Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien - Tino Hemmann - E-Book

Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien E-Book

Tino Hemmann

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Beschreibung

Was wie ein Familienurlaub an Kroatiens idyllischer Mittelmeerküste aussieht, wird für Familie Sorokin aus Sachsen zum Horrortrip. Der Vater des blinden Jungen Fedor erhält als SEK-Mann vom BND den Auftrag, Terroristen aufzuspüren, die laut NSA einen Anschlag auf den Leipziger UNI-Riesen planen. In Zadar steht Sorokin zwei Kriegsverbrechern gegenüber, denen Menschenleben völlig egal sind. Todor ist der eine. Er verlor als Kind im Jugoslawienkrieg durch NATO-Bomben die Eltern und wurde vom Soldaten Stokan zum kindlichen Mörder umfunktioniert, bis es in Srebrenica zur Katastrophe kam. Sorokins Informant in Zadar wird hingerichtet, Kinder werden zu Geiseln, Polizisten heimtückisch erschossen. Sorokin spürt, dass dieser Krieg im Herzen Europas noch nicht zu Ende ist. Hemmanns dritter abgeschlossener Thriller mit Fedor und Anatolij Sorokin: fesselnd und spannend bis zum Showdown am Mittelmeer.

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Tino Hemmann

AUF WIEDERSEHEN, BASTARD!

(3)

Прощай, ублюдок! (Proshchay, ublyudok!)

Showdown in Kroatien

Thriller

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Bis auf die historisch erwiesenen Tatsachen sind alle Ereignisse und Personen in diesem Buch frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit Personen unserer realen Welt wäre daher zufällig und unbeabsichtigt.

Die Ausführungen zum Klicksonar beruhen auf den Erkenntnissen von Mel Goodale, Leiter des »Centre for Brain and Mind« an der University of Western Ontario in London, Canada.

Im Buch benutzte Markennamen und Warenzeichen sind selbstverständlich rechtlich geschütztes Eigentum der Rechteinhaber.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Lektorat: Dr. Silke Ihrig

Cover: Tino Hemmann unter Verwendung der Fotos von »Mann« © Alexander Trinitatov – Fotolia

»Junge« © Laurent Hamels – Fotolia

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

www.tino-hemmann.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Leipzig - 16. August

Udbina, RSK - 21. November 1994

Leipzig - 16. August

Zadar - 17. August

Dresden - 17. August

Leipzig - 17. August

Internationaler Luftraum - 18. August

Leipzig - 18. August

Zadar - 18. August

Internationaler Luftraum - 18. August

Zadar - 18. August

Leipzig - 18. August

Zadar - 18. August

Leipzig - 18. August

Zadar - 18. August

Zadar - 19. August

Leipzig - 19. August

Zadar - 19. August

Leipzig - 19. August

Zadar - 19. August

Zadar - 28. August

Epilog - 29. August

Weitere Bücher

Bibliografie von Tino Hemmann

Anmerkung

Leipzig

16. August

Der Wald erzeugte ein unheimlich düsteres Gefühl, das Unterholz wucherte und ein quittegelber Halbmond schaute bekümmert vom Firmament auf die Geschehnisse herab. Die beiden Kinderchen, das Gretel sechs und das Hänsel gerade einmal fünf Jahre alt, liefen Hand in Hand durch kniehohes Gras und ihre winzigen Füßchen, in kleinen Turnschuhen steckend, raschelten im Laub. Plötzlich huschte ein Rehlein aus dem Unterholz, sprang eher wie ein gejagter Hase vorbei und erschreckte die Geschwister fast zu Tode.

»Mama und Papa haben uns absichtlich in den Wald gebracht. Sie wollen uns nicht mehr haben!«, wetterte Gretel stark betont und drehte aufgeregt an ihren langen Zöpfen.

Hänsel, das eine süße, kurze Lederhose und ein himmelblaues T-Shirt trug, schaute ängstlich umher.

Die Schwester wartete derweil ungeduldig, dass Hänsel endlich etwas sagen würde. Plötzlich schaute Hänsel das Mädchen hilfesuchend an. Gretel bewegte die Lippen. »Ich bin…«, flüsterte sie schließlich.

Hänsels Gesicht hellte sich auf. »Ich bin so traurig, weil sie das tun mit uns.« Er öffnete den Mund, als wollte er etwas rufen. Doch es kam nur ein hartes »Chr« aus der Kehle.

Jetzt starrte Gretel den Bruder an und blickte sich dann um, als könnte irgendwer helfen. »›Hilfe!‹ musst du rufen!«, flüsterte sie.

»Ya ne mogu!«, flüsterte das kleine Hänsel, während eine Träne nach der anderen über seine rechte Wange rollte.

»H…«, machte Gretel. »H…!«

Doch Hänsel gab wieder nur sein »Chr« von sich, während die Tränen zu einem heftigen Rinnsaal anwuchsen.

Gretel drückte die Hand des kleinen Bruders und hauchte: »Komm, wir rufen zusammen.« Und laut rief sie, das »H« betonend: »Hallo! Hilfe!« Und Hänsel stimmte mit ein: »Chrallo! Chrilfe!«

Das mehrstimmige Lachen anderer zwergenhafter Gestalten ertönte. Dann plötzlich kam eine Frau durch den Pappwald gelaufen, alle Rehe und Hasen hüpften wie wild durcheinander und das große Chaos war perfekt!

»Ruhe, Kinder!« Babette, die junge, korpulente und dunkelhaarige Erzieherin klatschte dreimal in die Hände. »Okay!« So, als könnten ihre Hände zaubern, herrschte tatsächlich plötzlich andächtige Stille auf der kleinen Bühne im Kindergarten und viele Augenpaare starrten sie an. »Das habt ihr alle ganz prima gemacht!«, rief sie und kniete sich neben Anton Sorokin, der im Kindergartenmärchen das Hänsel spielen musste und auch wollte. Sie wischte ihm ein paar Tränen vom Kinn und lächelte den Jungen an. »He, Anton! Das mit dem ›H‹, das lernst du ganz bestimmt noch. Und deine Schwester wird sicher viel mit dir üben. Nicht wahr, Natascha?«

Sogleich nickte das Mädchen eifrig und zählte einige Wörter auf: »Ich kenne nämlich alle Wörter mit H: Hallo, Hilfe, Huhu, Hahn…«

»Ich kann das aber nicht«, flüsterte Anton in stockendem Deutsch.

»Du musst das auch nicht gleich können. Irgendwann wirst du es lernen. Bis dahin sagt du eben Chrallo, Chrilfe und Chrahn.« Die Erzieherin erhob sich und klatschte wieder in die Hände. »So, nun zieht ihr alle ganz vorsichtig die wunderschönen Kostüme aus und legt sie auf eure Plätze!«

Ein wüstes Gerangel begann. Währenddessen erschienen auch noch die ersten Eltern, um ihre Sprösslinge aus der dörflichen Kindertagesstätte am Rande der Stadt Leipzig abzuholen.

Immer wieder schaute die vierundzwanzigjährige Babette zur Tür, als warte sie auf einen ganz bestimmten Elternteil. Heute war Donnerstag. Babette wusste, donnerstags würde er die russischen Geschwister abholen: Er! Anatolij Sorokin. Ein muskulöser Mann, welcher Babettes Herz zum Bersten bringen konnte, einer, bei dem sie vor lauter Aufregung zum wandelnden Ungeschick wurde, dahinschmolz, wie Butter in der Tropensonne, auch wenn sie längst wusste, dass eben dieser Mann glücklich verheiratet und Vater dreier Kinder war!

Und dann trat Sorokin ganz plötzlich und lautlos in Erscheinung, füllte fast vollständig den Türrahmen aus – freundlich lächelnd, mit blitzenden Zähnen, in körperbetonter, moderner Kleidung, sportlich und athletisch wie ein Action-Filmheld.

»Tagchen, Herr Sorokin.« Babette hängte Natascha eine Frühstückstasche um den Hals.

»Nje! Das ist nicht meine!«, protestierte das Mädchen. »Die gehört doch Anton! Die ist blau mit einem Auto drauf! Ich will aber kein Auto!«

»Oh…« Sogleich tauschte die Betreuerin die blaue gegen eine pinkfarbene Tasche. »Und«, sagte sie laut, »ist Fedor heute nicht mit?«

Fedor, der fünfzehnjährige Sohn Sorokins, musste mit einem schweren Handicap leben. Er war von Geburt an blind. Fedor verbrachte sein ganzes Leben – abgesehen von den ersten Tagen – in Deutschland, während die beiden Stiefgeschwister Natascha und Anton erst vor einem guten Jahr eingebürgert worden waren, nämlich kurz nachdem Sorokin Katarina, die Mutter der beiden Kleinen, aus Moskau nach Leipzig geholt hatte.

»Doch, ist er.« Sorokin warf einen Blick in den Flur. »Wenigstens war er eben noch hier.«

Im gleichen Moment tauchte der dünne, hochgewachsene Fedor auf und brachte die Jacken seiner Geschwister mit, die er aus etlichen auf winzigen Bügeln hängenden Jacken der Kindergartenkinder herausgefunden hatte.

»Hallo, Babette«, raunte Fedors zwischen hoch und tief schwankende Stimme, während er leicht errötete.

»Hallo, Fedor. Alles okay bei dir?«

Fedor kniete sich auf den Boden und half Anton in das Jäckchen. Sofort hing der kleine Bruder an Fedors Hals und herzte den großen Jungen übertrieben.

»Geht so. – Lass das, Anton, und halte still.« Fedor erhob sich und hielt Anton an der Hand. Hier im Kindergarten brauchte Fedor weder seinen Langstock noch die Hilfe seiner Klicksonartechnik, mit der er eingeschränkt zu sehen gelernt hatte. Diese neue Technik beherrschte der blinde Jugendliche unglaublich gut. Über bestimmte Schnalz- und Klickgeräusche wurden Wellen ausgesandt, die von größeren Hindernissen und Gegenständen reflektiert, dann von Fedors Gehör empfangen und von seinem Gehirn inzwischen völlig automatisch in Bilder umgewandelt wurden. »Und du?«

Babette lächelte. »Alles okay. Anton muss das ›H‹ üben. Er kann sonst nicht um Hilfe rufen, wenn was ist.«

Sorokin schnappte sich Natascha und nahm die Kleine mühelos auf den Arm. »Musste er denn um Chilfe rufen?«

Jetzt grinste die Betreuerin. Oh, wie sie diesen Akzent liebte! »Unser Anton ist das Hänsel im Theaterstück Hänsel und Gretel. Und das Hänsel muss nun mal um Hilfe rufen.«

Fedor lauschte. Er kannte Babette nur flüchtig. Und sie war zweifellos mindestens fünf Jahre älter als er, doch hatte es ihm ihre Stimme angetan. Diese weiche, angenehme und stets bedachte Stimme wirkte ein wenig erotisierend auf den Fünfzehnjährigen, der gegenwärtig die Hochzeit seiner Pubertät durchlebte und befürchtete, niemals mehr ein Mädchen abzubekommen. Zu gern hätte er das Gesicht von Babette abgetastet, um der lieblichen Stimme eine Form zu geben. Doch würde er es niemals wagen, sie eben darum zu bitten.

»Wenn Anton niest, dann kann er aber das ›H‹«, flüsterte Fedor.

»Beim Niesen?« Erneut lächelte das Mädchen. »Dann lass ihn mal viel niesen üben. – Anton! Mach mal ›Hatschi‹!«

Anton schaute hinauf und verstand nicht so recht. »Chratschi?«, fragte er. »Warum?«

Babette wuschelte Antons Haare. »Ist schon gut, mein Schatz. Auf Wiedersehen, bis morgen.«

Brav verabschiedeten sich die Kinder. Errötend gab Babette Sorokin die Hand.

Kurze Zeit später saßen die Sorokins zusammen in der Familienkutsche, einem großen, schwarzen Volvo. Natascha schwatzte ununterbrochen und berichtete von der Märchenprobe. »Die Pfefferkuchen sind aus Pappe«, sprach sie. »Sonst hätten wir das ganze Haus schon lange aufgegessen.«

»Hast du etwa gekostet?« Fedor saß zwischen den Kleinen.

Natascha nickte und kicherte.

In diesem Moment erklang ein schriller Ton im Auto. Sorokin berührte eine Taste und gab ein deutlich hörbares »Blyad’!« von sich. Sofort erhöhte er das Tempo.

»Was ist los, Papa?«, fragte Fedor, der genau wusste, was dieser Ton zu bedeuten hatte. Das SEK rief seine Leute zusammen.

»Papa, was ist blyad’?«, fragte Anton, an dessen großen Augen man seine wachsende Müdigkeit ablesen konnte.

»Da muss was passiert sein«, raunte Sorokin und fuhr so schnell durch eine Kurve, dass alle Kinder aneinandergedrückt wurden. »Was Ernstes. Heute Mittag haben sie noch gesagt, dass absolut nichts anliegt.«

»Was ist blyad’, Papa?«, fragte Anton erneut.

Fedor flüsterte in sein Ohr: »Blyad’ ist russische Scheiße. Aber das sagt man nicht.«

Nun gerade. »Blyad’! Blyad’! Blyad’! Blyad’!«, rief Anton und zeigte kichernd seine klitzekleinen Milchzähne. Und noch einmal: »Blyad’!«

In diesem Moment gab Natascha dem Brüderchen mit dem Handrücken einen derben Schlag gegen die Stirn und rief höchst erzieherisch: »Mann, Anton, das sagt man nicht!«

Sorokin wusste, was nun folgen würde. Zehn Sekunden lang schwieg Anton und atmete nicht. Dann klappte die untere Lippe um, sein Mund öffnete sich und ihm entfuhr ein bemerkenswert heftiges Brüllen, das nicht mehr enden wollte. Durch sanftes Kopfstreicheln versuchte Fedor, den Winzling zu beruhigen, welcher sich schließlich an den großen Stiefbruder kuschelte und nur noch schluchzte.

Dies war der Moment, da sich der Vater zu Wort meldete. »Danke, Natascha. Danke, Fedor. – Bringst du die beiden hoch und sagst Mama Bescheid, dass ich noch mal weg musste?«

»Klar doch.« Fedor verzog das Gesicht. Von der Bundesstraße bis zur Haustür waren es genau 378 Schritte bergauf. Das Einfamilienhaus der Sorokins stand weit abseits in der Leipziger Tiefland-Prärie, der kein Mensch solch eine Steigung zutrauen würde. Und spätestens nach zwanzig Schritten wollte Anton immer getragen werden. »Kein Problem, Papa. Wie lange wirst du weg sein?«

Sorokin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Dann hielt er direkt an der Bundesstraße, unmittelbar an der Auffahrt zum Haus. »Vielleicht dauert es gar nicht lange.«

Mit Küsschen verabschiedete sich Sorokin von seinen drei Kindern, dann brauste er davon, während Fedor Natascha an die rechte und Anton an die linke Hand nahm und den Aufstieg begann.

Der Langstock hing über Fedors Schulter. Für ihn hatte der Junge keine Hand frei. Außerdem kannte er in diesem gefühlte Millionen Mal gelaufenen Gebiet fast jeden Grashalm persönlich. Nur ein einziges Mal war Fedor hingefallen. Ein kleiner Maulwurf, fast ebenso blind wie er, hatte seinen Hügel ausgerechnet auf Fedors Schleichweg gebuddelt.

»Wenn du Anton immer haust, dann wirst du irgendwann wirklich in den Wald geschickt«, erklärte Fedor und drückte Nataschas Hand etwas fester. »So wie Gretel. Dann kommst du in den Backofen, auch ohne Knusperhäuschen.«

Natascha schwieg lange bedächtig. »Wirklich in den heißen Backofen?«

»Aber sicher. Dann wirst du braun gebrutzelt wie ein Brot.«

»Wie ein Brot!«, rief Anton kichernd.

Natascha sagte erneut lange Zeit kein Wort. »Ich will aber nicht in den Backofen!«, rief sie plötzlich.

»Dann darfst du Anton eben nicht mehr schlagen.« Fedor lächelte. Das Ziel war erreicht. »Wir schleichen uns rein und erschrecken Mama«, flüsterte er.

Damit waren die Kleinen selbstverständlich einverstanden. Geschickt und leise steckte Fedor den Schlüssel in den Zylinder und öffnete sanft die Haustür. Doch kaum war sie offen, da stürmte Anton los und rief unüberhörbar: »Chruchru, Mama! Wir sind da! Natascha hat mit mir Aua gemacht!«

Udbina, RSK

21. November 1994

Todor blickte sich nochmals um.

»Bitte, bitte! Pass gut auf dich auf, mein Junge!«, rief der Großvater ihm nach, der wie fast immer ein altes, abgewetztes Fell wegen seiner vom Rheuma geplagten Knochen trug. »Hörst du, Todor? Wenn die verfluchten Soldaten kommen, egal was für welche, dann versteckst du dich gut und gib bloß keinen Ton von dir! Hast du das kapiert, Todor?«

Während er bereits in die Pedale trat und mühevoll das Gleichgewicht auf dem für den Neunjährigen viel zu großen, klapprigen Drahtesel hielt, rief Todor zurück: »Da, da, Djede! Ich bin doch fast erwachsen!«

Es herrschte Krieg im Land. Lange Zeit konnte Todor nicht begreifen, warum das so war. Ihm wurde eingeredet, dass es in der Gegend viele Serben gäbe, das Land aber von Kroaten beherrscht würde, die von NATO-Soldaten im Auftrag der Vereinten Nationen unterstützt werden.

Als Todor nach dem Unterschied zwischen Serben und Kroaten gefragt hatte, konnte ihm niemand eine zufriedenstellende Antwort geben. Also sah er sich Niko und Kristina näher an, Geschwisterkinder, die mit ihm gemeinsam die Schule besuchten. Niko war knapp vierzehn und Kristina erst acht Jahre alt. Todor musste feststellen, dass sie weder anders aussahen noch dass sie sich anders verhielten als er. Und doch wurde Nikos Familie neuerdings von Todors Großvater fast abwertend als »elende faschistische Kroaten« bezeichnet.

»Das Schlimmste ist«, erklärte der Großvater, »dass Nikos Mutter zudem eine Muslime ist, die Nikos Vater eines Tages von einer Geschäftsreise mit nach Udbina schleppte.«

»Also ist Niko halb Kroate und halb Bosniake?«, fragte Todor.

Der Djede dachte einen Augenblick lang nach. Dann antwortete er: »Gewissermaßen… Ja, so ist es.«

»Bis jetzt hat aber niemand darüber gesprochen. Bis jetzt haben wir in der Schule gelernt, dass unser Land Jugoslawien heißt. Und plötzlich ist alles ganz anders. Das verstehe ich nicht.«

Der Großvater streichelte dem Jungen den Kopf. »Das ist nur, weil du noch so klein bist. Du kennst es nicht anders.«

Todor versuchte, all diese Neuigkeiten zu begreifen, was einige Stunden dauerte.

»Djede, warum sollen Niko und Kristina jetzt plötzlich anders sein als wir?«, fragte Todor am Abend, als er in seinem Bett lag und der Großvater wie immer ein kleines Gebet für den Jungen sprach.

»Es ist ihr Glauben, Todor, der sie anders macht«, sagte der Djede.

Damit schien er tatsächlich recht zu haben, denn Niko und Kristina besuchten eine andere Kirche als Todor. Sie glaubten zwar wie er an den lieben Gott, doch sprachen sie in einer katholischen Kirche mit ihm. Todor stellte allerdings fest, dass der alte Lehrer Bellic – angeblich selbst ein Serbe – den armen Niko in letzter Zeit nicht mehr so behandelte wie die anderen Schüler. Oftmals schrie er ihn wegen Lappalien an und bezeichnete ihn zudem als einen »hirnlosen Hosenwichser«, was Bellics Lieblingsschimpfwort war.

»Ist ein Jugoslawe ein Moslem, so ist er automatisch ein Bosniake«, erklärte der Großvater überzeugend. »Denn alle Katholiken sind Kroaten, sie glauben an den Papst und gehen in die römisch-katholische Kirche. Echte Serben aber folgen der orthodoxen Kirche, genau genommen der griechisch-orthodoxen Kirche. Ich und auch du – wir wurden nach der Taufe mit Myron und nicht mit Chrisam gesalbt, also sind wir Serben.«

Todor hatte lange überlegt. »Aber Djede, ob es nun Myron oder Chrisam war…« Dann fragte er: »Sie sind doch aber alle Jugoslawen, oder?«

»Mein Todor.« Djede streichelte seine Stirn. »Jugoslawien gibt es nicht mehr.«

»Ach, so ist das…« Der Junge machte sich zunächst Gedanken darüber, was wohl geschehen würde, wenn der Priester nach der Taufe einen serbischen Jungen versehentlich mit Chrisam einreiben würde. Wäre der Junge dann wegen einer Verwechslung plötzlich ein Kroate? Todor gähnte bei diesem Gedanken herzhaft und war schließlich eingeschlafen.

Schon rollte der Junge den Abhang hinunter, er musste den Lenker kräftig festhalten, denn überall auf dem unbefestigten Weg gab es Löcher und Höcker. Rechts am Lenker hing das Netz mit dem Wurst- und Brotpäckchen, gehalten von einer in der kalten Luft blau angelaufenen Hand.

Bereits seit über sechzig Stunden waren Todors Eltern nicht zu ihrem Kind und zu ihrem Hof in das Dorf Udbina zurückgekehrt. Sie arbeiteten als Zivilangestellte auf dem Flughafen in der Gespanschaft Lika-Senj, die vor allem von Serben und Kroaten bevölkert wurde und seit ein paar Jahren zur Republik Serbische Krajina gehörte. Hin und wieder, ganz besonders in den Nachtstunden, starteten die Flieger der Serben vom Flugplatz Udbina, um all den verhassten NATO-Faschisten den Garaus zu machen, wie sich Djede gern auszudrücken pflegte.

Allmählich ließ die Kraft in den Beinen des abgemagerten Jungen nach. Der Novemberwind blies ihm derb entgegen und eine lange Strecke hieß es bergaufwärts fahren. Todor biss die Zähne zusammen. Er fürchtete sich nicht vor Kriegern und Fliegern, sondern davor, dass wieder einmal ein Reifen platzen könnte. Die Fahrradschläuche waren schon etliche Male repariert worden und neue gab es nicht. Nicht während des Krieges. Im Grunde genommen gab es fast gar nichts. Mama verzweifelte regelrecht, denn Todor wuchs viel zu schnell aus seinen Sachen heraus. Und nirgends gab es etwas zum Anziehen für den Jungen!

»Darf ich etwa nicht mehr wachsen, nur weil Krieg ist?«, hatte Todor gefragt. Die Mutter hatte ihn an sich gedrückt und als Antwort bitterlich geweint.

Nun erreichte er die höchste Erhebung auf dem Weg zum Flugplatz. Todor sprang vom Rad und schaute hinunter zum Flughafen. Es schien alles ruhig zu sein, ein paar Autos standen am Tor, ein paar Fahrzeuge im Schutz der technischen Gebäude, einige weitere, meist kleine Agrarmaschinen, warteten auf dem Platz hinter dem flachen Hauptgebäude.

Mit etwas Anlauf kam das Fahrrad wieder ins Rollen, Todor schwang sich auf den durchgewetzten Sattel und fuhr mit steigender Geschwindigkeit hinab. Unten schwenkte er in großem Bogen auf einen Betonweg ein, der am westlichen Zaun des Flughafens entlangführte. In einhundertfünfzig Metern Entfernung sah der Junge die Werkstatt, in der Mutter und Vater beschäftigt waren. Ein Lächeln glitt über sein schmales, kindliches Gesicht – er hatte es fast geschafft! Kräftig trat Todor in die Pedale. Nur noch einhundert Meter bis zu dem kleinen, rostigen Tor, von dem die rote Farbe seit Langem abgeblättert und an dem das Schild mit der Aufschrift »PRESTANITIE!« längst verwittert war.

Der Junge zuckte zusammen. Rasch kam ein lautes Brummen näher! Weniger als fünfzig Meter vor dem Tor stoppte Todor erschrocken das Rad und blickte hinauf in den wolkigen Himmel. Das war kein startendes Flugzeug! Auch kein einzelnes der Serben, das zur Landung ansetzen wollte!

Ein Maschinengewehr hämmerte kräftig sein Lied. Die Melodie, die Todor längst kannte, kam vom Flugplatz, weniger als zweihundert Schritte entfernt. Der Junge rannte, das Rad schiebend, auf das Tor zu. Dabei rutschte ihm das Paket mit dem Essen vom Lenker und fiel auf den staubigen Boden. Er wendete hastig das Fahrrad. Ein Pedal schlug ihm gegen die nackte Wade und hinterließ eine blutende Schramme. Todor klaubte das Essenpaket auf und schaute erneut hinauf zum Himmel. Die dunklen, brummenden Punkte wurden rasch größer. Dem Lärm nach zu urteilen, musste es eine ganze Flotte von Kampfflugzeugen sein! Das waren garantiert keine serbischen Flieger! Dann brachten die Angreifer ihre tödliche Fracht auf den Weg. Raketengeschosse rauschten heran. Erste Detonationen erklangen, Dreck wurde aufgewirbelt und Rauchwolken stiegen über dem Flugplatz auf.

Ein scharfes Zischen bohrte sich in Todors Ohren. Etwas kam auf ihn zu und verfolgte ihn! Keine zehn Meter über dem Boden! Er gab dem Fahrrad einen Stoß, es rollte in den Graben, dann sprang Todor hinterher. Wenige Sekunden später schlug die Rakete in das Werkstattgebäude ein. Der Boden bebte, Todors Beine wurden unter Erde und Geröll begraben. Er hörte nichts mehr und fühlte nur die eiskalte Druckwelle. Um ihn herum wurden alte Bäume wie Strohhalme geknickt, Steine flogen als tödliche Geschosse umher. Es krachte und dröhnte. Staub erstickte seinen Atem. Der Junge griff mit den Armen ins Leere, wollte den eigenen Körper aus der Geröllumklammerung ziehen, doch die Kräfte verließen ihn rasch. Dann traf ein heftiger Schlag Todors Kopf und ließ ihn besinnungslos werden.

*

Als er zum zweiten Mal erwachte, schrie Todor. Er brüllte und schlug wild um sich. Er hörte nicht die Stimme des Großvaters, die den kleinen Todor beruhigen wollte. Er hörte lange Zeit nur ein bestialisches Rauschen und Fiepen. Er sah die Rakete auf sich zukommen. Immer und immer wieder.

Als dann das Rauschen in den Ohren endlich nachließ, weinte Todor nur noch leise.

Der Großvater streichelte unablässig Todors Schultern. Der Kopf des Jungen war komplett mit einer mäßig sauberen Binde umwickelt.

»Gott hab sie selig«, flüsterte der Großvater. »Sie sind alle tot, mein Junge. Gott hab sie selig.«

Genau drei Stunden und vierundvierzig Minuten hatte der Angriff gedauert. Dreißig britische, französische, niederländische und US-amerikanische Kampfflugzeuge machten unter dem Deckmantel der Operation Deny Flight den Flughafen von Udbina dem Erdboden gleich. Ein Racheakt für serbische Angriffe – hieß es später. Serben hätten mit ihren Kampfflugzeugen aus der Luft die Stellungen von UNPROFOR-Truppen der NATO im dreißig Kilometer entfernten Bihać beschossen. Angeblich waren sie von dem kleinen Flugplatz Udbina gestartet. Und die Antwort der NATO fiel verheerend aus. Alle Gebäude auf dem Flughafen und in der Umgebung wurden zerstört, sogar Wohnhäuser und Stallanlagen in Udbina. Sämtliche Zivilbeschäftigte, die sich auf dem Flugplatzgelände aufhielten, mussten mit ihrem Leben bezahlen, wurden zerrissen, verschüttet oder verbrannt.

Auch Todors Mutter. Und auch Todors Vater.

Die Eltern ließen den Neunjährigen mit einem ruinierten Glauben und einem gewaltigen Hassgefühl zurück.

Todors Djede starb nur einen Monat später, drei Tage vor Heiligabend, sein Körper und sein Geist waren nicht gewillt, die Trauer zu überleben.

Tage später, mitten in einem kalten Wintersturm, fanden Soldaten der VRS (Vojska Republike Srpske), auch bekannt als »Armee der bosnischen Serben«, den fast verhungerten und völlig verwahrlosten Todor zwischen den Trümmern des ehemaligen Flugplatzes, lethargisch nach der eigenen Vergangenheit suchend.

Der Mann in Uniform stand plötzlich vor dem, was von jenem Kind noch übrig war, er hielt eine Maschinenpistole im Anschlag und schwieg minutenlang.

Der Junge vor ihm saß einfach nur da und hauchte ein Kinderlied durch seine verkrusteten, geschwollenen Lippen. Immer und immer wieder. Eines, das ihm die Mutter so oft zum Einschlafen vorgesungen hatte.

»Spavaj u miru, dete moje…« – Schlaf in Frieden mein Kindchen…

Der Soldat der VRS trug den Namen Stokan Vujasinović. Er setzte sich erst neben das Kind und hörte lange zu. Dann drückte er den Jungen an sich und fragte laut, um das Fauchen des Windes zu übertönen: »He, Junge! Bist du ein Serbe?«

Erst Sekunden später kam die Frage bei Todor an. Er schaute den fremden Mann lange an, betrachtete dessen Waffe, dann die Stiefel, dann das Gesicht und schließlich nur noch die Augen. Letztendlich fiel sein Kopf auf die Schulter des Soldaten, lag darauf wie auf einem wärmenden Kissen. Und die Lippen hauchten in das Ohr des Mannes: »Ich wurde mit Myron gesalbt. Also muss ich wohl ein Serbe sein.«

*

Bereits sieben Monate später war der nun zehnjährige Todor davon überzeugt worden, dass all die muslimischen Bosniaken zweifelsfrei mit den NATO-Mördern unter einer Decke steckten. Ihm wurden immer wieder Geschichten über die Gräueltaten der Kroaten, Bosniaken und NATO-Soldaten erzählt, die unzählige Serben aus ihrer Heimat vertrieben und viele ermordet hätten.

Viele, viele Kilometer führte der Krieg den Jungen von der Heimat fort. Die Einheit, der Stokan angehörte, fuhr immer weiter gen Osten, fast bis zur neuen Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und dem regulären Serbien. Hier gab es ein von Bosnien beanspruchtes Außengebiet der VRS, das von den Vereinten Nationen zur Schutzzone erklärt worden war und von NATO-Soldaten kontrolliert wurde.

Todor lachte übertrieben herzlich und scheinbar zufrieden, als ihm eines Tages Stokan, einer der VRS-Soldaten, in einem Lager ganz in der Nähe von Potočari auf die Schulter klopfte und meinte: »Jetzt werden wir die bosnischen Mörderbanden endlich auslöschen! Ein für alle Mal! Diese verfluchten holländischen NATO-Soldaten scheißen sich ins Hemd. So groß ist ihre Angst. Wir kehren unsere Heimat sauber. Und du darfst uns dabei helfen, Todor.«

Wenige Tage später kam Stokan vorbei und winkte den Jungen zu sich. Todor fuhr daraufhin mit Stokan, dem er vertraute, in einem VW-Bus einem Tross aus Lkws und einem Linienbus hinterher.

Sie standen am Rand eines Wäldchens auf dem Feld, als Todor sich die Ohren zuhielt, denn mehrere ratternde Maschinenpistolen zersägten die nächtliche Ruhe.

Ein Mann, welcher kontrolliert hatte, ob die Gefangenen wirklich alle tot waren, näherte sich. »Da, nimm!«, forderte er plötzlich und reichte dem Zehnjährigen seine Waffe. »Schnell!«

Er zog den Jungen mit sich durch die Dunkelheit. Todor erblickte im Mondschein viele graue Körper von Männern, die mit aufgerissenen Mündern und Augen an Erdhaufen angelehnt saßen oder auf dem Boden lagen. Fast alle regten sich nicht, sie waren vermutlich tot. Todor sah sickerndes Blut, zerschossene Leiber, zerfetzte Köpfe oder aber bleiche Gesichter.

Ein bestialisches Brüllen ertönte! Der Junge sah sich für einen Augenblick um. Ein Radlader mit leuchtenden Scheinwerferaugen näherte sich mit gewaltigem Lärm.

Stokan Vujasinović ergriff Todors Jacke und zerrte ihn mit sich. »Es ist die Zeit deiner Rache! Da kommt schon der Bagger!« Er schob Todor vor sich her. »Hier! Der da!«, sagte er und zeigte auf einen jungen Burschen, welcher heulend seine zerfetzte Wange zeigte, zerrissen von einem Streifschuss, der den Jungen nicht hatte töten können. »Gib ihm den Gnadenschuss!«

Todor legte das Gewehr an die Schulter, entsicherte es und zielte auf den Kopf des Feindes. Er wartete noch, denn Kimme und Korn zitterten. Dann tauchten die Scheinwerfer des Radladers Todor und das Opfer in grelles Licht.

Einen Augenblick lang sah ihn dieser Fremde mit einem bekannten Gesicht an. Die Augen waren voller Schmerz. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Tränen rannen über sein Gesicht. Er trug eine Jeans und ein buntes Kinder-T-Shirt. Erst jetzt begriff Todor, dass dieser Junge nicht viel älter war als er selbst.

»Denk an deine Eltern und schieß endlich!«, rief Stokan.

Todor schloss für einen Moment die Augen und bewegte den Finger. Der Rückschlag des Kolbens warf ihn fast um. Der andere Junge gab keinen Ton von sich. Er starb einfach.

»Das hast du nun davon!«, brüllte Todor den toten Jungen an. »Du Idiot hast dir die falsche Seite ausgesucht! Das hast du nun davon! Verfluchter Idiot!« Er gab dem Soldaten wütend die Waffe zurück.

Todor stand in der Nähe, als der Radlader Gräben für die Leichen öffnete, diese dann zusammenschob und hineinschaufelte oder überrollte. Er drehte sich um, kotzte sich fast den Magen aus dem Leib, doch echte Trauer verspürte er nicht. Immer wieder sah er die aufgebahrten, verkohlten, zerfetzten und zerquetschten Leichen seiner geliebten Eltern vor sich. Diese Bilder verließen ihn niemals. Sie kamen in den Tag- und Nachtträumen zu ihm. Auch das Bild des flehenden Jungen.

Auch noch, als Todor längst erwachsen war.

Leipzig

16. August

»Und das kommt tatsächlich von der NSA?« Sorokin blickte abwechselnd den alten Herrn und die Papiere in der offenen Mappe an.

»So ist es.« Dieser Herr berlinerte unüberhörbar.

»Das sind aber private E-Mails und Telefonate.«

Der Mann vom Bundesnachrichtendienst lief einmal durch den Raum, schob die altmodische Brille zurecht und raunte: »Warum nicht? Nichts spricht dagegen, dass die Nationale Sicherheitsbehörde der Amerikaner so etwas tut. Würden sie darauf verzichten, hätten wir diese Warnung jedenfalls nicht erhalten.«

Die Worte dieses Mannes klangen wie die eines Politikers in den Nachrichten, der die amerikanische Spionage in Schutz nehmen wollte. »Und was habe ich mit der Sache zu tun?« Sorokin war nicht wohl zumute bei der Sache.

»Sie? Sie sind doch aus Russland.«

»Was bitte hat Russland damit zu tun?« Erst schüttelte er das Haupt, dann hob Sorokin die Top-Secret-Mappe an und ließ sie zurück auf den Tisch fallen. »Das hier…«, er schaute abermals auf den oberen Zettel, »… spielt in Jugoslawien.«

»In Kroatien«, verbesserte der BND-Mann. »Jugoslawien gibt es bekanntlich nicht mehr. Kroatien können wir getrost als unser Handlungsgebiet bezeichnen. Und außerdem… Wir haben keinen besseren Mann als Sie gefunden. Das sollte Ihnen eine Ehre sein.« Er drehte wieder eine Runde durch das Büro. »Davon abgesehen: Die Ameise hat eine Familie, ein leicht südländisches Aussehen und reichlich Erfahrung.«

Die Ameise – das war Sorokins Pseudonym in SEK-Kreisen – beobachtete den alten Herrn, dem es dem Aussehen nach nicht schlecht zu gehen schien. »Was soll das heißen? Sie wollen meine Familie benutzen?«

»So ist es«, antwortete der Mann skrupellos.

»Das kann ich nicht zulassen.« Sorokin erhob sich jetzt. »Tut mir leid.«

»Nehmen Sie sofort wieder Platz!« Die tiefe Stimme schlug zu wie ein Befehl. Eine kurze Pause entstand, während dieser Mann in einem Kalender blätterte, ohne etwas finden zu wollen. Die Luft im Raum stand still. Sorokin ließ sich zurück auf den Stuhl fallen und wartete. Jetzt setzte sich der alte Herr ebenfalls auf einen Stuhl, allerdings auf der anderen Seite des Schreibtisches, drehte die Mappe zu sich herum und entnahm ihr einige Dokumente. »Vertrauen Sie mir. Ihre Familie hat damit nichts zu tun. Sie wird in Kroatien Urlaub machen wie tausende andere Familien, die dafür viel Geld bezahlen müssen. Sie fliegen gemeinsam mit Frau und Kindern nach Zadar, wohnen in einem erstklassigen Hotel und nehmen ganz allein Kontakt zu einem Mittelsmann auf, welcher Sie in die Nähe des Verdächtigen bringen wird. Sie werden sehen, Ihre Familie wird Ihnen für die schönen Tage dankbar sein. Und außerdem sind Sie der Bundesrepublik Deutschland noch einen Gefallen dafür schuldig, dass wir Sie und Ihre eingewanderte Familie so nett aufgenommen haben. In anderen Nationen zählen Ameisen zu den unerwünschten Parasiten.«

Während ihm das zuletzt Gesagte sauer aufstieß, starrte Sorokin das Bild an, das ihm der BND-Mensch unter die Nase hielt und schließlich auf den Tisch legte.

»Das Zielobjekt ist männlich, etwa neunundzwanzig Jahre alt. Einen Namen haben wir noch nicht. Er nennt sich selbst Pilot und ist kroatischer Serbe.«

»Pilot?«

»Nun ja. Auf Kroatisch Pilot.«

»Und was heißt Pilot auf Deutsch?«

»Pilot.«

Die Ameise fühlte sich veralbert. »Ist er etwa ein Flieger?«, fragte Sorokin erstaunt, doch der Mann zuckte nur mit den Schultern.

Er tippte stattdessen auf einen der Zettel. »Hier hatte er Telefonkontakt mit einem gewissen Božidar. Es ist von Saksonija die Rede und von MANPADS. Sie wissen, was das bedeutet?«

»MANPADS? Das sind schultergestützte Kurzstrecken-Boden-Luft-Lenkwaffensysteme.«

Der alte Mann nickte. »MANPADS sind handlich und können von einem einzigen Mann bedient werden. Oder natürlich auch von einer Frau. Das Erstellen der Feuerbereitschaft dauert rund dreißig Sekunden. Das Ziel wird mit dem Laser angestrahlt und die Rakete fliegt anhand des Laserstrahls direkt hinein. Kabumm!« Er erhob sich wieder. »Afghanistan, Irak und Nordafrika haben uns gezeigt, dass man nicht unbedingt nur Luftziele anvisieren muss. Bei festen Zielen am Boden funktionieren die Dinger viel besser. Unsere Spezialisten gehen davon aus, dass es durchaus möglich ist, dass der Pilot einen terroristischen Anschlag in Sachsen plant. Ich verrate Ihnen wahrlich kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass alle eingeweihten Leute – sowohl bei unserer Gefahrenabwehr als auch in den Gremien auf Bundesebene und in der sächsischen Staatsregierung – von einem gewissen Unbehagen befallen sind.« Jetzt stand der Mann hinter Sorokin, der dessen rechte Hand auf seiner rechten Schulter spürte. »Selbstverständlich kann es möglich sein, dass dieses Unbehagen unbegründet ist und dass hinter all dem nur ein übler Scherz steckt. Die uns vorliegenden Informationen wurden allerdings über einen Zeitraum von acht Wochen gesammelt. Sollte da etwas dran sein, dann muss es nicht zwingend ein Hubschrauber sein, der abgeschossen wird, was allerdings von allen erdenklichen Zielen noch das angenehmste wäre. Das Ziel könnte nämlich auch ein sächsischer Kindergarten oder eine Leipziger Schule sein. Mit den schwedischen RBS 70-Boliden kann man Ziele aus acht Kilometern Entfernung treffen. Die Rakete erreicht eine höhere Geschwindigkeit als Mach Zwei und funktioniert auch im Dunkeln ganz gut. Der Schütze hätte auf jeden Fall das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Nähert sich die Rakete dem Ziel und erreicht sie den Ansprechradius des Näherungszünders, dann wird der Splittergefechtskopf gezündet. Bei einem Direkttreffer hingegen wird der Sprengkopf durch den Aufschlagzünder gezündet. Wie auch immer, sie explodiert. Selbst wenn Sie, wie dieser Superman aus dem Kino, die Rakete fangen würden, sie würde Sie oder ihn in viele kleine Teile zerfetzen oder wie ein Sieb durchlöchern.« Er klappte die Mappe zu. »Bei Gelegenheit zeige ich Ihnen gern ein paar unschöne Aufnahmen aus unseren Lieblingskrisengebieten. Glauben Sie mir, guter Mann, ich spaße nicht. Niemand macht irgendwelche Späße mit solchen Dingen.« Erneut nahm er Platz, schwieg und starrte Sorokin an.

»Mit dem Flugzeug?«, fragte der Hüne schließlich.

»So ist es. Sie fliegen mit einer Passagiermaschine. Vor Ort erhalten Sie alle notwendigen Ausrüstungsgegenstände.«

Sorokin zwang sich ein winziges Grinsen ins Gesicht. »Das klingt eher nach James Bond als nach einem durchdachten Auftrag.«

»James Bond? Dass ich nicht lache.« Der Mann blieb ernst. »Wir befinden uns in der Realität, mein Lieber, nicht in einem Roman oder gar in einem Film. Und die Gegenseite schon gar nicht.«

Erneut versank Sorokin in Schweigen. Er sah den Kindergarten von Anton und Natascha. Er sah weinende Kinder zwischen Trümmern.

Ruckartig erhob sich der Hüne und streckte die rechte Hand aus. »Okay. Ich übernehme den Auftrag.«

Der alte Herr schlug ein. »Nach allem, was ich über Sie gehört und gelesen habe, habe ich nichts anderes erwartet. Morgen früh neun Uhr findet eine geheime Dienstbesprechung im Sächsischen Landtag statt. Fragen Sie nach der Kulturausschuss-Tagung. Zu keinem ein Wort. Ihrer Familie erzählen Sie am besten, dass Sie in Dresden eine dienstliche Anerkennung in Form einer Auszeichnung erhalten haben, verbunden mit einer Urlaubsreise. Alle Unterlagen erhalten Sie morgen früh. Und seien Sie pünktlich.« Nun erst ließ der Mann Sorokins Pranke los. Und er lächelte.

*

»Was ist denn passiert?« Fedor lauschte. Er hatte seiner Stiefmutter die Frage abgenommen.

Die fünfköpfige Familie saß beim Abendessen am Tisch. Gerade noch rechtzeitig war Sorokin aufgekreuzt. Der kleine Anton kniete auf einem dicken Kissen und stützte den Kopf mit der linken Hand ab. Hin und wieder fielen ihm die Augen zu oder er gähnte herzhaft.

»Ich muss morgen früh ziemlich zeitig nach Dresden in den Landtag.«

»Und warum?«, fragte Fedor, dessen Finger vorsichtig ertasteten, was es zum Abendbrot gab.

Jekaterina Sorokin schob einen Becher zu Fedors Hand. »Das ist der Fleischsalat, den du so gern isst.« Vor einem Jahr noch hieß die Mutter Wolkowa. Nach der Hochzeit hätte sie in Russland den Nachnamen Sorokina geführt. Doch in Deutschland wollte man das nicht zulassen. Das weibliche »a« am Namensende wurde ihr genommen, im Ausweis stand lediglich Jekaterina Sorokin.

»Danke«, flüsterte Fedor und wartete auf eine Antwort des Vaters.

Der aber kaute erst zu Ende.

In der Zwischenzeit schmierte Jekaterina Sorokin dem kleinen Anton ein Schnittchen und ließ ihn abbeißen. »Du kannst dann gleich ins Bett gehen«, sagte sie.

Doch Anton protestierte, allerdings sehr leise und weinerlich: »No ya khochu televizor.«

»Rede bitte deutsch, Antoschka. Und ganz bestimmt wirst du heute nicht mehr fernsehen. Deine Augen fallen ja schon zu.« Erneut ließ Jekaterina Sorokin den Jungen von der Schnitte abbeißen. Die Häppchen wurden allerdings immer kleiner.

»Mir scheint, als hätten sie eine Überraschung für mich geplant«, sagte Sorokin in diesem Moment. »Vielleicht eine Auszeichnung.«

»Das wäre ja prima. Verdient hast du sie längst«, meinte Jekaterina Sorokin.

»Wir sind hier nicht in Sowjetrussland. In Deutschland ist eine Belobigung die Ausnahme.«

»Und wofür?«, fragte Fedor. »Wofür solltest du eine Auszeichnung bekommen?« In seiner Frage schwang eine gewisse Häme mit.

Sorokins Antwort war für den blinden Jungen äußerst unbefriedigend. »Keine Ahnung.« Er biss in sein Brot und sprach nun doch mit vollem Mund: »Morgen weiß ich jedenfalls mehr.«

Zadar

17. August

Die jungen Männer – Božidar, Darko und Zlatko – saßen auf den Steinen unmittelbar an der Bucht am Kanal von Zadar unweit des Dörfchens Petrčane in der kroatischen Gespanschaft Zadar, das gerade einmal fünfhundert Einwohner zählte. Es war hochsommerlich heiß.

Die Bucht wurde von den beiden Halbinseln Punta Skala und Radman Skala gebildet. Das Dörfchen Petrčane war zweigeteilt. Direkt am Meer lag der Ortsteil Donje Petrčane und weiter oben, nur Minuten entfernt, gab es Gornje Petrčane. Zwölf Kilometer entfernt, in südöstlicher Richtung, befand sich die wunderschöne Stadt Zadar. Die jungen Leute interessierten sich heutzutage kaum noch für Fischfang und Landwirtschaft, sie wussten längst, dass Tourismus, Autoverkauf und Software-Entwicklung die besseren Einnahmequellen waren.

Etliche Touristen befanden sich auf dem Ausflugsboot, welches durch die Bucht schipperte, ein umgebautes Boot, das früher als Fischkutter gedient hatte.

Doch Božidar, Darko und Zlatko zählten sich nicht zum Durchschnitt der kroatischen Bevölkerung. Nach seinem Studium im Ausland hatte der siebenundzwanzigjährige Božidar eine moderne Informatikfirma in Zadar gegründet, die vornehmlich Programmieraufträge für deutsche Firmen ausführte. Sie verdienten nicht schlecht für kroatische Verhältnisse.

Todor, der vierte Mann im Bunde, der aber nicht in Božidars Firma TRRK angestellt war, trug trotz der hohen Temperaturen einen maßgeschneiderten Anzug und darunter ein weißes Hemd. Der braun gebrannte, muskulöse Mann stand nah am Ufer und hob jetzt gerade den rechten Arm, als würde er eine große Waffe tragen und mit dieser auf das Touristenboot zielen.

»Bumm. Bumm. Bumm«, flüsterte er. Er blies den imaginären Rauch vom unsichtbaren Lauf seiner Waffe weg und blickte hinüber zur alten Bartholomäuskirche, die noch aus dem 12. oder 13. Jahrhundert stammte und unablässig von Touristenströmen begafft wurde. Deutlich war der hohe Glockenturm an der Stirnseite zu erkennen.

Todor ließ den rechten Arm sinken und drehte sich rasch um. Dann lief er mit kurzen, eiligen Schritten auf den untersetzten, kahlköpfigen, jedoch mit einem üppigen Vollbart gesegneten Božidar zu, ergriff dessen pinkfarbenes T-Shirt und riss derb daran.

»Wiederhole, was du gesagt hast! Sag es mir ins Gesicht!« Seine Stimme klang unbeherrscht.

Božidar, der von seinen Freunden Darek genannt wurde, trat sogleich den geordneten Rückzug an. »Es war nicht so gemeint.«

Noch ließ der Stärkere das T-Shirt nicht los. Im Gegenteil, er krallte sich tiefer hinein. »Wie war es dann gemeint?«

Einen Moment zögerte der Bärtige und suchte nach den richtigen Worten. »Dein Hass…«

»Was ist mit meinem Hass?«, fauchte Todor.

»… dein Hass passt nicht in unsere Zeit«, vollendete Božidar die Erklärung und blickte Todor ängstlich abwartend an.

Der ungleich Kräftigere zog ihn am T-Shirt hoch und so nah an sich heran, dass sich beider Gesichter fast berührten. »Du hast keine Ahnung, wie sehr mein Hass in unsere heutige Zeit passt, Darek. Besuchen dich in jeder Nacht die verfluchten Träume? Nein! Sie kommen zu mir! Immer nur zu mir!«

Božidar lächelte mitleidig.

Zlatko kam ihm zu Hilfe. »Darek meint damit, dass es falsch ist, dass Unschuldige für deinen Hass bezahlen müssen.«

Todor gab Božidar einen Stoß, sodass der Schwächere in den Dreck fiel, und zog sich Anzug und Binderknoten zurecht. »Was werdet ihr tun, wenn die NATO in einigen Jahren erneut in unsere Heimat einmarschiert und eure Frauen und Kinder umbringt? Seid ihr erst dann so weit zu begreifen, woher mein Hass kommt? Waren meine Eltern schuldig? Oder waren sie nicht auch Unschuldige, die ermordet wurden?« Er streckte den rechten Arm aus und half Božidar auf. Dann strich er ihm den Schmutz vom Rücken. »Ihr habt nichts damit zu tun. Absolut nichts. Hätte ich euch als Fremder mit der Programmierung beauftragt, dann hättet ihr mir euren Preis gesagt und ihr hättet es getan. Die Routinen könnten ebenso in einem Spielzeugroboter eingesetzt werden. Es ist mein Krieg. Und es bleibt mein Krieg, völlig egal, ob ihr damit einverstanden seid oder nicht.« In aller Ruhe holte Todor seine Zigaretten aus dem Jackett und zündete sich eine an. Langsam zog eine schmale Qualmwolke durch seine Lippen. »Nur«, flüsterte er, »sollte einer von euch der Meinung sein, mich an irgendwen verpfeifen zu müssen, dann gnade ihm Gott.« Todor schoss mit dem rechten Fuß ein Steinchen die Böschung hinunter. »Ihm wird dann weder Zoilo, Simeon, Grisogonus noch Anastasia helfen können.« Zadar stand unter dem Patronat dieser vier Schutzheiligen. Erneut zog Todor an seiner Zigarette. Er wechselte das Thema, seine Stimme klang wieder gefasst und deutlich. »Wann also seid ihr fertig?«

Darko, der bislang geschwiegen hatte, hüstelte, bevor er sprach: »In zehn Tagen bekommst du, was du bestellt hast. Bis dahin sollten wir uns aus dem Weg gehen, Todor.« Er schaute nicht hinauf zu seinem Auftraggeber. Unsicher setzte Darko hinzu: »Und danach erst recht.«

Todor nickte zunächst einige Male, dann erst sagte er: »Das ist zu spät! Ich verlange, dass ihr eher fertig seid! Ihr übergebt die Daten am ausgemachten Ort. Anschließend werdet ihr am gleichen Ort euer Bargeld finden. Geht jetzt! Geht jetzt!«, brüllte er plötzlich.

Božidar, Darko und Zlatko verschwanden augenblicklich. Sie wechselten kein Wort, während sie durch die Büsche zum Weg liefen.

Lange noch stand Todor da und blickte hinaus in die Bucht, beobachtete das Urlauberschiff und kratzte sich mehrmals am Hals. Dann verschwand auch er. Den weißen Opel Kadett hatte er in der Nähe geparkt.

Kaum saß er am Steuer, da klingelte sein Handy. Ein Blick auf das Display verriet Todor, dass es wichtig war.

»Ja?«, fragte er. Das Gespräch wurde in serbischer Sprache geführt.

»Es ist alles arrangiert.«

»Sind die Partner zuverlässig?«

»Absolut.«

»Wann kehrst du zurück? Es könnte sein, dass ich dich brauche.«

»Die Maschine geht morgen früh. Ich bin gegen sechzehn Uhr im Quartier.«

»Nein. Zweiundzwanzig Uhr ist besser«, sagte Todor.

»Okay. Treffen wir uns um zweiundzwanzig Uhr.«

Das Gespräch war beendet.

»Wenigstens auf Stokan kann ich mich verlassen«, flüsterte Todor, warf das Handy auf den Beifahrersitz und fuhr – eine Staubwolke auf dem unbefestigten Weg hinterlassend – los.

Dresden

17. August

»Die Tagung vom Kulturausschuss, wo findet die statt?« Sorokin warf ganz nebenbei einen Blick auf die Armbanduhr des Servicemitarbeiters im Sächsischen Landtag: 8:45 Uhr.

Kurz danach betrat er einen Raum, vor dem sich zwei verkabelte Sicherheitsleute langweilten.

Sechs Augen starrten Sorokin an, während er die Tür schloss, gemächlich zum Tisch ging, einen Stuhl ergriff, diesen einen guten Meter vom Tisch wegzog und sich setzte.

»Guten Morgen.«

Der alte Mann vom BND war nicht anwesend. Ohne ersichtlichen Grund war Sorokin darüber erleichtert.

Die drei Herren nickten ihm zu. Einer öffnete einen Koffer. »Okay. Kommen wir gleich zur Sache.« Er zeigte in den Koffer. »Hier finden Sie die offizielle Urkunde des Sächsischen Landtages, die Reiseunterlagen, die Flugtickets und ein chiffriertes Dokument für die Übernahme weiterer Dinge für Ihren ungetrübten Aufenthalt am Bestimmungsort. Das Dokument vernichten Sie. Alle Telefongespräche, die mit Ihrem Einsatz zu tun haben, führen Sie mit diesem Smartphone. Sollten die vierzehn vorgesehenen Tage nicht ausreichen, dann liegen die Dokumente für die Verlängerung Ihres Aufenthaltes an der Rezeption bereit. Täglich um zweiundzwanzig Uhr schicken Sie einen Bericht an die siebte Adresse der gespeicherten Kontakte. Der Bericht wird vom Handy automatisch kodiert. Im extremen Notfall, und nur in diesem, schicken Sie per SMS dreimal die Eins an die dritte Adresse. Unter Umständen helfen Ihnen dann unsere Verbündeten vor Ort.« Er hielt einen winzigen USB-Stick hoch. »Auf diesem Stick ist der Zugang zur elektronischen Kartei, selbstaktivierend mit Ihrem Code. Sie können die Kartei jederzeit löschen. – Haben Sie alles verstanden?«

Anatolij Sorokin nickte.

Der Mann schloss den schwarzen Aktenkoffer und schob ihn über den Tisch. »Ändern Sie den Verschlusscode. Noch steht er auf viermal Null.« Dann stand er auf, trat auf Sorokin zu und hielt ihm die rechte Hand hin. »Man nennt Sie tatsächlich die Ameise?«, fragte er lächelnd.

Die beiden anderen Herren erhoben sich gleichzeitig.

»So sagt man.« Der Hüne zwang sich ein Lächeln ins Gesicht, das eher wie ein verächtliches Grinsen wirkte. »Ist das schon alles? Bekomme ich kein mit Raketenwerfern und Laserkanonen ausgestattetes Werbefahrzeug?«

»Machen Sie keine Witze. Sie wissen, welche Hoffnung wir mit Ihrem Einsatz verbinden?«

»Das weiß ich. Und ich hoffe, dass all Ihre Befürchtungen sich nicht bewahrheiten.«

»Okay. Dann viel Glück und einen angenehmen Aufenthalt im DVR-Hotel Borik.«

Wortlos, jedoch nickend, drückten auch die beiden anderen Herren die rechte Hand der Ameise. Daraufhin verließ Sorokin den Raum und kurz danach das ehrwürdige Gebäude des Sächsischen Landtags, nachdem er freundlich dem Servicemitarbeiter zugenickt und durch einen Blick auf dessen Armbanduhr festgestellt hatte, dass es mittlerweile 8:52 Uhr war.

Der alte Mann vom BND betrat den Raum, schloss hinter sich die Tür und trat ans Fenster, als wäre er nur aus einem einzigen Grund erschienen: Er wollte den schönen Blick auf das morgendliche Dresden genießen.

»Denken Sie wirklich, dass es vernünftig ist, einen Mann aus den Reihen der Polizei eine solch brisante Aufgabe erledigen zu lassen?«, waren die Worte des Herrn, welcher Sorokin vor wenigen Sekunden den Koffer übergeben hatte.

»Ich kann und will keinen BND-Mitarbeiter einsetzen, und schon gar keinen aus einer unserer Residenturen in diesen Südländern«, raunte der Alte am Fenster, ohne sich dabei umzudrehen. »Die Agenten vor Ort werden beobachtet oder sie haben sich längst auf Geschäfte mit den politischen Eliten und der organisierten Kriminalität eingelassen.« Eine kurze Pause folgte. »Oder eben beides.«

»Wer legitimiert die Aktion?«, fragte einer der beiden anderen Herren, der wahrscheinlich ein Abgeordneter des Sächsischen Landtags war.

»Verlangen Sie von mir Rechenschaft?« Jetzt stand der Alte mit dem Rücken zum Fenster. »Bitteschön: Unsere Abteilung für Internationalen Terrorismus und Internationale Organisierte Kriminalität – kurz TE – ist zuständig für die Aufklärung grenzüberschreitender Gefahren des internationalen Terrorismus und der international organisierten Kriminalität. Seit Jahren tauschen wir Informationen mit der NSA aus, die wir über unsere Fernmeldeverkehrsstelle in der Bad Aiblinger Mangfall-Kaserne weiterleiten. Egal, was Sie in der Bildzeitung darüber gelesen haben, die Zusammenarbeit zwischen BND und NSA in Bad Aibling basiert auf einem Abkommen, welches bereits am 28. April 2002 geschlossen wurde und das lediglich die Zusammenarbeit zwischen BND und NSA – die es bereits seit Anfang der Sechziger gibt – verlängerte und in die richtigen Bahnen lenkte. Die NSA wurde darauf aufmerksam, dass ein serbokroatischer Anschlag auf bundesdeutsche Einrichtungen bevorstehen könnte. Übrigens basiert das alles sehr auf Annahmen; die meisten erweisen sich als Irrtümer. Aufgrund der doch recht klaren Hinweise, dass eventuell auch Bundeswehrangehörige oder Nachrichtendienstleute beteiligt sein könnten, gingen die Informationen sofort an die zuständigen Abgeordneten im Bundestag. Es kam zu einer Sitzung eines personell eng begrenzten Bundestagsausschusses, in dem die weitere Vorgehensweise besprochen wurde. Den Abgeordneten wurde zudem eine Akte vorgelegt, laut der es durchaus möglich sein könnte, dass unsere Hauptzielperson, der Pilot, bereits 2008 für die paramilitärische Organisation ›Armee der Republik Kosovo‹ tätig gewesen sein könnte, welche sich zu einem verheerenden Sprengstoffanschlag auf das Gebäude des Internationalen Zivilbüros der EU-Sondergesandten in Priština im Kosovo bekannt hatte. Gewisse Persönlichkeitsmuster des Piloten deuten auf eine Beteiligung hin. Sie erinnern sich vielleicht, dass der Kosovo damals drei meiner BND-Mitarbeiter verdächtigte, die man wahrscheinlich so nur außer Landes schaffen wollte. Dahinter steckte vermutlich der Premierminister des Kosovo, ein ehemaliger Guerilla-Kämpfer, der unserer Europäischen Union den Stinkefinger offerierte. Das nur am Rande. Die Bundestagsabgeordneten beschlossen schließlich die jetzige Vorgehensweise. Die besagt, dass der Sächsische Landtag offiziell die Aktion leitet – deshalb sind Sie, meine Herren, jetzt hier – und dass meine Person eine der wenigen ist, die auf Seiten des Nachrichtendienstes etwas davon wissen.«

»Warum wird ausgerechnet die Ameise auf den Piloten angesetzt?«, fragte der dritte Herr, welcher bislang regungslos und schweigend seinen Stuhl warmgehalten hatte.

Der Alte trat zwei Schritte auf ihn zu: »Die Ameise wurde uns von Seiten der SEK-Führung in Sachsen empfohlen. Unsere Recherche bewies zudem, dass die Ameise tatsächlich bestens geeignet ist.«

Noch einmal meldete sich der Abgeordnete zu Wort: »Verraten Sie uns bitte, weshalb man annimmt, dass Agenten des BND oder Angehörige der Bundeswehr in den geplanten Anschlag involviert sind?«

»Nein«, antwortete der Alte sofort.

»Es würde meinem Gewissen aber guttun.«

Der Alte blickte den Mann sekundenlang an, dann nickte er flüchtig. »Es hat was mit der Beschaffung der Waffen zu tun, die für diesen Anschlag eingesetzt werden könnten. Aber, speziell für Ihr Gewissen: Am Ende des Tages werden wir der Meinung sein, das Richtige getan zu haben.«

Nun war es an dem Abgeordneten, den BND-Mann sekundenlang anzustarren, um schließlich das Gespräch zu beenden. »Ich mag keine Sätze, die im Futur II stehen. Politiker, die diese grammatikalische Form benutzen, sind für mich unglaubwürdig. Sie sind Fantasten.«

»Zum Glück werde ich nie ein Politiker gewesen sein«, waren die abschließenden Worte des Alten. »Zum Glück.« Worauf sein Gesicht zum ersten Mal in dieser Runde grinste.

*

Beim Verlassen des Gebäudes blendete die tief stehende Sonne Sorokin. Also fingerte er seine Sonnenbrille aus der Jacketttasche, setzte sie auf und schob sie zurecht. Dann lief er zu seinem Fahrzeug, schaltete die Klimaautomatik ein und fuhr quer durch Dresden Richtung BAB 4. Am erstbesten Parkplatz hielt er an, öffnete den schwarzen Koffer, stellte innen für jedes Schloss einen neuen vierstelligen Nummerncode ein und entnahm einer kleinen Mappe die Flugscheine. Der Flieger würde bereits am nächsten Morgen um 4:34 Uhr vom Flughafen Leipzig-Halle starten. 4:34 Uhr! Welch eine familienlogistische Herausforderung!

Nachdem Sorokin das neue Smartphone betrachtet hatte, nahm er sein altes Handy zur Hand und wählte die heimische Nummer.

»Ja. Es ist eine Auszeichnung«, sagte er kurz angebunden. »Wir fliegen morgen in aller Frühe nach Kroatien. Kannst du bitte die Koffer packen, Katie?« Trotz der Klimaautomatik lief Sorokin Schweiß über die Schläfen. Er musste die eigene Familie belügen. Die eigene Familie! Zum allerersten Mal!

Leipzig

17. August

»Du hast es aber versprochen!« Fedor protestierte vehement, fuchtelte mit den Armen herum und klang, als wollte er jeden Moment zu heulen beginnen. »Und jetzt hältst du dein Versprechen nicht!«

Vorsichtig fing Sorokin eine der fuchtelnden Hände ein und hielt sie mit beiden Händen fest. »He, Großer. Ich weiß, dass ich dir versprochen habe, dass du ein paar Tage bei Stefan übernachten darfst. Aber manchmal läuft es im Leben eben anders als gedacht. Die Reise wäre verdammt teuer, wenn wir sie selbst bezahlen müssten.«

»Das ist mir aber scheißegal!«

Sorokin schnappte sich Fedors linkes Ohr. »Fedor! Nicht in diesem Ton, hörst du! Die Ferienanlage Borik ist eine der schönsten in ganz Kroatien.«

»Na und? Ich wollte bei Stefan nicht nur schlafen, wir haben alles wochenlang geplant. Wir wollten…«

Sorokin resignierte. »Es tut mir leid. Was willst du noch hören?«

»Es tut dir nicht wirklich leid«, widersprach der Junge, entriss dem Vater seine Hand, streckte die Arme ein wenig aus und lief los. Dabei trat er auf ein Spielzeugauto, das unter seinem linken Fuß zerbarst.

Im gleichen Moment setzte Antons Sirene ein: »Auto! Du chrast Auto puttmacht!« Der Kleine heulte unablässig.

»Dann lass deine Autos nicht einfach rumstehen!«, brüllte Fedor zurück. »Dämlack!«

Anton kreischte nun noch lauter. »Auto ist nicht rumstanden, Auto ist fahren!« Er rannte zu Sorokin, umklammerte dessen rechtes Bein und wischte die Nase daran ab.

»Fedor!«, dröhnte Sorokins Bass, der selbst Anton für Sekunden schweigen ließ. »Entschuldige dich augenblicklich bei deinem kleinen Bruder! Jetzt und sofort!«

»Vergiss es! Du hast dich auch nicht richtig bei mir entschuldigt!« Fedors Zimmertür krachte zu.

Vorsichtig setzte Sorokin einen Fuß vor den anderen, was nicht einfach war, denn Anton hing noch immer kreischend an seinem rechten Bein. »Fedor, ich…!«

Genau in diesem Moment tauchte Jekaterina auf. »Das sind die besten Voraussetzungen für einen harmonischen Urlaub zu fünft.« Ihr gutmütiges Lächeln bedeutete Sorokin, dass er