Auf zu neuen Ufern - Patricia Vandenberg - E-Book

Auf zu neuen Ufern E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Einen Plastiksack in der Hand, bog Dr. Adrian Wiesenstein mit Schwung um die Ecke und hob den Deckel der Mülltonne hoch. Er holte aus. »Auasss!« Statt in der Tonne rauschte der Sack zu Boden. Adrian fuhr herum. »Dési, du liebe Zeit! Ich habe dich gar nicht gesehen.« Der Chirurg legte den Arm um die Tochter seines Chefs. Dési presste die Hand auf die Wange, dorthin, wo Adrian sie mit voller Wucht getroffen hatte. »Was machst du denn hier? Warum hast du nicht geklingelt?« »Ich weiß nicht. Ich war nicht sicher, ob Joshua mich überhaupt sehen will.« Zumindest das Schicksal schien gegen diese Begegnung zu sein. »Lass mal sehen.« Adrian Wiesenstein zog ihre Hand weg und betrachtete die Bescherung. »Für eine Anzeige wegen Körperverletzung wird es nicht reichen«, scherzte er. »Aber für eine Reparationszahlung allemal.

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Dr. Norden Bestseller – 511 –

Auf zu neuen Ufern

Patricia Vandenberg

Einen Plastiksack in der Hand, bog Dr. Adrian Wiesenstein mit Schwung um die Ecke und hob den Deckel der Mülltonne hoch. Er holte aus.

»Auasss!«

Statt in der Tonne rauschte der Sack zu Boden. Adrian fuhr herum.

»Dési, du liebe Zeit! Ich habe dich gar nicht gesehen.« Der Chirurg legte den Arm um die Tochter seines Chefs. Dési presste die Hand auf die Wange, dorthin, wo Adrian sie mit voller Wucht getroffen hatte. »Was machst du denn hier? Warum hast du nicht geklingelt?«

»Ich weiß nicht. Ich war nicht sicher, ob Joshua mich überhaupt sehen will.« Zumindest das Schicksal schien gegen diese Begegnung zu sein.

»Lass mal sehen.« Adrian Wiesenstein zog ihre Hand weg und betrachtete die Bescherung. »Für eine Anzeige wegen Körperverletzung wird es nicht reichen«, scherzte er. »Aber für eine Reparationszahlung allemal. Kommst du heute in der Klinik vorbei?« Er war auf dem Sprung zur Arbeit und wieder einmal knapp dran. »Dann spendiere ich dir eine heiße Schokolade im ›Allerlei‹. Oder was auch immer du willst.«

»Mal sehen.« Eine Böe zerzauste ihr Haar und kühlte die brennende Wange.

Adrian sah auf die Uhr.

»Tut mir leid, dass ich keine Zeit habe. Joshua ist drinnen.« Er nickte hinüber zu dem weiß lackierten Sprossenfenster im Erdgeschoss. »Immer hereinspaziert in die Höhle des Löwen. Die Tür ist offen.« Er bückte sich nach dem Müllsack und beförderte ihn in die Tonne. Das Krachen des Deckels hallte im Innenhof wider.

Erst jetzt bemerkte Dési, wie blass Adrian unter dem letzten Rest Sommerbräune war. Ihr wurde flau im Magen. Aber ehe sie nachfragen konnte, hatte sich Dr. Wiesenstein schon auf den Weg gemacht.

Sie sah ihm nach, bis er durch die Einfahrt hinaus auf die Straße getreten war. Dann drehte sie sich um und ging zögernd auf den Altbau zu. Wenig später betrat sie die Wohnung. Das altehrwürdige Parkett knarzte unter ihren Schritten. Sie hätte Joshuas Zimmer auch gefunden, wenn sie die Wohnung nicht gekannt hätte. Seine Lautsprecher kreischten durch die Wohnung. Das war beileibe nicht die Musik, zu der sie den Sternenhimmel betrachtet, sich ihre Liebe geschworen oder am Ufer eines Sees Arm in Arm am Lagerfeuer gesessen hatten. Seine Jeansjacke um ihre Schultern, den Duft seines Parfums in der Nase. Dési kannte das Lied, das die ganze Wohnung und ihr Herz erschütterte. In letzter Zeit spielte Joshua es immer öfter. Auch diesmal sang er lauthals mit: »Da ist ein Riss in der Zimmerwand, und Fernweh flutet den Raum …«

Seine Zimmertür stand einen Spaltbreit offen. Sie lugte hinein, sah gerade noch, wie er einen Stapel Pullover in den Koffer auf dem Bett warf. In diesem Moment trafen sich ihre Blicke.

Mit einem Schlag war es totenstill. Zumindest hörte Dési nichts mehr. Die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen. In ihren Ohren rauschte es, während sie das Standbild in sich aufsog. Widerwillig und gierig zugleich. Den Koffer auf dem Bett. Den halb ausgeräumten Kleiderschrank. Das Chaos auf dem Boden.

Dési war so vertieft in ihre Betrachtung, dass sie nicht bemerkte, wie Joshua sie ansprach. Auf sie zukam. Sie an den Schultern packte. Die Glasglocke zersprang erst, als er sie schüttelte. Sie tauchte aus der Tiefe hinauf an die Oberfläche, japste und schnappte nach Luft.

»Alles in Ordnung mit dir, Dési?«

Das war nicht die Stimme, die sonst mir ihr sprach. Sie klang anders. Distanziert. Ohne einen Hauch von Liebe darin. Als wären sie nur Freunde. Oder flüchtige Bekannte.

»Ich … ich weiß nicht.« Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und sah sich um. »Du packst?«

Joshua ließ ihre Schultern los, als hätte er sich daran verbrannt. Er drehte sich zum Schrank um und nahm den nächsten Stapel Kleider heraus.

»Ich fliege ja schon bald nach Zürich.«

»Und wann?«

Joshua starrte auf die grüne Jacke in seinen Händen.

»Heute Nachmittag.«

»Schon?« Désis Stimme kiekste. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich. »Wenn ich heute nicht gekommen wäre, wärst du einfach abgehauen, ohne auf Wiedersehen zu sagen? Und in ein paar Wochen stehst du dann wieder vor unserer Tür und tust so, als wäre nichts passiert.«

Joshua zerknüllte die Jacke und warf sie in den Koffer. Er sah Dési von unten herauf an.

»Ich muss dir was sagen.«

Sie hielt die Luft an. Eine gefühlte Ewigkeit sagte keiner ein Wort. Draußen auf der Straße radelte ein Kind vorbei und klingelte wild mit der kleinen Kinderglocke.

»Aus der Bahn, Kartoffelschmarrn!«, kreischte es vergnügt.

Dési erinnerte sich gut daran, wie wackelig sich diese erste Freiheit angefühlt hatte. Genauso wackelte der Boden unter ihren Füßen, als Joshua sagte:

»Ich komme nicht zurück.«

»Was?«

»Ich bleibe in Zürich. Stell dir vor: Paola hat einen Platz an der Hochschule der Künste für mich ergattert. Das ist DIE Chance. Die kann ich mir nicht entgehen lassen. Das verstehst du doch, oder?« Joshua redete um sein Leben.

Dési starrte ihn an.

»Natürlich verstehe ich das. Dann müssen wir halt sehen, wie wir das machen. Ich glaube, es fährt sogar einer von diesen günstigen Bussen nach Zürich. Dann können wir uns wenigstens an den Wochenenden sehen.« Warum nur sagte Joshua nichts dazu? Warum sah er sie immer noch nicht an?

»Wir werden uns nicht mehr sehen.«

Dési schluckte. Jetzt konnte sie es nicht länger ignorieren.

»Du machst Schluss?«

Joshuas Blick brannte ein Loch in den Boden.

»Es tut mir leid. Lass mich doch erklären …«

»Du hast mir alles erklärt«, schleuderte sie ihm entgegen. Sie drehte sich um und lief aus dem Zimmer, durch den Flur und aus der Wohnung hinaus. Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Tränen brannten in ihren Augen. Doch sie erlaubte sich nicht, zu weinen. Nicht hier. Diesen Triumph gönnte sie Joshua nicht auch noch.

*

Unter den Füßen der Ärzte knirschte das Pulver, das die Feuerwehr zum Binden des ausgelaufenen Benzins gestreut hatte. Es fühlte sich an, als gingen sie über einen Kiesweg. Sie näherten sich dem Kastenwagen in verblichenem Weiß. Die Motorhaube umarmte einen Baum. Der Scheinwerfer auf der Fahrerseite lag auf der Straße. Metallteile und Glasscherben glänzten zwischen buntbraunem Laub.

»Braves Auto. Hat mit seiner Haut das Leben seines Fahrers gerettet«, sagte Erwin Huber zu seinem Begleiter Daniel Norden.

Die immer anspruchsvoller werdende und intensivmedizinische Notfallversorgung war für Ärzte wie Dr. Norden längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Doch gerade als Chef der Behnisch-Klinik war es ihm ein Anliegen, mit gutem Beispiel voranzugehen. Daniel besuchte regelmäßige Fortbildungen und Übungen, um auf dem Gebiet der Notfallmedizin auf dem neuesten Stand zu bleiben. Um das neu Erlernte und Wiederholte nach so einer Fortbildung zu festigen, nahm er in seiner Freizeit immer wieder an Rettungseinsätzen teil. Sehr zur Freude der Kollegen, die immer dankbar waren für Unterstützung.

Die Sonne tauchte hinter einer Wolke auf, ein grelles Licht blendete Daniel. Schnell schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, war auch die Sonne wieder verschwunden. Er sah eine Frau, die auf einer Kältefolie neben der Straße in der Wiese lag. Erstretter bemühten sich um sie. Erwin war schon bei ihnen.

»Und? Was habt ihr für uns?«, erkundigte er sich bei seiner Kollegin.

»Verletzte Person. Weiblich. Ansprechbar. Blutdruck 120 zu 80. Verdacht auf Oberschenkelfraktur. Prellungen, Schnittwunden. Das Übliche bei dieser Art Unfälle«, zählte die Erstretterin auf. Sie mochte in Annekas Alter sein.

Daniel bewunderte sie für ihre Ruhe und Souveränität. Seine älteste Tochter hätte das Unglück zu Tränen gerührt. Für mehr Betrachtungen dieser Art war aber keine Zeit. Er ging neben der Verletzten auf die Knie.

»Mein Name ist Dr. Norden. Können Sie mich hören?«

»Dieses verdammte Eichhörnchen«, schimpfte die Frau. Ihr Dutt sah aus wie ein zerrupftes Vogelnest. »Ein Glück, dass ich meine Jugendlichen noch nicht im Wagen hatte.« Das Sprechen fiel ihr schwer. Ihre Stimme war rau, aber deutlich.

Daniel Norden zog zuerst ein Augenlid der Patientin hoch, dann das andere.

»Pupillen isokor und klar umrandet«, teilte er seine Erkenntnisse mit. Dr. Huber kniete inzwischen auf der anderen Seite. »Kein Hinweis auf eine Hirnblutung.«

»Das Eichhörnchen hat überlebt, Ihre Jungs sind in Sicherheit und Sie werden wieder gesund. Heute ist Ihr Glückstag«, witzelte Erwin und lächelte der Frau zu, die sich inzwischen als Olivia Hausen vorgestellt hatte. »Tut Ihnen etwas weh?«

»Sehe ich so aus?«

Daniel Norden lachte.

»Zumindest haben Sie Ihren Humor nicht verloren.« Er hatte seine Untersuchung abgeschlossen.

Dr. Huber war aufgestanden und noch einmal zu den Kollegen gegangen, die ihre Sachen fertig verpackt hatten. Den Rest erledigten die Rettungsärzte. Eine Unterschrift, dann tauschte das Klemmbrett mitsamt dem Formular den Besitzer.

Wenig später rumpelte der Rettungswagen mit seiner Fracht über die Bankette zurück auf die Straße. Blass, aber gefasst lag Olivia auf der Liege, die Hände über dem Oberkörper gefaltet. Ihr fragender Blick ruhte auf Dr. Norden.

»Was glauben Sie? Wann bin ich wieder fit?«

»Das kann ich Ihnen sagen, sobald mir die Röntgenbilder vorliegen.« Daniel warf einen Blick auf das Bein. »In sechs bis acht Wochen sollten Sie wieder halbwegs hergestellt sein.«

Olivia ruckte hoch, kam aber nicht weit. Ein Gurt über ihrer Brust hielt sie auf. Ihre Miene sprach Bände, als sie zurück auf die Liege sank.

»Sie machen Witze! Ich kann doch meine Jugendlichen nicht im Stich lassen.«

Daniel warf einen Blick auf das Klemmbrett. Neben Art und Umfang der Verletzungen war dort alles aufgeführt, was über den Verunglückten in der Kürze der Zeit in Erfahrung zu bringen war. In diesem Moment interessierte Daniel besonders das Feld, unter dem in winziger Schrift ›Beruf‹ stand. Nun verstand er etwas besser.

»Es geht um Ihre Gesundheit, ohne die Sie diese Arbeit gar nicht machen können. Außerdem gibt es doch sicher eine Vertretung.«

»Das schon«, räumte Olivia zögernd ein. »Aber die kennt meine Jungs und Mädels nicht.« Ihre Brust hob und senkte sich schnell. »Ich habe ein sehr enges Verhältnis zu meinen Schützlingen. Da kann ich nicht einfach einen anderen hinschicken und hoffen, dass es schon klappt.« Sie sah Daniel aus großen, verzweifelten Augen an. »Bitte, Sie müssen alles tun, damit ich so schnell wie möglich wieder gesund werde.«

»Das verspreche ich. Aber zaubern kann ich leider nicht.«

Olivia warf den Kopf auf die andere Seite. Feine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn.

»Was soll ich denn jetzt tun?«, jammerte sie.

»Vertrauen Sie uns und halten Sie sich an unsere Anweisungen. Dann sind Sie bald wieder gesund und können sich wieder mit aller Kraft für Ihre Schützlinge einsetzen.«

Er reichte Olivia ein Taschentuch.

»Ich kann es nicht leiden, wenn ich anderen Arbeit mache«, schniefte sie.

Der Rettungswagen bog in die Einfahrt der Behnisch-Klinik ein. Daniel hielt sich am Haltegriff fest.

»Wenn alle so denken würden, hätten wir keine Arbeit«, erwiderte er lächelnd. »Haben Sie Angehörige, die wir verständigen sollen?«

»Meinen Chef natürlich. Und die Jungs und Mädels«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

»Ich dachte eigentlich an Familienmitglieder. Angehörige.«

»Meine Gruppe IST meine Familie.« Olivia Hausens Miene verschloss sich. Sie wandte den Kopf und starrte auf den Defibrillator, der neben ihr an der Wand des Rettungswagens hing. Daneben baumelte der Infusionsbeutel, ein durchsichtiger Schlauch führte in den Zugang an ihrer Hand. »Eine andere habe ich nicht.«

*

»Kommst du heute Mittag zu Felix’ Willkommensessen?« Anneka Norden hatte die Hände um den Nacken ihres Freundes gelegt und sah ihn fragend an. Der erste Ansturm im kleinen Klinikkiosk war vorbei, und die älteste Tochter der Familie Norden gönnte sich eine kleine Pause vom Kaffeekochen, Regale auffüllen und Brezen verkaufen.

Sascha lachte und küsste ihre Nasenspitze.

»Liebend gern würde ich deinen zweitältesten Bruder kennenlernen. Aber stell dir vor: Es gibt auch noch Leute, die am Wochenende arbeiten müssen und nicht einfach zusperren können, wenn es ihnen passt.«

»Einfach zusperren, ist gut.« Anneka rollte mit den Augen. »Lenni hat mir die Hölle heißgemacht, als sie das gehört hat. Dabei wollen Oskar und sie den Kiosk so oder so aufgeben. Er macht einfach zu viel Arbeit.«

Saschas Augen blitzten verdächtig.

»Ich könnte ja eine neue Karriere als Kioskbesitzer anstreben.«

»Wolltest du dich nicht für Medizin einschreiben?«

»Ja. Schon«, erwiderte Sascha gedehnt.

»Ändere nie einen Plan ohne triftigen Grund.« Mahnend wackelte Anneka mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herum. »Trotzdem hätte ich dir gern meinen Bruder Felix vorgestellt.«

Als Verkehrspilot für eine große Fluggesellschaft jettete Felix seit einigen Monaten durch die Welt. Jeder seiner seltenen Besuche wurde wie ein Geburtstag gefeiert. Diesmal war die Spannung besonders groß.