Bedrohtes Glück - Isabell Rohde - E-Book

Bedrohtes Glück E-Book

Isabell Rohde

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Angelika Winkler seufzte. Es gab Tage, da ging aber auch alles schief. Und das begann schon am Morgen. An diesem ­Julitag hatte die Sonne sie mit einem goldenen Strahl aus dem Bett gelockt. Angelika war frohgemut aufgestanden. Dann aber, als sie im Bad vor dem Spiegel stand, hatte ihr die gleiche Sonne unmißverständlich zwei neue winzige Fältchen in den Augenwinkeln gezeigt. Da hatte sie erst mal die Gardinen zugezogen. Nun ja, sie war vierzig, da durften schon einige Fältchen sein. Aber warum mußte sie die ausgerechnet heute entdecken? Hatte sie nicht genug Sorgen und Ärger? Sie war in ihre Latzhose geschlüpft und hatte sich das alte Oberhemd, das noch aus der Garderobe ihres Mannes stammte, übergezogen. Sie liebte dieses Hemd. Da Peter groß und kräftig gewesen war, diente es ihr jetzt als Malerkittel. Und jeder Farbfleck, der sich darauf verewigte, glich jenem Augenzwinkern, mit dem Peter ihr früher Mut gemacht hatte. Da sie ihren Mann sehr geliebt hatte, bedeutete er ihr soviel wie ein Kuß. Angie fuhr sich ordnend mit den feinen Händen durch das Haar und betrat ihr Atelier. Dieser Raum nahm gut die Hälfte der Wohnung ein. Er diente auch als Wohnzimmer, als Fernsehraum, zuweilen sogar als Eßzimmer, aber in erster Linie als Arbeitsraum. Die Staffelei stand direkt vor dem riesigen Fenster. Angie stellte sich davor.

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Mami – 2071 –

Bedrohtes Glück

Unveröffentlichter Roman

Isabell Rohde

Angelika Winkler seufzte. Es gab Tage, da ging aber auch alles schief. Und das begann schon am Morgen. An diesem ­Julitag hatte die Sonne sie mit einem goldenen Strahl aus dem Bett gelockt. Angelika war frohgemut aufgestanden. Dann aber, als sie im Bad vor dem Spiegel stand, hatte ihr die gleiche Sonne unmißverständlich zwei neue winzige Fältchen in den Augenwinkeln gezeigt. Da hatte sie erst mal die Gardinen zugezogen. Nun ja, sie war vierzig, da durften schon einige Fältchen sein. Aber warum mußte sie die ausgerechnet heute entdecken? Hatte sie nicht genug Sorgen und Ärger?

Sie war in ihre Latzhose geschlüpft und hatte sich das alte Oberhemd, das noch aus der Garderobe ihres Mannes stammte, übergezogen. Sie liebte dieses Hemd. Da Peter groß und kräftig gewesen war, diente es ihr jetzt als Malerkittel. Und jeder Farbfleck, der sich darauf verewigte, glich jenem Augenzwinkern, mit dem Peter ihr früher Mut gemacht hatte. Da sie ihren Mann sehr geliebt hatte, bedeutete er ihr soviel wie ein Kuß.

Angie fuhr sich ordnend mit den feinen Händen durch das Haar und betrat ihr Atelier. Dieser Raum nahm gut die Hälfte der Wohnung ein. Er diente auch als Wohnzimmer, als Fernsehraum, zuweilen sogar als Eßzimmer, aber in erster Linie als Arbeitsraum. Die Staffelei stand direkt vor dem riesigen Fenster. Angie stellte sich davor. Das Aquarell, an dem sie gerade arbeitete, gehörte zu einer Serie von acht Bildern, die ein Kinderarzt bei ihr in Auftrag gegeben hatte. »Wundersame, phantastische Landschaften« sollten es werden und den Kindern im Wartezimmer die Angst vor dem Doktor nehmen.

»Mhm«, stöhnte Angie. »Noch sehe ich keine heitere Wirkung!«

Natürlich gefiel ihr das Bild heute nicht. Das lag an ihrer Laune. Nicht einmal gewundert hätte es sie, wenn sich dort, wo sich zwischen Wiesen ein Flüßchen entlangschlängeln sollte, ebenfalls Krähenfüße gebildet hätten! Aber nein, Falten waren nicht zu sehen. Nur wirkte das Bild uralt – fast tot. Es mußte an den Farben liegen. Wenigstens war diese Landschaft kaum dazu in der Lage, Kinderherzen zu erfreuen.

Wenn Angie aus dem Fenster schaute, stellten sich viel zu hohe Häuser in ihren Blick. Gegen den blauen Himmel wirkten sie noch trostloser. Sie trat näher an die Scheibe. Hier und dort konnte sie an den Fenstern der Neubauten sogar Blumentöpfe entdecken. Aber nur mit zusammengekniffenen Augen.

Als sie noch näher an die Scheibe trat, stellte sie fest, daß es das Glas war, das den Ausblick so trübsinnig machte. Wann hatte sie die Fenster überhaupt zum letztenmal geputzt? Sie sah zur Uhr. Halb zehn. Das war eine gute Zeit, um Hausfrau zu spielen. Zehn Minuten später hatte sie sich mit einem Eimer, Putzmitteln und Lappen ausgerüstet. Sogar eine Schürze hatte sie über das geliebte Oberhemd von Peter gebunden. Elegant war das nicht, aber wer sah sie denn schon an?

»Guten Morgen!«

»Morgen, Hubs.«

Die Tür hatte sich geöffnet, und ihr sechzehnjähriger Sohn Hubertus war zum saloppen Morgengruß eingetreten. Daß er nach ihrer kurzen Antwort sofort wieder verschwand, hatte seinen guten Grund. Angie verspürte auch keinerlei Sehnsucht danach, sein Gesicht länger als unbedingt nötig zu betrachten. Ihre Bewegungen wurden nur noch energischer, als sie wieder allein war. Sie öffnete das große Mittelfenster und stieg dabei auf einen kleinen Hocker. Unten auf der Straße regte sich heitere Betriebsamkeit. Das Wetter war herrlich, viele Leute fuhren in die Ferien.

»Mann, o Mann«, stöhnte Angie und ahmte dabei unbewußt die saloppe Sprache ihres Sprößlings nach. »Wie gern würde auch ich Urlaub machen. Sonne genießen, Landschaften anschauen, schwimmen oder faulenzen. Aber Hubs, dieser Bengel!« Sie nahm mit einem Lappen viel zuviel Wasser und wischte damit über die große Scheibe. Natürlich tropfte es auf die Straße. Weil Angie von Natur aus neugierig war, beugte sie sich wieder hinaus und prüfte, ob jemand den Regenschirm aufspannte.

Aber sie bemerkte nur den Briefträger, der mit seinem Fahrrad um die Ecke bog. Aus einem ungewissen Gefühl der Furcht heraus verfolgte sie seinen Weg. Und tatsächlich! Unten vor der Haustür blieb er stehen, sortierte ein Bündel Briefe und hob die Hand. Angies Herz begann heftig zu klopfen. Was sie befürchtet hatte, traf auch prompt ein: es klingelte bei ihr.

»Ich geh’ schon, Mami!« rief Hubs aus der Küche. Sie nickte. Das war gut. Hubs war zwar manchmal ein Ekel, aber er besaß die beneidenswerte Gabe, schlimme Nachrichten gelassen hinzunehmen und sie dazu noch fröhlich weiterzugeben. Also putzte sie weiter.

»Mami, komm mal!« hörte sie bald darauf seine Stimme. Sie klang richtig männlich tief. »Du mußt was unterschreiben!«

»Dachte ich es doch!« stöhnte Angie. Eine Gerichtsvorladung? Oder ein Zahlungsbefehl? Daß Hubs sitzengeblieben war, wußte sie bereits seit mehr als einem Monat.

Der Briefträger nickte freundlich, als sie ihre Unterschrift geleistet hatte, dann übergab er ihr drei Briefe. Zwei weiße und einen blauen. Auf einem der weißen Umschläge stand als Absender die Hausverwaltung. Den öffnete Angie zuerst.

»Zweihundert Euro Heizkostennachzahlung«, seufzte sie vernehmlich. »Also kein neues Sommerkleid.«

»Das geht doch noch«, tröstete Hubs sie, griff nach dem blauen Brief und wedelte ihn hin und her. »Was wollen die denn schon wieder, he?«

»Wer?«

»Das Wilhelmsgymnasium, Mami. Das war das Einschreiben. Hier, lies mal.«

Sie riß ihm den Brief aus den Händen. Und schon, als sie die ersten Zeilen überflogen hatte, hellte sich ihr Gesicht auf.

»Auf Grund eines Konferenzbeschlusses vom 6. Juli wird Ihrem Sohn Hubertus die Genehmigung erteilt, an einer Nachprüfung vor Beginn des neuen Schuljahres teilzunehmen.«

»Die spinnen wohl! Ich hab’ genug von der Schule.«

»Denkste, Hummel!« strahlte Angie ihren Sohn an. »Für diese Prüfung wirst du büffeln, daß es dir aus den Ohren herauskommt. Mit der Zeltfahrt wird es eben nichts. Ich weiß doch, daß es nur deine Faulheit war, die dich durchrasseln ließ.«

»Ich würde mal den anderen Brief öffnen«, riet der Junge ihr. Dieses Thema hing ihm gründlich zum Hals heraus. Da war jede Ablenkung willkommen.

Angie hatte schon mit einem Blick erkannt, daß der zweite Brief von ihrem Bruder war. Das hatte sie erstaunt. Während sie das Kuvert aufriß, schlenderte sie zurück ins Atelier. Hubs folgte ihr.

Zunächst fiel ihr ein Scheck entgegen. »Tausend Euro!« rief sie aus. »Wozu das denn? Um Himmels willen! Habe ich vielleicht Geburtstag gehabt?«

»Nee, du bist Widder, Mami. Mach dir nichts vor. Und Weihnachten ist auch noch nicht. Also, komm mal zur Sache. Was will Onkel Gerd denn?«

Gerhard Stellmann war vier Jahre jünger als Angie. Immer, wenn er ein Anliegen hatte, rief er sie an. In der letzten Zeit waren keine Anrufe erfolgt. Angie wußte, warum. Ihr Bruder hatte als Börsenmanager ein Vermögen verdient und wollte sich bereits in jungen Jahren zur Ruhe setzen. Darum war er bemüht gewesen, ein Grundstück im Holsteinischen zu erwerben. Das war ihm auch gelungen. Nun stand der Einzug in eine alte Villa bevor. Daß er da nicht viel Zeit für familiäre Anteilnahme fand, konnte sie verstehen. Außerdem war ihr das Ausbleiben der Anrufe ganz recht gewesen. So mußte sie Gerhard nicht gestehen, wie schlecht es um die schulische Laufbahn ihres Sohnes stand. Denn ihr Bruder begriff nie, welchen Ärger sie mit dem Lümmel Hubs hatte. Er hielt ihr seine beiden Kinder, die achtjährige Xenia und den sechsjährigen Wolfi, ständig als Musterexemplare seiner strengen, jedoch liebevollen Erziehung vor.

Inzwischen hatte sie den Brief gelesen. Sie mußte sich setzen. Plötzlich fragte sie sich, warum Gerhard ihr das nicht telefonisch erklärt hatte.

»Was ist denn? Wozu soll das Geld sein? Wenn es ein Geschenk ist, könnte ich vielleicht ein Sümmchen davon für meine Zeltausrüstung abzweigen, Mami? Das mit der Nachprüfung wird doch nichts.«

»Das mit der Zeltfahrt wird erst recht nichts«, bestimmte Angie. »Dein Onkel bittet mich nach Lüttdorf. In seiner Familie geht alles drunter und drüber. Er hat noch in Hamburg zu tun, Tante Natalies Mutter ist erkrankt, so daß sie einige Wochen bei ihr zubringen muß. Zudem sind die Handwerker nicht mit allen Arbeiten pünktlich fertiggeworden.«

»So, und da sollst du wieder einspringen? Der ist ja gut.«

Angie betrachtete den Scheck sehr nachdenklich. »Das Geld ist für die Fahrkarten und für etwas Garderobe für mich, Hubs. Eigentlich meint mein Bruder es gut mit mir.«

»Dazu hat er auch allen Grund. Er braucht dich ja.«

»Sei nicht so frech.«

»Aber ich bin doch gar nicht frech«, verteidigte Hubs sich. Er holte den Fensterlappen aus dem Wasser und wedelte damit spielerisch herum. Die Wassertropfen bedrohten das Aquarell auf der Staffelei.

»Laß das«, sagte Angie ärgerlich. »Ich bin sowieso nicht mit dem Bild zufrieden. Wenn da noch Flecken draufkommen!«

»In Lüttdorf kannst du ja neue malen«, grinste Hubs, tat den Lappen dabei wieder zurück ins Wasser. »Außerdem kann ich auf der Zeltfahrt bunte Fotos machen. Die malst du dann einfach ab.«

»Du wirst mitkommen, mein Junge. Du kannst dort in aller Ruhe für die Nachprüfung arbeiten.«

»Nun werd man nicht tragisch, Mamilein. Ich gehe nicht mehr zur Schule. Ich amüsiere mich jetzt zwei Jahre, und dann mache ich mit achtzehn den Führerschein, kaufe mir einen Lieferwagen und gründe ein Transportunternehmen.«

»Ach, du meine Güte!«

Angie faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Schürzentasche. Sie klopfte darauf, um ihren folgenden Worten Nachdruck zu verleihen. »Schon wieder so eine alberne Idee von dir, Hubs. Daraus wird nichts. Dein Vater war auch ein Traumtänzer, aber er hat immer die Verantwortung für uns übernommen. Und du mußt nun auch die Verantwortung für dein Leben übernehmen. Darum wirst du wenigstens versuchen, die Nachprüfung zu bestehen.«

»Wenn Papi dich hören könnte!« schimpfte Hubs leise. »Du bist richtig kleinlich und ehrpusselig. Ich habe doch noch Geld zu erwarten, damit kann ich eine Firma gründen, Mami. Laß mich nur machen.«

Sie hatte sich erhoben und stand vor ihm. »Ja, das stimmt. Aber dein Vater hat über das Geld testamentarisch verfügt, mein Lieber. Du bekommst es erst, wenn du einundzwanzig bist.«

»Ja, aber du hast auch einen Teil geerbt, Mami. Du könntest mir, wenn ich achtzehn bin, einen Kredit geben.«

Angie war klein und zierlich. In dem schmalen Gesicht leuchteten jedoch sehr große, ausdrucksvolle Augen. Ihr aschblondes Haar ließ die Farbe der Augen noch stärker hervortreten, und wenn sie zornig war, so wie jetzt, blitzte es azurblau in ihnen und setzte ihre Umwelt immer wieder in Erstaunen.

»Ich habe es dir schon oft gesagt, Hubs. Dein Vater und ich sprachen ein halbes Jahr vor seinem Tod im Scherz darüber. Damals wußt ich nicht, daß er meine so leicht dahingeplapperten Ratschläge ernst nehmen würde. Heute bin ich froh darüber. Auch ich bekomme die zweite, etwas größere Rate des sowieso nicht großen Vermögens erst ausgezahlt, wenn du entweder eine Lehre hinter dir oder das Abitur bestanden hast. Dein Vater hat klug gehandelt. Er wollte dich damit zwingen, Verantwortung zu übernehmen. Wäre ich jetzt finanziell fein heraus, hättest du überhaupt keinen Stift oder kein Buch mehr in die Hand genommen und von mir erwartet, daß ich dir Nachhilfestunden geben lasse. Ist es nicht so?«

»Na, dann begleite ich dich nach Lüttdorf und bitte Onkel Gerhard um einen Kredit. Der hat’s ja schließlich reichlich.«

Da mußte Angie lachen.

»Dein Onkel hat das Grundstück mit der Villa gekauft und hat Familie, für die er gut sorgt. Ich glaube nicht, daß er dir Geld geben wird. Außerdem würde er dich fragen, wozu. Und dann würde er dir vorschlagen, mal selbst in die Hände zu spucken.«

Jetzt stand auch Hubs auf. Gewaschen war er noch nicht. Er hatte lange geschlafen. Aber er trug schon seine

Jeans, so daß er die Hände in die Hosentaschen stecken konnte. Angie kannte diese Geste. Jetzt kam etwas sehr Bedeutendes von seinen Lippen.

»Ich hab’ schließlich jeden Tag zwei Stunden an der Tankstelle gearbeitet, Mami. Damit warst du einverstanden.«

»Ja, wenn du außerdem noch täglich, wie hoch und heilig versprochen, zwei Stunden über den Büchern gesessen hättest. Aber du hast das Geld mit hübschen Mädchen ausgegeben. Zum Schluß war nur noch ein kläglicher Rest für die Zeltausrüstung übrig.«

»Weil die Mädchen alle doof sind, Mami. Die wollen immer eingeladen werden. Die Gerda hat sich sogar eine Platte von mir gewünscht. Als sie sie hatte, ließ sie sich nicht mehr blicken.«

»Du tust mir unheimlich leid.«

Sie ging auf ihn zu und hob den Arm, um ihm über das neuerdings sehr kurz geschnittene Haar zu fahren. »Und die mit dem englischen Kashmirschal? Die mußte plötzlich mit ihrem älteren Freund nach Italien abdampfen. Wirklich, Hubs, ich würde dir nettere Freun­dinnen wünschen. Aber du bist noch jung, und es gibt mehr Frauen auf der Welt, als du denkst. Nette dazu auch noch in Hülle und Fülle.«

Er sah sie aus den Augenwinkeln heraus an. »Weiber«, knirschte er. »Weiber, nichts wie Ärger.«

»Laß nur, Weiber können zauberhaft sein. Nur kann man sie nicht kaufen.«

»Hoho. Und was macht dein kleiner Bruder? Kauft er dich nicht auch mit einem Scheck über tausend Euro?«

»Er braucht mich, Hubs. Das war schon immer so. Wenn du dir jetzt Frühstück machst, koche mir ein Ei mit. Einverstanden?«

»Hm.« Er blieb immer noch vor ihr stehen.

»Du meinst also, ich soll mit nach Lüttdorf? Und mich auch von Onkel Gerhard anstellen lassen? Zur Kinderbetreuung?«

Angie nahm einen Pinsel aus der Dose, die neben der Staffelei stand und berührte damit im Scherz seine Stupsnase.

»Ja, das sollst du. Dir bleibt gar nichts anderes übrig. Außerdem sind Xenia und Wolfi ganz reizende Kinder. Das Haus liegt direkt an einem See. Du kannst also schwimmen und rudern.«

»Segeln auch?«

»Das weiß ich nicht.«

Er schob auf die Ateliertür zu. »Wenn es wirklich nette Mädchen in Hülle und Fülle gibt, dann frage ich mich, wo die stecken, Mami. Ich kenne nur dich, die ganz in Ordnung ist.«

»Danke. Und laß das Ei nicht wieder so hart werden, Hubs.«

»Noch härter?« grinste er. »Härter als du?«

»Das gibt es gar nicht«, lachte Angie, und auf einmal war der Tag doch ganz schön.

*

Als der Zug im Lüttdorfer Bahnhof einfuhr, regnete es in Strömen.

»Siehste«, murrte Hubs. »Nichts ist mit der tollen Freizeit auf dem romantischen See mitten im Holsteinischen. Die Pappeln gucken auch schon ganz pikiert.«

»Wo?« Angie konnte ihre Neugier nicht bezähmen und drückte ihre Nase an das Fenster des Abteils.

»Da drüben, die Allee, Mami. Sieht ziemlich grau und traurig aus. Daß Onkel Gerhard hier wohnen will…«

»Das sind Birken«, verbesserte Angie ihren Sohn.

Der Zug hielt, und die beiden hatten viel zu tun, um das Gepäck zur Wagentür zu bringen. Angie hatte sich noch eine zusammenklappbare Staffelei gekauft, sich von Hubs zu einem Kleid überreden lassen und ihrem Sohn einen dicken dunkelblauen Pullover spendiert. Den konnte er jetzt brauchen. Ob sie aber in dieser Abgeschiedenheit das Seidenkleid jemals aus dem Schrank holen würde?

Ihr Bruder stand auf dem Bahnsteig. Er verharrte sekundenlang verwirrt, als er Hubs sah. Sein Neffe war genauso groß wie er selbst. Damit hatte der vermögende und etwas selbstgerechte Manager nicht gerechnet.

»Du bist ja ein richtiger Mann geworden«, stellte er fest, nachdem er seine Schwester herzlich und liebevoll begrüßt und umarmt hatte. Dann zwinkerte er Hubs zu. »Du hast wohl schon eine Freundin, wie?«

»Nur die da«, grinste Hubs und deutete mit dem Daumen über die Schulter auf Angie. »Und das reicht mir vorerst.«

Sie gingen in das kleine Bahnhofsgebäude. Dort packten Hubs und ihr Bruder das Gepäck auf einen Kuli, den sie zum Parkplatz schoben.

»Hallo, Herr Stellmann!«

Aus einem Wagen rief eine Stimme zu ihnen herüber. Gerhard sah sich um. Als er den Rufer entdeckte, machte er eine freundliche, aber abwehrende Handbewegung.

Der andere Mann lachte hinter dem heruntergekurbelten Fenster: »Wie sind Sie mit dem Maler Heulich zufrieden, Herr Stellmann?«

»Überhaupt nicht!« rief Gerhard zurück und hievte mit Hubs die Koffer ins Auto. »Der ist sehr unzuverlässig. Ich hätte doch lieber die Konkurrenz nehmen sollen.«

»Ja, aber in Lüttdorf gibt es eben nur die beiden Maler. Und der andere, Ottokar Wiebold, macht gerade Ferien. Sommerski in der Hochschweiz.«

»Na, danke«, murrte Gerhard. Er öffnete für Angie die Tür und setzte sich neben sie ans Steuer.

»Wer war das?« erkundigte sie sich und tupfte ihre regennassen Haare mit dem Halstuch trocken.

»Ein Spinner«, erwiderte Gerhard. »Und was für einer! Der hat das alte Haus an der Birkenallee gekauft und für eine Unsumme Geldes renovieren lassen. Er kennt sich mit den Handwerkern im Ort aus.«

»Woher hat so ein Typ das Geld dazu?« fragte Hubs, den jede Art von Kapitalerwerb interessierte.

»Er war lange in den USA. Die Leute sagen, er sei Arzt.«

Gerhard ließ den Motor an, die Limousine fuhr auf die kleine Stadt Lüttdorf zu.

Angie sah neugierig aus dem Fenster. Im strömenden Regen war nicht viel zu erkennen, aber ihr fielen die vielen kleinen und sehr hübschen Häuser auf. Dort war ein Friseur, eine Konditorei.

»Mensch, hier gibt’s sogar ein Kino«, wunderte Hubs sich.

»Auch ein Café, zwei Hotels, einen Tanzsaal, der manchmal als Theater dient, und einen Klub.«

»Was denn für ein Klub, Onkel Gerhard?«

»Ein Segelklub. Gleich in unserer Nähe befindet sich der Jachthafen.«

»Phantastisch! Hast du auch schon eine Jolle oder so was?«

»Nein, natürlich nicht. Ich bin froh, wenn der Sommer vorbei und das Haus wenigstens bewohnbar ist«, antwortete der Manager unwirsch.

Angie hielt den Atem an. Ihr Bruder hatte sich verändert. Sonst war er ein Mensch gewesen, der nicht die eigenen, sondern auch die Freuden anderer zu genießen verstand. Das alles konnte aber an den Schwierigkeiten liegen, mit denen er gerade fertig werden mußte.

»Hast du schon mit Natalie telefoniert?« fragte sie. »Wie geht es ihrer Mutter?«

»Ich rufe dort ungern an. Du kennst Natalies Mutter. Sie war schon immer hysterisch. Im Alter wird so etwas bekanntlich noch schlimmer. Natalie sagt, jeder Anruf treibe ihren Blutdruck bedenklich in die Höhe.«

»Und was schreibt Natalie?«

»Schreiben? Nein, sie schreibt mir nicht. Meine Güte, wir sind doch keine Flitterwöchner mehr! Sie weiß, daß du kommst und daß es den Kindern dann gutgehen wird. Übrigens solltest du wenigstens Xenia dazu anhalten, ihrer Mutter einen Brief zu schreiben. Über ein Lebenszeichen ihrer Kinder freut Natalie sich bestimmt.«

»Ich finde aber, das ist deine Aufgabe«, stellte Angie trocken fest. »Ich versorge deine Kinder gern, aber als antreiberische Tante lasse ich mich nicht vermarkten.«

»Du bist sehr hart geworden, Angie. Sehr hart.«

»Hart?« Angie lachte auf. »Ja, lieber Bruder, denkst du denn, die Ereignisse des Lebens gleiten so an mir ab? Ich bin seit fünf Jahren Witwe und mußte Hubs allein erziehen. Meine Rente ist sehr gering, also muß ich noch malen, um etwas dazuzuverdienen. Da kann ich mich keinen Illusionen mehr hingeben.«

Gerhard erwiderte nichts. Er fuhr jetzt einen kleinen Hügel hinab. Sie kamen durch einen Teil der Stadt, der von Buchsbaumhecken und weißgestrichenen Zäunen aufgeteilt zu sein schien. Hinter den hübschen Zäunen und den säuberlich gestutzten Hecken konnte Angie Villen entdecken, neue und alte, kleine und große. Als sie den Kopf wieder nach vorn wandte, lag der See vor ihr.

»Wie schön!« flüsterte sie beeindruckt. »Oh, wie schön, Gerhard!« Dabei sah sie eigentlich nichts als eine graue, unfreundliche Wassermasse.