Barfuß über Scherben - Gunnar Kunz - E-Book

Barfuß über Scherben E-Book

Gunnar Kunz

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Beschreibung

Was tust du, wenn du nach Hause kommst und deine Wohnung leer vorfindest? Wenn deine Frau dir das Liebste genommen hat, deine Kinder? Wenn die Ämter, von denen du dir Hilfe versprichst, Menschenrechte mit Füßen treten? Was tust du, wenn deine Eltern sich trennen und du hin- und hergeschoben wirst wie ein Möbelstück? Wenn niemand dich nach deinen Gefühlen fragt? Wenn deine Mutter nicht versteht, dass du deinen Vater vermisst? Wenn dein Leben ein Minenfeld ist, ein Drahtseilakt über dem Abgrund? (Kurzgeschichte)

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Gunnar Kunz

Barfuß über Scherben

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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4.

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Barfuß über Scherben

Kurzgeschichte

von

Gunnar Kunz

Inhalt:

Was tust du, wenn du nach Hause kommst und deine Wohnung leer vorfindest? Wenn deine Frau dir das Liebste genommen hat, deine Kinder? Wenn die Ämter, von denen du dir Hilfe versprichst, Menschenrechte mit Füßen treten?

1.

Es gab ein Davor, ein Währenddessen und ein Danach.

Das Davor war schlimm: Streit und Geschrei und manchmal ein Schweigen, das bedrückender sein konnte als alles andere. Oft mussten sie nachts mitanhören, wie ihre Eltern sich Gemeinheiten an den Kopf warfen, als hätten sie einander nie geliebt, und dann hielten sich Jule, Jonas und Lena die Ohren zu oder zogen sich die Decke über den Kopf und lagen stundenlang wach, allein mit ihrer Angst.

Das Währenddessen war schlimmer: als ihre geheimsten Befürchtungen wahr wurden und ihre Eltern sich trennten, als sich die Welt, in der sie sich einst geborgen fühlten, aufzulösen begann und es nichts mehr gab, woran sie sich festhalten konnten, nicht an den gemeinsamen Mittagessen, nicht an den kleinen Scherzen zwischen ihnen, nicht an diesem besonderen Gefühl, wenn man im Bett lag und wusste, dass Mama und Papa gleich noch mal nach einem sehen, um sich zu überzeugen, dass man auch gut zugedeckt war und keinen geheimen Kummer mit sich herumtrug und alles hatte, was man brauchte.

Aber das Danach, das Danach war das Schlimmste. Weder Jule noch Jonas und schon gar nicht Lena hätten je für möglich gehalten, dass etwas so wehtun konnte, so lange, so oft. Jule schaffte es eine Weile, den Schmerz von sich fernzuhalten, indem sie sich um ihre Geschwister kümmerte, weil sie sich als Älteste für sie verantwortlich fühlte, aber sie war schließlich erst zwölf, und irgendwann holte der Schmerz auch sie ein. Jonas mit seinen neun Jahren war in einem Alter, in dem er schon das Ausmaß der Tragödie erfassen konnte, ohne zugleich über Strategien zu verfügen, sich vor dem damit einhergehendem Leid zu schützen. Und die fünfjährige Lena verstand noch nicht wirklich, was vor sich ging, sie wusste nur, dass alles anders war, auf eine schreckliche, falsche Weise anders, und dass Mama und Papa nicht dafür sorgten, dass die Welt wieder in Ordnung kam.

***

Für Arno gab es im Grunde kein Währenddessen; er wurde so unvermittelt aus dem Davor ins Danach geschleudert, dass er lange brauchte, um sich von der darauf folgenden Lähmung zu befreien. Das Davor war schlimm, ja, aber er war kein Mann, der schnell die Flinte ins Korn warf, er hatte seine Ehe noch nicht aufgegeben, auch wenn es Phasen gab, in denen er sich in sich selbst zurückzog, weil er einfach keine Kraft mehr hatte zu streiten. Im Übrigen waren die Kinder zu berücksichtigen, und schon um ihretwillen war er bereit, eine Menge zu schlucken.

An dem Tag, an dem sich das Davor in das Danach verwandelte, kam er spät nach Hause, weil es ein Problem auf der Arbeit gegeben hatte, um das er sich kümmern musste. Er beeilte sich, weil er rechtzeitig daheim sein wollte, um Lena und Jonas ins Bett zu bringen. Lena schlief nicht gut, wenn er ihr keinen Gutenachtkuss gab; einmal war sie sogar um Mitternacht noch wach gewesen, als er unerwartet Überstunden hatte machen müssen. Jonas würde ebenfalls auf ihn warten, denn er hatte ihm versprochen, seinen Spielzeughubschrauber zu reparieren. Und Jule wollte ihm ihre Rolle im Schultheaterstück vorspielen.

Als er die Haustür aufschloss, spürte er sofort, dass etwas nicht stimmte, auch wenn er die ersten drei, vier Sekunden nicht wusste, was. Vielleicht waren es die fehlenden Jacken an der Garderobe, die ihn irritierten. Dann bemerkte er, dass seine Schritte auf ungewöhnliche Weise widerhallten.

Die offen stehende Tür zum Wohnzimmer enthüllte einen nahezu leeren Raum. Couch und Sessel fehlten, die meisten Blumentöpfe, die Stereoanlage, der Fernseher. Die Schranktüren standen offen, auch hier: leere Regale. Der Couchtisch mit den hässlichen Flecken war noch da; ein einsamer Stuhl stand daneben. Der Fußboden war mit Schnipseln und Flusen bedeckt.

Eine Sekunde lang stand Arnos Atem still. Er ließ die Aktentasche fallen und stürzte ins Kinderzimmer.

Leer. Außer Müll und einem zerfledderten Popstarposter an der Wand war nichts mehr da.

Ächzend stützte sich Arno an der Wand ab. Sein Herz raste, aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Er taumelte zum Schlafzimmer, wo ihn ein ähnliches Bild erwartete. Die Türen des Kleiderschranks standen offen, seine Hemden waren über das Bett verteilt, als habe jemand etwas gesucht und nicht die Zeit gefunden, anschließend wieder Ordnung zu schaffen.

Auch die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld. Der Kühlschrank fehlte, der Gefrierschrank, die Mikrowelle. Eine Handvoll Töpfe stapelten sich auf dem Boden, überwiegend die alten mit den abgeplatzten Stellen.

Er taumelte zurück ins Wohnzimmer und bemerkte erst jetzt den Zettel auf dem Couchtisch, ein achtlos aus einem Schulheft gerissenes Blatt mit zwei Zeilen in der Handschrift seiner Frau. Mit den Fingerspitzen berührte er das Papier, bis er genug Mut gesammelt hatte, um es aufzuheben und zu lesen, was darauf stand.

Wir sind fort. Such uns nicht. Ich schicke dir Nachricht.

Keine Unterschrift.

Der Zettel entfiel seiner Hand. Arno drehte sich einmal um sich selbst, als hoffe er, der Raum könne ihm Antwort auf Fragen geben, die sein Verstand sich weigerte zu formulieren. Wo …? Was …? Warum …?

Wie betäubt ging er durch die Räume, zwang sich dazu, sich wieder und wieder mit der Leere darin auseinanderzusetzen, damit er endlich glauben konnte, was seine Sinne ihm mitteilten.

Im Bad fehlten die Waschmaschine und sämtliche Zahnputzbecher, nur sein eigener lag umgekippt auf der Konsole. Erst bei diesem Anblick drang die Erkenntnis mit aller Wucht zu ihm durch, dass seine Kinder fort waren, und er rutschte am Türrahmen zu Boden und vergrub das Gesicht in den Händen. Sein Körper wurde von Schluchzern geschüttelt, obwohl seine Augen trocken blieben. Er bekam kaum Luft, und die Gegend um sein Herz schmerzte derart, dass er einen Moment lang befürchtete, einen Herzinfarkt zu bekommen.

Nein, dachte er. Und dann, kämpferischer noch einmal: Nein!

Schwankend kam er auf die Beine und stolperte zum Telefon. Wenigstens das hatte Katja ihm gelassen. Er wählte die Nummer ihrer Mutter.

»Arno hier. Wo ist Katja?«, rief er, als sie sich meldete.

»Warum, ist sie nicht bei dir?«

Sie wusste Bescheid, er erkannte es am Klang ihrer Stimme. Arno zwang sich zur Ruhe. »Bitte spiel keine Spiele mit mir, sondern sag mir, wo sie ist. Ich will mit meinen Kindern reden.«

»Ich habe keine Ahnung.«

Sie fragte nicht nach, was los war.

Arno legte auf. Sie würde nichts preisgeben. Vermutlich war sie von ihrer Tochter instruiert worden, wie sie sich verhalten sollte. Sie hatte ihn ohnehin nie gemocht und keinen Zweifel daran gelassen, dass Katja in ihren Augen eine bessere Partie hätte bekommen können.

Kurz überlegte er, ins Auto zu steigen und zu ihr rauszufahren, um sie Auge in Auge zu konfrontieren, aber er verwarf den Gedanken wieder. Sie würde ihn mit Allgemeinplätzen abspeisen, und seine Kinder waren ohnehin nicht dort. Wenn Katja sämtliche Möbel mitnahm, musste es eine neue Wohnung geben.

Er fing an, die Freundinnen seiner Frau abzutelefonieren, Arbeitskollegen, Cousinen. Die meisten wirkten ehrlich überrascht, obwohl er den Verdacht hatte, dass zumindest ihre beste Freundin Bescheid wusste. Doch auch sie ließ sich nicht erweichen, ihm etwas zu verraten. Nicht mal, als er mit einer Stimme, die kurz davor stand zu brechen, darum bettelte, seine Kinder sprechen zu dürfen.

Ein surrendes Geräusch aus dem Raum, den er sich als Büro eingerichtet hatte, machte ihn darauf aufmerksam, dass ihm ein Fax zugesandt wurde. Er warf das Telefon auf die Ablage und stürzte nach nebenan.

Das Fax stammte von einer Anwaltskanzlei. Die Anwältin teilte ihm juristisch verklausuliert mit, dass seine Frau beabsichtige, die Scheidung einzureichen. Weder wurden Gründe angegeben, noch die Kinder auch nur erwähnt. Dafür folgte eine ausführliche Aufstellung über die Höhe der Unterhaltszahlungen, die er zu leisten habe.

***

Jule drehte die Stereoanlage auf und ließ sich von den klirrenden Gitarren davontragen. Wenn sie Musik hörte, konnte sie ihren Kopf ausschalten. Die Musik teilte ihre Gefühle. Der Musik musste sie nichts erklären. Sie schloss die Augen, um ihre Umgebung auszublenden, die fremden Wände, das ungewohnte Straßenbild vor dem Fenster. »Endlich hast du ein eigenes Zimmer«, ha! Schlapper Versuch ihrer Mutter, ihr den Umzug schmackhaft zu machen. Jule drehte weiter am Lautstärkeregler.

»Stell den Krach leiser!«, tönte es von draußen.

Am liebsten würde sie die Stereoanlage auf volle Leistung fahren, aber sie wusste, dass ihre Mutter dann etwas Drastisches tun würde. Also stöpselte sie den Kopfhöreranschluss in den Verstärker und setzte sich die Kopfhörer auf. Irgendwas wurde von draußen gerufen. Jule drehte die Bässe hoch und schloss ihre Tür ab. So war es gut. Die Bässe wummerten durch ihr Gehirn und bliesen jeden Gedanken fort.

Fast jeden. Die Erinnerung an den Schock, als sie von der Schule kam und ihre gesamten Habseligkeiten in einem Umzugswagen vorfand, wollte sich einfach nicht vertreiben lassen. Wieder und wieder durchlebte sie die Minuten, in denen sie wie gelähmt vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens stand, in denen sie sich hin- und herschieben ließ wie eine fremde Person, als bewohne jemand anderes ihren Körper. Scheidung. Auf so etwas war sie nicht gefasst gewesen.

Ihrer Freundin gegenüber gab sie sich immer abgeklärt, wenn das Gespräch auf die Reibereien zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter kam: »So, wie die beiden miteinander umgehen, wäre es besser, wenn sie sich scheiden ließen.« Aber das war nur ein Spruch gewesen, nie im Leben hatte sie geglaubt, dass ihre Eltern ernst machen würden. Hatten sie sich nicht jedes Mal wieder versöhnt?

Und jetzt das, einfach so, über ihren Rücken hinweg. Niemand hatte sie nach ihrer Meinung gefragt, als ginge sie das alles nicht genauso viel an wie ihre Mutter und ihren Vater. Niemand hatte ihr irgendwas erklärt. Niemand hatte sie auch nur vorgewarnt. Sie war bloß ein Gegenstand, den man nach Belieben herumschieben konnte. Ein Teil des Mobiliars.

Jule drehte weiter am Lautstärkeregler, bis ihr Kopf ein einziger Schrei war.

***

Jonas hatte eine Riesenwut im Bauch. Er trat gegen sein Bett, er trat gegen den Nachtschrank, er trat gegen seine Spielzeugautos, und es war ihm scheißegal, dass seine Mutter ihn bei den Armen packte und anbrüllte. Am liebsten hätte er auch sie getreten. Ich hasse euch. Ich hasse euch alle.

Sie schickte ihn ins Bett. Na und? Ihm doch egal.

Blödes Bett. Blöde Wohnung. Von wegen, du wirst dich bestimmt über das neue Zimmer und die neuen Freunde freuen! Wozu brauchte er ein neues Zimmer? Wozu brauchte er neue Freunde? Seine alten Freunde waren prima. Es war schließlich nicht seine Schuld, dass Mama und Papa sich nicht vertrugen. Wozu musste er umziehen? Er wollte nicht von Papa weg. Seine Mutter hatte gesagt, es wäre nur für eine gewisse Zeit, später würde man weitersehen, aber an ihrer Stimme konnte er hören, dass sie log. Es war für immer. Lügnerin. Lügnerin. Lügnerin.