Auf ein Neues! - Carly Phillips - E-Book

Auf ein Neues! E-Book

Carly Phillips

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Beschreibung

Gegen Herzschmerz hilft nur Küssen!

Nach dem tragischen Unfalltod ihrer Schwester kämpft die erfolgreiche Anwältin Chelsie Russel um das Sorgerecht für ihre geliebte Nichte Alix. Doch Griffin Stuart, Alix’ Onkel väterlicherseits und ebenfalls Anwalt, gewinnt den Fall und beschließt, von nun an ganz für die Kleine da zu sein. Chelsie wiederum will sich nicht einfach aus dem Leben ihrer Nichte drängen lassen. Schon bald merken die beiden, dass sie ihren Zwist begraben und gemeinsam für das Mädchen da sein müssen. Während sie versuchen, dem Kind eine Ersatzfamilie zu bieten und mit ihrer Trauer fertigzuwerden, kommen die beiden sich näher ...

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Carly Phillips

Auf ein Neues!

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Ruth Sander

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe Perfect Partners erschien 1999 bei Zebra Books, New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 03/2013

Copyright © 1999 by Karen Drogin

Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München unter Verwendung von © Thinkstock

Satz und eBook: Greiner Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-08661-9V002

www.heyne.de

Für den perfekten Partner, meinen Mann Phillip, und meine lieben Mädchen, Jaclyn und Jennifer

Kapitel 1

»Ich bin zu einer Entscheidung gelangt. Würden die Parteien sich bitte erheben?«

Chelsie Russell schob ihren Stuhl zurück, stand auf und musterte den weißhaarigen Richter, der über das Schicksal ihrer Nichte bestimmen würde. Sie wagte es nicht, zu ihren Eltern hinüberzusehen, die links von ihr saßen. Sie konnte ihre Lügen und Intrigen kaum ertragen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, einen Prozess zu verlieren.

Ihre Eltern zu vertreten war keine gute Idee gewesen, ein Entschluss, den sie unter sehr traurigen Umständen gefasst hatte. Der noch unverarbeitete frühe Tod ihrer Schwester und heftige Schuldgefühle wegen all der versäumten Dinge hatten sie gequält. Da sie ja selber im Haus ihrer Eltern aufgewachsen war, hätte sie wissen müssen, dass die beiden sich nicht dazu eigneten, ein Kleinkind zu betreuen.

Der Richter räusperte sich. »In einer Familienangelegenheit ein Urteil zu fällen ist niemals leicht.« Er wandte sich an Griffin Stuart, den Mann, dem Chelsie, ohne es zu wollen, Unrecht getan hatte. »Sie haben bei diesem Unfall einen Bruder verloren«, konstatierte der Richter.

Griffin nickte. Chelsie schluckte schwer. Dank seines schwarzen Haars und der markanten Gesichtszüge war seine Ähnlichkeit mit ihrer Nichte unverkennbar. Ebenso unverkennbar wie seine Zuneigung zu der Kleinen. Seine Aussage hatte gezeigt, wie sehr ihn das alles mitgenommen hatte. Chelsie hielt sich an den Ecken des zerkratzten Holztisches fest.

Der Richter wandte sich an ihre Eltern. »Und Sie haben eine Tochter verloren«, sagte er mitfühlend. »Der Wunsch, Ihre Enkeltochter großzuziehen, ist verständlich, sogar bewundernswert, aber nicht, wenn andere darunter leiden müssen.«

Das war auch Chelsies Meinung. Sie hatte nicht geahnt, dass ihre Eltern zu unfairen Mitteln greifen würden, um ihren Willen durchzusetzen. Aber sie wünschte, sie hätte es gewusst. Dann wäre ihnen allen diese Tortur erspart geblieben.

Der Richter fuhr mit seiner Rede fort:. »Wenn man lügt und betrügt, hat das für alle Beteiligten negative Folgen. Demzufolge übertrage ich hiermit das alleinige und ungeteilte Sorgerecht dem Onkel des Kindes, Griffin Stuart, mit großzügigen Besuchsrechten für die Russells, die, so hoffe ich, aus dieser Erfahrung gelernt haben.« Der Richter ließ seinen Hammer knallen. »Die Verhandlung ist geschlossen.«

Es war vorüber.

Chelsie schlug die Hände vors Gesicht, während ihre Eltern ohne ein Wort aus dem Gerichtssaal stürmten.

Als sie auf dem Flur allein war, lehnte Chelsie sich mit dem Rücken an einen Marmorpfeiler und schloss die Augen. Die Kälte des Steins drang durch ihre leichte Seidenbluse und ließ sie schaudern. Trotz ihrer Erleichterung über den Ausgang der Verhandlung geboten es der allgemeine Anstand und ihre Gefühle für Griffin Stuart, dass sie einen Entschuldigungsversuch unternahm.

Sie fragte sich, ob er ihr überhaupt zuhören würde. Da sie Familienbesuche vermieden hatte, beschränkte sich ihr Umgang mit Griffin auf rein berufliche Dinge. Wenn sie sich im Gerichtsgebäude begegneten, gingen sie mit einem freundlichen Nicken und gelegentlich auch einem höflichen Wortwechsel aneinander vorbei. Manchmal hatte sie sogar den Eindruck, dass er ihr nachschaute, doch da hatte sie sich sicher getäuscht. Oder es war einfach nur Wunschdenken. Doch obwohl sie ihn ihrerseits hin und wieder bewundernd gemustert hatte, war in ihrem Leben kein Platz für einen Mann, schon gar nicht für einen, dessen Verbindungen zu ihrer Familie sie auf ein emotionales Minenfeld führen würden.

Und nun? Schon Alix zuliebe mussten sie anständig miteinander umgehen. Dank des richterlichen Urteils konnte Griff ihr und ihren Eltern Besuche nicht verwehren, aber höchstwahrscheinlich würde er sie nicht mehr mit einem freundlichen Lächeln oder gar einem Lachen begrüßen. Er galt als ein großartiger Anwalt mit einem aufbrausenden Temperament, das er, falls er die Gelegenheit bekam, wohl an ihr auslassen würde.

»Und? War’s schlimm für dich?«

DiesetiefeStimmekannteChelsie.AnscheinendwarderendloseTagnochlangenichtvorüber.»Schlimmeralsdu es dir vorstellen kannst«, sagte sie und hob die Lider.

Griffs haselnussbraune Augen sprühten vor Zorn und seine offenkundige Empörung sorgte für eine gereizte Stimmung. Chelsie erinnerte sich noch gut an die Zeit, als diese Augen freundlich und anerkennend auf ihr geruht hatten. Griff nun so zu sehen, so verschlossen, distanziert und angewidert, machte die Veränderung umso bedauerlicher. Doch sie stellte sich der Herausforderung, ohne mit der Wimper zu zucken.

Sie konnte seine Entrüstung verstehen und beneidete ihn nicht um seine Sorgen. Sie hatte eine Schwester verloren. Doch er war über den Schock, seinen Bruder nicht mehr bei sich zu haben, kaum hinweg gewesen, als sie ihm auch schon das Sorgerecht streitig gemacht hatte.

Fast hätte sie ihm seine Nichte weggenommen, die einzige Blutsverwandte, die er noch hatte, und diesen Schmerz kannte Chelsie aus erster Hand. Sie wusste genau, wie es war, etwas Kostbares zu verlieren. »Ich wollte nur …«

»Sag es nicht. Es ist immer schwer, vor Gericht zu unterliegen«, sagte Griff mit unverhohlener Feindseligkeit.

Chelsie schüttelte den Kopf. »Diesmal nicht.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Ich schulde dir eine Erklärung.«

»Heb dir dein Tut mir leid für jemanden auf, dem es etwas bedeutet. Du hast deine Arbeit getan und verloren. Dafür solltest du einfach dankbar sein, wer weiß, was für ein Leben meine Nichte sonst gehabt hätte.«

»Sie ist auch meine Nichte.«

»Wie schön für sie.«

Chelsie zuckte zusammen, denn Griff hatte recht mit seinem Zynismus. Da ihre Eltern ein Kind verloren hatten, hatte sie sich von den Tränen ihrer Mutter und den Bitten ihres Vaters erweichen lassen. Sie hatte geglaubt, dass für die beiden ihre Enkeltochter an erster Stelle stehen würde und sie ihr aktives gesellschaftliches Leben und ihr Ansehen in der Gemeinde hintanstellen würden. Ein mutter- und vaterloses kleines Mädchen brauchte mehr Stabilität, als ein Elternteil oder ein Vormund bieten konnten. Chelsie hatte darauf verzichtet, sich selbst um das Sorgerecht zu bemühen, weil ihr Ein-Personen-Haushalt für ihre Nichte nicht die beste Wahl war – genauso wenig wie Griffins. Wenigstens konnten ihre Eltern es sich leisten, sich um die Kleine zu kümmern, und Chelsie hatte vorgehabt, ihren Einfluss zu nutzen, um die Defizite ihrer Eltern auszugleichen.

Falschaussage, Betrug und versuchte Bestechung. Diesmal waren die beiden zu weit gegangen. Chelsie wand sich innerlich vor Scham. Als sie dann wählen musste, wem sie ihre Unterstützung angedeihen ließ – dem unbekümmerten Junggesellen oder ihren materialistisch orientierten Eltern –, hatte sie hoffnungsvoll auf ihre Eltern gesetzt … und verloren.

Chelsie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Mann, dem sie mehr schuldete als nur eine Erklärung. »Es ist dein gutes Recht, wütend zu sein, aber ich bin froh, dass du gewonnen hast.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. Es war, als hätten ihre Finger glühendes Eisen berührt und sie schlagartig hypersensibel gemacht. Eine Hitzewelle überlief sie und weckte längst vergessene Gefühle. Erstaunt, dass eine einfache Berührung ein so heißes, beinah verzehrendes Feuer entfachen konnte, schüttelte Chelsie den Kopf.

Da sie sich zwang, ihre Hand auf Griffs muskulösem Unterarm liegen zu lassen, breitete seine Wärme sich in ihr aus und raubte ihr das bisschen Selbstbeherrschung, das ihr noch geblieben war. »Ich bin sicher, dass du ein großartiger Vater sein wirst«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr heiser vorkam.

»Onkel. Ihr Vater war jemand anders.«

Das hätte sie auch ohne Griffins knappe Zurechtweisung nie vergessen. Obwohl sie und Shannon in den letzten Jahren wenig miteinander zu tun gehabt hatten, fehlte ihre Schwester ihr dennoch. Griffin und sein Bruder hatten nur einander gehabt, es gab keine weiteren Familienangehörigen mehr. Wie sehr er litt, konnte sie nur erahnen.

Die letzten Wochen hatten ihr gezeigt, dass er und Alix sich so nahestanden wie Vater und Tochter. Offensichtlich hatte er mehr Zeit mit der Kleinen verbracht als sie. Früher hatte sie geglaubt, einen guten Grund für ihre Distanziertheit zu haben. So selbstsüchtig durfte sie nicht wieder sein.

Plötzlich riss Griff seinen Arm zurück, als ekle ihn ihre Berührung, und Chelsie ballte ihre ausgestreckte Hand zur Faust.

Offenbar war sie die Einzige, die eine besondere Verbindung gespürt hatte. Sie würde nicht zulassen, dass Griffin ihre Erregung bemerkte. »Hör mal, ich bin sicher, dass es nicht leicht ist, ein Kind großzuziehen.«

»Ich werde es schon schaffen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust.

Chelsies Augen folgten der Bewegung. Er hatte sein Jackett ausgezogen. Die Krawatte mit dem Paisleymuster baumelte locker um seinen Hals, und die obersten Knöpfe seines gestärkten weißen Hemdes standen offen, sodass seine tiefbraune Haut zu sehen war.

Griff räusperte sich. Als Chelsie aufschaute, stellte sie fest, dass er seine durchdringenden Augen auf sie gerichtet hatte. Langsam ließ er den Blick über ihren ganzen Körper wandern, ehe er ihr endlich wieder ins Gesicht sah. Das Prickeln ihrer Haut und das Ziehen in ihren Brüsten zeigten ihr, dass seine anzügliche Musterung weiter nachwirkte. Tief in seinen dunklen Augen entdeckte sie ein bewunderndes Funkeln.

Doch Chelsie blieb nicht viel Zeit, über Griffs Reaktion und ihre erstaunlichen Gefühle nachzudenken. Schon eine Sekunde später war sein kalter Zorn zurückgekehrt.

»Alix und ich werden gut miteinander auskommen«, sagte er so abrupt, dass ihr alles Trennende zwischen ihnen wieder einfiel.

Sie schluckte mühsam. »Etwas anderes habe ich damit auch nicht sagen wollen. Ich möchte dir nur anbieten … Ich meine, wenn du Hilfe brauchen solltest oder sonst irgendetwas …« Sie zögerte.

»Werden wir nicht.« Die Kälte, die sie umgab, war nicht auf die Klimaanlage zurückzuführen. Griffs kühles Starren machte ihr unmissverständlich klar, dass alles, was sie empfunden hatte, einseitig gewesen war und nur in ihrer Fantasie existierte.

Ihr Angebot war nicht auf Gegenliebe gestoßen. Chelsie seufzte und dachte an ihre Nichte. Obwohl sie gehofft hatte, Griffs Meinung ändern zu können, nickte sie nur verständnisvoll.

»Sieh mal, wen Onkel Ryan da gefunden hat«, ertönte eine tiefe Männerstimme und sorgte damit für eine willkommene Unterbrechung ihrer Gedanken.

Dankbar für die kurze Atempause, schaute Chelsie sich um. Alix ritt auf den Schultern eines dunkelhaarigen Mannes, der manchmal hinter Griffin im Gerichtssaal gesessen hatte und Griff und Alix so nahezustehen schien wie ein Familienmitglied.

Griffin streckte die Arme aus, nahm seine Nichte von Ryans Schulter und drückte sie an sich. Dann warf er die Zweijährige ohne Vorwarnung in die Höhe und wiederholte das aufregende Spiel, das Chelsie an diesem Morgen schon mehrfach beobachtet hatte. Nichts hätte sie schneller fröhlich stimmen können als das begeisterte Kreischen des Kindes. Immerhin würde ihre Nichte ein schönes Leben haben.

Als Chelsie Griff lächeln sah, wurde ihr bewusst, dass er ein unglaublich attraktiver Mann war. Auch die Fähigkeit, dem Kind zuliebe seine Trauer zu verdrängen, verriet viel über ihn und ließ sie ihm gegenüber wieder milder werden.

In den Armen ihres Onkels sicher geborgen, streckte Alix eine Hand aus und berührte Chelsies Haar. »Schön.«

»Deins aber auch«, sagte Chelsie und zerzauste die dunklen Locken des Kindes.

»Mami.«

Das sehnsüchtige Flehen des kleinen Mädchens war wie ein Stich ins Herz. Betroffen zog Chelsie die Hand zurück. Wenn sie ehrlich war, hatte sie ihre Schwester schon vor langer Zeit verloren. Da Shannons Familie die Art von Leben führte, die Chelsie sich wünschte, aber nie bekommen konnte, hatte sie schweren Herzens beschlossen, das enge Verhältnis, das sie immer mit ihrer Schwester gehabt hatte, zu lockern.

Chelsie hatte zu lange in einer gewalttätigen Ehe ausgehalten; ein Fehler, der sie darum gebracht hatte, ein Kind und eine Familie zu haben. Eine Zukunft. Da ihre jüngere Schwester alles bekam, was ihr verwehrt blieb, hatte sie nur von Weitem zugesehen, um sicherzugehen, dass Shannons Ehe nicht so schieflief wie ihre eigene – dass ihre Schwester glücklich blieb und geliebt wurde.

Nach einer Weile war sie dann ganz weggeblieben und hatte mit Shannon nur noch über das Telefon Kontakt gehabt. Der Tod hatte die Trennung nun endgültig gemacht.

»Will zu Mami«, sagte Alix und streckte die Arme nach Chelsie aus.

»Nein, meine Süße, ich bin nicht deine Mami.« Chelsie ignorierte die Erinnerungen, die diese Erklärung wachrief, und schob die unerwünschten Bilder eines Lebens, das es für sie nie geben würde, energisch beiseite.

»Auf den Arm.« Das Kind warf sich nach vorn. Griffin hatte keine Wahl, er musste es loslassen, und Chelsie blieb nichts anderes übrig, als es aufzufangen und in die Arme zu schließen.

Ohne auf Griffs grimmige Miene zu achten, drückte sie einen Kuss auf Alix’ Stirn. Der süße Duft von Kindershampoo stieg ihr in die Nase und rief ihr wieder ins Gedächtnis, warum sie stets versucht hatte, einen sicheren Abstand zu diesem reizenden Kind zu halten. Alix erinnerte sie zu sehr an das Baby, das sie verloren hatte, und die Kinder, die sie nie haben würde. Chelsie schloss die Augen, atmete tief ein und genoss den ungewohnten, aber tröstlichen Geruch.

»Mami«, sagte das Kind und sah sich um.

Chelsie schluckte und verdrängte den Schmerz, der hinter den unwillkürlich aufsteigenden Tränen lauerte. »Nein, Süße«, sagte sie mit rauer Stimme.

Griffin stöhnte vernehmlich und streckte die Arme nach Alix aus.

Widerwillig gab Chelsie die Kleine an ihren Onkel zurück. Währenddessen bewies das Gefühl der Leere, das sie nun spürte, wie recht sie gehabt hatte. Jede Begegnung mit diesem Mädchen würde sie auf eine harte Probe stellen. Doch die veränderte Familienstruktur und der schmerzliche Verlust ihrer Schwester ließen ihr keine Wahl.

Offensichtlich suchte Alix eine Verbindung mit ihrer Mutter. Das war das Mindeste, was Chelsie ihrer Nichte anbieten konnte. Die Kleine brauchte sie, und sie würde ihr helfen, egal was es kostete.

Chelsie fing Griffins Blick auf und stellte überrascht fest, dass er ihr Gesicht studierte.

»Ich schätze, du hast mehr Ähnlichkeit mit Shannon, als ich bisher bemerkt habe«, sagte er endlich und nahm Alix auf den anderen Arm. »Die Kleine fragt ständig nach Mami und Papi.« Während er das sagte, trat er zwei Schritte zurück.

Chelsie verkniff sich ein Seufzen. Als Rechtsanwältin sollte sie eigentlich an harte Kämpfe gewöhnt sein, doch Griff schien entschlossen, mehr als nur Groll gegen sie zu hegen. Trotz ihrer Vorbehalte wollte sie in Zukunft gern mehr Zeit mit ihrer Nichte verbringen. Der Richterspruch hatte ihr das zwar zugesichert, aber ihr war bewusst, dass jetzt nicht der richtige Moment war, um mit Griff darüber zu reden.

»Es wird schon werden.« Als diese Plattitüde ihr über die Lippen kam, zuckte sie selber zusammen.

Griff ging nicht darauf ein. Der andere Mann stand am Rande und beobachtete die Szene höchst interessiert. Chelsie spürte seinen Blick auf sich ruhen und sah zu ihm hinüber. Er lächelte und zog die Hand aus der Tasche seiner Jeans. »Ryan Jackson.«

Dankbar für ein freundliches Gesicht im Lager des Feindes griff sie danach. »Chelsie Russell. Nett, dich kennenzulernen.«

Während Chelsie und Ryan sich bekannt machten, richtete Griffins Blick sich auf ihre verschränkten Hände und seine Miene verdüsterte sich.

Chelsie nahm ihren Aktenkoffer. »Wie ich schon sagte, es tut mir leid. Falls es etwas gibt, das ich tun kann …«

»Nein.« Griff machte sich nicht die Mühe, seinen Ärger hinter netten Worten zu verstecken.

Chelsie verstand, dass er sich verletzt fühlte, hatte es aber nicht nötig, sich beleidigen zu lassen. »Auch gut.« Sie hob die Hand und zwirbelte Alix’ weiche Locken zwischen ihren Fingern.

Dann machte sie ohne ein weiteres Wort kehrt und ging aus dem Gebäude, weg von dem Mann und dem Kind.

Finster sah Griff ihr nach, den Blick, ohne es zu wollen, auf ihre sanft schwingenden Hüften gerichtet. Dann schnaubte er verächtlich. An Chelsie Russell gab es nichts Sanftes. Er stellte Alix neben sich auf den Boden.

Dass er beinahe zugelassen hätte, sich von Chelsies dunklen Augen und ihren heiser hervorgestoßenen Worten beeindrucken zu lassen, widerte ihn an. Er durfte nie vergessen, dass sie versucht hatte, ihn von seiner Nichte zu trennen, einem kleinen Mädchen, an das diese Frau bislang keinen Gedanken verschwendet hatte.

Chelsie war nie zu Familientreffen erschienen, und obwohl er sie gern näher kennengelernt hätte, hatte er nie die Gelegenheit dazu bekommen. Ihr Aussehen hatte ihm schon immer gefallen, und als Rechtsanwalt respektierte er ihren Einsatz und ihren Eifer, doch er hätte nie gedacht, dass sie das alles einmal gegen ihn einsetzen würde.

Ihre unangebrachte Loyalität ihren Eltern gegenüber hatte ihn beinahe seine Nichte gekostet, die letzte Verbindung zu seinem Bruder. Das würde er ihr nie verzeihen.

»Beruhige dich, Mann. Du hast gewonnen. Alix ist in Sicherheit und wird bei dir aufwachsen.«

»Ja, dank deines Überwachungsbandes.« Der Beweis dafür, dass Chelsies Eltern versucht hatten, Griff mit Geld dazu zu bewegen, das Sorgerecht abzugeben, hatte den Richter zweifellos beeinflusst.

»Wozu hat man einen guten Privatdetektiv als Freund?«

Griff schaute zu Alix hinüber, die jetzt im Kreis um den Marmorpfeiler herumlief. Sie erinnerte ihn so sehr an Jared, dass sich in seinem Hals ein Kloß bildete. Wenn der sich erst einmal festsetzte, würde es eine Weile dauern, bis die damit einhergehenden traurigen Erinnerungen wieder verblassten.

Der Autounfall, bei dem sein Bruder und seine Schwägerin ums Leben gekommen waren, hatte sein Leben bis in die Grundfesten erschüttert. Er und Alix hatten nur einander, niemanden sonst. Die Russells zählten nicht, und wenn man bedachte, wie wenig Zeit sie mit der Kleinen verbracht hatte, zählte Chelsie auch nicht.

Da Alix erst zwei war, brauchte sie Griff, um die Erinnerung an ihre Eltern wachzuhalten. Und dafür würde er sorgen, selbst wenn er sein ganzes Leben umkrempeln musste, um sein Ziel zu erreichen.

»Was glaubst du, warum sie all diese harten Fälle annimmt?«, fragte Ryan, während er eine Möhre aus einer Papiertüte zog und sie Alix in die Hand drückte. »Und mehr als die Hälfte davon anscheinend, ohne ein Honorar dafür zu bekommen.«

»Das war keiner von ihren harten Fällen«, murmelte Griff. »Und ihre Eltern zählen auch nicht unbedingt zu denen, die kostenlose Rechtsberatung nötig hätten. Woher weißt du das alles überhaupt?«

»IchmusstedochetwasmitmeinerZeitanfangen,währendichAlixvondemTheaterdadrinnenfernhielt«,erwiderteRyan,indemeraufdenGerichtssaaldeutete.

»Werweißschon,warumFrauentun,wassietun,verdammtnochmal?DiemeistenvonihnenverfolgenjedenfallsirgendwelchePläne.«Griffkonnteverstehen,dassChelsiedasBedürfnishatte,ihrerFamiliezuhelfen.ErhatteauchzeitseinesLebens für seinen Bruder gesorgt. Doch jede intelligente Frau mit einem Funken Gefühl musste sich etwas Besseres für ihre Nichte wünschen als eine Kindheit bei Leuten, die zu Betrug und Bestechung fähig waren. Selbst wenn es sich dabei um die eigenen Eltern handelte.

»Chelsie Russell ist nicht Deirdre.«

Griff zog eine Augenbraue in die Höhe. »Nicht? Dann hat sie dieses berechnende Weib jedenfalls verdammt gut nachgemacht. Chelsie ist darauf aus, sich einen guten Namen zu machen, und dabei ist es ihr vollkommen gleichgültig, wem sie auf die Zehen tritt.« Griffs Blick schweifte zu der Glastür, durch die sie vor ein paar Minuten verschwunden war. »Und glaub mir, Ryan, sie kriegt, was sie will. Ich kenne den Typ Frau.«

»Mag sein, dass sie sich eine Karriere aufbaut, aber mir scheint es eher umgekehrt zu sein. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen ist sie eine, die gibt – nicht nimmt.«

»Na klar. Du fällst doch bloß auf ihr hübsches Gesicht herein.«

»Immer noch sauer, hm? Deine Trennung von Deirdre ist zwar noch ziemlich frisch, aber ich würde sagen, du bist ohne diese Hexe von Freundin besser dran.«

»Ach, hör auf, Jackson.« Griffs Verlobte hatte nicht einmal den Anstand gehabt zu warten, bis er seinen Bruder beerdigt hatte, ehe sie ihm, seinem Mündel und einem Lebensstil, der nicht in ihre Pläne passte, den Rücken kehrte. Es hatte sich herausgestellt, dass sie keinen Deut besser war als seine Mutter, die ihn als Kind verlassen hatte. Ohne sein sechsstelliges Gehalt hatte er wenig Anziehungskraft für Deirdre. Sie war nur so lange bei ihm geblieben, wie er Partner in einer der größten Kanzleien von Boston gewesen war.

»Was soll diese Feindseligkeit eigentlich? Die Lady hat doch nur ihren Job gemacht«, sagte Ryan.

»Einen Job, den kein anständiger Rechtsanwalt angenommen hätte. Aber ihre Eltern zu vertreten wird ihr bestimmt einige ziemlich wohlhabende Mandanten eingebracht haben.«

Wen kümmerte es da schon, wenn ihre eigene Nichte bei der ganzen Geschichte Schaden nahm? Jedenfalls nicht Chelsie Russell. Sie hatte deutlich gezeigt, wo ihre Prioritäten lagen. Moral und Anstand gehörten jedenfalls nicht dazu. Doch die Frage, warum es ihm so verdammt viel ausmachte, dass sie ihn enttäuscht hatte, stellte Griff sich nicht.

»DiealtenHerrschaftenhabensiehereingelegt,hastdudasnichtbemerkt?Außerdemmussteirgendjemandsievertreten.JederhatdasRechtaufeinenAnwalt.IstdasnichtdasErste,wasmaneuchimStudiumbeibringt?«

Griff fluchte verhalten und packte Alix am Schlafittchen. »Stehen bleiben, du Fratz.« Das Kind hielt ungefähr zwei Sekunden still, ehe es weiter um den Pfeiler herumrannte. Wenigstens hatte sie lang genug angehalten, um ihm die Möhre zu geben und zwei orangefarbene Handabdrücke auf seinem weißen Hemd zu hinterlassen.

»Verrat mir mal eines«, sagte Ryan in seinem Ich- weiß-etwas,-was-du-nicht-weißt-Ton. »Was stört dich eigentlich so? Dass die Russells dich zu einem unschönen Prozess gezwungen haben oder dass die hübsche Miss Russell die Gegenseite vertreten hat?«

Griff betrachtete seinen Freund mit hochgezogener Braue. »Was soll das eigentlich, verdammt noch mal? Ich habe gerade den ganzen Tag damit verbracht, das Sorgerecht für das Kind meines Bruders zu erstreiten«, sagte er mit leiser, leicht verärgerter Stimme. Seine Nichte war zwar noch klein, aber nicht dumm. Griff wollte nicht, dass sie von diesem schrecklichen Tag mehr als nötig im Gedächtnis behielt. »Ich wäre in jedem Fall wütend, egal, wer versucht hätte, mir Alix wegzunehmen.«

»Ah ja.«

»Mit Chelsie hat das überhaupt nichts zu tun«, sagte Griff als Antwort auf Ryans ungläubigen Gesichtsausdruck.

Warum gingen ihm dann ihre dunklen Augen und die so zart schimmernde Haut nicht mehr aus dem Sinn? Und warum war ihre warme Berührung vorhin ihm durch und durch gegangen und zu einem Ort in ihm vorgedrungen, den er vor langer Zeit mit einem festen Schutzwall umgeben hatte?

Ryan zuckte die Achseln. »Du bist der Boss. Wenn du sicher bist, dass du kein Interesse hast, könnte ich es ja mal bei ihr versuchen.«

Griff schnaubte verächtlich. »Ich wette, sie ist nicht der Typ, der auf schmutzige Jeans und Turnschuhe steht.«

»Ein ziemlicher Schlag unter die Gürtellinie für jemanden, der nicht interessiert ist.«

»Halt den Mund und lass uns gehen.«

»Mami«, sagte Alix.

Griff schüttelte den Kopf.

»Mami«, heulte seine Nichte.

»O verdammt«, brummte Griff, während er ihre kleine Hand nahm und zur Tür ging.

Griff öffnete den Kofferraum seines Familienautos und nahm so viele Einkaufstüten heraus, wie er tragen konnte. Nach drei Gängen zum Haus und zurück hatte er die meisten Sachen ausgeladen. Er war überrascht von den Mengen an Nahrung und sonstigen Dingen, die notwendig waren, um eine Zweijährige zu versorgen. Seit seine Nichte zu einem festen Bestandteil seines Lebens geworden war, kaufte er viel mehr ein als vorher. Windeln waren nur einer der neuen Posten auf der Liste.

Nachdem er die letzte Tüte herausgehoben hatte, schlug er den Kofferraum zu. Alix’ Appetit war erstaunlich. Ebenso erstaunlich wie die Tatsache, dass er sein geliebtes Cabrio gegen einen Wagen eingetauscht hatte, den der Verkäufer als »ultimative Familienkutsche« bezeichnet hatte. Das Wort Familie hatte bei Griff einen Hustenanfall ausgelöst. Daraufhin hatte der Mann ihm auf den Rücken geklopft und geflachst: »Muss ja ein schlimmer Streit gewesen sein. Dieses Baby kommt Sie wesentlich teurer als Blumen oder Pralinen.«

Bei dem Gedanken an die Szene schnitt Griff eine Grimasse. Für seinen Sportwagen hatte er nicht viel bekommen. Der Gebrauchtwagenhändler war ein Gauner, der ihm für das Cabrio viel weniger gezahlt hatte, als er vor nicht allzu langer Zeit dafür hingeblättert hatte. Trotzdem musste man zugeben, dass der Mann im Bezug auf Frauen recht hatte. Und im Augenblick war Griff tatsächlich nicht gut auf das andere Geschlecht zu sprechen. Er und Alix bildeten eine Familie, und momentan sah es nicht danach aus, als ob aus dem Duo jemals ein Trio werden könnte.

Griff ließ die Lebensmittel auf der Küchentheke liegen und ging, um Mrs. Baxter abzulösen. Nach einem Tag mit einer lebhaften Zweijährigen brauchte die Haushälterin sicherlich etwas Ruhe, es sei denn, die schlaflosen Nächte der letzten Wochen hätten Alix am Ende doch noch eingeholt, sodass sie ein Nickerchen gemacht hatte. Das arme kleine Ding konnte den Schlaf brauchen.

Er übrigens auch. Er war körperlich erschöpft und emotional ausgelaugt. Sein Junggesellenleben hatte ihn schlecht darauf vorbereitet, mit seiner Nichte und ihren nächtlichen Ängsten umzugehen, die sie davon abhielten durchzuschlafen.

Das Schiebefenster in der Küche führte auf den grasbewachsenen Innenhof. Griff folgte dem Klang des Kinderlachens zu einer großen Weide am Rande des Grundstücks. Dass Alix so fröhlich kicherte, wunderte ihn. Obwohl sie sich mit Mrs. Baxter angefreundet hatte, blieb die Kleine der Haushälterin gegenüber reserviert. Doch da sein Büro sich nun im oberen Stockwerk des Zwei-Familien-Hauses befand, hatte sich seine Besorgnis etwas gelegt. Nächste Woche wollte er seine Kanzlei eröffnen. Falls es Probleme gab, würde Alix also meist innerhalb seiner Sichtweite sein.

Das Mädchen lachte schallend und Griff lächelte. Heute schien das Leben es ausnahmsweise einmal gut mit ihr zu meinen. Doch als er um die Hausecke bog, erstarrte er. Seine Nichte hatte es sich auf Chelsie Russells Schoß gemütlich gemacht. Die braunen Locken der Anwältin flatterten im Wind, während sie mit gesenktem Kopf darum kämpfte, die leichte Brise davon abzuhalten, die Seiten eines Buchs umzuschlagen. Dass auch Alix’ kleine Finger immer wieder nach den Seiten griffen, machte die Aufgabe noch schwerer.

»Mehr«, hörte Griff seine Nichte sagen.

Fasziniert von dem Anblick der Frau, die Alix, dem kleinen Mädchen, das zum Mittelpunkt seines Lebens geworden war, vorlas, trat Griff näher. Mit ihren zusammengesteckten Köpfen und den dunklen, windzerzausten Locken sahen die beiden einander so ähnlich, als wären sie Mutter und Tochter.

Alix lachte – glücklicher, als er sie in letzter Zeit je erlebt hatte.

WieschonbeiihrerletztenBegegnungdeutlichgewordenwar,hatteChelsieoffenbaretwasansich,dasseineNichteanzog.ObesdieäußerlicheÄhnlichkeitmitihrerSchwesterwarodernochmehr,erwussteesnicht …AlsGriffdiebeidensozusammensah,gestandersichinsgeheimein,dassdieseFrauauchaufihnanziehendwirkte.

Er verhielt sich ganz ruhig, lauschte ihrer leisen Stimme und versuchte, sich an ähnliche Bilder aus seiner Vergangenheit zu erinnern, aber er wurde nicht fündig. Als seine Mutter sich auf die Suche nach einem besseren, reicheren Leben begeben hatte, war die Aufgabe, Jared aufzuziehen, Griff zugefallen. Sein Vater hatte sich zwar daran versucht, doch die Vaterschaft und eine Vollzeitarbeit unter einen Hut zu bringen, war schwierig gewesen. Als Kind war Griff die kleine Freude, etwas vorgelesen zu bekommen, versagt geblieben. Wenn sein kleiner Bruder sich gefürchtet hatte oder sich einsam fühlte, hatte Griff sich wüste Geschichten ausgedacht, um ihn abzulenken. Für ihn selbst war damals niemand da gewesen.

Einen kurzen Moment ließ er sich von Chelsies Stimme einlullen, vertiefte sich mit in die Geschichte und gestattete es sich, so zu tun, als ob das Leben anders sein könnte; als ob er seine Liebe und sein Vertrauen verschenken könnte, ohne Gefahr zu laufen, dass beides ihm bei der nächsten Gelegenheit um die Ohren gehauen wurde.

»Ende.« Chelsie klappte das Buch zu. Dann schloss sie die Augen und streckte das Gesicht der Sonne entgegen. Ein friedlicher Ausdruck lag auf ihren Zügen und ließ sie verletzlich erscheinen. Weich und zugänglich, dachte Griff. Fast so wie nach dem Prozess, als sie versucht hatte, sich zu entschuldigen.

Plötzlich und unerwünscht drängte sich die Realität in seine Gedanken. Griff zwang sich, sich daran zu erinnern, warum es in seinem Haus keine so liebevollen Familienszenen geben würde. Und schon lösten sich die angenehmen Gefühle, die Chelsie hervorgerufen hatte, zusammen mit seiner guten Laune in Luft auf. Wie hatte er es nur zulassen können, irgendetwas für Chelsie Russell zu empfinden?

»Hast du Spaß gehabt?« Um Alix nicht zu verstören, hielt er seine Stimme neutral.

Chelsies Blick begegnete seinem. Der Ausdruck in ihren Augen war nicht zu deuten, obwohl er ihn gern für schuldbewusst gehalten hätte.

»Ich habe Alix nur eine Geschichte vorgelesen.«

»Das sehe ich.«

»Schmetterling«, sagte Alix und warf ihm das Buch zu.

Griff kniete sich hin und fing die Kleine auf, als sie sich in seine Arme stürzte. Schmunzelnd betrachtete er ihr breites Grinsen und die Grasflecken auf ihren Knien. »Wo ist Mrs. Baxter?«, fragte er und schaute über den Kopf des Kindes hinweg zu Chelsie.

»Als ich hier ankam, hatte sie Kopfschmerzen. Ich habe ihr angeboten, eine Weile auf Alix aufzupassen.« Chelsie stand auf und wischte sich mit ihren langen Fingern Dreck und Gras von der verwaschenen Jeans, die sich an ihre schlanken Beine schmiegte – Beine, von denen er gern in einer sehr viel intimeren Umgebung umschlungen worden wäre.

Leise fluchend riss Griff den Blick von dem verführerischen Anblick los und stellte Alix neben sich ab. »Komm mit, du Fratz. Ich glaube, in der Küche gibt es Milch und Plätzchen.« Die Konfrontation konnte warten, bis er seine Nichte abgelenkt hatte.

Das kleine Mädchen kreischte begeistert und rannte über den Rasen. »Sobald ich Mrs. Baxter gefunden und Alix ruhiggestellt habe, komme ich zurück.« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und lief hinter seiner Nichte her.

Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass Chelsie auf ihn warten würde. Sie beide hatten offensichtlich einiges zu regeln. Was für einen Grund sollte es sonst für ihr Kommen geben?

Kapitel 2

Als Griff zurückkehrte, war Chelsie aufgestanden und lehnte mit gekreuzten Beinen an der Weide. »Ich wollte nur sehen, wie du mit Alix zurechtkommst«, sagte sie ohne Umschweife.

»Und? Ist deine Neugier befriedigt?«

»Neugier würde ich es nicht nennen. Eher echte Sorge um das Wohlergehen meiner Nichte.« Eine so knappe Entgegnung hatte er nach ihrem liebevollen Umgang mit Alix nicht erwartet.

Griff gönnte sich einen Moment des Bedauerns über diesen Umschwung, ehe er sich wieder ins Gedächtnis rief, warum es nötig war, Distanz zu wahren. »Besser spät als nie«, murmelte er. »Letztes Mal, als du aus echter Sorge gehandelt hast, hätte ich das Kind meines Bruders beinah verloren.«

Nervös leckte Chelsie sich über ihre volle Unterlippe, und Griffs Augen folgten der Bewegung. Dass er es schaffte, die gewiefte Anwältin zu irritieren, war ihm eine kleine Genugtuung. Auch wenn es nichts an ihrer überwältigenden sexuellen Anziehungskraft änderte, war dies zumindest etwas, worauf er sich konzentrieren konnte.

»Ich möchte noch einmal um Verzeihung bitten«, sagte Chelsie. »Meine Eltern sind … sagen wir einfach: Sie sind meine Eltern, nicht meine Vorbilder.«

»Fein. Entschuldigung angenommen.« Das war alles. In der Ferne zwitscherte ein Vogel. Griff ließ die kleine Pause ungemütlich lang werden, sodass Chelsie das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte.

»Mrs. Baxter scheint sehr nett zu sein.« Sie brach das Schweigen als Erste, doch die Atmosphäre blieb angespannt.

»Richtig.«

»Alix scheint sie zu mögen.«

»Richtig.«

Offenbar waren seine knappen Antworten nicht abschreckend genug, denn die Dame begriff anscheinend nicht, dass er sie loswerden wollte. Griff wusste nicht, wie lange er es noch schaffte, nicht nur seinen Zorn, sondern auch seine Hormone im Zaum zu halten. Denn obwohl er sich über Chelsie ärgerte, fühlte er sich dennoch zu ihr hingezogen. Was ihn nicht wirklich wunderte, denn bei Frauen verließ ihn ja bekanntlich seine Urteilskraft.

»Ich glaube, Alix hat mein Besuch gefallen. Als ich ankam, war Mrs. Baxter gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten, und Alix spielte ganz allein.«

»Verstehe. Soll heißen, sie wird vernachlässigt.«

»Bist du immer so empfindlich? Das war keine Kritik, nur eine Feststellung.«

»Falls du es noch nicht kapiert hast, ich habe genug von deiner Einmischung.«

Chelsie hielt die Luft an, als müsse sie sich den nächsten Satz gut überlegen. Wieder fuhr sie mit der Zunge über ihre Unterlippe, und Griff brauchte jedes Quäntchen Willenskraft, um seinen Blick von diesem verführerischen Schauspiel loszureißen. Für Sex war in ihrer Beziehung kein Platz. Verdammt, sie hatten ja nicht einmal eine Beziehung.

Und sie würden auch nie eine haben.

Er würde Chelsie jetzt zu ihrem Wagen führen, etwas anderes fiel ihm nicht ein, um sie zum Gehen zu bewegen. Sonst brachten ihn die widerstreitenden Gefühle, die sie in ihm weckte, noch um den Verstand.

»Eigentlich wollte ich dich nur an das Angebot erinnern, dir bei Alix’ Betreuung zu helfen«, sagte Chelsie, womit sie ihm unwissentlich einen Ausweg wies.

Ohne zu zögern nutzte Griff seine Chance. »Wenn du wieder einmal das Bedürfnis hast, Mutter zu spielen, schaff dir ein eigenes Kind an. Von jetzt an kümmere ich mich um Alix.«

Chelsies braune Augen füllten sich mit Tränen und Griff schämte sich. Beim Anblick ihres Gesichts hätte er es sich fast noch einmal anders überlegt und ihr Hilfsangebot angenommen. Doch der Teil von ihm, der gerade erst hereingelegt worden war, rebellierte bei der Vorstellung. Außerdem, ermahnte er sich selbst, hatte die Dame bereits bewiesen, wie wenig sie sich um andere scherte.

Was machte sie dann hier? Diese bohrende Frage, die eine Flut von unwillkommenen Schuldgefühlen auslöste, schob Griff beiseite. Er hatte Chelsie verletzen wollen, und es war ihm gelungen.

»Ich habe einen Rechtsanspruch darauf, meine Nichte zu sehen«, erwiderte sie, sobald sie sich etwas gefangen hatte.

Griff gefiel es gar nicht, daran erinnert zu werden. »Dann ruf nächstes Mal vorher an.«

Chelsie kniff zwar die Augen zusammen, legte sich aber überraschenderweise nicht mit ihm an. »Gut. Alix hat diese Geschichte sehr gefallen, vielleicht möchtest du sie ihr gelegentlich vorlesen.« Chelsie reichte ihm ein abgegriffenes gelbes Buch. »Die Sprache ist etwas veraltet, aber mit der Zeit wird die Kleine schon damit klarkommen«, sagte sie mit brechender Stimme. Peinlich berührt senkte Chelsie den Kopf, drehte sich auf dem Absatz um und lief zu ihrem Auto.

Griff betrachtete das Buch, das sie ihm in die Hand gedrückt hatte. Der Titel war ihm nicht bekannt. Neugierig blätterte er durch die abgenutzten Seiten. Auf der Innenklappe stand in krakeligen Blockbuchstaben Chelsies Name. Er setzte sich auf den Rasen und begann zu lesen.

Nachdem er den Buchdeckel wieder geschlossen hatte, dachte er über die geheimnisvolle Chelsie Russell nach. Vor Gericht hatte sie zwei Menschen vertreten, die mit Sicherheit einen schlechten Einfluss auf Alix’ Leben gehabt hätten. Doch gerade hatte sie seiner Nichte eine Geschichte über das Leben, mögliche Neuanfänge und Hoffnungen geschenkt. Etwas, woran sich das Kind in Zukunft festhalten konnte, trotz allem, was es verloren hatte.

Offenbar hatte Chelsie das Buch aus ihrer eigenen Kindheit herübergerettet. Hatte sie auch in diesen Seiten geblättert, wenn sie sich einsam fühlte? Verdammt, das sollte ihm egal sein. Griff fluchte vor sich hin. Dann stand er auf und ging zurück ins Haus.

Bei der ersten Gelegenheit bog Chelsie rechts ab, und als sie sicher war, nicht mehr in Griffs Sichtweite zu sein, hielt sie am Straßenrand an. Immer noch aufgewühlt, stellte sie den Schalthebel auf »Parken« und legte den Kopf auf das Lenkrad. Als sie beschlossen hatte, nach Alix zu sehen, war sie auf Griffins Ärger und Misstrauen gefasst gewesen. Doch nun wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich angenommen hatte, sein Zorn sei zwischenzeitlich verraucht. Der kaum verborgene tiefe Hass, der ihr entgegengeschlagen war, hatte sie aus der Bahn geworfen.

Die Kälte in Griffins Blick zusammen mit seinen harten Worten hatte sie in eine andere Zeit und an einen anderen Ort zurückversetzt. Erinnerungen, die dicht unterhalb der Bewusstseinsgrenze lauerten, drohten aufzusteigen und ihre hart erarbeitete Ausgeglichenheit und Ruhe zu erschüttern. Mit ein paar einfachen Worten rief Chelsie sich wieder zur Ordnung: Das ist ein anderer Mann gewesen.

Nicht Griff. Egal wie zornig er war, Griffin würde nie die Kontrolle verlieren. Er war nicht dazu imstande, irgendjemanden körperlich zu misshandeln. Chelsie wusste nicht, warum sie sich dessen so sicher war, nur, dass sie es war. Vielleicht lag es an der Art, wie er seine Nichte ansah, dass sie trotz seiner Rauheit und seines harschen Tons an ihn glaubte.

Ihr Ex-Mann dagegen war hinter der Maske des zivilisierten Anwalts mehr als nur rau gewesen. Er hatte seinen Zorn ausgelebt, ihm jedes Mal, wenn irgendetwas nicht nach seiner Nase ging, freien Lauf gelassen – anders als Griffin, der Rückschläge akzeptierte und versuchte, damit fertigzuwerden, dachte Chelsie.

Nein, die beiden Männer hatten nichts gemeinsam. Doch das machte Griffin nicht weniger gefährlich für ihr Seelenheil, denn sie konnte nicht leugnen, dass sie sich von ihm angezogen fühlte. Hinter seiner rauen Schale steckte ein weicher Kern. Und Gott helfe ihr, wenn sie es jemals mit dem freundlichen Griffin Stuart zu tun bekam. Aber damit war glücklicherweise nicht zu rechnen.

Obwohl Chelsie gern so getan hätte, als sei dies nur ein weiterer abgeschlossener Fall, den man hinter sich ließ, konnte sie das Kind ihrer Schwester nicht im Stich lassen. Und sie würde es auch nicht tun, koste es, was es wolle. Das Zusammensein mit Alix zwang sie, sich der Tatsache zu stellen, dass ihr Ex-Mann mit seinem letzten Übergriff dafür gesorgt hatte, dass sie einsam und kinderlos bleiben würde.

In den Jahren nach ihrer Ehe hatte sie gelernt, in der Gegenwart zu leben und nicht in der Vergangenheit stecken zu bleiben. Doch die Zeit, die Umstände und Griffins achtlose Worte hatten die Vergangenheit, die sie für begraben gehalten hatte, wieder hochkommen lassen. Wenn du wieder einmal das Bedürfnis hast, Mutter zu spielen, schaff dir ein eigenes Kind an.

In der Hoffnung, durch die frische Luft einen klareren Kopf zu bekommen, öffnete Chelsie das Autofenster. Das Wetter war ungewöhnlich kalt für August. Statt drückender Hitze und Feuchtigkeit wehte eine eher kühle Brise, was auf einen frühen Herbst hindeutete. Normalerweise freute sie sich auf gerade diesen Jahreszeitenwechsel. Zum einen, weil sie den langsamen Rückzug, den man in der Natur beobachten konnte, gerne mochte. Zum anderen, weil der Herbst keine Erinnerungen weckte. Zumindest bisher nicht, bis ein kleines Mädchen mit tiefdunklem Haar ihr Herz erobert … und der Onkel dieses kleinen Mädchens darauf herumgetrampelt hatte.

Frustriert schlug Chelsie aufs Lenkrad. Seit dem Tag, an dem sie ihr Schicksal angenommen hatte, hatte sie sich nicht ein einziges Mal gestattet zu weinen oder in Selbstmitleid zu zerfließen; und sie verfluchte Griffin Stuart dafür, dass er sie jetzt dazu gebracht hatte. Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, fühlte sie sich besser. Sie drehte den Schlüssel und startete den Wagen, doch bevor sie weiterfuhr, musste sie noch die Tränen abwischen, die ihr die Sicht nahmen.

»Danke, dass du gekommen bist.« Griff hielt seinem Freund die Haustür auf.

»Kein Problem.« Ryan trat ein, schleuderte seine Schuhe von sich und ging geradewegs in die Küche, wo er den Kühlschrank öffnete und eine Dose Cola herausnahm.

»Fühl dich wie zu Hause«, bemerkte Griff trocken.

Ryan grinste. »Tu ich doch.«

Seit ihrer Kindheit, als sie in einem heruntergekommenen Mietshaus Tür an Tür gewohnt hatten, war Ryan immer als Erster am Kühlschrank gewesen, wobei er in der Regel die letzte Dose Soda erwischte, sodass für Griff nur noch Wasser aus dem Kran übrig blieb. Für Jared hatte Ryan jedoch stets eine Ausnahme gemacht und die Siegesbeute mit ihm geteilt. Zusammen mit Griff hatte er auf das lästige Kind aufgepasst, das sie beide als kleinen Bruder betrachteten.

Ryan musterte seinen Freund. »Du siehst schlecht aus«, konstatierte er zwischen zwei Schlucken.

Griff fuhr sich durch das zerzauste Haar. »Ich fühl mich auch so.«

»Hast du sie wieder zum Schlafen gebracht?«

»O ja.« Griff folgte Ryan ins Wohnzimmer. »Aber da es bereits das dritte Mal ist, habe ich keine große Hoffnung, dass sie die Nacht durchschläft.« Er schaute zur Uhr auf dem Kaminsims.

Ein Foto von seinem Bruder und seiner Schwägerin, aufgenommen an Alix’ erstem Geburtstag, ließ ihn innehalten. Es sah aus, als mokierten sie sich über seine erzieherischen Bemühungen. Tut mir leid, dass ich euch enttäusche. Griff lenkte den Blick auf die Uhr rechts neben dem Bild.

Beinahe Mitternacht. Sein ganzer Körper schmerzte. Ob es am Schlafmangel lag oder daran, dass er sich, um seine Nichte zu beruhigen, zu lange über das Kinderbett gebeugt hatte, wusste er nicht. Selbst das Herz tat ihm weh, doch wenigstens das konnte er auf eine konkrete Ursache zurückführen. Griff schaute wieder auf das Foto.