Liebe auf den ersten Kuss - Carly Phillips - E-Book

Liebe auf den ersten Kuss E-Book

Carly Phillips

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Beschreibung

Als Erin Marsden, Tochter des ehemaligen Polizeichefs von Serendipity, feststellt, dass sie schwanger ist, steht ihre heile Welt Kopf. Denn Vater ihres ungeborenen Babys ist der mysteriöse Ex-Cop Cole Sanders, den ein dunkles Geheimnis umgibt. Aber während Erin tiefere Gefühle entwickelt, geht Cole auf Distanz. Erst als Erin von einer Unbekannten wiederholt attackiert wird und Schutz braucht, erkennt Cole in ihr die Frau, die ihn glücklich machen kann – und stellt sich seiner Vergangenheit.

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CARLY PHILLIPS

Liebe auf den ersten Kuss

Aus dem Amerikanischen

von Ursula C. Sturm

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe PERFECT FLING erschien 2013

bei The Berkeley Publishing Group, New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 05/2014

Copyright © 2013 by Carly Phillips

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

unter Verwendung von © Getty Images/Pando Hall

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN: 978-3-641-12532-5

www.heyne.de

In liebevoller Erinnerung an meinen Vater, Leonard Weinberg (6. August 1941–10. Oktober 2012). Daddy, du warst der beste Mensch, der mir je untergekommen ist, und alle, die dich kannten, können das bestätigen. Ich hoffe, ich habe dir zeit deines Lebens jene Wertschätzung entgegengebracht, die du verdienst. Ich weiß, du bist bei mir, obwohl du fort bist, auch wenn es noch etwas dauert, bis ich dich spüren kann. Ich widme dieses Buch dir, weil du mich geliebt und an mich geglaubt hast, und weil du mich davon überzeugt hast, dass ich alles erreichen kann, was ich mir vornehme. Irgendwann fing ich selbst an, daran zu glauben – und sieh nur, wie weit ich es inzwischen gebracht habe. Das verdanke ich nur dir. Ich liebe dich und vermisse dich unsäglich.

Kapitel 1

Erin Marsden war schon immer ein artiges, anständiges Mädchen gewesen, das stets die Erwartungen der anderen erfüllte. Schließlich war sie die einzige Tochter des ehemaligen Polizeichefs von Serendipity, und ihre zwei überfürsorglichen Brüder arbeiteten beide ebenfalls bei der Polizei. Der ältere der beiden war sogar der neue Polizeichef der Stadt. Erin selbst war in der hiesigen Bezirksstaatsanwaltschaft tätig und leistete sich prinzipiell keine Fehltritte – allerdings eher aus Angst davor, ihre Familie zu enttäuschen und nicht so sehr, weil sie fürchtete, aus der Rolle zu fallen, der sie ihr ganzes Leben lang treu gewesen war.

Jedenfalls bis gestern Nacht.

Sie blinzelte und ließ den Blick durch das Zimmer wandern: ein fremdes Bett, ein Raum, der ihr nicht bekannt vorkam. Sie war splitterfasernackt, und neben ihr lag ein warmer, männlicher Körper, nackt wie sie selbst.

Cole Sanders.

Sie betrachtete sein etwas zu langes, zerzaustes Haar und den durchtrainierten Oberkörper und schauderte wohlig, als sie registrierte, dass sie die Nachwirkungen ihrer nächtlichen Aktivitäten noch am ganzen Leib deutlich spüren konnte. Oh ja, sie hatte den festgefahrenen Pfad verlassen und dabei nicht bloß eine Hundertachtziggradwende vollzogen, sondern sich auf etwas eingelassen, das so gar nicht zum Image des anständigen Mädchens passte: auf einen One-Night-Stand.

Ein One-Night-Stand.

Schon bei dem Gedanken daran schwindelte ihr, und eine leichte Übelkeit stieg in ihr hoch, als sie im Geiste noch einmal die verschiedenen Stationen auf dem Weg durchging, der sie hierher geführt hatte. Gestern hatte alles begonnen, auf der Hochzeit ihres Bruders Mike, wo sie sich inmitten von Familienangehörigen und Freunden ihres Single-Daseins nur zu bewusst gewesen war. Lauter glückliche, verliebte Paare, soweit das Auge reichte. Irgendwann hatte sie sich abgesetzt, aber da sie keine Lust gehabt hatte, schon nach Hause zu gehen, hatte sie unterwegs noch einen Abstecher in Joe’s Bar gemacht. Fehler Nummer eins. Dort hatte sie mit einem alten Freund getanzt und zugelassen, dass Cole Sanders abklatschte. Fehler Nummer zwei. Sie kannte Cole von früher und erinnerte sich noch lebhaft daran, wie sie sich eines Nachts mit sechzehn geküsst hatten, bevor er tags darauf die Stadt für lange Zeit verlassen hatte.

Beim Tanzen hatte er sie an seinen stahlharten Körper gedrückt, und der schwermütige Blick seiner dunkelblauen Augen hatte ihr schier das Herz zerrissen. Dann – Fehler Nummer drei – hatte sie sich eingestanden, dass es heftig zwischen ihnen knisterte, ein Umstand, den sie, seit er wieder in der Stadt war, beide tunlichst ignoriert hatten. Und zu guter Letzt war sie aufs Ganze gegangen und ihm bereitwillig nach oben in sein Apartment über der Bar gefolgt, wo sie sich die ganze Nacht miteinander vergnügt hatten.

Und, oh Gott, der Sex mit Cole war fantastisch gewesen. Einfach phänomenal. Wer hätte gedacht, dass es dabei derart heiß hergehen konnte? Am liebsten hätte sich Erin wie eine zufrieden schnurrende Katze gestreckt, doch sie ließ es bleiben, um den leise schnarchenden Mann neben sich nicht zu wecken.

Obwohl Jed Sanders ein guter Freund ihrer Eltern war, wusste sie kaum etwas über Cole, genau wie die anderen Bewohner von Serendipity, einschließlich ihres Bruders Mike, der früher einer seiner besten Kumpels gewesen war. Coles Vater Jed war bis vor einem Jahr der stellvertretende Polizeichef von Serendipity gewesen, sprach allerdings nie von seinem Sohn. Laut Mike war Cole einige Tage vor dem Abschluss aus der Polizeiakademie ausgetreten. Was er danach getrieben hatte, wusste niemand so genau, aber die Gerüchteküche in ihrer kleinen Stadt brodelte heftig. Mal wurde gemunkelt, Cole stehe in Manhattan mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung, mal hieß es, er sei der Anführer eines Drogen- und Prostitutionsrings. Erin konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass er derart auf die schiefe Bahn geraten war, schließlich kannte sie ihn gewissermaßen seit der Kindheit. Wobei sie zugegebenermaßen nicht allzu viel mit dem aufmüpfigen Teenager zu tun gehabt hatte, der sich regelmäßig mit seinem strengen Vater angelegt und sich nie um Regeln geschert hatte.

Trotzdem glaubte sie nach wie vor, dass Cole ein anständiger Bursche war, selbst wenn das etwas naiv sein mochte.

Wie dem auch sei, jetzt galt es erst einmal, sich möglichst unbemerkt vom Acker zu machen. Leider war Erin weitgehend unbeleckt, was das Verhalten am »Morgen danach« anging. Ihre bisherigen Affären waren eher beschaulich bis eintönig gewesen und allesamt auf dieselbe Art und Weise zu Ende gegangen, nämlich mit einem höflichen »Es liegt nicht an dir, sondern an mir« von ihrer Seite. In die Verlegenheit, sich aus der Wohnung eines Mannes schleichen zu müssen, war sie bislang noch nie gekommen.

Noch einmal betrachtete sie Coles breite Schultern, die sich mit jedem Atemzug hoben und senkten und schauderte erneut beim Anblick seiner tätowierten Arme, deren Muskeln wie von harter körperlicher Arbeit gestählt wirkten.

Tief durchatmen, Erin.

Sie zwang sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Habseligkeiten waren im gesamten Zimmer verstreut, und ganz nebenbei bemerkt war ein Brautjungfernkleid wohl eher hinderlich, wenn man sich unauffällig aus dem Haus schleichen wollte. Mit einem letzten Blick auf den Mann, der in der vergangenen Nacht buchstäblich die Erde hatte beben lassen, glitt Erin unter der warmen Decke hervor und machte sich auf die Suche nach ihrem Kleid. Ah, da lag es ja. Just als sie sich bückte und die Hand danach ausstreckte, ertönte hinter ihr Coles tiefe Stimme.

»Hätte nicht gedacht, dass du zu der Sorte Frau gehörst, die sich sang- und klanglos aus dem Staub macht«, stellte er ungeniert fest. Sein Tonfall war lässig-verschlafen.

Erin wäre am liebsten im Boden versunken. Warum musste er ausgerechnet jetzt aufwachen, wo sie ihm den nackten Allerwertesten hinstreckte? Sie hob hastig das Kleid vom Boden auf und wirbelte herum, wobei sie sich bemühte, ihren Körper züchtig zu verdecken, denn inzwischen war sie wieder ganz das anständige Mädchen, das sie noch vor vierundzwanzig Stunden gewesen war.

»Ich kenne bereits jeden Zentimeter von dir in- und auswendig«, erinnerte Cole sie, ohne den verschlafenen Blick von ihr abzuwenden.

Erin wurde rot und beschloss, diesen Kommentar einfach zu übergehen und sich stattdessen auf seine erste Bemerkung zu konzentrieren. »Für welche Sorte Frau hast du mich denn gehalten?«

Er richtete sich auf und rutschte nach oben bis zum Kopfteil des Bettes. Mit seinen zerstrubbelten schwarzen Haaren wirkte er so unwiderstehlich attraktiv, dass sie sich am liebsten gleich wieder zu ihm gesellt hätte. Was jedoch aus mehreren Gründen völlig ausgeschlossen war: Erstens war ein One-Night-Stand schon per definitionem vorbei, sobald der Morgen graute, zweitens hatte Cole sie zu ihrer großen Enttäuschung mit keinem Wort dazu aufgefordert, und drittens war ihr Auftritt als unanständiges Mädchen ein einmaliger Ausrutscher gewesen. Heute Morgen, ohne Alkohol im Blut, hatte die brave Erin wieder die Oberhand gewonnen, und mit ihr die Schamhaftigkeit. Leider.

Cole lehnte sich zurück, die Finger hinter dem Kopf verschränkt, und betrachtete sie eingehend. Die Decke war ihm bis unter den Nabel gerutscht, und Erin musste sich sehr zusammenreißen, um nicht auf seinen flachen Bauch und die Wölbung unter der Decke zu starren.

»Jedenfalls nicht für die Sorte ›verklemmter Feigling‹, nach deinem forschen Verhalten gestern Abend.« Er hob eine Augenbraue.

Lächelte der Mann eigentlich nie? »Und ich hätte nicht gedacht, dass du zu dem Typ Mann gehörst, der am Morgen nach einem One-Night-Stand noch gern ausgiebig plaudert.«

Sie fragte sich, warum er sie nicht einfach hatte gehen lassen, selbst wenn er bereits wach gewesen war. Damit wäre ihnen diese peinliche Unterhaltung erspart geblieben. Andererseits wäre sie vermutlich früher oder später ohnehin fällig gewesen. So gesehen konnten sie es genauso gut gleich hinter sich bringen.

»Du findest also, ich war forsch«, zitierte sie ihn und straffte die Schultern ein wenig.

Im Job war Erin knallhart – das musste sie sein, um ihrem Chef Kontra geben und sich gegen die Strafverteidiger und deren Klienten durchsetzen zu können. Aber dass sie im Umgang mit Männern forsch war, das hörte sie jetzt zum ersten Mal, und sie fasste es beinahe als Kompliment auf.

»Okay, ich habe die Bar mit dir zusammen verlassen, dazu gehörte in der Tat eine ordentliche Portion Courage«, räumte sie mit einem Anflug von Stolz ein.

Cole musterte sie, ohne eine Miene zu verziehen, aber sie hätte schwören können, dass seine Augen amüsiert aufblitzten, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.

»Mit ›forsch‹ meinte ich eigentlich dein Verhalten im Bett.«

Es klang durchaus anerkennend, sodass Erins Herz unwillkürlich schneller schlug. Sie errötete, murmelte »Danke« und hätte sich im selben Moment am liebsten geohrfeigt. Hatte sie das wirklich gerade gesagt?

ColeschenkteihreinsexyLächeln,dassieniemehrvergessenwürde.»AberumzumAnfangunsererUnterhaltungzurückzukommen:Nein,ichhattenichterwartet,dassdudicheinfachhinausschleichst.BereustdudieNachtmitmiretwabereits?«,fragteer,wobeidieFragesiemehrerstauntealsseinangriffslustigerTonfall.

Sie schüttelte ohne zu zögern den Kopf. »Überhaupt nicht.« Es stimmte sie traurig, dass er so von ihr dachte, aber es überraschte sie nicht. Die Bürger der Stadt hatten ihn nicht gerade mit offenen Armen empfangen, und wenn sie von den Ereignissen der vergangenen Nacht erfuhren, würden sie sich bestimmt fragen, ob Erin den Verstand verloren hatte. Sollten ihre Brüder je dahinterkommen … Nicht auszudenken! Doch Reue verspürte sie bislang keine, und daran würde sich wohl auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Außerdem wollte sie Cole auf keinen Fall den Eindruck vermitteln, dass es ihr peinlich war, mit ihm geschlafen zu haben.

»Du überraschst mich«, gab er zu, während er sie aufmerksam betrachtete. »Und ich hatte gedacht, es gibt nichts mehr auf dieser Welt, das mich noch überraschen kann.«

Es klang, als hätte er in seinem Leben schon zu viel gesehen und erlebt. Erin hätte gern nachgehakt und bei Bedarf ein paar tröstende Worte gesagt, doch ehe sie den Gedanken weiter verfolgen oder ihn gar in die Tat umsetzen konnte, sprach Cole weiter.

»Aber dein Bauchgefühl trügt nicht, was mich angeht: Es ist mir tatsächlich lieber, wenn sich der Morgen danach nicht unnötig in die Länge zieht.«

Enttäuschung machte sich in ihrem Herzen breit, und das fand Erin höchst bedenklich. Bloß nicht allzu lange darüber nachdenken. »Gut zu wissen, dass wir diesbezüglich dieselben Ansichten vertreten«, antwortete sie leichthin und zwang sich zu einem Grinsen, obwohl ihr eigentlich nicht der Sinn danach stand.

Nun, da der Abschied nahte, war Erin nicht bloß verlegen, sie bedauerte es auch mehr, als sie erwartet hatte. Tja, das hatte sie jetzt davon, dass sie sich auf einen One-Night-Stand mit einem Kerl eingelassen hatte, für den sie schon als blutjunges Schulmädchen eine Schwäche gehabt hatte.

»War ja nur ein One-Night-Stand. Du musst also nicht befürchten, dass es noch einmal vorkommt«, fügte sie so schnippisch wie nur irgend möglich hinzu.

»Jammerschade«, murmelte er, und Erin hob erstaunt den Kopf.

»Und genau deshalb muss es auch bei einem One-Night-Stand bleiben«, fuhr er fort, so leise, als wäre es nicht für ihre Ohren bestimmt.

»Was soll das denn heißen?«, fragte Erin, die Rätsel und geheimnisvolle Andeutungen hasste.

»Weil du real bist, meine Liebe, in einer Welt, in der nichts und niemand so ist, wie es scheint, und das macht dich gefährlich.«

»Klingt ja alles äußerst mysteriös«, spöttelte sie und überlegte gerade, ob sie ihn bitten sollte, sich umzudrehen, während sie sich anzog, da warf er die Decke beiseite und stieg aus dem Bett. Im Adamskostüm.

In ihrem Kopf herrschte plötzlich Leere. Sie versuchte zu schlucken und musste husten. Bis der Anfall vorbei war, hatte sie erneut eine hochrote Birne.

Cole ging wortlos zur Kommode, öffnete eine Schublade und reichte Erin eine Jogginghose und ein ausgewaschenes T-Shirt. »Hier, das ist bequemer und weniger auffällig.«

Sie schluckte. »Danke.«

»Das Bad ist da drüben.« Er deutete auf die offene Tür in der Ecke. »Nimm dir ein Handtuch aus der Schublade und lass dir ruhig Zeit«, sagte er und schlurfte gelassen zur Kochnische seines kleinen Apartments. Den Mann brachte so schnell nichts aus der Ruhe.

Erin schüttelte den Kopf und verbannte alle Gedanken an ihn aus ihrem Gehirn. Konzentration!, ermahnte sie sich. Jetzt hieß es duschen, anziehen und gehen. Alles andere – Gefühle wie Überlegungen – musste warten, bis sie allein war. Erst dann würde sie wie immer die Ereignisse Revue passieren lassen und den Vorfall in der hintersten Ecke ihres Gedächtnisses abspeichern. Und nur noch in langen, einsamen Nächten daran denken, in denen sie mit ihrem Vibrator allein war. Denn tief in ihrem Inneren war ihr klar, dass Cole – seiner reservierten, griesgrämigen Art heute Morgen zum Trotz – die Latte unerreichbar hoch gelegt hatte für alle Männer, die nach ihm kamen.

Dabei hatte Erin auch vorher schon ziemlich hohe Ansprüche an das starke Geschlecht gehabt.

Drei Monate später

Wenn diese Verhandlung nicht bald zu Ende war, würde Erin demnächst vor dem Richter, der Jury und allen anderen Anwesenden im Gerichtssaal in Ohnmacht fallen oder sich alternativ auf ihre brandneuen Schuhe erbrechen. Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig. Richter White, dessen weißer Haarschopf seinem Namen alle Ehre machte, zog die Anweisungen für die Geschworenen in ermüdender Ausführlichkeit in die Länge. Die letzten zwanzig Minuten kamen der völlig erschöpften Erin, der obendrein fürchterlich übel war, vor wie eine halbe Ewigkeit. Als sie endlich den heiß ersehnten Schlag des Hammers vernahm, der für den heutigen Tag das Ende der Verhandlung signalisierte, ließ sie den Kopf unsanft auf die Tischplatte sinken.

»Keine Sorge, ich habe alles notiert, was der Richter gesagt hat. Es war nichts dabei, was wir nicht vorausgesehen hätten oder wogegen ich Einwände erhoben hätte«, versicherte ihr ihre Kollegin Trina Lewis.

»Danke«, murmelte Erin.

»Komm, wir gehen. Sollen wir noch einen Abstecher auf die Toilette machen?«

Erin zwang sich, den Kopf zu heben. »Ja. Bitte.«

Trina hatte Erins Sachen bereits eingesammelt und in ihre Tasche gepackt. Gemeinsam verließen sie den Gerichtssaal, der zu Erins großer Erleichterung schon fast leer war, sie musste sich also mit niemandem mehr unterhalten.

»Ähm, kann ich kurz mit dir reden, Erin?«, fragte Trina, als sie die Damentoilette betraten.

»Natürlich.«

Trina arbeitete seit zwei Jahren bei der Staatsanwaltschaft und war mittlerweile eine gute Freundin von Erin. Sie waren ungefähr im selben Alter und die einzigen Frauen dort, weshalb es zwischen ihnen weder berufliche Machtkämpfe noch Eitelkeiten gab, im Gegenteil – sie waren einander eine Zuflucht vor dem Machogehabe ihrer Kollegen. Gemeinsam mit Macy Donovan gingen die beiden oft ins Kino oder zu Joe’s, oder sie verbrachten einen gemütlichen Mädelsabend zu Hause. Früher war außerdem Alexa Collins häufig mit von der Partie gewesen, die mittlerweile jedoch leider nach Texas gezogen war.

Trina spähte kurz unter alle Türen, um sicherzugehen, dass sie allein waren. Sie waren vorsichtig geworden, seit Lyle Gordon, ein fauler Mistkerl und der Strafverteidiger im aktuellen Fall, seiner Anwaltsassistentin befohlen hatte, sich auf der Damentoilette zu postieren und ihm hinterher alles zu berichten, was für seinen Fall von Nutzen war.

»Die Luft ist rein«, stellte Trina fest.

»Worum geht’s denn?« Erin drehte den Wasserhahn auf und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser.

»UmdeineDarmgrippe.SieverdientallmählicheinenEintraginsGuinnessBuchderRekordealslängsteDarmgrippeallerZeiten,findestdunicht?«TrinazupfteeinPapierhandtuchausdemSpenderundreichteesErin.

»Es ist doch schon besser geworden«, schwindelte diese.

»Nein, ist es nicht. Seit Wochen geht das jetzt bereits so.«

Erin erhob keinen Widerspruch. Sie hatte zunächst auf eine Lebensmittelvergiftung getippt, war mittlerweile aber zu dem Schluss gekommen, dass ihre Beschwerden auf eine besonders hartnäckige Viruserkrankung zurückzuführen war.

»In all der Zeit, die ich dich kenne, bist du noch nie so oft morgens zu spät gekommen und abends früher nach Hause gegangen wie in den vergangenen Wochen.«

Erinschnaubte.»WirkennenunsgerademalzweiJahre.«AbersogarEvanCarmichael,ihrBoss,hattebereitsangefangen,FragenzustellenundseineBesorgnisumihrenGesundheitszustandzumAusdruckgebracht,dabeikreisteersonstausschließlichumsichselbst.

»Wie auch immer, jedenfalls war ich in der Mittagspause, während du in der Cafeteria deinen Tee getrunken hast, in der Apotheke, und habe dir das hier besorgt.« Sie hielt eine braune Papiertüte in die Höhe.

Erin hob eine Augenbraue und nahm die Tüte mit spitzen Fingern entgegen.

»Was ist da drin?« Sie spähte hinein, ohne die Antwort abzuwarten. »Ein Schwangerschaftstest?«, stieß sie entsetzt hervor und hielt sich sogleich die Hand vor den Mund.

Okay, sie hatte schon eine ganze Weile nicht mehr ihre Tage gehabt, was sie allerdings auf die Tatsache zurückgeführt hatte, dass sie so unter Stress stand. An eine Schwangerschaft zu denken, wäre ihr nie in den Sinn gekommen.

»So abwegig ist das nun auch wieder nicht«, sagte Trina.

»Soll das ein Witz sein? Wir ackern seit über einem Monat rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zuletzt meinen batteriebetriebenen Freund benutzt habe, von einem Körperkontakt mit einem Mann aus Fleisch und Blut ganz zu schweigen.«

»Du lügst«, stellte Trina fest.

Erin errötete. Sie wussten beide ganz genau, wann sie zum letzten Mal mit einem Mann geschlafen hatte. Und sie erinnerte sich haarklein an jeden Zentimeter von Coles muskulösem Körper, an jedes Detail der gemeinsamen Nacht.

Ja, sie hatten mehrmals miteinander geschlafen, aber sie hatten jedesMal verhütet. Außerdem, wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sich ihr Leben von Grund auf veränderte, nur weil sie ein einziges Mal über ihren Schatten gesprungen war? Das würde ihr das Schicksal nicht antun, nachdem sie all die Jahre ein anständiges Mädchen gewesen war. Oder etwa doch?

Jetzt bereute Erin es, dass sie ihre zwei engsten Freundinnen eingeweiht hatte, denn eine von ihnen stand nun neben ihr und hielt ihr diese dämliche Schachtel unter die Nase, die jede Frau der Welt sogleich als Schwangerschaftstest identifizieren konnte.

»Nun nimm schon«, befahl Trina.

»Ich kann unmöglich schwanger sein.« Allein bei der Vorstellung drehte sich Erin der Magen um, und jede Zelle ihres Körpers protestierte unüberhörbar.

»Gut, dann beweis mir das Gegenteil, und ich schleppe dich zum Arzt, damit er herausfindet, wieso dir seit fast vier Wochen permanent übel ist.« Trina fixierte sie mit einem Blick, bei dem jeder potentielle Angeklagte bibbernd »Ich will zu meiner Mami« geflennt hätte.

»Okay.« Erin nahm die Schachtel und verzog sich in eine Kabine. Ihre Hände zitterten dermaßen, dass sie kaum in der Lage war, die Anleitung zu lesen, geschweige denn ihr zu folgen. Dennoch wartete sie mit Trina ein paar Minuten später auf das Ergebnis.

Während sich der Minutenzeiger der Uhr unendlich langsam weiterbewegte, herrschte gespannte Stille, und Erins Gedanken wanderten unwillkürlich zu Cole. Seit der gemeinsamen Nacht ging er ihr aus dem Weg. Wenn sie sich im Cuppa Café begegneten, nickte er ihr lediglich kurz zu und suchte dann das Weite.

Neulich bei Joe’s hatte sie sich dann aus einem unerklärlichen Impuls heraus ein Herz gefasst und ihn angesprochen. Sie hatte sowohl ihr flaues Gefühl als auch die Schmetterlinge ignoriert, die sie im Bauch hatte, sobald er in der Nähe war und ihr sein maskuliner Geruch in die Nase stieg. Da er wie sie an der Bar gestanden und darauf gewartet hatte, bedient zu werden, war ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich mit ihr zu unterhalten. Sie hatte ihn sogar ein, zwei Mal zum Lachen gebracht, was in ihr die absurde Hoffnung geweckt hatte, dass … Ja, was? Sie weigerte sich, darüber nachzudenken, und das war auch ganz gut so, denn Cole hatte sich, sobald er sein Bier in der Hand hielt, mit dem üblichen knappen Nicken verabschiedet und war verschwunden. Er hatte ihr klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass eine gemeinsame Nacht sie noch lange nicht zu Freunden machte.

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie konnte nicht leugnen, dass seine Gleichgültigkeit sie kränkte. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn er Serendipity verlassen hätte, damit sie nicht ständig an ihren einzigen Fehltritt erinnert wurde.

Sie durfte nicht schwanger sein, schon gar nicht von ihm. Ein schlimmeres Horrorszenario konnte sie sich wirklich nicht vorstellen. Allein bei dem Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um.

»Ding!« Trinas übertrieben fröhliche Stimme riss sie aus ihren unerfreulichen Gedanken.

Erin schauderte und schlang die Arme um sich. »Sieh du nach.«

Trina streckte ihr die Hand hin, und Erin ergriff sie, dankbar für die Unterstützung ihrer Freundin. Sie hielt den Atem an, und ihr Herz pochte so heftig, dass sie sicher war, man müsse es weithin hören können. Es war schwer zu sagen, ob der Kloß in ihrer Kehle von ihrer Panik herrührte oder von der Übelkeit.

»Und?«, fragte sie, als sie die Stille und die Anspannung nicht mehr aushielt.

»Er ist positiv«, flüsterte Trina. Ihr vorgetäuschter Optimismus war verflogen.

Jetzt konnte Erin den Brechreiz nicht mehr unterdrücken. Sie gab einen Laut von sich, der ihr selbst fremd war und hastete in die nächstbeste Kabine.

Kapitel 2

Als Cole erwachte, schien die Sonne in seine kleine Wohnung über Joe’s Bar. Er begann den Tag mit einer Bestandsaufnahme seiner Gedanken und Gefühle, wie er es seit seinem letzten Auftrag stets tat, und stellte fest: Alles wie gehabt.

Also duschte er, zog sich an und begab sich ins Cuppa Café, das sich gleich um die Ecke befand und Joes Schwester Trisha gehörte. Dort holte sich Cole jeden Morgen seinen dringend benötigten Kaffee und tat, als würde er nicht bemerken, dass die Leute einen großen Bogen um ihn machten. Zugegeben, nicht alle – die charmante Trisha hatte, genau wie ihr Bruder, der Barbesitzer, jederzeit ein Ohr für die Sorgen und Nöte ihrer Gäste. Schon mehrfach hatte sie Cole in ein Gespräch verwickelt und versucht, in Erfahrung zu bringen, wo er sich im vergangenen Jahr herumgetrieben hatte oder warum er sich so lange nicht mehr hatte blicken lassen. Ihre Bemühungen hatten nichts gefruchtet, und mittlerweile hatte sie es aufgegeben und wollte ihn stattdessen zu einem Date mit einer ihrer Freundinnen überreden. Sie meinte es bestimmt gut, stieß bei Cole damit aber auf taube Ohren.

NormalerweiseunternahmernachBeendigungeinerMissionmiteinemseinerKollegeneineReiseodererholtesichindenBergenvonMontana,woeinerderanderenAgenteneineHüttehatte,dochdiesmalhatteerbeschlossen,malwiedereinenHeimaturlaubeinzulegen.

Er war eine Ewigkeit nicht mehr in Serendipity gewesen, und er hatte Sehnsucht nach der Stadt gehabt, in der er aufgewachsen war, wenngleich er das nur widerstrebend zugegeben hätte. Wobei sich diese Sehnsucht beileibe nicht auf alle Bewohner erstreckte.

Da war er also wieder, in seiner guten alten Heimatstadt, in der es einige Leute gab, die er mochte, während er auf andere gut und gern hätte verzichten können. Aber der nächste Auftrag würde bestimmt nicht allzu lange auf sich warten lassen. Cole liebte seine Arbeit als Undercover Cop, liebte es, dem Abschaum dieser Welt das Handwerk zu legen, wenngleich sein Vater überzeugt war, dass Cole keinen Deut besser war als die Männer, die der hinter Gitter brachte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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