Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 2 - Die Stimmen von Moskau - Tino Hemmann - E-Book

Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 2 - Die Stimmen von Moskau E-Book

Tino Hemmann

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Beschreibung

Ein dreiviertel Jahr liegt die Schlacht in Magnitogorsk zurück. In den Osterferien reisen Sorokin und sein blinder Sohn Fedor nach Moskau, wollen gute Freunde treffen. Schon Stunden nach der Ankunft eskaliert die Situation: Aus dem erhofften Urlaub wird ein Höllentrip. Präsidentenberater Jerchow steht auf der Abschussliste und wehrt sich. Fedor verschwindet in Moskau, findet sich würdelos in einem Erziehungsheim wieder, wird zum Erpressungsobjekt geldgieriger Pädagogen. Sorokin kämpft in einem verlogenen Dschungel aus Korruption und kriminellen Strukturen. Ein spezieller Geheimdienst infiltriert den Inlandsgeheimdienst und muss ebenfalls überwacht werden. Freunde werden zu Feinden und Feinde zu Freunden. Doch Fedor bleibt verschwunden! Ein blinder Junge in der gewaltigen Metropole. Ein Kind, das nicht sieht und doch kämpft. Fedor, der die Stimmen von Moskau verstehen muss.

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Прощай, ублюдок!

Auf Wiedersehen, Bastard!

Tino Hemmann

AUF WIEDERSEHEN, BASTARD!(2)

Прощай, ублюдок! (Proshchay, ublyudok!)

Die Stimmen von Moskau

Thriller

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Bis auf die historisch erwiesenen Tatsachen sind alle Ereignisse und Personen in diesem Buch frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit Geschehnissen und Personen unserer realen Welt wäre daher zufällig und unbeabsichtigt.

Die Ausführungen zum Klicksonar beruhen auf den Erkenntnissen von Mel Goodale, Leiter des »Centre for Brain and Mind« an der University of Western Ontario in London, Canada.

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Cover: Tino Hemmann unter Verwendung der Fotos von

(Junge) © laurent hamels - Fotolia.com und

(Mann) © Alexander Trinitatov - Fotolia.com

Lektorat: Birgit Rentz - www.fehlerjaegerin.de

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

www.tino-hemmann.de

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

ISBN 9783954888993

Inhalt

Cover

Titel

Copyright

Moskau 12. April

Leipzig 12. April

Moskau 13. April

Leipzig 14. April

Moskau 14. April

Moskau 15. April

Nähe Podol’sk 15. April

Moskau 15. April

Nähe Podol’sk 15. April

Moskau 15. April

Nähe Podol’sk 15. April

Moskau 15. April

Nähe Podol’sk 15. April

Moskau 15. April

Leipzig 16. April

Podol’sk 16. April

Moskau 16. April

Nähe Podol’sk 16. April

Leipzig 16. April

Moskau 16. April

Südlich von Moskau 16. April

Moskau 16. April

Südlich von Moskau 16. April

Podol’sk 16. April

Moskau 16. April

Leipzig 16. April

Podol’sk 16. April

Moskau 16. April

Podol’sk 16. April

Leipzig 17. April

Moskau 17. April

St. Petersburg 17. April

Moskau 17. April

Moskau 21. April

Leipzig 22. April

Epilog 7. November

Moskau 12. April

Der Präsidentenberater beobachtete unablässig die ästhetischen, wohlgeformten Rundungen der Tänzer, der Präsident hingegen die mitgehenden, fetten Lippen – stetig befeuchtet durch kurzes Lecken mit der Zunge – seines Beraters.

Die Männer auf der Bühne trugen eng anliegende, weiße Leggings, bewegten sich mit femininer Grazie, freien, muskulösen Oberkörpern und äußerst parallelen Schritten auf eine Horde räudig dreinschauender Kosaken zu, die ihre Kunststoffschwerter mit lautem Hurra-Gebrüll zückten und mit stampfendem Gepolter einen gleichfalls synchronen Ausfallschritt hin zu den ansehnlichen und großen Jünglingen machten. Die Widersacher der Kosaken, jene hellen Burschen, deren klare Silhouetten einer sportlichen Körpersymmetrie – bestehend aus runden Popos und gewaltig wirkenden Genitalien unter den glänzenden Strumpfhosen – keineswegs furchteinflößend wirkten, antworteten mit mehreren »Assemblés« – einstudierten geschlossenen Sprüngen, wobei ein Bein während des Sprunges ein »Grand battement jeté« vollführte –, so dass das jeweilige Spielbein der Tänzer mit kräftigem Schwung so hoch wie möglich nach vorn, zur Seite oder auch nach hinten geworfen wurde. Gleichzeitig erklangen ihre Stimmen – begleitet von einem äußerst perfekt spielenden Orchester – in höchsten Tonlagen, erst leise, dann immer lauter, russisch klagend und heulend: »Hinweg, ihr Barbaren!« Sie liefen sogleich in sauberen Baskenschritten zu einem Halbkreis auf und näherten sich mit unglaublich hohen und absolut synchronen Sprüngen und einer leichten Vorwärtsbewegung – dem sogenannten »Soubresaut« – den Kosaken, wobei die Oberkörper stark in eine Rücklage gebogen und die Beine zusammengehalten nach hinten gestreckt wurden. Als sie synchron auf den lärmenden Bühnenbrettern landeten, ertönte der letzte, nachhallende Akkord aus ihren Kehlen, ebenso wie der letzte des Orchesters, die Kosaken ließen die Schwerter fallen und rannten davon, der Dirigent – ein alter, erfahrener Zausbart – fiel mit einem gewaltigen Körperschwung fast von seinem Podest und so ziemlich allen Besuchern des ausverkauften Bolschoi-Theaters standen die Haare wie elektrisiert zu Berge.

All das bis zu diesem Zeitpunkt unterdrückte aufkeimende Hüsteln der Zuschauer wurde sogleich von tobendem und rasendem Beifall übertönt. Die international gemischte Menge erhob sich aus den bequemen Sitzen und krakeelte »Bravissimo!«-Rufe, während der kleingewachsene Dirigent zum wiederholten Male die Untergebenen zwang, sich tief vor der Masse zu verbeugen, indem er die Spitze seiner Taktstockwaffe von links nach rechts fahren ließ, so als wollte er damit die pompöse Bühnendekoration zerschneiden. Diese Koryphäe des Opern-Genres schien sich längst in tropfenden und kriechenden Kolonnen eigenen Schweißes aufzulösen. Der Dirigent lächelte dauerhaft und nahm die Hochachtung des Publikums angesichts der eigenen Leistung gern entgegen – ein Hasardeur am Ziel all seiner Wünsche! Wenigstens bis zur nächsten Aufführung, denn er dachte wahrscheinlich bereits an kleine Lappalien der Untergebenen, die es bis zur folgenden Darbietung dringend zu korrigieren galt.

*

Während der Beifall noch rauschte, verließ der Präsident in Begleitung von acht Sicherheitsleuten die mit roten Samtstoffen ausgestattete und reichlich mit Blattgold verzierte Loge und wurde, wie nach jeder Uraufführung, in einen abgeschirmten und bestens gesicherten Raum geführt, in dem er schon bald mit den Ensemble-Chefs zusammentreffen sollte. Dem Präsidenten der Russischen Föderation wurde von einem steif wirkenden Diener Sekt gereicht. Prophylaktisch nahm er das Glas an, nippte daran und näherte sich mit zwei kurzen Schritten der korpulent-massiven Gestalt des Boris Jewgenij Jerchow, seinem engen, fünfundfünfzigjährigen Berater in Sicherheitsfragen, der sogleich einer alten, russisch-unorthodox-bunt geschminkten Dame den Rücken zukehrte und sich seinem Arbeitgeber zuwandte.

»Und, Herr Präsident, hat es gefallen?«, begann Jerchow, um zunächst die Laune seines Präsidenten abzuklopfen.

»Todlangweilig, wie immer.« Die schmächtige Figur des Präsidenten fuhr herum und betrachtete den vergoldeten Gipsschädel eines früheren Ballettchefs des Moskauer Bolschoi-Theaters. »Und dir?«

»Die Balletttruppe ist einmalig. Wunderbare Tänzer. Immerhin sind sie ein Aushängeschild unserer Föderation.«

Grinsend tätschelte der Präsident die Skulptur. »Mag sein, Boris Jewgenij.« Er nahm seine Hand von der Skulptur, trat an einen Tisch und stellte sein fast jungfräuliches Sektglas dicht an die Kante. »Doch ... soviel ich weiß, wurde dem letzten Ballettchef ein Fläschchen scharfer Säure ins Gesicht gekippt. Was muss ich davon nur halten?«

»Es soll ein Kampf um seinen Posten gewesen sein«, erklärte Jerchow kleinlaut, der dem Präsidenten gehorsam hinterherschlich. »Und es ist wirklich schade um das Gesicht eines anmutigen und weltbesten Tänzers.«

»Nun was? Ich bin das Aushängeschild dieser Nation. Keineswegs er.« Mehr fiel dem Präsidenten dazu nicht ein und so wechselte er urplötzlich das Thema. Sehr zum Erstaunen des Beraters gab er den Namen »Wolkowa« von sich.

»Wolkowa?« Jerchow errötete unübersehbar derb. »Wie bitte?«

Die verächtlichen Blicke des Präsidenten trafen den Berater. »Jekaterina Ruslanowna Wolkowa. Wer ist das?«

Jerchow zögerte die Antwort hinaus. Zunächst musste er in Erfahrung bringen, was der Präsident tatsächlich wusste. »Keine Ahnung«, sprach er und schaute sich Hilfe suchend um. Hilfe wurde ihm jedoch nicht gewährt. »Dieser Name sagt mir gar nichts.«

Der Ballettchef betrat den Raum, in seinem Tross folgten der Chorleiter und der Dirigent.

»Du kannst jeden Idioten belügen. Doch solltest du es dringlich vermeiden, mich als Idioten anzusehen. Nikita Schirjajew hat uns informiert und zunächst dafür gesorgt, dass der Bericht nicht in den Zeitungen auftaucht. Doch lange werden unsere sensationssüchtigen Medien-Gurus derartig imposante Dinge nicht verdeckt halten wollen. Um die Regierung sauber zu waschen, mein lieber Boris Jewgenij, wird ein kleines Fläschlein Säure mit Sicherheit nicht ausreichen.« Er hob die Arme und verlieh seinem Gesicht ein strahlendes Lächeln. »Also bring das schleunigst in Ordnung!«, zischte er, schritt auf den Ballettchef des Bolschoi-Theaters zu und rief unüberhörbar laut: »Mein lieber Ilja! Wieder einmal kennt meine Begeisterung keine Grenzen! Was war das nur für eine geniale Aufführung, mein Bester! Woher nimmst du nur all die Kraft angesichts einer solchen Leistung des Ensembles?« Er schielte auf die anwesenden Journalisten. »Um es in druckreife Worte zu fassen: Ich sah einen beispiellosen Spitzentanz, athletische Sprungkraft und solch streng synchrone Bewegungen, dass sich unser Militär eine große Scheibe davon abschneiden sollte. Bravo, mein Lieber, bravo! Einfach entzückend!«

Berater Jerchow versteckte derweil die zitternden Hände in den Hosentaschen und versank in unangenehmen Gedanken. Was hatte Nikita Schirjajew, der Redakteur der Moskowskie Nowosti, dem Moskauer Nachrichtenblatt, mit der Wolkowa zu tun? Sollte die Wolkowa, diese dreckige Schlampe, ihre Drohung wahr gemacht haben? Eines war Jerchow völlig klar: Würden die Abtrünnigen von der Novaya Gazeta, der regierungskritischen Neuen Zeitung, von seinem Fehltritt erfahren, dann würde ihm auch Gottes Gnade nicht mehr helfen. Gedankenfetzen schmerzten im kahlköpfigen Schädel des Beraters und er beschloss, in die Person Schirjajew zu investieren. Jeder wusste, dass dieser Redakteur kleinen und großen Geldgeschenken aufgeschlossen gegenüberstand.

Es war vor etlichen Monaten geschehen. Und noch immer war das Gras nicht in der Lage gewesen, über diese dumme Sache zu wachsen. Welch ein Schrecken ohne Ende! Hätte er der Wolkowa gleich die Kehle durchschneiden lassen, wäre alles längst gut.

An jenem Abend hatte sich Jerchow volllaufen lassen, wohl wissend, dass der Tag erledigt war. Im Komanebel erreichte Jerchow dennoch ein Anruf aus dem Kreml. Eine eskalierende Problemsituation! Präsidentenberater Jerchow war dermaßen besoffen, dass er es unterließ, den Fahrer vom Sicherheitsdienst herbeizurufen. Er bestieg seinen Mercedes und fuhr selbst, wenn man das, was er tat, überhaupt Fahren nennen durfte. Erinnerungen an diese Fahrt gab es für ihn keine, lediglich die Berichte dritter Personen.

Jedenfalls kollidierte er auf der Gegenspur der Moskauer Rubljowo-Uspenskoje-Chaussee frontal mit einem fremden Fahrzeug, trug selbst nur weniger bedeutsame Kratzer davon und schlief nachfolgend im Krankenhaus in erster Linie den Rausch aus. Der Fahrer des anderen Wagens jedoch war sofort tot – ein unbedeutender Arbeiter aus dem Moskauer Stadtteil Tushino namens Jurij Jewstignejewitsch Wolkow. Einer von jährlich achthundert Verkehrstoten in Moskau. Dummerweise war der Dreißigjährige verheiratet und hatte seiner Frau Jekaterina Ruslanowna Wolkowa zwei Kinder gemacht. Und diese Frau wurde unmittelbar nach der Kollision von einem völlig verblödeten Polizisten davon überzeugt, ihn, den Berater des Präsidenten, anzuzeigen! Und das, obwohl sie sich bei dem Unfall selbst gerade mal ein Handgelenk gebrochen hatte. Ihre Kinder weilten zum Glück nicht im Unfallfahrzeug.

Viele Valutascheine mussten in fremde Taschen wandern, bis die Anzeige endlich vom Tisch war und sich niemand mehr an den Unfallablauf erinnern konnte. Das größte Problem, die Wolkowa, musste separat überzeugt werden. Er ließ fortan monatlich einige Spesengelder auf deren Konto umleiten, so dass es ihn nicht sonderlich traf. Doch im Februar, vor zwei Monaten, waren seine Inlandskonten geprüft worden und die Quelle war aus steuerrechtlichen Belangen versiegt. Die Frau sollte sich angeblich drohend bei ihm gemeldet haben, jedoch interessierten deren Probleme einen Mann von Jerchows Rang nur peripher.

Und nun? Würde tatsächlich ein Zeitungsbericht erscheinen, könnte der Präsident ihn abstürzen lassen, es wäre im unangenehmsten aller Fälle durchaus denkbar, dass man ihm gar den Prozess machen würde. Eines war gewiss: Hin und wieder gaukelte die Regierung dem Volk ein wenig Gerechtigkeit vor, versuchte dies zumindest, um andere Dinge in den Hintergrund zu drücken. Freiwillige Bauernopfer waren daher gern gesehen.

Erinnerungen in Form von Zeitungsbildern vom säurezerfressenem Gesicht des Ballettchefs des Moskauer Bolschoi-Theaters tauchten in Jerchows Gehirnwindungen auf. Unangenehme Bilder.

*

Jerchow wohnte mit seiner Frau Olga Timurowna Jerchowa und dem jüngsten, dem zweiundzwanzigjährigen Kronprinzen namens Ignatij in einer Luxusvilla an der Rubljowo-Uspenskoje-Chaussee, ein paar Villen von einem der Häuser des Präsidenten entfernt. Die anderen beiden Kinder, zwei Mädchen, verdingten sich in lukrativen, staatsnahen Berufen und lebten längst mit ihren Familien in eigenen Häusern. Neben einem Gärtner beschäftigte Jerchow mehrere Mitarbeiter einer Reinigungsfirma und etliche private Sicherheitsleute, von denen zu jeder Tages- und Nachtzeit mindestens drei auf dem Grundstück weilten. Besonders abgesichert war ein Raum im Keller der Villa, der einerseits als Panic-Room herhalten konnte, gegenwärtig jedoch zur Aufbewahrung seiner umfangreichen Sammlung von Goldmünzen diente.

Der Hausherr stand – noch immer in Arbeitskleidung, einem noblen, eigens für ihn angefertigten Anzug – im großen, nach westlichem Standard eingerichteten Wohnraum im unteren Geschoss, hatte der Gattin soeben einen Kuss auf die Wange gegeben und nahm nun das Haustelefon zur Hand. »Kostja?«, brummte seine tiefe Stimme. »In mein Büro! Sofort!« Er legte das Telefon zur Seite und gab der Frau an der Küchenzeile zu verstehen: »Ich will jetzt nicht gestört werden.«

Die sichtlich angetrunkene Jerchowa nickte ihm lächelnd nach, während er das Büro betrat, das anfänglich als Fernsehzimmer gedacht gewesen war und einen separaten Ausgang zur Gartenterrasse besaß. Vor dieser Echtholztür stand bereits der bullige Konstantin Bobrow, ein zweiundzwanzigjähriges Milchgesicht, einen Meter vierundsiebzig groß, mit einem durchaus ansehnlichen, künstlich gebräunten Kämpferkörper versehen.

Mit seinem typischen, nichtssagenden Lächeln öffnete Jerchow die Tür, nachdem er die elektronische Sicherung abgestellt hatte. »Komm rein, Kostja.« Während sich der Hausherr in einem urig bequemen Drehsessel an seinem Schreibtisch niederließ und auf den davor stehenden Holzstuhl zeigte, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht.

Konstantin Bobrow hing ein Kabel aus dem linken Ohr und seine Jackettjacke war nicht nur von Muskeln ausgebeult. Der junge Mann gehörte bereits seit Jahren zur Familie Jerchow. Er war mit vierzehn zum ersten Mal mit seinem Bruder aufgetaucht, der bis vor sechs Jahren zum Sicherheitspersonal gehört hatte und bei einer Schießerei getötet worden war. Auch Olga Jerchowa hegte mütterliche Gefühle für den Jungen, der schon damals eine außergewöhnlich muskulöse Statur besessen und in einem Trainingszentrum Moskaus als Kind und Jugendlicher Medaillen im Gewichtheben gesammelt hatte.

Jetzt aber saß der Junge auf dem unbequemen Holzstuhl und wartete.

Jerchow wischte sich mit einem Taschentuch Schweiß vom Schädel. »Was ich jetzt sage, ist nur für vier Ohren bestimmt. Hast du mich verstanden, Kostja?« Seine dicken Wangen wackelten.

Der Junge nickte und sprach: »Selbstverständlich, Mister Jerchow.« Konstantin Bobrow war von Jerchow zu keinem Zeitpunkt das Du angeboten worden. Es hatte sich eingebürgert, dass der Berater von seinen Untergebenen mit »Mister« und nicht – wie gewöhnlich – mit »Gospodin« angesprochen wurde. Jerchow hingegen duzte all seine gut bezahlten Haussklaven.

Trotz seiner kurzen, dicken Finger nahm Jerchow geschickt einen Notizzettel zur Hand, dazu einen Bleistift, und schrieb den Namen »Jekaterina Wolkowa« und eine Adresse im Stadtteil Tushino auf den Zettel, den er anschließend – zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand – zwei Zentimeter über der Tischplatte in Bobrows Richtung hielt. »Dieses unwürdige Weib verbreitet böse Dinge über meine Person. Ich will, dass sie damit aufhört. Sie muss eingeschüchtert werden. Nimm den Zettel und pass darauf auf!«

Bobrow erhob sich und griff nach dem kleinen Blatt Papier. Im gleichen Moment hielt Jerchow dessen rechtes Handgelenk fest, der junge und deutlich stärkere Mann wehrte sich jedoch nicht dagegen.

»Nur einschüchtern. Hast du mich verstanden, Kostja? Und sollten weitergehende Maßnahmen notwendig sein, muss es wie ein tragischer Unfall aussehen.«

Erneut nickte Bobrow. »Selbstverständlich, Mister Jerchow.«

»Noch etwas: Du machst für heute Abend einen Termin mit Nikita Schirjajew von der Moskowskie Nowosti und übergibst ihm das hier. So, wie es ist.« Mit der rechten Hand zog er ein dickes, verschlossenes Kuvert aus der inneren Jacketttasche und legte es auf seinen Schreibtisch. »Ich vertraue dir. Das ist viel Geld. Schirjajew wird dir dafür drei Seiten aus seinem Notizbuch geben, die du vor seinen Augen verbrennst. Hast du alles verstanden, Kostja?«

Bobrow schaute nicht auf den Umschlag, sondern in Jerchows Augen. »Selbstverständlich, Mister Jerchow«, sagte er erneut.

Jerchow ließ das Handgelenk los und tätschelte liebevoll den Handrücken des jungen Mannes. »Du bist ein guter Junge, Kostja. – Geh jetzt! Ich verlass mich auf dich. Auch deine Zukunft hängt davon ab.«

Kurz darauf verriegelte der Hausherr die Außentür. Er trat an die üppig ausgestattete Bar, goss sich einen Whisky ein und trank das Glas in einem Zug leer. Mehrmals fuhr er sich mit der Hand durch die Frisur, als wäre er sich der eigenen Entscheidungen nicht mehr sicher.

Nach einem Klopfen betrat Ignatij Jerchow den Raum. Er studierte Politwissenschaften und sollte eines Tages in die Fußstapfen des Vaters treten. Doch war der Junge – entgegen den Erwartungen des Vaters – recht weltfremd. Er hatte völlig andere Interessen, gehörte als Bassist und Sänger einer studentischen Rockband an und vernachlässigte das Studium, wann immer es ging.

»Papa?«, fragte der Junge.

Jerchow ahnte, worauf der Besuch hinauslaufen würde. »Was willst du, Ignascha?«

»Morgen findet eine wichtige Feier statt. Und ich bin völlig pleite. Könntest du ...?« Der Junge lächelte.

Jerchows Reaktion zauberte das Lächeln aus Ignatijs Gesicht. Der Vater griff ihm derb an den Hals und sein Daumen drückte schmerzhaft und unangenehm auf Ignatijs Gurgel. Aus Jerchows Mund zischte es: »Gerade eben habe ich fünfhunderttausend Euro in unsere Zukunft investiert. Auch für dich, Ignat. Also such dir gefälligst einen bezahlten Job, wenn du mit dem Studium nicht fertig wirst. – Meine Antwort lautet: Nein!« Erst jetzt lockerte er den Griff.

Der nach Luft schnappende Junge brachte kein Wort heraus, röchelte nur und warf, während er rückwärts zur Tür ging und sich den Hals rieb, dem Vater einen hasserfüllten Blick zu.

»V sem’ye ne bez uroda!«, rief Jerchow dem Jungen höhnisch nach, bevor die Tür zuschlug. »Das Sprichwort bewahrheitet sich leider immer wieder«, flüsterte er.

Keine Familie ohne Missgeburt.

Leipzig 12. April

Fedor, der vierzehnjährige Sohn von Anatolij Sorokin, saß still vor seinem Personalcomputer, die Ohrstöpsel in den Ohren, und lauschte der Stimme seiner Mutter. Die Lippen des Jungen bewegten sich, als würde er jedes Wort selbst sprechen, das in seinen Ohren erklang. Längst kannte er das Gesagte auswendig.

»Tolik? Hier ist Galina. Was sag ich nur, du hast es längst bemerkt. Also ... Ich hoffe, du findest den Stick nie. Du sollst ihn nur dann finden, wenn mir etwas zustößt. Ich wollte dich nicht zusätzlich belasten, doch irgendwie ... Es ist Wladislaw Komsomolzev. Er betrügt den Betrieb und die Föderation. Er zweigt Unmengen von Platin ab. Ich weiß von Beginn an davon. Viele wissen davon, doch niemand macht den Mund auf. Ich habe heute mit Moskau gesprochen, es war so ein Typ von der Regierung. Sein Name ist Boris Jerchow. Mein Gott, ich habe ihm alles berichtet, was ich weiß! Und jetzt, jetzt habe ich das Gefühl, dieser Jerchow steckt in der ganzen Korruption mit drin. Ich habe Angst – um dich. Und ich habe Angst um mein Baby. Meine Kollegen aus Abteilung 3, die bei diesem obskuren Unfall vergangene Woche starben ... ich glaube, sie wurden alle ermordet. Ich habe so schreckliche Angst! – Bitte, Tolik, also ... also wenn mir etwas zustößt, dann verlasst bitte, bitte dieses Land. Du und unser Baby. Räche dich nicht, mach auf keinen Fall diesen Fehler! Du darfst dich niemals auf deren Niveau herablassen. Es sind herzlose, geldgierige Giganten. Es sind gottlose Tiere. Bitte hör auf mich. Tust du das, Tolik? Und gib meinem Zuckernäschen jeden Tag Küsse von mir. Versprich es! Ich ... ich liebe euch so sehr.« Ein Weinen war zu hören und brach ganz plötzlich ab.

Eine Erschütterung ging durch den Körper des Jungen, der seine Mutter nie wirklich kennengelernt hatte, denn sie war vor knapp vierzehn Jahren in Magnitogorsk heimtückisch ermordet worden. Die Tonaufnahme mit ihrer Stimme war die einzig verbliebene Erinnerung. Sein Vater – damals Angehöriger einer OMON-Spezialeinheit, auch bekannt unter dem Namen »Schwarze Barette«, und heute fest in einem SEK der Polizei in Deutschland integriert – war mit Baby Fedor aus Magnitogorsk in die Bundesrepublik geflüchtet, denn niemand hatte den Mord an seiner Frau Galina Andrejewna tatsächlich aufklären wollen. Eine korrupte Gruppe des Metallurgiewerkes in Magnitogorsk verschleierte den Fund großer Mengen gediegenen Platins und bereicherte sich daran. Involviert waren über verschiedene Wege Iwan Solowjow, der wegen seiner Loyalität gegenüber Mütterchen Russland für immer verschwand, zuvor Direktor des halbstaatlichen Unternehmens Russkoye Gorno-Promysh-lennaya Kompaniya war, in dem Galina Sorokina bis zur Jahrtausendwende arbeitete und schließlich ums Leben kam. Dann gab es diesen Wladislaw Komsomolzev. Der war der Vater von Alexander Komsomolzev, einem Schulfreund von Galina und Anatolij Sorokin. Ein knappes Jahr zuvor hatte Alexander, der meist Sascha gerufen wurde und mittlerweile beim russischen Inlandsgeheimdienst FSB beschäftigt war, dafür Sorge getragen, dass Sorokin, dessen Codename »Ameise« lautete, den Vater Wladislaw in Magnitogorsk vernichten konnte. Anatolij Sorokin wurde nicht verfolgt, der Einfluss von Alexander reichte dazu aus. Die gleichsam in das Platin-Projekt involvierte Valeria Solowjowa – Ehefrau des ehemaligen Direktors von RGPK Magnitogorsk oder zu Deutsch »Russische Montanindustrielle Gesellschaft Magnitogorsk« – ließ Sorokin leben. Die alte Lady erzählte ihm damals von all den unglaublichen Dingen, von denen er bis dahin nur eine vage Ahnung gehabt hatte.

»... Und dann, als sie diese neuen Bohrkerne eingeführt hatten«, erklärte sie, »fand Galina Andrejewna im Kern gediegenes Platin mit einem unglaublichen Marktwert. Mein Gatte und auch Wladislaw erfuhren zuerst davon. Das Vorkommen schien gigantisch, größer als jedes bislang bekannte Platinvorkommen der Welt. Mein Gatte wollte den Fund sogleich nach Moskau melden, doch Wladislaw hielt ihn zunächst davon ab. Auch machte er Galina Andrejewna klar, dass sie mit absolut niemandem über den Fund zu reden habe. Sie erzählte allerdings ihrer gesamten Abteilung 3 davon, zudem sprach sie dem Direktor ins Gewissen, der schließlich in der gleichen Nacht den spektakulären Fund nach Moskau meldete. Dort nahm Boris Jerchow, schon damals enger Berater des Präsidenten, die Meldung entgegen und erklärte den Fund zum Staatsgeheimnis. Am nächsten Tag war er bereits vor Ort und bestellte Wladislaw Komsomolzev, meinen Gatten Direktor Iwan Solowjow, Galina Andrejewna Sorokina und mich zum Rapport. Ihm war längst klar, dass mein Mann mit mir über diesen Fund geredet hatte, zudem überwachte ich damals die gesamte Logistik der Russkoye Gorno-Promyshlennaya Kompaniya. Es kam zu einem heftigen Disput und es bildeten sich klare Fronten. Auf der einen Seite deine Frau und der Direktor, auf der anderen die restlichen Beteiligten, ich irgendwo in der Mitte. Am gleichen Abend kam es zu einem weiteren Treffen in der alten Wohnung von Wladislaw Komsomolzev, allerdings ohne deine Galina, jedoch mit Grigorij Schurawljow aus der Abteilung 3, der fortan in speziellem Lohn und Brot von Wladislaw Komsomolzev stand. Bei jenem Treffen in der alten Wohnung von Wladislaw Komsomolzev kamen erstmalig auch Waffen ins Spiel, denn Wladislaw hatte seinen Geheimdienstsohn Alexander beauftragt, mich und meinen Gatten auf das Ärgste einzuschüchtern. Der hörige Sohn brachte das ganz gut. Seit jener Nacht habe ich in Furcht gelebt – bis zum heutigen Tage. Ich liebte meinen Gatten zeit seines Lebens, das ist die reine Wahrheit. Am Morgen des nächsten Tages entschied er, das Spiel mitzuspielen. Platin wurde gefördert und an den Büchern vorbei deutlich unter dem Weltmarktpreis an gut zahlende Abnehmer verkauft. Bezahlt wurde in Dollar über Banken der merkwürdigsten Inselstaaten, die man sich nur vorstellen kann, von dort wurden offiziell hochwertige Waren, Grundstücke, Betriebsanteile, Gold, Aktien und auch wieder Platin gekauft. Das Geld also wurde reingewaschen. Boris Jerchow übernahm das Heft des Handelns, war aber wieder meistens in Moskau. Projektverantwortlicher wurde Wladislaw Komsomolzev. Bald schon schwieg sich herum, dass einige der Mitarbeiter der Abteilung 3 mehr wussten, als es Wladislaw Komsomolzev lieb war. Erst Jahre später erfuhr ich über meinen Gatten von diesen Vorkommnissen im Jahr 2000. Wladislaw hatte eine OMON-Einheit unter Kontrolle, die den Auftrag erhielt, diese Mitarbeiter zu eliminieren. Dazu holte er seinen Sohn aus Moskau, der damals im seit 1995 bestehenden FSB Blut geleckt hatte. Sie nannten das Projekt Platinovaya Solovey, warum auch immer. Dieser Name entsprang der Fantasie von Wladislaw. Auf einer Kontrollfahrt in den Bergen verschwand die Gruppentransportraupe der Abteilung 3 mit vier Besatzungsmitgliedern und einem Fahrer. Es hieß, sie sei in einen unerreichbaren Abgrund gestürzt. Obwohl sie die Anweisung dazu gehabt hatte, nahm Galina Andrejewna an dem tödlichen Ausflug nicht teil. Wladislaw beauftragte seinen Sohn, sich um die junge Frau zu kümmern. Doch Alexander verweigerte den Befehl des Vaters – wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben. Wladislaw soll gesagt haben, dass er seinem Sohn das riesige Erbe vorenthalten würde, wenn er sich lächerlich und nicht die Finger schmutzig machte. Er selbst bestach mit zwei Flaschen billigen Wodkas den stadtbekannten Säufer Gawriil Gennadij Gromow, einen Kran zu bedienen, zeigte ihm, wo der Container hängen müsste und auf welches Zeichen Gawriil Gennadij die Kette lösen sollte. Gemeinsam mit Grigorij Schurawljow, dem Galina maßlos vertraute, holte Wladislaw deine Frau aus der Abteilung und führte sie durch den Betrieb. Wie geplant, kam es dann zu jenem tödlichen Unfall.«

Sorokins Rache konnte angesichts dieser Erkenntnisse nur deshalb auf fruchtbaren Magnitogorsker Boden stoßen, weil er von seinem früheren Freund Sascha unterstützt wurde, der – im Auftrag seines korrupten Vaters – Fedor, den damals dreizehnjährigen Sohn der Ameise, in Moskau ent-führen sollte, Sorokin hatte ihn bei einer Frau und Zufallsbekanntschaft namens Jekaterina Ruslanowna Wolkowa im Stadtteil Tushino versteckt.

Komsomolzev und Sorokin – Sascha und Tolik – die in ihrer Kindheit zusammen mit Galina ein Magnitogorsker Dreamteam gebildet hatten, wurden erneut gute Freunde, wenngleich sie sich nach den extremen Ereignissen nur noch im Internet begegneten.

Der blinde Junge Fedor hingegen behielt nach seiner Rückkehr nach Deutschland Jekaterina Wolkowa, die er Katie nannte, in bester Erinnerung, denn die sah seiner Mutter Galina angeblich nicht nur ähnlich, sie war auch gegenüber Fedor sofort in eine mütterliche Beschützerrolle geschlüpft.

Die Ereignisse im Juni des vergangenen Jahres waren jedoch in Leipzig ausgelöst worden, als der wohlhabende Russe Sergei Michailowitsch Smirnow wegen familiärer Probleme den eigenen Sohn und dessen Kindermädchen hinrichten ließ. Fedors Nase führte schnell zum Auftrags-Mörder, der kein anderer war als der Vater von Fedors Freundin Laura Sonberg. Dieser Frank Sonberg und sein Komplize Grollmann wurden auf der Flucht aus Deutschland dingfest gemacht. Die Beweislast war erdrückend, Sonberg wurde zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Grollmann hingegen erhielt eine deutlich kürzere Strafe wegen Beihilfe zu mehrfachem Mord, eine direkte Tatbeteiligung konnte ihm jedoch nicht nachgewiesen werden. Sergei Michailowitsch Smirnow wurde in Moskau von einem Killer, angeblich im Auftrag seiner geschiedenen Frau, was nie bewiesen werden konnte, erschossen.

Fedor erhielt angesichts der Moskauer Ereignisse seelischen Beistand, bezahlt von der deutschen Krankenkasse. Diese psychologische Hilfe blieb im folgenden Januar jedoch aus, als sie tatsächlich notwendig gewesen wäre, da zu diesem Zeitpunkt Laura und ihre Mutter in ein unbekanntes Land umsiedelten. Die Furcht vor einer vorzeitigen Haftentlassung des »Schlächters von Leipzig«, wie Lauras Vater von den deutschen Medien betitelt wurde, wog schlussendlich über Heimatliebe und bestehende Freundschaften.

Lauras Abschied von Fedor kam erschreckend plötzlich und vollzog sich in nur zwei Minuten. Somit verlor Fedor innerhalb weniger Monate und während einer komplizierten pubertären Phase seine innigsten Freunde: Igor, den ermordeten Sohn von Smirnow, und Laura, das blonde Mädchen, von dem er deutlich mehr als nur Gesicht und Hände berührt hatte.

*

Dass Fedor nur noch selten lachte, dass er vielfach strauchelte und stolperte, dass sich seine Wutanfälle häuften, all diese Dinge waren dem Vater selbstverständlich nicht entgangen. Fedors Stimme veränderte sich allmählich, wurde tiefer, war ständig etwas heiser und überschlug sich oft. Doch machte die Stimme ihm ebenso wenig zu schaffen wie die meisten Veränderungen an seinem Körper. Ihn behinderten ganz andere Probleme: Fedor war in den letzten Monaten derart in die Höhe geschossen, dass er sich bereits der Einmeterachtzig-Marke näherte. Arme und Beine wirken am schmalen Körper lang und schlaksig, womit eingefahrene Bewegungen und gewisse gewohnte Abstände und Entfernungen einfach nicht mehr stimmten. Sein moderner Blindenstock, mit dem er einige Jahre bestens zurechtgekommen war, wurde zu kurz und musste eines Tages durch einen neuen Langstock ersetzt werden.

Trotz all der negativen Tendenzen in dieser pubertären Übergangsphase stellte Anatolij Sorokin häufig fest, dass sich sein Sohn auch positiv entwickelt hatte.

Fedor sah mit Hilfe seiner perfektionierten Echoortung und er bewegte sich oft schnell und sicher durch völlig unbekanntes Terrain. Das Schnalzen der Zunge optimierte er ständig, Fremde hörten es fast nicht mehr. Zeitig, bereits in frühester Kindheit, hatte der Junge die aktive menschliche Echoortung erlernt, das Klicksonar, wobei dezente Klicklaute seiner Zunge jeweils einen Schall aussendeten. Das von Gegenständen oder Hindernissen ausgehenden Echo des Klicklautes wurde sogleich im visuellen Kortex seines Gehirns ausgewertet. Über die Echos konnte Fedor Objekte bereits in einer Entfernung ab zirka zwanzig Zentimetern interpretieren. Er benutzte zwei oftmals schnell wechselnde verschiedene Klickformen. Für die unmittelbare Nähe einen schwachen, hohen Knall, den er vorn am Gaumen mit breiten Lippen erzeugte und der wegen seiner kleinen Wellenlänge eine hohe Auflösung entstehender Abbildungen ermöglichte, und einen am hinteren Gaumen erzeugten kräftigen und lauten Klick durch seinen geöffneten und zu einem O geformten Mund. Mit diesen, von seinen Mitmenschen deutlicher zu vernehmenden Klicklauten sah er Objekte in größerer Entfernung, diese allerdings in geringerer Auflösung. Der Schall wurde von den verschiedensten Materialien so reflektiert, dass Fedor ihn unterscheiden und den richtigen Oberflächen und Materialien zuordnen konnte. Häufig hatten Fedor und sein sehender Vater spielerisch die Entfernung verschiedener Bäume oder Gegenstände geschätzt. Und siehe da, Fedors Schätzungen waren wesentlich genauer gewesen.

Mit der ständigen Nutzung des Klicksonars und wegen seiner hohen Begabung gelang es Fedor, die absichtlich erzeugten Echosignale von anderen akustischen Quellen zu isolieren. Mittlerweile beherrschte er die Echoortung so ausgezeichnet, dass er viele Echos – auch die von fremden passiven Schallquellen – in Bruchteilen von Sekunden intellektuell verarbeiten konnte. Somit trennte sein Gehirn die Schallwellen in zwei unterschiedliche Gruppen. Normale Umgebungstöne wurden als solche vom Gehirn als gehörte Töne verarbeitet. Die Schallwellen seiner aktiven Klicks oder die reflektierten von passiven Quellen sammelte sein Gehirn in komplexen, leicht verschwommenen und dreidimensionalen Graustufenbildern. Sehende Menschen sagen oft – auf eine akustische Störung angesprochen: »Das höre ich schon lange nicht mehr.« Ähnlich erging es Fedor. Die Schallwellen, die in seinem Kopf Bilder erzeugten, überlagerten die tatsächlichen Töne nicht. Beispielsweise stand Fedor am Straßenrand, ein Auto kam angefahren, dessen Motorengeräusch der Junge selbstverständlich hörte. Ferner wurden die Schallwellen des Motorengeräuschs von Straßenbäumen reflektiert, in Fedors Bild waren die Bäume zu sehen. Durch zusätzliches Klicken wurde das Bild vervollständigt. Fedor sah die Umrisse des Autos, Bordsteinkanten, einen Radfahrer, Straßenschilder und einen Mülleimer, der von einer Eisenstange im Boden gehalten wurde, dazu die Bäume, Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite, eine Häuserflucht, Fenster, Türen, Stufen und andere Menschen.

Natürlich lag Fedors »Sehen« hinter dem tatsächlich Sehender zurück, Farben konnte er nicht wahrnehmen und sie sich nicht oder nur schwer vorstellen, kleine Objekte und Details unter zwei Zentimetern, wie beispielsweise flache Stufen oder Schwellen, zeigten sich nicht. Und doch hatte er es bereits mehrfach geschafft, größere Objekte in Entfernungen von über dreihundert Metern wahrzunehmen. Die Wahrnehmung als solche half dem Jungen, sich in fremden Umgebungen zu orientieren. Viel wichtiger war es für ihn jedoch, Dinge nicht nur wahrzunehmen, sondern sie anhand von Erfahrungen und Kenntnissen zu identifizieren.

Fedor benutzte mitunter den neuen, hochmodernen Blindenstock, doch dessen Handhabung entwickelte sich nicht mehr weiter, sie hatte die höchste Nutzungsstufe erreicht, und das langweilte ihn. Also verließ sich Fedor auf die aktive Echoortung und damit auf seine Ohren. In zweiter Linie nutzte er seinen ausgeprägten Geruchssinn. Er trat nie in einen Hundehaufen, denn die verrieten sich ihm zeitig. Er erkannte praktisch alle ihm vertrauten Personen am Körpergeruch, was mit der Echoortung unmöglich war. Ein dritter Sinn, der Tastsinn, dem Fedor lange Zeit wenig Beachtung geschenkt hatte, half ihm mehr und mehr, die eigene Vorstellungskraft von Form und Zustand der georteten Objekte zu verbessern. Er unterschied bei Gegenständen und Gesichtern bereits zwischen schön und hässlich, jung und neu oder alt und kaputt.

Allerdings – wie das bei einem Jugendlichen wahrscheinlich völlig normal ist – vernachlässigte er hin und wieder das einfache und gewöhnliche Verhalten, vergaß oft den Langstock und stolperte prompt durch Löcher und über flache Kanten, denn die sah er mit dem Klicksonar nicht. Zudem wollten die Beine und Arme nicht so reagieren, wie er es sich gewünscht hätte. Die Motorik seiner Bewegungen musste sich nach dem rasanten Wuchs erst wieder einjustieren.

Zusammengefasst war Fedor Sorokin ein pubertierender Vierzehnjähriger, der mit seiner Blindheit besser zurechtkam als mit seinem gegenwärtigen Leben.

*

Der Junge stand vom Rechner auf, zog die Ohrstöpsel aus den Ohren und warf sich aufs Bett. Er lauschte dem hässlichen Aprilwetter. Regen trommelte gegen das Fenster, Sturmschauer änderten die Luftdruckverhältnisse im neuen Haus, das recht einsam und außerhalb der sächsischen Stadt Leipzig gelegen war. Der Vater hatte es bauen lassen, nachdem das alte Haus an gleicher Stelle vor einem knappen Jahr von Lauras Vater zerstört worden war. Während der Planung und der Bauphase hatte Fedor beharrlich seine Forderungen und Wünsche durchgesetzt. So war ein einstöckiges Haus mit einem großzügigen Grundriss, mit Türen ohne Schwellen und unzähligen kleinen und großen Hilfen für einen blinden Jungen entstanden. Fedors Zimmer war praktisch und ohne Kanten eingerichtet, sein Weg zu den Sanitärräumen kurz und ohne Hindernisse.

Selbstverständlich hatte Fedor in der Schule den einen oder anderen Freund, doch keiner – und schon gar kein Mädchen – kam mit seiner Behinderung so zurecht wie einst Laura. Keiner der jetzigen Freunde war mit dem blonden Mädchen vergleichbar. Laura schrieb ihm über die elektronischen Medien, rief manchmal auch an, doch ihr damals erfühltes Gesicht verblasste mehr und mehr in Fedors Erinnerungen. Zudem wurden die Kontakte seltener, die Beziehungskurve neigte sich abwärts. Lauras Mutter hatte der Tochter den Kontakt in die Bundesrepublik verboten, das wusste Fedor längst.

Im neuen Haus gab es zwei kleine Gästezimmer und ein Gästebad. Dieser Bereich wurde extrem selten bewohnt und genutzt, denn Fedors Vater war seit vierzehn Jahren mehr oder minder solo.

Für eine gewisse Zeit war er mit Katie liiert gewesen, der Kriminalassistentin von Hans Rattner, einem Hauptkommissar der Mordkommission in Leipzig und dem besten Freund von Anatolij Sorokin. Doch irgendwie war die Beziehung mit Katie nach den Ereignissen des vergangenen Sommers in die Brüche gegangen. Hin und wieder war Katie anfangs im neuen Haus zugegen gewesen, Fedor erlauschte jedoch, dass sie mit seinem Vater definitiv keinen Sex mehr hatte. Dann war die Weihnachtszeit gekommen, sie hatte sich plötzlich zu einem anderen Mann hingezogen gefühlt und kam seitdem nicht mehr vorbei. Im Januar hatte sie sich versetzen lassen und war weggezogen.

Manchmal tauchte Hans Rattner auf. Er sorgte sich sehr um Fedors Befinden, gab dem Jungen gut gemeinte Ratschläge und beschäftigte sich mit ihm.

Da gab es aber noch diese zweite Frau, deren Kosename obskurerweise ebenfalls Katie war, obwohl sie Jekaterina Ruslanowna Wolkowa hieß. Sie wohnte mit ihren zwei kleinen Nervensägen Anton und Natascha in Moskau. Fedor wusste mit großer Sicherheit, dass der Vater diese Frau geliebt hatte und wahrscheinlich noch immer innig liebte. Und er war verwundert, dass Katie keinen Kontakt mit dem Sorokin-Zweiergespann in Leipzig pflegte. Vielleicht lag es ganz einfach an den in der Moskauer Wohnung fehlenden technischen Mitteln. Doch das konnte lediglich eine schlechte Ausrede sein. Jekaterina Wolkowa war einer der wenigen Menschen, dessen Gesichtszüge und -form sich in Fedors Gehirn fest eingeprägt hatten. Sie war ihm aus dem Stegreif sympathisch gewesen.

Die Einsamkeit außerhalb der Schule und seiner Integrationsklasse machte Fedor zu schaffen. Das Haus lag abseits der Stadt und der Vater war oft nicht da. Fedors beste Freunde wurden ein Android-Tablet und ein Computer, seine medialen Kontaktstellen zur Außenwelt.

Anatolij Sorokin erhielt im SEK neue Aufgaben, da sein Sohn nun selbstständiger und älter geworden war. Während er bislang meist irgendwelche unbedeutenden Aufgaben im Personenschutz zu lösen gehabt hatte, erhielt er mittlerweile komplexere Aufträge. Rattner riet ihm, sich beim MEK – dem Mobilen Einsatzkommando – zu bewerben, das, im Gegenteil zum SEK, direkt der Kriminalpolizei unterstellt war. Das passte aber den Vorgesetzten Sorokins vom SEK nicht, das in Sachsen der Landespolizeidirektion Zentrale Dienste unterstellt war. Die wollten einen guten Mann wie Sorokin nicht so einfach abgeben. Die Ameise war in der internen Hierarchie des SEK aufgestiegen und hatte bereits einige brisante Einsätze geleitet, zum Beispiel einen gefährlichen Einsatz während eines Bankraubs mit Geiselnahme in einer sächsischen Kleinstadt. Ironischerweise hatte ihn dabei auch eine MEK-Einheit unterstützt. Letztendlich lebte Sorokin häufiger mit verstecktem Gesicht als mit offenem.

Fedor bekam die Mehrarbeit des Vaters zu spüren. Normalerweise ersetzte ihm der körperliche Kontakt jeden Blickkontakt sehender Menschen. Er genoss es, wenn seine Hand von der des Vaters gehalten wurde, während er dessen Gesicht erfühlen durfte, wenn der Vater abends am Bett seinen Kopf streichelte. Außerdem fehlte dem Jungen die Kommunikation. Er liebte es, Fragen zu stellen und schaffte es, auf jede Antwort eine neue Frage zu finden, vor allem dann, wenn er etwas nicht gänzlich verstand. Der Junge lauschte oft den Nachrichten oder populärwissenschaftlichen Sendungen im Fernsehen und im Radio, ließ sich von einer computergenerierten Stimme seitenweise Informatives aus Wikipedia vorlesen und fand stets und ständig fragwürdige Dinge, die einer weiteren Erklärung bedurften. Der Drang, seine dunkle, graue Welt vollends zu erfassen, war immens. Und nebenbei schwang stets und ständig ein wenig Angst um den Vater in Fedors Gedanken mit, die sich mit der Dauer der Abwesenheit Sorokins deutlich steigern konnte.

Dieser Donnerstag vor dem Osterfest war einer jener Wartetage. Die Schule war frühzeitig beendet, der Bus brachte ihn schnell nach Hause und das Wetter sperrte Fedor ein. Zudem war er angespannt, denn sein Vater hatte versprochen, in der Ferienwoche nach Ostern Urlaub zu nehmen und mit Fedor zu verreisen. Wohin es gehen sollte, hatte er allerdings noch nicht verraten.

Der Junge angelte ein zweites Paar Ohrhörer aus einer Halterung neben dem Bett, berührte die Knöpfe seines Android-Tablets und lauschte den Worten eines Sprechers, der einen weltbekannten Thriller vorlas. Dem Sprecher gelang es allerdings nicht, die Spannung hochzuhalten, so dass Fedors lange schwarze Wimpern mit den Augenlidern allmählich die dunklen Pupillen seiner defekten Augen verdeckten. Er schlief nur so lange ruhig, bis ihn die Träume in eine Welt der Erinnerungen schickten, die für unablässige Bewegungen seiner Mimik und für das Zucken seiner Gliedmaßen sorgten.

*

Artjom, der Riese, packte ihn, trug ihn unterm Arm wie ein Plüschtier und rannte in den engen Duschraum. Er zerrte ein Gitter aus der Halterung. »Geh da hinein! Kriech, so weit es geht! Und sei ganz still!« Fedor kroch in den engen Schacht, der aufwärts führte, erfühlte die breiten Fugen und stemmte Rücken und Füße gegen die Wände. Stück um Stück kroch er aufwärts, hielt sich irgendwo an einem rostigen Eisen fest. Und wenn die Kräfte nachließen, zog er sich mit Klimmzügen höher und kroch weiter. Fedor hatte das Ende des Schachtes und das seiner Kräfte erreicht. Schüsse krachten! Der Schacht endete in einem Blechaufsatz auf dem Dach des Hauses, der ein letztes Mal abbog und dann von einem Gitter verschlossen war. Der Junge quetschte sich in dieses Ende und lauschte. Wind pfiff in den Schacht, doch zwischendurch hörte Fedor deutliche Stimmen, denn auf dem Dach waren mindestens zwei Männer! Schritte trampelten auf dem Dach herum. Fedor hielt die Luft an. Er zuckte zusammen, als erneut mehrere Maschinenpistolen gleichzeitig ratterten. Unzählige Salven steigerten Fedors Angst. Eine Pistole knallte und Fedor brüllte innerlich. Tränen liefen über seine Wangen, sein Herz raste. Dann herrschte plötzlich Ruhe, Stimmen und Schritte auf dem Dach vor Fedor waren nicht mehr zu hören. Die Zeit verging, viel Zeit. Der Junge wagte noch keine Regung. Doch dann krochen erste Rauchgase durch seine Nase, drangen in die Lunge vor, drohten ihn zu ersticken. Sirenen von Rettungswagen erklangen. Schweiß ertränkte Fedor im engen Schacht, er verspürte die beklemmende Atemnot, hustete und prustete. Der Schacht saugte heißen Qualm aus der brennenden Wohnung weit unter ihm. Mit aller Kraft trat Fedor gegen das Gitter, das endlich nachgab und über das Dach davonflog. Er kroch hastig aus dem Schacht, eingehüllt in eine Wolke Qualm, Hustenanfälle zerrissen fast seinen Brustkorb. Fedor erhob sich auf die Knie. Er wagte es nicht, sich auf dem Dach zu bewegen. Dann aber hörte er eine Stimme: »Komm her, Junge! Schnell!« Flammen loderten, die Luft kochte. »Ich kann doch nichts sehen!«, brüllte Fedor mit letzter Kraft. Er klickte hektisch, setzte die Echoortung ein, um den Abgrund des Flachdaches zu finden, kroch über das flache Dach in Richtung der fremden Stimme. Schließlich griff er ins Leere und stürzte vom Dach in eine unendliche Tiefe. Er stürzte so lange, bis er endlich eine vertraute Stimme vernahm.

*

»He, mein Schatz. Ganz ruhig. Du hast wieder geträumt.« Sorokin saß auf der Bettkante und strich schwarze Locken aus der schweißgetränkten Stirn seines Sohnes. Er sprach in der russischen Muttersprache, was er oft tat, damit Fedor diese Sprache besser beherrschen lernte. Deutsch sprach der Junge ohnehin perfekt, er verbesserte oft sogar das Deutsch des Vaters. »Khorosho. Khorosho. Alles ist okay.«

»Papa«, flüsterte Fedor und ergriff die Hand des Vaters, als wollte er sie niemals wieder loslassen.

»War es wieder der verfluchte Brand in Moskau?«

»Es ist immer der gleiche Traum. Ich wache meistens auf, wenn ich von diesem blöden Dach falle.«

Sorokin lächelte. »Du bist aber nicht gefallen. Die Feuerwehrleute haben dich gerettet, meine kleine Zuckernase.« Mit dem Zeigefinger der linken Hand stupste er Fedors Nase.

»Das sollst du nicht sagen«, flüsterte der Junge und zog sich am kräftigen Arm des Vaters hoch. »Ich habe Durst.«

»Warum darf ich dich neuerdings nicht mehr ›Zuckernase‹ nennen?«, fragte Sorokin erstaunt. »Ist es dir peinlich?«

»Weil das nur Mama durfte«, raunte Fedor. Und er setzte flüsternd hinzu: »Und Jekaterina vielleicht. Die darf es auch.«

»Du denkst manchmal an Katie?«

»Oft.« Fedor kuschelte sich an den Vater, als wäre er wieder der kleine Junge von vor zehn Jahren. »Ich mag sie sehr. Schade, dass sie nie anruft.«

Kurz darauf saß der Junge am Küchentisch und wartete auf die Bedienung durch Sorokin.

»Wohin fahren wir in den Ferien?«, fragte Fedor schließlich.

»Zu den Eskimos.«

»Wirklich?«

»Natürlich nicht. Wohin wir fahren? Das ist ein Geheimnis«, antwortete Sorokin und goss sich einen kleinen Wodka ein, »das ich noch ein wenig für mich behalten will.«

»Was hast du heute gemacht?«

»Papierkram.«

»Papierkram? Und was für einen Papierkram?«

Sorokin trank den Wodka aus und verdrehte die Augen. Die Fragerei hatte begonnen und es würde kein Zurück mehr geben. »Ich musste den Bericht vom Einsatz am Dienstag schreiben.«

»War das der peinliche Einsatz mit dieser Oma?«

»Was ist, wollen wir Currywurst essen?«

»Von mir aus Currywurst. War das nun der peinliche Einsatz mit der Oma?«

Sorokin nahm zwei Packungen mit Mikrowellen-Wurstscheiben in Tomatensoße aus dem Kühlschrank, riss sie erst unten auf, nahm die kleinen Tütchen mit Curry-Pulver heraus, riss die Wurstpackung oben auf, gab den Inhalt auf zwei tiefe Teller, streute etwas von dem Curry-Pulver darüber, deckte beide Teller mit zwei weiteren flachen Tellern ab, stellte sie übereinander in die Mikrowelle, schaltete das Gerät ein, nahm vier Toastscheiben aus einer Packung im Hängeschrank und steckte die ersten beiden in den Toaster. »So richtig peinlich wurde der Einsatz schließlich erst durch die dämlichen Medienberichte.«

Fedor grinste. »Ich wusste es. Du musstest den Papierkram machen, weil ihr eine arme, alte Oma überfallen habt.«

»Fedor! Wir haben die Frau nicht überfallen. Es hätte auch eine äußerst ernste Geschichte werden können.«

»War es aber nicht.« Fedor grinste noch immer. »Sie hat tatsächlich nur ganz laut einen Fernsehkrimi angeschaut?«

Die ersten beiden Toastschnitten flogen auf die Arbeitsplatte. Die nächsten wanderten in den Toaster. »Ja. Hat sie.«

»Und einer von nebenan hat die Polizei gerufen, weil er Schüsse gehört hat?«

Die Mikrowelle gab ein »Bing« von sich. Sorokin nahm die Teller heraus, verbrannte sich fast die Fingerkuppen, deckte die Teller ab und stellte sie mit Hilfe eines Topflappens auf den Tisch. Dann nahm er zwei Gabeln aus dem Besteckkasten und legte sie zwischen die Teller. »Ja«, sagte er wieder. »Warte noch, die Teller sind sehr heiß.«

»Ich weiß.« Fedor beschäftigte die Oma mehr als die Currywurst. »Und ihr habt die Wohnung der Oma gestürmt, die vor Schreck fast gestorben wäre?«

Sorokin griff sich das linke Ohr von Fedor, der ihn herzlich auslachte, während die nächsten beiden Toastscheiben aus dem Toaster flogen. »Du Halunke bist schlimmer als all die aufgeblasenen Zeitungsreporter.« Er gab dem Jungen einen Kuss auf die Wange, klaubte das Brot zusammen und setzte sich.

Mit der rechten Hand griff Fedor gezielt zu einer Gabel, dann nahm er einen Toast in die linke Hand und biss hinein. Mit vollem Mund fragte er: »Habt ihr in der Wohnung auch geschossen?«

Sorokin stocherte in der Currywurst-Mahlzeit herum, die er hasste und doch immer wieder kaufte. »Natürlich nicht.«

»Und hättet ihr?« Fedor schob sich die winzigen Currywurstscheiben auf dem Teller zurecht, um sie dann einzeln aufzuspießen, anzupusten und in den Mund zu stecken. Selbstverständlich fiel auch mal eine von der Gabel.

»Nur im Notfall. Stell dir vor, jemand hätte die Frau wirklich überfallen und tatsächlich in der Wohnung geschossen. Was dann?«

»Und?« Fedor schwieg zunächst. »Wirst du jetzt dafür bestraft?«, fragte er schließlich.

»Nein. Unsere Einheit hatte einen klaren Auftrag, den sie ordnungsgemäß ausgeführt hat. Bei der Oma hat man sich entschuldigt. Fertig.« Sorokin kaute. »Stell dir vor, jetzt wird ein riesiger Aufriss um die Sache gemacht. Und nächste Woche überfällt ein Verrückter oder ein Kopfkranker eine Familie, erschießt den Vater und bringt vier Kinder und die Mutter in seine Gewalt. Wir werden gerufen und alle machen sich in die Hose, aus Angst, wieder einen peinlichen Fehler zu begehen. Was dann?«

Schweigend suchte Fedor nach den letzten Wurststückchen. »Wahrscheinlich wäre das nicht gut für die Frau und die Kinder.«

»So ist es. Eben deshalb sollte die Sache nicht so aufgebauscht werden. Manchmal fahren Krankenwagen zu einem Unfall, obwohl niemand verletzt ist, weil aber jemand dachte, dass es Verletzte geben könnte. Sollten sie deshalb bei jedem Notruf überlegen, ob sie überhaupt losfahren?« Sorokin wartete auf den üblichen Satz seines Sohnes, der diesen Gesprächsabschnitt abschließen würde.

»Nein, sollten sie nicht. Sonst kommen sie bei anderen vielleicht zu spät.« Nun kam tatsächlich der obligatorische Satz: »Jedenfalls kann ich mir jetzt alles gut vorstellen.«

Erleichtert atmete Sorokin auf. »Willst du noch was trinken?«

»Ja, gern.« Fedor lächelte und räumte die Teller und die Gabeln vom Tisch in den Geschirrspüler. An diesem Abend hatte er noch nicht ein einziges Mal geklickt. Im Haus war das nur selten notwendig, hier kannte Fedor jeden Winkel.

»Onkel Hans kommt!«, rief Fedor plötzlich.

Sorokins Stirn bildete kleine Falten des Erstaunens, auch wenn ihn die Fledermausohren seines Sohnes häufig erstaunten. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. Tatsächlich, der BMW des Hauptkommissars war vorgefahren. Gerade stieg Hans Rattner aus, hielt seinen altmodischen Hut an der Krempe fest und lief zur Haustür. »Machst du ihm auf?« Sorokin schaute ins Zimmer zurück, doch sein Sohn stand längst an der Haustür und schloss sie von innen auf.

Rattner trat sofort ein, schüttelte sich, zog den Mantel aus, hängte ihn auf, legte den Hut auf die darüber befindliche Ablage, stellte eine Einkaufstüte ab, zog die Schuhe an den Hacken aus, schlüpfte mit den Füßen in die Gästepantoffeln, die Fedor vor ihn auf den Boden geworfen hatte und drückte den Jungen herzlich. »Na, mein Junge, wohin willst du noch wachsen? Mich hast du ja längst eingeholt. Du kannst mir bequem auf den Kopf spucken.«

»Soll ich denn?«, fragte Fedor und griff nach der rechten Hand des Kommissars.

Der griff mit der anderen Hand nach seiner Tüte und ließ sich von dem Jungen durch den Flur ins Wohnzimmer führen. »Untersteh dich!«, raunte er. Dann drückte Rattner Sorokin ebenso herzlich wie zuvor den Jungen. »Ich musste mich doch noch mal bei euch sehen lassen, bevor ihr mich verlasst.«

»Wir werden nicht für immer weg sein, Hans. Nur für ein paar Tage.«