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Romanze mit Hindernissen
Als Nash Barron die attraktive Kelly auf der Hochzeit seines Bruders kennenlernt, funkt es gewaltig zwischen ihnen. Nash ist fasziniert von Kellys Schönheit und Warmherzigkeit, doch für ihn steht fest, dass sie ihrer Leidenschaft nicht nachgeben dürfen. Dadurch würde er das Vertrauensverhältnis zu seiner Halbschwester Tess gefährden, die die Barron-Familie erst kürzlich aufgenommen hat. Sie braucht nun seine ganze Unterstützung. Doch Tess ist nicht das einzige Hindernis zwischen den beiden. Auch Kelly hat ihre Gründe, auf Distanz zu gehen: Sie verheimlicht Nash etwas, das er ihr nie verzeihen würde ...
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Seitenzahl: 502
Carly Phillips
Ich will nur
dein Glück
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Ursula C. Sturm
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe
DESTINY
erschien 2012 bei The Berkley Publishing Group, New York
Vollständige deutsche Erstausgabe 11/2012
Copyright © 2012 by Karen Drogin
Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design
unter Verwendung von © Thinkstock
Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-461-08599-5
www.heyne.de
Kapitel 1
Nash Barron mochte dem Leben und seit Kurzem auch der Liebe gegenüber reichlich zynisch eingestellt sein, aber sogar er fand Hochzeiten normalerweise romantisch. Das heutige Ereignis bildete jedoch eine Ausnahme. In der Einladung hatte es geheißen, es würden ›enge Freunde und Familienmitglieder‹ zugegen sein, und Nash fragte sich, ob ihm als Einzigem die Ironie daran aufgefallen war.
Der Bräutigam und seine beiden Brüder, darunter auch Nash, hatten zehn Jahre lang keinerlei Kontakt miteinander gehabt, und das heutige Blumenmädchen, ihre kürzlich aufgetauchte Halbschwester Tess, kannten sie erst seit sechs Wochen. Der Vater der Braut saß im Gefängnis, weshalb selbige von ihrem exzentrischen Freund, einem schwulen Innenausstatter, zum Altar geführt worden war, während sich ihre Mutter schon den ganzen Nachmittag mit Wein betrank, um den Verlust ihrer geliebten Villa zu betrauern, in der die Hochzeit stattfand. Das pompöse Herrenhaus, das auf einem Hügel ihrer Heimatstadt Serendipity unweit von New York stand, befand sich nämlich mittlerweile im Besitz des Bräutigams Ethan Barron.
Wenn Nash so darüber nachdachte, war die Ironie der Situation wahrscheinlich das Einzige, das er am heutigen Tag bislang so richtig genossen hatte.
Das und die Gegenwart von Kelly Moss, jener Frau, die in einiger Entfernung von ihm auf dem sattgrünen Rasen im Garten der Villa stand und an ihrem Champagner nippte.
Tess war Nashs Halbschwester, hervorgegangen aus einer Affäre seines Vaters mit Tess’ Mutter, und ihre Halbschwester Kelly war eine Frau mit einer gehörigen Portion Sex-Appeal, die ihn abwechselnd frustrierte, faszinierte und antörnte. Ihr Verhältnis zueinander war kompliziert und zugleich so einfach, dass man es in einem Satz zusammenfassen konnte: Kelly Moss war eine schöne Frau, mit der er in keinster Weise blutsverwandt war.
Was sein Interesse an ihr allerdings auch nicht akzeptabler machte. Es war wohl das Klügste, wenn er die Bekanntschaft mit ihr nicht weiter vertiefte. Nash fühlte sich in der Gegenwart der Moss-Schwestern ohnehin stets irgendwie unbehaglich, und er konnte sich nicht erklären, warum es ihm nicht gelang, eine Beziehung zu seiner vierzehnjährigen Halbschwester aufzubauen, die wild entschlossen schien, ihm weiterhin die kalte Schulter zu zeigen.
Auch von Kelly hatte Nash nicht unbedingt einen guten ersten Eindruck bekommen, hatte sie doch ihre Halbschwester im Sommer kurzerhand bei Ethan abgesetzt, der für Tess damals noch ein völlig fremder Mensch gewesen war. Sie hatte von Ethan verlangt, den aufsässigen Teenager in seine Obhut zu nehmen. Dieser hatte die widerspenstige Kleine innerhalb kürzester Zeit gezähmt, wie Nash zugeben musste, obwohl er Ethan nur ungern Anerkennung zollte. Trotzdem war Kellys Verhalten in seinen Augen inakzeptabel. Und dann war sie plötzlich wieder aufgetaucht, nur um kurz darauf sogar nach Serendipity zu ziehen. Er war ihr – verständlicherweise, wie er fand – mit Argwohn begegnet, hatte zugleich aber auch feststellen müssen, dass er sich erschreckend heftig zu ihr hingezogen fühlte. Und daran hatte sich seit ihrer ersten Begegnung nichts geändert.
Nash wandte sich ab, und sein Blick fiel auf seinen Bruder Ethan, dessen Leben nun eindeutig eine Wendung zum Guten genommen zu haben schien. Es war ein perfekter Tag für eine Hochzeit. Obwohl es schon Anfang Oktober war, zeigte das Thermometer zwanzig Grad Celsius an, weshalb die Feierlichkeiten im Freien stattfinden konnten. Ethan hatte den Arm um seine Frau Faith gelegt und unterhielt sich gerade mit Dare, dem Jüngsten von ihnen, der Ethan die Fehler der Vergangenheit inzwischen offenbar verziehen hatte.
Doch Nash brachte es nicht über sich, Ethan gegenüber eine derartige Nachsicht walten zu lassen, nachdem er ihn und Dare vor zehn Jahren einfach im Stich gelassen hatte.
Er warf einen Blick auf die Uhr und kam zu dem Schluss, dass er nun lange genug hier gewesen war. Das Brautpaar war vermählt, die Torte angeschnitten, der Brautstrauß geworfen. Er trank seinen Champagner aus, stellte das leere Glas auf dem Tablett einer vorbeigehenden Kellnerin ab und machte sich auf den Weg zum Haus.
»Willst du etwa schon gehen?«, fragte eine vertraute weibliche Stimme.
»Naja, im Grunde ist es vorbei.« Er drehte sich zu der Frau um, der eben noch seine Gedanken gegolten hatten.
Kelly trat zu ihm, so nah, dass ihm ihr warmer, verlockender Zitronenduft in die Nase stieg. Sie hatte sich das Haar locker am Hinterkopf hochgesteckt, und ein paar Strähnen fielen ihr in sanften Wellen über die Schultern.
Kelly war eine Frau, die Grenzen überschritt, und Nash war ein Mann, der es nicht gern hatte, wenn man ihm zu sehr auf die Pelle rückte. Und trotzdem verspürte er aus unerklärlichen Gründen nicht das Bedürfnis, sich in Sicherheit zu bringen.
»Die Band spielt aber noch«, bemerkte sie.
»Es wird niemandem auffallen, dass ich gegangen bin.«
Und es würde sich auch niemand daran stören. Im Gegenteil, einige Leute würden vermutlich sogar erleichtert aufatmen.
»Mir schon.« Sie sah ihn aus einfühlsamen braunen Augen an. Intelligente Augen, die hinter die Maske der Gleichgültigkeit zu blicken schienen, die Nash vor der Welt zur Schau trug. Eine Maske, die er sich schon als Teenager zugelegt hatte, als sein Leben nach dem Tod seiner Eltern völlig auf den Kopf gestellt worden war und Ethan sowohl ihn als auch Dare verlassen hatte.
»Warum sollte es dir etwas ausmachen?«, fragte er, obwohl er wusste, dass er lieber einfach hätte gehen sollen.
Sie zuckte aufreizend die Schulter, sodass seine Aufmerksamkeit auf ihre makellose Haut gelenkt wurde.
»Weil du hier genauso fehl am Platz wirkst wie ich … Mit dem Unterschied, dass du im Gegensatz zu mir kein Fremder in dieser Stadt und in dieser Familie bist.«
Fehl am Platz. Diese Formulierung traf den Nagel auf den Kopf. Wie kam es, dass sie das sogleich erkannt hatte, wo es doch sonst nie jemand zu bemerken schien?
»Ich muss jetzt wirklich los«, sagte er, weil er sich nun noch unwohler in seiner Haut fühlte.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn zurückzuhalten. »Du musst etwas ganz anderes, nämlich dich entspannen«, erwiderte sie und zog grinsend an seiner Krawatte. »Komm, lass uns tanzen.«
Er spähte hinüber zur Tanzfläche, um die sich die übrige Familie versammelt hatte. »Ich habe eigentlich keine Lust, mich hier vor allen zum Affen zu machen.«
»Das musst du auch nicht.« Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn um die Ecke. Unter einer alten Trauerweide angelangt, blieb sie stehen.
Hier konnte man die romantische Musik noch gut hören, aber die Tanzfläche nicht mehr sehen – was bedeutete, dass auch sie nicht gesehen werden konnten. Kelly umklammerte seine Hand etwas fester. Er sollte jetzt wohl das Kommando übernehmen, sonst würde sie ihn führen statt umgekehrt. Also schlang er ihr einen Arm um die Taille, ergriff ihre Hand und begann, sich langsam im Takt zur Musik zu wiegen, eingehüllt in ihren Duft und die Körperwärme, die von ihr ausging.
Eine leichte Brise zauste die langen, herabhängenden Äste des Baumes, worauf Kelly schauderte und sich enger an ihn schmiegte.
Er ließ die Hand nach oben gleiten, auf ihren bloßen Rücken. »Kalt?«, murmelte er mit rauer Stimme.
»Jetzt nicht mehr.«
Er sah ihr in die Augen, in denen sich sein eigenes Begehren widerspiegelte, dann streifte sein Blick ihre vollen Lippen. In seinem Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken, doch nichts hätte ihn davon abhalten können, seinen Mund auf ihre willigen Lippen zu drücken. Bei der leichten Berührung war ihm, als würde ein Stromstoß durch seinen Körper gehen. Ihr Mund war weich und schmeckte nach Champagner, eine berauschende Kombination. Nash hätte nicht sagen können, wie lange der Kuss dauerte, er wusste nur, dass er sich bei Weitem nicht so unschuldig anfühlte, wie er für einen Außenstehenden wirken musste.
Er spürte, wie sein Körper aus dem Dornröschenschlaf erwachte, in den er seit der Scheidung vor zwei Jahren gefallen war. Dass es ausgerechnet Kelly Moss war, die ihn wach küsste, überraschte ihn und brachte ihn zugleich aus der Fassung. Er wollte mehr spüren. Er ließ die Finger über die weiche Haut ihres Rückens nach oben wandern und schmiegte die Hand an ihren Hinterkopf. Als sie einen süßen Seufzer hervorstieß und den Mund öffnete, sodass er sie richtig kosten konnte, ging eine Welle der Hitze und des Verlangens durch seinen Körper.
»Igitt! Da kommt mir ja die Hochzeitstorte hoch!«, rief Tess hinter ihnen angeekelt.
Nash fuhr zurück. »Was zum Teufel machst du hier?«, bellte er, verärgert über die unwillkommene Unterbrechung.
»Ich suche Kelly. Und was macht ihr da?« Tess stemmte die Hände in die Hüften und musterte die beiden fragend.
Ist das nicht offensichtlich? Nash schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Stöhnen. Das Mädchen war wirklich die größte Nervensäge, die ihm je über den Weg gelaufen war.
»Jetzt hast du mich ja gefunden«, sagte Kelly, die bedeutend ruhiger wirkte als er. Als hätte sie die Szene kein bisschen aus der Fassung gebracht. Aber vielleicht war sie ja auch bloß eine verdammt gute Schauspielerin. Jedenfalls schien sie die ganze Sache vollkommen gelassen zu nehmen, während er Tess angeblafft hatte, weil ihn immer noch die von Kelly geweckte Begierde quälte.
»Ethan und Faith wollen mit dir reden«, brummte Tess missmutig.
Offenbar gefiel ihr nicht, was zwischen ihm und ihrer großen Schwester vorgefallen war. Nash dagegen hatte es ausnehmend gut gefallen.
Zu gut eigentlich.
Doch Tess’ bitterbösem Blick nach zu urteilen bedeuteten der Kuss und die Tatsache, dass Nash sie dann auch noch angefahren hatte, einen gewaltigen Rückschritt in seinen Bemühungen, eine Beziehung zu der Kleinen aufzubauen. Mist. Und er hatte gedacht, schlimmer könnte es nicht werden. So konnte man sich täuschen.
»Sag ihnen doch bitte, dass ich gleich komme, ja?«, bat Kelly ihre Halbschwester geduldig.
Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wenn ich keine Lust dazu habe?«
Kelly hob eine Augenbraue. »Soweit ich weiß, bin ich diejenige, die auf dich aufpasst, solange Ethan auf Hochzeitsreise ist, und wenn du nicht die ganze Zeit über auf deinem Zimmer hocken willst, dann solltest du jetzt lieber tun, was ich dir sage.«
Tess verdrehte die Augen und stampfte mit dem Fuß auf – was nicht sonderlich beeindruckend wirkte, da sie zur Feier des Tages ein violettes Kleid und Pumps mit niederen Absätzen trug –, dann stürmte sie von dannen.
»Gut gemacht«, sagte Nash bewundernd, weil Kelly es geschafft hatte, Tess zum Gehorchen zu bewegen, ohne die Stimme zu erheben oder sie anzufahren.
»Ja, ich habe wohl etwas souveräner reagiert als du.« Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Aber das ist nicht mein Verdienst. Du hast ja erlebt, wie sie war, bevor Ethan sie unter seine Fittiche genommen hat. Dieser Wandel geht auf seinen Einfluss zurück, nicht auf mich.« Es schien sie zu bekümmern, dass sie bei Tess nicht so erfolgreich gewesen war.
Dieses Gefühl kam ihm bekannt vor. »Ach, hör mir bloß mit dem heiligen Ethan auf.«
Sie hob eine Augenbraue. »Warum gibt es zwischen Ethan und dir eigentlich ständig Reibereien?«, wollte sie wissen.
Doch Nash hatte nicht die geringste Lust, sich mit ihr über seinen Bruder oder über seine Vergangenheit zu unterhalten. Er stellte ihr eine Gegenfrage, um vom Thema abzulenken. »Erkundigst du dich jetzt nach meinem Leben, um nicht über den Kuss reden zu müssen?«
Ein Lächeln umspielte überraschend ihre Lippen. »Warum sollte ich nicht darüber reden wollen, wo er doch so schön war?«, fragte sie und zog erneut an seiner Krawatte.
Ihre feuchten Lippen schimmerten, verlockend wie ihr neu erwachtes Interesse. Nash vergrub die Hände in den Hosentaschen. Auf diese Weise war es leichter, sie bei sich zu behalten.
»Kelly! Wir warten!«, rief Tess ungeduldig und unterbrach sie damit erneut, was ihn daran erinnerte, weshalb er sich von Kelly ab sofort fernhalten musste.
»Ich komme!«, rief Kelly über die Schulter, ehe sie Nash ein letztes Mal in die Augen blickte. »Wie es aussieht, bekommst du einen Aufschub.« Ihre Augen blitzten schelmisch auf.
Das Funkeln wirkte ansteckend. Sie hatte Mumm, und sie wirkte selbstbewusst und unabhängig. Seine Ex-Frau war das genaue Gegenteil gewesen: süß und schutzbedürftig.
Kelly konnte offensichtlich ganz gut auf sich selbst achtgeben.
Aber Nash hatte nicht vor, sie gleich die Oberhand gewinnen zu lassen. »Ich weiß nicht, was du meinst«, flunkerte er.
Sie tätschelte ihm die Wange. »Mach dir ruhig weiterhin etwas vor.«
Genau das hatte er vor. So lange, bis er sich selbst davon überzeugt hatte, dass diese Frau nur Schwierigkeiten machen und ein Hindernis auf dem Weg zu einer Beziehung mit Tess darstellen würde.
Kelly Moss stand am Fuße der geschwungenen Treppe im Haus von Ethan Barron, das man eigentlich schon als Villa bezeichnen musste. »Nun komm schon, Tess!«, rief sie ins obere Stockwerk. »Wenn du vor der Schule noch etwas essen willst, musst du jetzt mal einen Zahn zulegen!« Es war das dritte Mal binnen fünf Minuten, dass sie Tess zum Frühstück rief.
»Ich komm ja schon!«, ertönte von oben die mürrische Antwort.
Ethan und Faith waren gestern Vormittag zu ihrer Hochzeitsreise aufgebrochen. Sie verbrachten eine Woche auf einer herrlichen einsamen Karibikinsel, wo sie eine eigene Villa mit Butler hatten. Die beidensindechtzu beneiden, dachte Kelly. Dabei konnte sie sich über ihr eigenes Leben im Augenblick auch nicht beklagen, schließlich durfte sie in diesem riesigen Herrenhaus mit eigener Haushälterin wohnen, solange die beiden fort waren.
Tess knallte ihre Zimmertür hinter sich zu, und das Krachen riss Kelly aus ihren Gedanken.
Als ihre Schwester die Treppe heruntergestampft kam, fühlte sich Kelly unwillkürlich an die alten Zeiten erinnert, als sie Tess allein aufgezogen hatte, was ihr mehr schlecht als recht gelungen war. Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Was hast du denn?« Kelly hoffte, dass es ein leicht lösbares Problem war und keines, auf Grund dessen Tess wieder anfangen würde, sich wie eine Wilde aufzuführen.
»Na, was wohl?« Tess zerrte an ihrem marineblauen Faltenrock, der genau wie ihre weiße Bluse und die Kniestrümpfe zu der Schuluniform gehörte, die sie an ihrer neuen Privatschule tragen musste. »Ich hasse diesen Aufzug.«
Kelly verkniff sich wohlweislich, dass dieses Outfit wesentlich kleidsamer war als die schwarzen Grufti-Klamotten, die Tess früher getragen hatte, einschließlich der alten Militärjacke und der Springerstiefel. »Du gewöhnst dich schon noch daran.«
Tess marschierte an Kelly vorbei in die Küche. »Es ist schon ein Monat rum, und ich hasse es immer noch.«
Die Kleider oder die Schule?, fragte sich Kelly, während sie ihrer Schwester in die Küche folgte. »Liegt es daran, dass du keine Röcke magst? Obwohl, auf der Hochzeit hast du freiwillig ein Kleid getragen.« Und sie hatte darin wie eine richtige kleine Lady ausgesehen.
»Es liegt daran, dass ich es tragen muss. Ich hasse es, wenn mir jemand sagt, was ich zu tun habe.«
»Das ist ja ganz was Neues«, murmelte Kelly, die schon seit sie denken konnte für die Erziehung ihrer Schwester zuständig war.
»Das hab ich gehört.«
Kelly grinste. Tess war wirklich wie ausgewechselt, seit sie bei Ethan lebte. Kelly schauderte, wenn sie sich ausmalte, wie es wohl gekommen wäre, wenn sie diese drastische Maßnahme nicht ergriffen hätte.
Leah Moss, ihre Mutter, war eine schwache Frau, von Männern abhängig und nicht in der Lage, sich um Tess zu kümmern. Früher war sie anders gewesen, als Kelly noch klein gewesen war. Aber vielleicht bildete sich Kelly das bloß ein. Möglicherweise lag es auch daran, dass damals noch ihr Vater gelebt und einen positiven Einfluss auf ihre Mutter ausgeübt hatte.
Doch das würde sie wohl nie mehr herausfinden, denn ihr Vater war an einem Herzinfarkt gestorben, als Kelly zwölf gewesen war. Leah hatte sich sofort auf die Suche nach einem Ersatz gemacht, und hatte sich auf eine Affäre mit Mark Barron, ihrem Chef, eingelassen. Obwohl es vom moralischen Standpunkt aus falsch gewesen war, hatte dieser Umstand dafür gesorgt, dass die darauffolgenden Jahre für Kelly einigermaßen ruhig verlaufen waren, selbst nach der Geburt ihrer Halbschwester Tess. Doch nach dem Tod von Mark Barron vor zehn Jahren war es mit Leah endgültig bergab gegangen, und sowohl Kelly als auch Tess hatten darunter gelitten.
Leah hatte sofort ihre Siebensachen gepackt und Tomlin’s Cove, der Nachbarstadt von Serendipity, den Rücken gekehrt, um mit den Mädchen in ein heruntergekommenes Viertel von New York zu ziehen. Offiziell hatte sie ein neues Leben beginnen wollen, doch in Wahrheit hatte sie ihren neuen Wohnort nur deshalb ausgewählt, weil sie hoffte, dort leichter einen neuen Liebhaber zu finden, der sich ihrer annahm. Leider war die Suche nach dem neuen Märchenprinzen erfolglos verlaufen. Leah war zusehends dem Alkohol verfallen und hatte einen abstoßenden Kerl nach dem anderen angeschleppt.
Tess war damals erst vier gewesen, also hatte Kelly mit ihren sechzehn Jahren die Rolle der Erziehungsberechtigten übernommen. Sie hatte es geschafft, die Highschool abzuschließen, gefolgt von einer Ausbildung, die sie sich mit diversen Jobs finanziert hatte. Und dazwischen hatte sie immer wieder für Tess gesorgt.
Glücklicherweise hatten sie damals in einer Privatpension gewohnt, deren Besitzerin, eine großherzige ältere Dame, Kelly unterstützt hatte.
Doch dann war Leah im Vorjahr mit irgendeinem Typen durchgebrannt und hatte ihre jüngste Tochter einfach im Stich gelassen, und danach war Tess schwer traumatisiert gewesen. Gekränkt und voller Zorn hatte sie sich in einen aggressiven, rebellischen Teenager verwandelt und war zu allem Überfluss auch noch an die falschen Leuten geraten. Sie hatte getrunken und geraucht und war schließlich sogar verhaftet worden. In ihrer Verzweiflung hatte sich Kelly an den einzigen Menschen gewandt, an den sie sich aus der Zeit in Tomlin’s Cove noch erinnern konnte – Richard Kane, einen Anwalt in Serendipity, der ihr dann von Ethan Barron erzählt hatte.
Es hatte Kelly schier das Herz gebrochen, ihre kleine Schwester vor der Tür dieses wildfremden Menschen abzusetzen und ihm zu sagen, er solle seiner Rolle als großer Bruder gerecht werden. Doch Kelly hatte gespürt, dass das ihre letzte Hoffnung war. Zum Glück – wer weiß, was sonst aus Tess geworden wäre. Ein paar Monate später war Kelly nun ebenfalls nach Serendipity gezogen, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Endlich hat sich unser Leben zum Guten gewendet, dachte sie, während sie Tess erneut zur Eile antrieb.
Sie machten sich rasch über das Frühstück her, dann lieferte Kelly ihre Schwester in der Schule ab und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Ihren Job verdankte sie – wie so vieles in letzter Zeit – Richard Kane; er hatte ihr nämlich eine Stelle als Anwaltsassistentin angeboten.
Wie jeden Tag legte sie unterwegs einen Zwischenstopp im Cuppa Café ein. Kelly hatte ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet und auch früh gelernt, sparsam zu sein, aber ihr gesamter Tag stand und fiel mit dem morgendlichen Kaffee. Stark und aromatisch musste er sein.
Als Kelly das Café betrat und ihr der köstliche Kaffeeduft in die Nase stieg, fühlte sie sich gleich ein gutes Stück wacher, fast als hätte sie das Koffein gleichsam durch Osmose in sich aufgenommen.
Sie goss sich gerade Milch in ihren großen Becher, da gesellte sich eine vertraute Gestalt mit langer blonder Lockenmähne zu ihr an den Tresen.
»Na, auch wieder da? Nach dir könnte man ja glatt die Uhr stellen«, scherzte Annie Kane.
Kelly grinste sie an. »Dasselbe könnte ich von dir behaupten.«
»Da hast du recht.« Annie lachte und prostete Kelly mit dem Becher zu.
Das Leben in einer Kleinstadt hatte Vor- und Nachteile, und dass einem ständig Bekannte über den Weg liefen, gehörte für Kelly eher in die erste Kategorie. Kelly und Annie kamen jeden Morgen zur selben Zeit ins Cuppa Café, und oft blieben sie auf einen Plausch. Annie entwickelte sich allmählich zu einer richtigen Freundin für Kelly – ihrer bislang einzigen in Serendipity, von Ethans Frau Faith Harrington einmal abgesehen.
Annie war Richard Kanes Tochter, kam allerdings eher nach ihrer Mutter als nach ihrem Vater, jedenfalls nach den Fotos auf Richards Schreibtisch zu urteilen. Sie war Kelly auf Anhieb sympathisch gewesen, als sie sich vor ein paar Wochen in Richards Kanzlei kennengelernt hatten.
Kelly nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee.
»Und, warum bist du jeden Tag so früh auf den Beinen?«
»Weil es mich jung hält«, antwortete Annie.
Kelly verdrehte die Augen. »Du bist jung.« Sie ließ den Blick über Annie gleiten, angefangen beim hellen Baumwollpullover über die Jeans bis hinunter zu den Slip-on-Sneakers. »Ich möchte wetten, dass wir ziemlich genau gleich alt sind.«
»In einem Monat werde ich siebenundzwanzig«, sagte Annie.
»Und ich im Dezember.«
Als Annie den Becher an die Lippen hob und einen Schluck nahm, fiel Kelly auf, dass Annies Hand zitterte.
Kelly hob eine Augenbraue, äußerte sich aber nicht dazu. Stattdessen beschloss sie, etwas für ihr soziales Leben in Serendipity zu tun. »Wie wär’s, wenn wir uns mal zum Mittagessen verabreden, statt uns immer nur hier zwischen Tür und Angel zu unterhalten?« Kelly sehnte sich nach einer richtigen Freundin, nach jemandem, dem sie vertrauen und dem sie alles erzählen konnte. Sie liebte Tess über alles, aber eine Vierzehnjährige war nun einmal kein Ersatz für eine erwachsene Freundin.
»Gern!«, sagte Annie sogleich. »Ich gebe dir meine Nummer.« Als sie in ihre Handtasche griff, begann wie auf ein Stichwort hin ihr Handy zu klingeln. Sie warf einen Blick auf das Display, entschuldigte sich bei Kelly und nahm das Gespräch an. »Hallo?«
Kelly wandte den Blick ab, damit sich Annie nicht belauscht fühlte, kam aber natürlich nicht umhin, die Unterhaltung mitanzuhören.
»Es geht mir besser, danke … Ja … Nein, du musst nicht vorbeikommen. Ich habe den Installateur angerufen, und er meinte, er könnte gegen Abend bei mir vorbeischauen.« Annie schwieg eine Weile, dann fuhr sie fort. »Ich kann es mir durchaus leisten. Es ist nicht nötig, dass du kommst. Für Klempnerarbeiten hattest du noch nie ein gutes Händchen, schon während unserer Ehe nicht«, sagte sie amüsiert.
Sie schwieg erneut, dann sagte sie: »Also gut, wenn du darauf bestehst … Dann bis später.« Es klang eher verärgert als erfreut.
Sie legte auf und steckte das Handy wieder in die Tasche. »Mein Ex-Mann«, erklärte sie Kelly. »Er glaubt, nur weil ich MS habe, muss er mich ständig betüddeln.«
Kelly war überrascht von diesem unerwarteten Bekenntnis. Es tat ihr aufrichtig leid, dass Annie mit einer solchen Diagnose leben musste, noch dazu in diesem Alter. Richard redete in der Kanzlei über alles und jeden, aber die Krankheit seiner Tochter hatte er noch mit keinem Wort erwähnt. Doch Kelly konnte es ihm nicht verdenken, dass er nicht über derart persönliche Dinge sprach. Im Grunde überraschte es sie, dass Annie das Thema angeschnitten hatte.
»Dir ist bestimmt aufgefallen, dass meine Hände zittern, und da es ganz danach aussieht, als würden wir Freundinnen werden, kannst du auch gleich die Wahrheit erfahren«, sagte Annie, als hätte sie Kellys Gedanken gelesen.
Sie wirkte ziemlich gelassen. Offenbar hatte sie sich mit der Situation abgefunden.
Kelly sah ihr in die Augen. »Danke, dass du es mir erzählt hast.«
»Hey, falls ich also eines Tages spurlos verschwinde, dann weißt du wenigstens warum.« Sie zuckte die Achseln, als wäre das alles keine große Sache.
Kelly musste das, was ihr ihre neue Freundin da gerade anvertraut hatte, erst einmal verarbeiten. »Wenn du je irgendetwas brauchst, dann lass es mich wissen.«
Annie lächelte. »Danke, aber ich glaube, mein Ex wird ohnehin immer zur Stelle sein«, sagte sie mit einem etwas gezwungenen Lächeln.
»Ist doch nur von Vorteil, wenn man im Bedarfsfall immer jemanden hat, der einem auf Abruf zur Verfügung steht, oder?«, meinte Kelly.
»Nicht, wenn man eigentlich unabhängig sein will«, brummte Annie. Es klang frustriert, was Kelly durchaus nachvollziehen konnte.
Auch sie brauchte und wollte keinen Mann, der das Bedürfnis verspürte, sich um sie zu kümmern. Im Gegensatz zu ihrer Mutter wollte sie auf eigenen Beinen stehen, ganz egal, wie viele Hindernisse sie überwinden musste – und da kam in nächster Zeit wohl einiges auf sie zu. So stand ihr zum Beispiel noch eine Auseinandersetzung mit einem Mann bevor, den sie einst geliebt hatte. Die Affäre war längst vorbei, doch mit den Folgen würde sie sich wohl noch eine ganze Weile herumschlagen müssen. Kelly würde mit dem daraus resultierenden Chaos schon irgendwie fertigwerden, aber sie musste zusehen, dass Tess davon verschont blieb. Sie wollte nicht, dass die Kleine Klatsch und Tratsch und allerlei versteckten Andeutungen ausgesetzt war, wo sie sich doch gerade so gut entwickelte und nicht mehr ständig Dummheiten machte. Blieb nur zu hoffen, dass die Entfernung zwischen Manhattan und Serendipity helfen würde, Tess aus allem herauszuhalten, sobald die Schwierigkeiten losgingen.
»Männer verstehen uns Frauen einfach nicht«, stellte Annie fest und lieferte Kelly damit eine willkommene Ablenkung von ihren Sorgen.
Kelly schüttelte den Kopf und seufzte. »Nein, das tun sie nicht.«
»Du sprichst wohl auch aus Erfahrung, hm?«, erkundigte sich Annie.
»Ja, leider.« Kelly verzog das Gesicht. Die Erinnerungen an das vergangene Jahr, als man ihr Vertrauen missbraucht und ihr das Herz gebrochen hatte, waren noch allzu frisch.
»Das tut mir leid.« Annie atmete tief durch. »Ich weiß ja nicht, wie es bei dir ist, aber mein Ex meint es nur gut. Er nimmt lediglich das Wort ›Verantwortung‹ viel zu ernst.«
Kelly schluckte schwer. »Und mein Ex-Freund hat das Wort ›Zweierbeziehung‹ viel zu wenig ernst genommen.«
»Entschuldigen Sie«, sagte ein älterer Herr und bedeutete ihnen, dass er zum Tresen wollte, um noch etwas Milch in seinen Kaffee zu gießen.
»Oh, Verzeihung.« Kelly trat zur Seite und steuerte mit Annie auf den Ausgang zu.
»Weißt du was? Ich rufe dich nachher in der Kanzlei an, dann können wir unsere Nummern austauschen und Pläne für’s Mittagessen schmieden«, schlug Annie vor.
Kelly nickte. »Einverstanden.«
Sie verabschiedeten sich und brachen auf. Kelly schlug den Weg zu Richard Kanes Anwaltskanzlei im Stadtzentrum ein. In den Gebäuden, die die Straße säumten, waren im Erdgeschoss diverse Läden untergebracht, und darüber befanden sich Wohnungen – wie ihre Wohnung oberhalb von Joe’s Bar. Nachdem sie jahrelang dem Gewimmel zwischen den Hochhäusern von Manhattan ausgesetzt gewesen war, genoss sie nun das Leben in der Kleinstadt.
Kelly schloss die Tür auf und betrat die Kanzlei jenes Mannes, der ihr dabei geholfen hatte, ihre Halbschwester und ihre Familie zu retten. »Richard?«, rief sie.
Keine Antwort.
Die kleine Kanzlei war leer. Es war ungewöhnlich, dass sie vor Richard eintraf, denn er kam immer früh zur Arbeit und ging erst spät nach Hause, obwohl ihn seine Frau in letzter Zeit des Öfteren ermahnte, etwas kürzerzutreten und sich einen Partner zuzulegen, der ihm ein wenig von der Arbeitslast abnahm.
Kelly setzte sich an ihren Schreibtisch am Fenster ihres geliebten kleinen Büros. Sie wusste bereits, welchen Fall sie zu bearbeiten hatte und was sie heute tun musste. Trotzdem nahm sie wie immer ihren Kalender zur Hand, um sicherzugehen, dass sie keine Termine versäumte. Sie blätterte ihn auf und ging die To-do-Liste durch, die sie am Freitag geschrieben hatte, bevor sie ins Wochenende gestartet war.
19:00 Uhr – Elternabend an Tess’ Schule.
Ethan war nicht da, deshalb würde sie mit Dare hingehen. Das war ihr bedeutend lieber als sich mit dem anderen Barron-Bruder zu treffen. Mit dem, den sie seit dem Kuss am Samstag ganz bewusst aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte.
Und was für ein Kuss das gewesen war!
Kelly konnte ein äußerst gutes Pokerface zur Schau stellen, aber sie war nicht sicher, ob ihre Nonchalance überzeugend gewirkt hatte, nachdem sie von Tess gestört worden waren. Ihre Schwester hatte zwar den ganzen Abend geschmollt, aber mit keinem Wort erwähnt, was sie gesehen hatte, und sie hatte es auch am nächsten Tag nicht zur Sprache gebracht. Wenn Tess nicht darüber redete, würde Kelly das ebenso wenig tun.
Und Nash schien die Angelegenheit ebenfalls totschweigen zu wollen, denn er hatte nichts von sich hören lassen. Was ihr ganz und gar nicht gefiel.
Sicher, sie war ein bisschen beschwipst gewesen und hatte ihm mit ihrem provokativen Benehmen ordentlich eingeheizt, aber seine Reaktion war unmissverständlich gewesen: Der Kuss hatte ihm gefallen. Doch sein Verhalten danach war schwer zu deuten.
Nun, es sollte ihr ohnehin völlig egal sein, was Nash dachte oder fühlte. Das Leben ihrer Mutter und ihre eigene Vergangenheit hatten sie gelehrt, dass man sich auf niemanden verlassen konnte außer auf sich selbst. Ja, sie fühlte sich zu Nash hingezogen, aber seine Gefühle spielten in dieser Sache keine Rolle. Selbst wenn er interessiert wäre, Tess würde es Kelly garantiert übel nehmen, wenn sie sich mit ihm einließ, und sei es nur auf eine kurze Affäre. Und etwas anderes als das kam für Kelly in nächster Zeit ohnehin nicht infrage.
Kapitel 2
Nash betrat das gemütliche Restaurant, in dem er mit Dare wie so oft zum Mittagessen verabredet war. Sie standen sich seit jeher nahe, und so würde es auch immer bleiben. Nicht einmal die Tatsache, dass sie bei unterschiedlichen Pflegeeltern aufgewachsen waren, hatte die beiden voneinander entfremden können.
Das Restaurant, das eingerichtet war wie ein typisches Diner, befand sich am Stadtrand und war seit zwei Jahrzehnten ein fester Bestandteil von Serendipity. Es gehörte der Familie Donovan und wurde von einer Generation an die nächste weitergegeben, wenn die Umstände es erforderten.
Nash winkte Macy Donovan, der derzeitigen Besitzerin, die mit ihm die Schulbank gedrückt hatte, ehe die Rossmanns ihn adoptiert und auf eine Privatschule geschickt hatten. Sie winkte zurück und deutete auf seinen Bruder, der an einem Tisch im hinteren Teil des Restaurants saß.
Dabei war Dare in seiner blauen Polizeiuniform ohnehin kaum zu übersehen. Nash nahm auf der zerschlissenen Vinylbank gegenüber von ihm Platz.
»Meine Mittagspause fällt heute leider eher kurz aus, weil ich nicht viel Zeit habe. Ich hab schon mal für dich mitbestellt; ich hoffe, das ist dir recht«, sagte Dare.
Nash, der sich als Anwalt seine Arbeitszeit relativ frei einteilen konnte, nickte. »Ist in Ordnung, danke.« Er winkte einer rothaarigen Kellnerin mittleren Alters, die in den Donovan-Clan eingeheiratet hatte.
»Was darf’s denn sein?«, fragte Gina freundlich lächelnd.
»Eine Cola bitte«, sagte Nash.
Gina beäugte Dares leeres Glas. »Das Gleiche noch mal, Officer?«
Dare nickte.
»Bin gleich wieder da«, versprach Gina.
»Danke«, antworteten Dare und Nash im Chor.
Nash lehnte sich zurück. »Na, hast du dich schon von der Hochzeit erholt?« Ihm war nicht entgangen, dass Dare seinen freien Tag sehr genossen hatte.
Dare lachte. »Ja. Ein Glück, dass ich am Sonntag keinen Dienst hatte, sonst hätte es ziemlich ungemütlich werden können.«
»Wer sagt, dass es das nicht war?«, fragte Nash, der sich auf der Hochzeit nicht halb so gut amüsiert hatte wie sein Bruder.
Bis ganz am Schluss, als ihn eine sexy Frau aus heiterem Himmel zum Tanzen aufgefordert und ihm mit einem Kuss den Atem geraubt hatte.
»Ach, komm, alles in allem war es doch eine schöne Feier, nicht?«
»Findest du?« Nash war wieder einmal erstaunt, dass Dare im Gegensatz zu ihm selbst das Leben so positiv sah, obwohl er in einer Pflegefamilie aufgewachsen war, in der es trotz staatlicher Zuschüsse immer zu wenig Geld für die vielen Kinder gegeben hatte.
Dare nickte grinsend und drapierte einen Arm über die Rückenlehne der Bank. »Tess hat sich anständig benommen, du und Ethan habt es geschafft, einander nicht an die Kehle zu gehen, und Lanie Harrington hat sich ausnahmsweise zurückgehalten, was ihre bissigen Bemerkungen über uns Barrons anging.«
»Aber auch nur, weil die Gute vollauf mit ihrem Weinglas beschäftigt war.« Jeder in Serendipity wusste, dass sich Faiths Mutter für etwas Besseres hielt, selbst jetzt noch, nachdem ihr Ehemann den Namen Harrington in den Schmutz gezogen hatte.
Dare zuckte die Achseln. »Naja, ich schätze, wenn ich mein Haus und mein Vermögen verloren hätte, weil mein Ehemann viele Menschen um ihr Geld betrogen hat, würde ich mich jeden Tag volllaufen lassen, und nicht nur zu besonderen Anlässen.« In seiner Miene spiegelte sich eher Mitgefühl als Antipathie.
Durch den Betrugsskandal hatten zahlreichen Familien in Serendipity, darunter auch Nashs Pflegeeltern, beträchtliche Geldsummen verloren. Nash vertrat viele der Geschädigten als Anwalt, aber es wurde mit jedem Tag unwahrscheinlicher, dass sie je eine Entschädigung bekommen würden. Nur Ethan hatte indirekt davon profitiert. Er hatte eine Ausbildung bei der Armee absolviert und dank seiner Softwarekenntnisse ein Computerprogramm für Militärflugzeuge entwickelt, das er an die US-Armee verkauft hatte. Mit dem Geld hatte er dann die Harrington-Villa erstanden, die versteigert werden musste, nachdem Faiths Vater ins Gefängnnis gewandert war.
Nash lehnte sich etwas zurück, während Gina ihnen das Essen servierte. »Danke Gina.«
»Gern geschehen. Mein Mann Tony lobt euch immer in den höchsten Tönen. Ein Anwalt und ein Polizist – eure Eltern wären stolz auf euch, sagt er immer.«
Nash sah schweigend zu seinem Bruder. Sein vielsagender Blick zeugte von all dem Kummer, den sie in der Vergangenheit gemeinsam durchlebt hatten. »Sag ihm einen schönen Gruß von uns und danke.«
»Mach ich«, sagte Gina, dann wechselte sie das Thema. »Kann ich euch sonst noch irgendetwas bringen?«
Nash schüttelte den Kopf. »Ich bin versorgt.«
»Ich ebenfalls«, sagte Dare. Als Gina gegangen war, beugte er sich über den Tisch. »So. Wo waren wir gerade?«
»Bei den Harringtons.« Ein Thema, das die Bewohner von Serendipity nie müde wurden zu diskutieren.
»Richtig.« Nash versah seinen Burger mit einer ordentlichen Dosis Ketchup und reichte die Flasche an Dare weiter.
»Ich hätte ja Mitleid mit Lanie Harrington, wenn ich sicher sein könnte, dass sie von den Machenschaften ihres Mannes nichts geahnt hat. Aber die beiden haben unter einem Dach gewohnt. Wie zum Geier kann es sein, dass sie nie etwas bemerkt hat, während er jeden einzelnen seiner Klienten betrogen hat?« Und zwar nicht nur Fremde, sondern auch Freunde und Familienmitglieder.
Dares Miene verfinsterte sich. »Es wäre nicht das erste Mal, dass sich zwei Leute nahe sind, womöglich sogar unter einem Dach wohnen und trotzdem lange nicht so viel voneinander wissen, wie sie denken«, sagte er mit einer Gewissheit und in einem Tonfall, den Nash nur selten von ihm hörte.
Da Nash nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, biss er stattdessen in seinen saftigen Hamburger. Sie aßen schweigend. Dares plötzlicher Stimmungsumschwung erinnerte ihn daran, warum sie sich normalerweise hüteten, über die Vergangenheit zu reden.
Nash zog es vor, in der Gegenwart zu leben. Das hatte auch ganz gut geklappt, bis Ethan in die Stadt zurückgekehrt war, und mit ihm zahlreiche schmerzhafte Erinnerungen.
»Du wolltest mich doch um einen Gefallen bitten«, erinnerte er seinen Bruder, nachdem er seinen Burger verdrückt hatte.
Dare wischte sich mit einer Serviette die Hände ab und warf das Knäuel auf den Tisch. »Wir sind zurzeit unterbesetzt, weil in unserer Abteilung die Grippe grassiert, also muss ich heute Abend eine Extraschicht einschieben.«
»Das ist natürlich Pech.«
Dare nickte. »Dummerweise ist ausgerechnet heute der Elternabend an Tess’ Schule. Du müsstest mich vertreten.«
»Da wird Tess aber gar nicht begeistert sein«, gab Nash zu bedenken.
Nash hatte keine Einwände erhoben, als Dare angeboten hatte, statt Ethan am Elternabend teilzunehmen. In Anbetracht des feindseligen Benehmens, das Tess Nash gegenüber an den Tag legte, konnte man davon ausgehen, dass es ihr bestimmt lieber wäre, wenn es dabei bliebe.
»Ganz sicher nicht«, gab Dare ihm Recht, »aber du musst mich trotzdem vertreten.«
Nash hatte auch gar nicht vor, sich zu drücken. »Kein Problem. Ich ziehe dann einfach eine Ritterrüstung an, wenn ich Tess hinterher davon berichte.«
»Dir ist schon klar, warum sie dich nicht ausstehen kann, oder?«
»Sie vergöttert Ethan und hasst mich, weil ich es nicht tue.«
Dare lachte.
»Ich finde das gar nicht witzig. Ich tue gern alles in meiner Macht Stehende, um sie für mich einzunehmen, aber ich weigere mich, vor Ethan zu Kreuze zu kriechen.«
Dare bedeutete Gina, dass er zahlen wollte. »Das erwartet auch niemand von dir. Ethan weiß ganz genau, dass das, was er uns angetan hat, nicht in Ordnung war. Aber wir können die Vergangenheit nun einmal nicht ändern.« Wieder huschte ein Schatten über sein Gesicht.
Nash fröstelte, wie immer, wenn seinen sonst so optimistischen Bruder unvermittelt die Schwermut packte. In solchen Augenblicken wusste er nie so recht, wie er reagieren sollte. Er empfand dieselbe Rat- und Hilflosigkeit wie damals, als Richard Kane ihm eröffnet hatte, dass sie nicht bei derselben Pflegefamilie aufwachsen würden.
Bei der Erinnerung daran schauderte er.
Dare schien es nicht zu bemerken. »Wir müssen einfach nach vorne blicken.«
»Ich gebe mir die größte Mühe, mit Ethans Rückkehr klarzukommen«, sagte Nash.
»Ich weiß, und später, wenn Tess etwas älter ist, wird sie das auch erkennen. In der Zwischenzeit gehst du mit Kelly auf den Elternabend. Hol sie um sieben ab. Es geht um halb acht los.«
»Kelly?« Schon bei der bloßen Erwähnung ihres Namens war Nashs Kehle plötzlich wie ausgedörrt.
Dare hob eine Augenbraue. »Hast du etwa angenommen, ich würde da allein hingehen? Natürlich will Kelly wissen, ob sich Tess in Birchwood schon einigermaßen eingewöhnt hat.« Er musterte Nash mit einem amüsierten Grinsen. »Sag bloß, mit Kelly hast du auch Probleme.«
Nash runzelte die Stirn. »Offensichtlich kennst du die Antwort bereits. Wer hat es dir erzählt?«, fragte er resigniert.
»Unsere kleine Schwester war nicht gerade erfreut darüber, dass du – ich zitiere ›Kelly die Zunge in den Hals gesteckt hast‹.«
Nash lief rot an. »Das war ein Versehen.«
Auf Dares dröhnendes Lachen hin wandten sich mehrere Gäste zu ihnen um. »Dass du Kelly die Zunge in den Hals gesteckt hast oder dass dich Tess dabei erwischt hat?«, hakte er nach, wobei er immerhin die Stimme senkte. »Also, ich weiß ja nicht genau, was da zwischen euch lief, aber du wolltest Kelly doch von dem Augenblick an, als du sie das erste Mal gesehen hast.«
Unsinn, hätte Nash am liebsten gerufen, doch er schluckte die unreife Antwort hinunter. Wozu das Offensichtliche leugnen und die Unterhaltung unnötig in die Länge ziehen?
»Das hat doch keine Zukunft«, sagte er stattdessen.
»Warum nicht? Du bist schließlich nicht mehr verheiratet, auch wenn du dich deiner Ex-Frau gegenüber immer noch benimmst wie ein überfürsorglicher Ehemann.«
Nash umklammerte die Tischkante. »Sie braucht jemanden, der ihr hilft.«
»Dann lass das doch jemanden machen, der aus der Beziehung mit ihr auch einen Nutzen zieht.« Dare und Nash hatten sich seit jeher um das Wohlergehen des anderen gesorgt. »Hör zu, Nash, du spielst die Rolle des Beschützers, seit sich Ethan vor zehn Jahren aus dem Staub gemacht hat. Du hast mir Klamotten und sogar Essen abgetreten. Aber es kann doch nicht dein erklärtes Lebensziel sein, nur nicht so zu werden wie er.«
Nash schnappte nach Luft. Dares schonungslose Offenheit traf ihn reichlich unerwartet. »Auf diese Diskussion lasse ich mich ganz sicher nicht ein.«
»Okay, okay.« Dare hob ergeben die Hände.
»Und was meine Ex angeht: Wir sind Freunde«, fuhr Nash fort.
Dare verdrehte die Augen. »Und Kelly? Was ist sie für dich?«
Genau da lag das Problem.
Nash hatte keine Ahnung. Aber dank der Planänderung bekam er ja nun eine Gelegenheit, es herauszufinden.
Als Nash am selben Abend vor der Villa seines Bruders stand, war es bereits herbstlich kühl, und die leichte Brise tat ein Übriges. Tagsüber kletterte das Thermometer inzwischen kaum mehr über 18 Grad, dabei hatten bei der Hochzeit noch sommerliche Temperaturen geherrscht. Nash trug noch das Sportsakko, in dem er zur Arbeit gegangen war, und drückte fröstelnd auf die Klingel.
Binnen Sekunden schwang die Tür auf, und Tess stand vor ihm. Ihre einst pechschwarz getönten Haare waren inzwischen wieder braun, und die violette Haarsträhne war fast vollständig herausgewachsen. In ihrer grauen Jogginghose und dem bedruckten T-Shirt sah sie aus wie ein ganz normaler Teenager. Nash nahm die Veränderungen erfreut zur Kenntnis.
Doch seine Freude währte nur kurz. »Ach, du bist es bloß«, brummte Tess. Die übliche Begrüßung.
»Freundlich wie immer, hm?«
Tess verschränkte schweigend die Arme vor der Brust.
Nash versuchte, seinen Frust im Zaum zu halten und ruhig zu bleiben. »Darf ich reinkommen?«
»Was willst du hier? Ich dachte, Dare geht mit Kelly zum Elternabend.«
Und schon geht es los, dachte Nash. »Dare muss arbeiten. Ich springe für ihn ein.«
»Na, toll.«
Nash zwang sich zu lächeln, dabei stand er nach wie vor auf dem Fußabstreifer, als wäre er ein Fremder, bei dem sie nicht sicher war, ob sie ihm über den Weg trauen konnte. »Also, kann ich jetzt reinkommen oder nicht?«
Tess wich zur Seite, und Nash trat ein und schloss die Tür hinter sich. Sie starrten einander einen Augenblick wortlos an.
»Und, wie läuft’s in der Schule?«, erkundigte er sich schließlich.
»Ich schätze, das wirst du bald herausfinden«, flötete sie zuckersüß und ging zur Treppe.
Nash gab auf. »Ist Kelly fertig zum Gehen?«
Tess wandte sich um. »Kelly!«, brüllte sie nach oben. »Dein Lover ist da, um dich abzuholen.«
Nash schnitt eine Grimasse. Normalerweise würde er sich von Tess nicht diktieren lassen, was er tat und mit wem, aber er konnte nachvollziehen, dass sie den Kuss zwischen Kelly und ihm als Bedrohung empfunden hatte. »Hör zu, was das angeht …«
Sie hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Lass stecken. Was auch immer du zu sagen hast, ich will es nicht hören. TMI.«
Er schloss flüchtig die Augen, dann fragte er: »Okay, was bedeutet TMI?«, wohlwissend, dass er sich mit dieser Frage zweifellos als ahnungsloser alter Knacker outen würde.
Sie verdrehte sichtlich entnervt die Augen. »Too much information.« Dann holte sie tief Luft und brüllte erneut – noch lauter – »Kelly!«
»Ich komme.« Kelly erschien auf dem oberen Treppenabsatz.
In ihren schwarzen Leggings, dem langen, violetten Top und dem Silbergürtel wirkte sie mal wieder überaus sexy. Kein Wunder, dass er ständig an sie denken musste.
Er schüttelte den Kopf und rief sich in Erinnerung, dass das hier kein Date war. Dass sie Tess’ Schwester und somit tabu für ihn war, wenn er seine Chancen bei Tess nicht vollständig verspielen wollte. Wobei er nicht das Gefühl hatte, dass er überhaupt welche hatte. Trotzdem. Tess ging vor.
»Hi!«, sagte Kelly und kam die Treppe herunter. »Dare hat mir eine SMS geschickt und mir Bescheid gegeben, dass du mitkommst. Tess, das nächste Mal lässt du deinen Bruder nicht mehr im Korridor stehen sondern führst ihn ins Wohnzimmer«, rügte sie ihre Schwester.
»Schon gut, wir haben ein bisschen geplaudert.« Nash sah zu Tess. Würde sie es wagen, ihm zu widersprechen und sich noch mehr Ärger einzuhandeln?
»Oh.« Kelly wirkte überrascht. »Na, dann ist ja alles bestens. Ich ziehe nur noch meine Schuhe an, dann können wir gehen.« Sie öffnete eine Schranktür und holte ein Paar Stiefel heraus.
Kniehohe Stulpenstiefel mit Zierschnallen am Schaft, die verdammt sexy aussahen.
Nash unterdrückte ein Stöhnen. »Was steht denn heute Abend genau an?«, fragte er Tess, um Ablenkung bemüht, während sich Kelly mit dem Rücken zu ihm bückte, um in ihre Stiefel zu schlüpfen.
Tess zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen?«
»Nun sei doch nicht so unhöflich, Tess!« Kelly schnappte sich eine Lederjacke von einem Kleiderbügel und schloss die Schranktür, dann gesellte sie sich zu ihnen. »Wann immer ich meine Schuhe oder meine Jacke in meinem Zimmer liegen lasse, räumt Rosalita alles in die Garderobe, als würde ich hier wohnen«, bemerkte sie etwas verlegen.
»Das ist doch ihr Job, oder?«
»Keine Ahnung. Bei uns gab es kein Hausmädchen.«
Nashs leibliche Eltern hatten ebenfalls keine Dienstboten gehabt, aber die Rossmanns hatten eine Frau namens Consuela beschäftigt, die in etwa dieselben Aufgaben erfüllt hatte wie Rosalita hier. Doch Nash sah keinen Sinn darin, sich in langen Erklärungen zu ergehen.
ENDE DER LESEPROBE