar war ein Schlusssprint. Er traf den einen und andren noch. Er packte seine Reisetasche, und die unangenehme Aufregung, die in ihm nun täglich aufstieg wie wieder- und wiederkehrende Magenschmerzen, als wären sie eine neue Begleiterin in seinem Leben, betäubte er abends in der Kneipe mit Bier. In einer Kneipe, in der sich alle Leute trafen, die eine gewisse Rolle in Theater, Medien, Design, Werbung und linker Politik spielten.
Seine Mutter, zu seiner Überraschung, tat sehr entspannt. Beim Frühstück sprach sie die Reise nie an, auch nicht am Abend, wenn sie vor dem Fernseher saß, ihre Zigaretten drehte und ihren jüngsten Sohn wieder einmal kommentarlos in die Nacht verabschiedete. Mai hatte insgesamt das Gefühl, dass sie es als etwas Normales empfand, dass er nun wie viele junge Leute vor dem Studium auf eine große Auslandsreise ging. Ihr zweitältestes Kind, Mais Bruder, war stets unterwegs gewesen. Sie kannte es daher wohl nicht anders. Sein Bruder war im Grunde der, um den sich die Mutter stets Sorgen gemacht hatte. Der hatte so viel in den letzten Jahren angestellt, dass es bereits jetzt ein Buch füllen konnte.
Mai hatte einmal versucht, als der Bruder aus Asien wiederkam, ihn dazu zu befragen. Er hätte gerne etwas über seinen Bruder in der Regionalzeitung veröffentlicht. Das Gespräch, das eigentlich ein Interview sein sollte, brach der Bruder nach nur zehn Minuten ab. Er sagte, dass sein kleiner Bruder nie über ihn schreiben durfte.
Der Bruder hasste alles, was der jüngere Bruder in die Medien brachte. Er hasste das Land, die Region, den Schwarzwald, die Menschen dort, vielleicht sogar seine eigene Familie. Er sagte einmal sehr entschieden, als ginge es um alles, dass alles in Deutschland dekadent war und Mai Teil dieser Dekadenz war. Was genau er damit meinte, war für Mai nicht herauszufinden. Der Bruder kümmerte sich nicht viel um Mai. Die Mutter wiederum hatte sich wohl daran gewöhnt, eine Mutter zweier groß gewordener Jungs zu sein, die auch sehr seltsam waren. Große Herzlichkeit und Routine in einer großen Normalität unter ihnen, wie es Nachbarsfamilien zelebrierten, kannten sie nicht.
Sie hatte noch die Tochter, die Älteste. Sie war bereits verheiratet, wohnte in einem Reihenhaus in einer nicht sehr entfernten großen Stadt, also nah, arbeitete in der Verwaltung der Stadt, und alles andre, was über sie zu sagen wäre, war damit im Grunde gesagt. Eine fürchterliche Langeweilerin, sagten manche. Ihre Schwester, knapp unter dreißig, lang von Statur, gekleidet in einfacher Kleidung, meistens in beige oder braun. Die große Schwester war nicht hübsch, nicht hässlich, nicht dumm, nicht besonders klug, einfach unauffällig. Und doch war die Schwester im Leben des Jüngsten früher eine gute Begleiterin. Sie hatte Mai häufig Bücher zugesteckt und in ihm die schöne Macke ausgelöst, immer und stets ein Buch und später dazu eine Zeitung bei sich zu tragen.
Der Vater war früh gestorben. Das war das Drama, das war der Beginn des Auseinanderbrechens der Familie gewesen. Der Vater hatte seiner Frau eine Rente hinterlassen, mit der die Mutter gut auskam. Dass sie nun die Kosten des Fluges für Mai übernahm, lag daran, dass die Mutter eine kleine Erbschaft gemacht hatte, die sie klug und haushälterisch umsichtig verwaltete. Mai hatte eine Tante in Amerika, die die erste Anlaufstelle dort war. Ansonsten hatte er sich mit Adressen von Bekannten und Freunden eingedeckt, Telefonnummern, Büchern, Schecks, dem US-Straßenatlas, den gängigen Vokabeln, möglichst viel an amerikanischem Denken.
Bevor der Vater starb, hatte er viele Jahre oft allein in der Küche gesessen, wenn er Frühschicht gehabt hatte und abends einmal nicht todmüde gewesen war und vor dem TV saß. Er hatte bei schwachem Licht den Kassettenrekorder angemacht, der dafür in der Ecke bereitstand, und ging die Lektionen seines Lehrbuches zum Erlernen der englischen Sprache wieder und wieder durch. Er hatte seine Schwester in Amerika zweimal besucht, seit diese ausgewandert war. Wieder und wieder spielte er sich die monotone weibliche Stimme vor, die ihm das Englische beibringen sollte. Von seiner zweiten Reise nach Amerika hatte der Vater ein Foto von sich und einem Polizisten in New York auf der Straße gemacht, das er seinem jüngsten Sohn schenkte.
Mai trug das Foto lange bei sich, als ob es ein Versprechen war.
In seinem Lehrbuch war bereits jede freie Stelle, jede freie Seite, die auszufüllen war, ausgeschrieben und sogar mehrfach überschrieben. Mai hatte immer vermutet, dass der Vater sich ein Leben in Amerika gewünscht hatte. Als dann für ihn alles anders kam, blieb ihm nur noch, abends allein in der Küche im alten Mietshaus am Rande der Stadt und damit weit weg von Amerika die englische Sprache zu erlernen. Mehr war dort nicht, bevor er von langer Krankheit gezeichnet verstarb. So trug Mai die ganzen Jahre seiner frühen Jugendzeit das schöne Gefühl mit sich herum, wenn er aufbrach, fortging und wiederkam, dass sein Vater das wohl gewollt hatte, dass sein jüngster Sohn auf Reisen ging. Dass sein jüngster Sohn seine eigenen Bahnschranken des Lebens einfach nicht beachtete und von Gleis zu Gleis schritt, von Bahnhof zu Bahnhof fuhr und sich jetzt sogar nach Amerika aufmachte.
Beim letzten gemeinsamen Frühstück mit seiner Mutter musste Mai noch etwas fragen. Es war im Grunde ohne große Bedeutung, dachte er. Er hatte dazu in einem seiner Bücher zu Amerika gelesen. Es war der Morgen am Tag vor der Abreise. Er saß an diesem Frühstückstisch, an dem er die ganzen Jahre Platz genommen hatte. Zu Anfang waren dort am Frühstückstisch fünf Kinder, seine Schwester, sein Bruder, er selbst und zwei weitere Kinder aus der Nachbarschaft, für die die Mutter eine Art von wohl bezahlter Patenschaft übernommen hatte. Seit Längerem, wenn überhaupt, saßen jetzt nur noch die Mutter und ihr jüngster Sohn dort. Die Mutter hatte an diesem Morgen bereits zwei Zigaretten geraucht. Mai hatte sich fertiggemacht, geduscht, die Jeans angezogen, die mit den vielen Flicken und der selten zu kaufenden Bundfalte. Die Jeans, die Maria wollte, und seine ewigen, ausgelatschten Turnschuhe trug er auch.
Jetzt kam es zum Abschied von seiner Mutter. Sie war ein ewiges Rätsel für den Sohn, weil ihm die Worte fehlten aus dem Mund der Mutter, dass er sich dadurch ihr Leben wirklich erklären konnte. Die Mutter redete nicht viel. Sie gab Anweisungen und ließ ungern Widerspruch zu. Während der ältere Bruder die Schneisen frei geschlagen hatte, in denen nun Mai flog, hatte er stets den Austausch mit seiner Mutter gesucht, ohne zu wissen, ob sie es mochte, wenn er fragte. Und Mai fragte viel, jeden bedrängte er, jedem lud er seine Fragen auf, als wären deren Antworten der Preis, den sie zu zahlen hatten, wollten sie Mai bei sich behalten. Nun saßen Mutter und Sohn zusammen.
Im Grunde war alles besprochen. Die Mutter trank wie immer etwas zu laut schmatzend ihren frisch aufgebrühten schwarzen Tee, Mai hatte seinen Kaffee und ein Butterbrot, das die Mutter immer für ihn geschmiert hatte. Mai schlang das Brot stets nur mit größtem Widerwillen in sich hinein, und es war so, als ob es der Mutter in all den Jahren nie aufgefallen war, dass ihr Sohn ihr Frühstück nicht mochte.
„Mama, sag mal, wie war ich als Baby?“, fragte Mai, ein 21 Jahre alter westdeutscher Junge, der von Größe und Statur allen DIN-Normen entsprach.
„Als Baby? Wie meinst du das?“, fragte die Mutter eher genervt als erfreut.
„Na, als ich ein, zwei Jahre alt war.“
„Das weiß ich nicht mehr, Michael. Lass es doch einfach sein.“
Mai dachte nach. Nicht sehr lange wägte er ab, ob er weiter fragen sollte. Ihm fiel auf, dass die Mutter von ihrem Frühstücksteller gar nicht hochgeschaut hatte.
„Ich habe ein Buch gelesen über die Amerikaner, ihre Art und so. Dass sie früh sauber sind. War ich das auch?“
„Wie meinst du das? Dass du früh trocken wurdest? Eine merkwürdige Frage. Was soll das?“
„Naja, in diesem Buch haben sie beschrieben, dass die Amerikaner deswegen derart erfolgreich sind, weil die Kinder früh trocken werden, sehr früh ohne Windeln auskommen.“
Mai sah in ihren Augen geradezu, wie seine Mutter konzentriert an all das dachte, an was sie sich über ihren jüngsten Sohn als Baby noch erinnerte.
„Du warst früh trocken“, sagte die Mutter entschieden. Wie ein Peitschenhieb, den sie über ihn schwang, damit er still war und der über Mai in der Luft hängen blieb und doch keine Wirkung auf ihn hatte. In solchen Momenten meinte Mai ihren ständig um sie schwingenden Stolz zu hören, der in ihrer Stimme lag, und ihr ein Gefühl von eigener Bestätigung über großes Geleistetes gab, wenn sie auf ihre zwei seltsamen Söhne schaute.
Die Mutter zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte genug. Das wusste Mai. Es war ihm oft egal, wenn sie nicht mehr befragt werden wollte. Es war ihm so gleichgültig, als ob er seine Mutter nicht spüren, nicht fühlen konnte in solchen Momenten.
Mai biss in sein Butterbrot. Er hatte extra viel Butter darauf geschmiert, dass das Brot schneller, weil nun ölig, herunter zu schlucken war. „Na, ich lese doch viel über Amerika. Und wenn die Amerikaner schnell rein wurden, dann erklärt sich vielleicht daraus ihr großer Erfolg. Weißt du, Mama?“
„Ich weiß nicht, wovon zu redest, Michael. Du warst auf jeden Fall schnell aus den Windeln. Das hat auch Geld gespart.“
„Ich bin bald weg“, sagte Mai, ohne den abrupten Bruch, dieses schnelle Kommen und Gehen, als etwas Merkwürdiges zu empfinden.
„Ja“, sagte die Mutter. „Wann bist du wieder da?“
„Ich melde mich, sobald ich das weiß. Versprochen.“
Die Mutter sagte nichts, sie zündete sich nach einer Weile des Schweigens eine weitere selbstgedrehte Zigarette an.
„Melde dich, Michael. Melde dich. Aber bitte, bitte gehe in das Studium. Bitte bleib nicht dort.“
„Ich muss jetzt los, packen und so“, sagte Mai nach einer kurzen Pause. „Ich stehe morgen früh auf, vor dem Frühstück, das weißt du. Ich werde dich nicht wecken. Ich bin dann weg.“
„Ja“, sagte die Mutter. „Ich weiß. Und vergiss nicht abzuschließen. Du nimmst deinen Schlüssel mit, wie besprochen.“
Es war nun soweit. Das war also das Abschiednehmen von seiner Mutter, dachte Mai. Er stand auf und ging durch die Küche. Wankte er? War ihm schummrig? Nein und ja, das war der Abschied. Das muss wohl so sein, dachte Mai. Es gab keine zärtliche Berührung, kein besondres Lächeln, keinen Kuss, keine Umarmung.
Mai war einfach aufgestanden und hatte die Mutter dort zurückgelassen, in der Küche.
Ob er seine Mutter liebte, hatte er sich oft gefragt, wie die Liebe zu einer Mutter so ist, das wusste er nicht. Er stellte sich die Frage stets wieder, seit sein Vater verstorben war. Er hatte seitdem keine Antwort darauf gefunden. Dass seine Mutter ihn liebte stand außer Frage, es war kein Zweifel in ihm darüber. Er war ihr Sohn, sie war seine Mutter. Das Abschiednehmen war ein wenig traurig, das wusste Mai.
Er konnte dieses Gefühl oft nicht sofort überwinden, diese stets mitschwingende Traurigkeit, wenn er an seine Familie und besonders an seine Mutter dachte. Mai ging in den Flur und an der Kakteensammlung vorbei in sein Zimmer, packte weiter und wusste, dass er nur noch eine treffen musste. Tanja hatte ihn noch einmal in das Programmkino eingeladen, zur frühen Abendvorstellung, in die Bar des Kinos an der Fußgängerzone. Sie kellnerte dort und wollte, dass er ihr auf Wiedersehen sagte. Da Tanja irgendwie in den letzten Monaten eine große Rolle gespielt hatte, die er nicht vorhergesehen hatte, hatte er es versprochen. Mai hatte für sie kein Abschiedsgeschenk dabei. Nur sich.
Das war wenig, dachte er. Bevor Mai aufbrach, gab ihm seine Mutter noch einen Brief, der mittags herein geflattert war. Er stammte von Maria und trug den Abdruck eines Kusses auf der Rückseite, der wohl mit billigem Lippenstift hergestellt und auf das Papier gedrückt worden war. Mai nahm ihn wortlos entgegen und nahm sich vor, den Brief erst kurz vor dem Start des Flugzeuges zu öffnen. Als letztes Zeichen, dass er alles hinter sich lässt, was vorher war.
Mit Tanja war es gut. Das Gespräch war zwar oft unterbrochen, weil sie die Gäste bediente. Gleichwohl war es gut, sie wiederzusehen. Sie, die ihn in einer Diskothek bei einer Unterwäsche-Show kennengelernt hatte, erzählte ihm auch von ihrem Mann, der nichts bemerkt hatte. Von ihm und ihr. Die Unterwäsche-Show war ein Ort, den Mai aufgesucht hatte, weil er darüber eine Story schreiben wollte. Das Thema war „Am falschen Ort“. Dort setzte sich Tanja neben ihn. Beide rückten an jenem Abend vor ein paar Monaten ein wenig näher aneinander, vielleicht nur, weil die Vorführung beiden wie durch einen riesengroßen Fön im Saal ein wenig eingeheizt hatte. Nein, sie hatten nicht miteinander geschlafen, eigentlich. Als sie sich im letzten Jahr gleichwohl ein paar Mal trafen, bedrängte sie ihn, zu ihr nach Hause zu kommen, wenn ihr Ehemann wieder einmal für länger auf Montage verreist war.
Mai hatte Sorge, in ihr Leben hineinzugehen, da sie doch um einiges älter war und er nicht wusste, was sie wirklich von ihm wollte.
Tanja hatte alles, was ein Mann, dazu ein junger, begehrte. Witz, Lebensfreude, eine Figur wie aus einer Männerzeitschrift. Seit er sie in seinen Armen hatte, während der Show, danach im Park und in Cafés, war er ständig auf so etwas wie Hab-Acht. Warum, das wusste er sich nicht zu erklären. Einmal, als sie zusammen am Rande der Stadt in seinem Pkw saßen, kam sie ihm sehr nahe. Wie nahe hatte sie nicht von ihm erfahren. Dass sie im Programmkino der Stadt kellnerte, machte es für ihn nicht leichter. Stets waren andre um sie herum, er war nie mit ihr allein. War er mit ihr allein, waren dort ihr Mann, ihre Familie und alles andre stets dabei. So wurde es eher die Geschichte einer älteren Freundin, die etwas in ihm sah, was er nicht in sich sah. Es war schön und berauschend, von ihr angehimmelt zu werden, sowas wie dreimal Sekt auf einmal, es war zugleich sorgenvoll für ihn, weil er nicht lernte, je länger sie sich trafen, was daraus entstehen könnte.
Tanja bediente verschiedene Gäste, während Mai an der Theke saß. Irgendwie kam ihr Gespräch zu keinem Schluss. Eine Kellnerin zu lieben, dachte er schließlich, das war, als ob ein Junge ein Phantom zu lieben lernen musste, das da war und nicht dort war und dass er mit vielen andren teilen musste. Nun war es Zeit zu gehen, beschloss er. Er gab auf, Tanja heute in ihrem Inneren zu packen, zahlte. Sie umarmte ihn kurz und wünschte ihm Glück. Das war’s. Mehr war dort nicht, keine Romantik, keine besondre Szene, keine besondre Rede, kein besondrer Wunsch von ihr an ihn oder von ihm an sie.
Mai ging hinterher nicht mehr in seine Stammkneipe. Er hatte genug. Er fuhr nach Hause. Er überprüfte zum x-ten Mal seine Kontrollliste. Er checkte seine Kreditkarte, die er von der lokalen Bank nur unter Androhung, die Bank zu wechseln, erhalten hatte, seine zwanzig 100-Dollar-Scheine, seine Schecks. All das, seinen Schatz, Goldstücke für ein neues Leben, seine Versicherung auf eine Chance in dem andren Land.
Er hatte seine Mutter gebeten, genau dort in die Jeans ein Fach von innen hinein zu nähen, dort, auf der Höhe der Unterseite des Unterschenkels hinten. Das findet kein Verbrecher, sagte er ihr.
Die Erzählungen über Amerika waren ihm nah. Es ging in diesen Erzählungen oft um Gewalt, Drogen, Überfälle und Raubzüge. Wenn sie ihn überfallen, ihn abtasten werden, oben, unten, von vorne, von hinten, auch einen Reisegürtel würden sie ihm abnehmen, weil Reisende dort oft ihr Geld aufbewahrten, was bestimmt jeder Räuber in Amerika wusste. Doch auf die Idee, dass ein Junge seinen Reichtum in der Innenseite des Unterschenkels in einem kleinen Täschchen der Jeans hatte, darauf kamen sie bestimmt nie, war er fest überzeugt. Er war ein wenig stolz, auf diese Idee von ganz alleine gekommen zu sein. Es waren solche Momente, die ihm Zuversicht gaben, das Richtige zu tun.
Dann legte er sich endlich ins Bett, noch in seiner präparierten Jeans schlief er ein.
Der Flug war auf 8:55 Uhr festgelegt. Er hatte die Flugnummer auswendig gelernt. Bevor er einschlief, sah er Maria vor sich wie von einem Heiligenbild herunterschauend, weizenblond, milde lächelnd. Dann, wie sie ihm nachgewunken hatte. Und das so lange, so lange, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Es war ein Schlaf, der von wenigen Traumbildern und von vielen im Traum gedachten Gedanken gezeichnet war und ein Schlaf, der häufig unterbrochen wurde. Tanja, Maria, Johannes, seine Mutter, viele andre zogen nacheinander vor ihm vorbei, wenn er wieder einschlief, wie in einer Prozession von Menschen, die die Straßen entlanggingen und irgendwem folgten und irgendetwas suchten. Es waren Menschen, die er mochte, die er kannte, die er liebte, die er nicht kannte, die er nicht liebte.
Sie waren in seinen Träumen wie Spielkarten in seinem Spiel des Lebens in dieser Nacht, bevor das Leben begann.
Er flog auch wie früher als Kind im Traum durch den Flur, die Treppe hinunter, hinaus in die Nacht. Er spürte im Traum, wie er wieder unterwegs war, kaum sichtbar, wer er wirklich war, kaum spürbar, was er wirklich war. Er war schon lange weg und die andren hatten das einfach nicht bemerkt. Weit weg. Ganz weit weg. Ein Cowboy oder ein Sheriff war er, der auf Black Beauty davonritt, und im Traum musste Mai darüber schrill lachen, wieso er gerade auf einem Pferd, das für ein Mädchen vorgesehen war, davonritt.
Es war auf jeden Fall Black Beauty, das teuflisch-hübsch, schwarz glänzende Pferd, auf dem er der untergehenden Sonne entgegen galoppierte. In der Prärie ritt er davon. Der Sonne entgegen. Richtung Westen. Er gab Sporen. Ließ alles hinter sich. Er spürte, wie der Wind stürmisch in sein Haar fuhr, wie er sein Pferd peitschte, wie er die Zügel fest hielt, wie er unterwegs war, unterwegs in ein unbekanntes Land. Ein Abenteuer vor sich. In diesem großen Land Amerika. Amerika wie Akirema. Wie Amerika, nur anders herum. Akirema, hörst du es, Akirema, rief er Black Beauty zu und hielt ihre Mähne fest, während er im Galopp in der Prärie ritt, Richtung Westen und Mai wusste, dass er träumte, dass er träumte, dass er dort war, in der Prärie, in seinem Traum von Akirema…
… Akirema.
Der Sonne entgegen reitend.
In Amerika.
***
Mai war pünktlich. Er hatte alles richtig gemacht. Er war rechtzeitig. Er stand vor dem Glaspalast des Flughafens. Das Ticket hatte er in der Innenseite des Jacketts, den Reisepass, ein wenig Geld, den Reiseplan. Er rauche eine letzte Zigarette. Die elegante Dame am Schalter, die sich einen schönen blauen Schal um ihren schlanken Hals gelegt hatte, hatte ihm alles bestätigt, um in das Flugzeug einzusteigen. Mai hatte ihr einen guten Tag gewünscht. Sie hatte ihm einen guten Flug gewünscht. Er war rasch durch die Sicherheitskontrolle gekommen. Die Tasche hatte er auf das Band gelegt. Der Sicherheitsbeamte hatte ihn nicht abgetastet. Warum auch, er war einer der vielen jungen Reisenden, wie sie am Flughafen in Frankfurt oft vorkommen. Er war einer unter vielen, die heute Morgen irgendwohin aufbrachen.
Kein Mensch nahm von Mai besondre Notiz. Er dachte nichts.
Er fühlte nichts.
Es war ja auch völlig normal, von Frankfurt aus in die USA, nach New York, zu reisen.
Als er am Gate ankam, A7, war alles klar. Alles war so einfach. Er hatte noch eine gute Stunde Zeit. Er hatte nicht viel nachgedacht auf seiner ersten Wegstrecke nach Amerika. Er hatte einfach funktioniert wie eine junge Maschine, die noch nicht wusste, wie sie später als Maschine funktionieren musste, wenn sie eine große Karriere hinlegen wollte.
Er erinnerte sich an den Brief von Maria. Maria, die seine Jeans haben wollte. Die, die er jetzt trug, die mit dem Sicherheitstäschchen, diese heilige Maria, die er wiedersehen wollte, wenn er wieder nach Deutschland zurückkehrte. Diese Maria, die ihn bei der allerersten Begegnung aufdringlich angeschaut und ihm ihre Adresse gegeben hatte und die immer so auf ihn wirkte, dass er nicht wusste, ob sie ihn als Freund, Begleiter oder Partner oder als was auch immer haben wollte. So saß Mai auf dem unbequemen Platz an seinem Gate und öffnete den Brief. Den Brief, den Maria ihm geschrieben hatte, seine Freundin, die keine wirkliche Freundin war, eher eine Liebe, die ihn immer wieder packte, gleichwohl nie wirklich eindeutig packte, denn ansonsten wären sie ja ein Paar geworden, was sie nicht waren.
Er sah den Umschlag, auf dem der Kuss verschwommen in schwachem Rot aufgedruckt war.
In recht schöner Handschrift hatte Maria an Mai geschrieben.
Sie schrieb: „Lieber Michael, ich wünsche dir von Herzen eine gute Reise. Komme gut in Amerika an und finde ein wenig das, was du dort suchst. Ich habe dich sehr in mein Herz geschlossen. Auch meine Eltern und meine Schwester grüßen dich und denken an dich. Mein Vertrag ist angekommen. So werde ich im Sommer wohl nach Berlin gehen.“
„Es war sehr schön, dass du und Johannes an Silvester bei uns wart. Ich weiß nicht genau, was du in Amerika machen wirst. Ich weiß, dass du lange bleiben willst. Mein Onkel hat noch einen Tipp für dich. Er sagt, dort musst du unbedingt hin, wenn du in New York bist. Er war auch schon mehrmals in Amerika und auch in New York, wusstest du das? Er sagt, du musst unbedingt in das The Kiew Post gehen. Das liegt direkt am Astor’s Place, East Village, sagt er. Er hat es extra aufgeschrieben. Er meint, du wirst es finden. Er kennt das Restaurant gut und hat es immer als nett empfunden. Er grüßt dich. Ich glaube, dass er es gut findet, dass du in Amerika bist. Er kennt sich ja irgendwie überall aus.“
„Wir sehen uns wieder, Michael! Unbedingt. Ich denke an dich. Und vergiss dein Versprechen nicht. Du schenkst mir die Jeans, wenn du wieder zurück bist. Ich weiß nicht, ob wir ein gemeinsames Leben haben werden. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird. Für dich und mich und uns alle. Die Zeiten sind unruhig.“
„Ich küsse dich und umarme dich. Schreibe gerne aus Amerika. Schicke mir doch eine Postkarte aus New York. Und komm bitte braun gebrannt wieder.“
„Kalifornien muss doch schön sein!“
„Ich herze dich. Tschö mit Ö.“
„Deine Maria.“
Mai hatte den Brief gelesen. Während er ihn las, hatte er zugleich die Handschrift auf sich wirken lassen. Sie hatte die Buchstaben in schönen Rundungen enden lassen, als wären es Noten wie von einem Komponisten, schön ordentlich waren die Buchstaben und leicht zu lesen. Er hatte von Maria schon des Häufigeren Briefe erhalten. Sie hatte in allen bisherigen Briefen eher sachliche Dinge geschrieben, wann und wo und was sie tat. Er war jetzt schon stark berührt, dass sie, ja, dass sie ein wenig liebevoller schrieb. Ein wenig mehr über sich. Mai dachte auch an den Onkel von Maria. Er fand es gut, dass der Onkel ihm den Tipp gegeben hatte. „The Kiew Post“, das klang gut, auch wenn Mai keine Ahnung hatte, wo und was der Astor’s Place war. Er nahm sich vor, Maria aus Amerika zu schreiben.
Was es noch mehr in ihm auslöste, während der Ruf über den Lautsprecher zum Flug erging? Was er noch mehr fühlte, während er jetzt weit flog, weit weg von ihr?
Mai drückte alles weg, was ihn an seinem neuen Leben hindern konnte. Darin war er sehr entschieden. Er wollte nicht zurückbleiben. Er wollte weg. Er wollte aufbrechen, und da waren Gefühle für Menschen wie Maria eher hinderlich. Sie waren ein wenig wie ein Anker zum einen, der ihm Halt gab, so etwas wie eine Verortung in einem Ozean. Zum andren waren diese Gefühle wie Blei, wenn er sich bewegen wollte, weg wollte. Wenn er beides bedachte, das Stärkende und das Hemmende, dann war seine Entscheidung klar. Vielleicht hatte er gar nicht darüber nachgedacht, was die Menschen dort für ihn waren. Vielleicht dachte er zu wenig nach, dachte Mai.
Vielleicht hatte er gar kein großes Gefühl in sich für seine Familie, für seine Freunde, für Johannes, für Tanja, für Maria. Vielleicht schützte er sich gar davor, an sie mit großen Gefühlen zu denken. Er war schon oft für sich alleine gewesen. Er war zwar immer der, der rausging in die Nachbarschaft, raus in die Welt. Er war zugleich immer der, der in seinem Zimmer allein verzweifelte und weinte, wenn er wieder dachte, dass die Welt ohne ihn auskommen wollte. So atmete er jetzt tief durch, seine Magenschmerzen waren wieder da. Er achtete auf das Publikum um ihn herum. Er schaute immer wieder auf die Anzeigetafel, überlegte wieder und wieder, ob er alles dabei hatte.
So ging die Stunde um, langsam, zäh wie Kaugummi, und doch rasch wie ein Schnipsen mit dem Finger, wenn die Zeit davonrast, alles ungleichzeitig und zugleich gleichzeitig wird.
Als der Aufruf blechern über die Lautsprecher kam, die Schlange sich bildete, er in der Reihe stand, das Ticket zur Kontrolle gab, durch den Flur ging, über die Brücke zur Boeing, vor ihm Menschen waren, hinter ihm Menschen waren, als sein Abenteuer begann, alles auf Null gestellt war, als im Grunde alles gut war, da stürzte in seinem Bauch alles in Eins zusammen. Ein fester, großer Stein, ein Brocken, ein Schmerz, eine Schwere, ein Ganzes, etwas war dort, was ihn nicht weglassen wollte.
Er spürte, dass etwas Großes mit ihm passierte.
Mai hatte im hinteren Teil des Flugzeuges Platz genommen. Die Stewardess hatte ihn dort platziert, weil sie ihn neben einen andren jungen Reisenden setzen wollte. Dieser junge Mann sprach Mai direkt an und erzählte ihm, dass er auch nach New York flog. Als Mai ihm kurz von seiner Geschichte erzählte, hatte sich der junge Mann ihm geöffnet. Er hatte ihm gesagt, dass seine Freunde ihr ganzes Geld in wenigen Tagen in New York verprassten und dann wieder zurückflogen. Er habe eine große Bewunderung für ihn, Mai, dass er sein Glück in Amerika suchen wollte. Während der junge Mann neben ihm erzählte, war Mai immer mehr von seinem Brocken, seinem Stein, seinem Klumpen im Bauch beschwert worden. Der junge Mann erzählte ihm, hey, ich habe einen Tipp, weißt du, die Amerikaner schreiben die Eins anders als wir Deutschen. Du kannst die Amerikaner beeindrucken, wenn du nur den einen langen Strich machst, ohne den deutschen Haken, und dann, hey, würden sie nicht sofort erkennen, dass du ein Deutscher bist. Was hältst du davon?
Mai antwortete nur kurz. Während er die Stimmung im Flugzeug aufsog, es wuselig war, das Handgepäck in den Fächern verpackt wurde, während er spürte, dass sein Klumpen, sein Stein, sein Schmerz in seinem Bauch war, da war Mai dankbar, dass der junge Sitznachbar so viel redete. Er spürte den Klumpen, seine Heimat, seine Herkunft, sein kleines Leben dort im Schwarzwald.
Mai fiel etwas ein, was ihm half. Ja, der Brocken, der Stein, das war das Abschiednehmen, das Abschiedsgeschenk seiner Mutter. Das war also das Weggehen, das Wegsein. Es war seine Mutter, die er jetzt zu glauben spürte. Das war also das Erwachsenwerden. Es war schwer, es tat weh, als ob ihm ein Boxer immer und immer wieder in den Bauch schlug. Er war jetzt auf dem Weg nach New York City, alles war gut, und doch, und doch war es schmerzvoll.
Der junge Mitreisende erzählte und erzählte, weißt du, ich bewundere das, ein Ziel haben, eine Vision, du bist schon cool, wie heißt du, ach, du heißt Michael Mai?
Mai schloss die Augen. Er schaute in sich hinein, als die Motoren derart laut wurden, dass die Reden seiner Mitreisenden und auch die Worte des Sitznachbarn nicht mehr zu verstehen waren. Mai sah, wie die Maschine anrollte, schnell, schneller und schneller. Mai atmete mehrfach tief durch, wie er es auf seinen bisherigen Flügen gelernt hatte. Er dachte an die „New York Times“, er dachte an die Sonne, den Westen, Kalifornien, seine Tante, an Maria, an die, die ihn packen wollten, festhalten wollten, am Boden halten wollten, im Schwarzwald, manchmal einfach nehmen wollten und ihn doch nicht halten konnten. Dann dachte er an nichts mehr. Er spürte nur noch seinen Klumpen, seinen Brocken, seinen Stein.
Dann hob die Boeing ab. Mai wurde in den Sitz gedrückt. Er sah Frankfurt unter sich kleiner werden. Immer kleiner, als wäre die Stadt ein Spiel mit Lego-Steinen. Und dann passierte etwas.
Sein Klumpen, sein Brocken, sein Stein in seinem Bauch war auf einmal weg, war nicht mehr da, tat nicht mehr weh. Er spürte den Schmerz nicht mehr. Mai spürte, wie seine Mutter ihn losließ. Er spürte, wie er davon schwebte, wie ein Engel, der er immer gewesen war, einen heiligen Namen trug. Ein Engel war er, ein Schwebender, einer, der nun auf seiner Reise war. Er spürte, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, den er sich immer ersehnt hatte, dass…
… dass er ohne alle andren und ohne seine Mutter nun in ein neues Leben ging, …
… dass er so etwas wie erwachsen wurde und dass so etwas wie die Bindung, die Nabelschnur, das Haltende, das ihn Festhaltende, dass…
… dass alles das nun nicht mehr da war. Michael Mai war auf seinem Weg nach Amerika… nach Akirema... nach Akirema… in seine Zukunft, nach Amerika. Jetzt ging es nur noch um ihn.
Als sie die Wolkendecke durchbrachen, war der Schmerz verschwunden und Michael irgendwie ein neuer, fröhlicher, ein befreiter Mensch. Es war alles auf Null gesetzt. Alles auf Beginn. Alles auf Start.
Mai war unterwegs. Er war endlich weg, …
… einfach nur endlich, endlich weit, …
…weit, weit weg.
Claudia von dem Berge hatte Mai in der Redaktion klug und schmerzlos eingeführt. Jede helfende Hand war bei der Produktion des Blattes gerne gesehen. Mai war schnell überall auf der 13. Etage und auch sonst bekannt. Im Hochhaus waren zu DDR-Zeiten viele Redakteure untergebracht, dass es wie in einem Bienenstock nur so von Menschen wimmelte. Auf 16 Etagen war das Haus voll mit Medien, Blättern, TV-Zeitschriften, Illustrierten und Tageszeitungen. Mai ging durch die Etagen und Flure, als wäre er ein junger Revolverheld aus dem Roman eines Wild-West-Schriftstellers, der gleichwohl überhaupt noch gar nicht wusste, wie er seine Waffe einsetzen, noch, dass er sich sicher war, dass er eine Waffe mit sich führen sollte. Ein kleiner Held, von der Sorte, die nicht groß auffiel, weil sie im Grunde noch Kinder in der Umgebung von Erwachsenen waren, und doch wichtig für den, der das weite unbekannte Land einnehmen wollte.