Ein Lausejunge macht von sich reden - Isabell Rohde - E-Book

Ein Lausejunge macht von sich reden E-Book

Isabell Rohde

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Inmitten sattgrüner Wiesen, die gen Süden immer mehr zu Hügeln und dann zu Bergen wurden, lag das bekannte und gern besuchte Kur-Hotel »Hubertus-Hof«. Der »Hubertus-Hof« bestand aus einem hohen, altmodischen Gebäude. Es war drei Stockwerke hoch, die Mauern waren mit steinernen Figuren verziert, hohe Fenster, deren grüngestrichene Läden sich von dem weißen Mauerwerk abhoben, verliehen ihm etwas heiter Majestätisches. Der Hotelbetrieb gehörte der Familie Malten. Und es war ein Verdienst des jungen Peter Malten und seiner Frau Isa­bel, daß sich das Hotel so großer Beliebtheit erfreute. Wie jeden Morgen, während ihr Mann die Sportanlagen und den Park einer Prüfung unterzog, kümmerte sich Isabel Malten um die inneren Angelegenheiten. Weil sie aber wußte, wie sehr sie ihren Angestellten vertrauen konnte, begnügte sie sich mit informativen, aber kurzen Gesprächen. Bei vielen Mitarbeitern reichte ein freundliches Nicken oder ein »Wie geht es denn heute, Fräulein Soundso?« oder »Gut geschlafen, Herr XYZ? Ihr Kind ist hoffentlich wieder gesund?« Und dann bekam sie ehrliche Antworten oder eine ähnliche Gegenfrage gestellt. Otto Kempf, der den Empfang des Hotels leitete, ließ sich zu so etwas nicht herab. Er war jetzt über dreißig Jahre in diesem Betrieb tätig, kannte jeden Winkel, jeden Teelöffel und jedes Teesieb im Hause und hatte der zierlichen Isabel, als sie vor zehn Jahren als Braut Peter Maltens auftauchte, die ersten, gutgemeinten Ratschläge zugeflüstert. Das hatte sie nie vergessen, zwischen ihnen war ein so herzliches Verhältnis entstanden, daß es kaum der Worte bedurfte, um ihre Verbundenheit zu zeigen. Heute – an einem Freitag – trat Isabel Malten aber doch an den Empfang. »Guten Morgen, Herr Kempf. Ist Frau Heymes noch nicht da?« Mit einem besorgten Blick beugte er sich zu ihr und hauchte ihr einen Handkuß auf die Rechte. So etwas wagen zu dürfen, gehörte zu seinen Privilegien.

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Mami – 2079 –

Ein Lausejunge macht von sich reden

Isabell Rohde

Inmitten sattgrüner Wiesen, die gen Süden immer mehr zu Hügeln und dann zu Bergen wurden, lag das bekannte und gern besuchte Kur-Hotel »Hubertus-Hof«.

Der »Hubertus-Hof« bestand aus einem hohen, altmodischen Gebäude. Es war drei Stockwerke hoch, die Mauern waren mit steinernen Figuren verziert, hohe Fenster, deren grüngestrichene Läden sich von dem weißen Mauerwerk abhoben, verliehen ihm etwas heiter Majestätisches.

Der Hotelbetrieb gehörte der Familie Malten. Und es war ein Verdienst des jungen Peter Malten und seiner Frau Isa­bel, daß sich das Hotel so großer Beliebtheit erfreute.

Wie jeden Morgen, während ihr Mann die Sportanlagen und den Park einer Prüfung unterzog, kümmerte sich Isabel Malten um die inneren Angelegenheiten. Weil sie aber wußte, wie sehr sie ihren Angestellten vertrauen konnte, begnügte sie sich mit informativen, aber kurzen Gesprächen. Bei vielen Mitarbeitern reichte ein freundliches Nicken oder ein »Wie geht es denn heute, Fräulein Soundso?« oder »Gut geschlafen, Herr XYZ? Ihr Kind ist hoffentlich wieder gesund?«

Und dann bekam sie ehrliche Antworten oder eine ähnliche Gegenfrage gestellt.

Otto Kempf, der den Empfang des Hotels leitete, ließ sich zu so etwas nicht herab. Er war jetzt über dreißig Jahre in diesem Betrieb tätig, kannte jeden Winkel, jeden Teelöffel und jedes Teesieb im Hause und hatte der zierlichen Isabel, als sie vor zehn Jahren als Braut Peter Maltens auftauchte, die ersten, gutgemeinten Ratschläge zugeflüstert.

Das hatte sie nie vergessen, zwischen ihnen war ein so herzliches Verhältnis entstanden, daß es kaum der Worte bedurfte, um ihre Verbundenheit zu zeigen.

Heute – an einem Freitag – trat Isabel Malten aber doch an den Empfang.

»Guten Morgen, Herr Kempf. Ist Frau Heymes noch nicht da?« Mit einem besorgten Blick beugte er sich zu ihr und hauchte ihr einen Handkuß auf die Rechte. So etwas wagen zu dürfen, gehörte zu seinen Privilegien. Und manchmal, wenn er nicht ganz so gutgelaunt war, nahm er dieses Privileg besonders gern in Anspruch.

Isabel ahnte schon, daß ihn etwas bedrückte.

»Frau Heymes ist doch nicht etwa krank? Am Wochenende hat sie frei, aber heute können wir sie schlecht missen. Es haben sich so viele Gäste angemeldet.«

»Nein, Frau Heymes ist bestimmt nicht krank«, versicherte Otto Kempf. »Dann hätte sie uns schon benachrichtigt. Sie ist ja überaus zuverlässig.«

Frau Malten unterdrückte ein Lächeln. Wie gut Otto Kempf sich mit seiner Assistentin vertrug, war allgemein bekannt, aber noch nie hatte sie ihn in solchen hohen Tönen von Gisela Heymes schwärmen hören. Denn von Natur aus war Otto Kempf zurückhaltend, vornehm und klug, wie es ein Empfangschef sein mußte.

»Ob ihr Sohn krank ist?« fragte sie ihn.

Der alte Herr mit dem sonnengebräunten Gesicht und dem weißen Haar schüttelte energisch den Kopf.

»Nein, sicherlich nicht. Ich habe Jo noch gestern gesehen. Er war mit seinem Freund Sepp zusammen. Als ich meinen Spaziergang machte, sind mir die Lausbuben begegnet.«

Isabel Malten lachte, dann wandte sie sich beruhigt einem anderen Angestellten zu. Das war der Page Knut. Er hatte gerade die Morgenzeitungen aus Bedenau geholt.

»Frau Malten«, wollte er laut losrufen«, »es gibt tolle Neuigkeiten aus Bedenau…«

»Pst! Knut!« Sie legte den Finger auf die Lippen und bedeutete ihm, auf die Frühaufsteher unter den Gästen Rücksicht zu nehmen. Einige saßen schon im Frühstückssalon, und die gläsernen Verbindungstüren der Halle standen offen.

»Sie kennen doch die neumodische Eisdiele, nicht wahr?« flüsterte er und tat sich recht wichtig. »Da hat jemand gestern Abend die große Scheibe eingeworfen.« Er hob die Schultern, grinste und fügte schadenfroh hinzu: »Pustekuchen! Alles in Scherben!«

Wieder mußte die Hotelchefin lächeln, aber auch jetzt durfte sie es sich nicht anmerken lassen. Dafür bemühte sie sich, ein strenges Gesicht aufzusetzen und tadelte Knut:

»Keine Klatschgeschichten in der Halle, Knut. Alles, was du auf dem Herzen hast, mußt du mir zuflüstern. Laut gesprochen wird nur nach Feierabend oder mit Gästen.«

Er lachte, denn er verstand sie. Und dann machte er sich an die Arbeit und verteilte die neuen Zeitungen und Journale auf den flachen Couchtischen in der Halle. Als er damit fertig war, hielt er es nicht länger aus. Er mußte die Neuigkeit aus Bedenau Herrn Kempf berichten. Frau Malten hatte sich inzwischen in ihr Direktionsbüro verzogen. Und wenn er flüsterte, konnte ihm sowieso keiner etwas anhaben.

Otto Kempf aber beachtete den Pagen nicht, denn gerade war Gisela Heymes durch die kleine Hintertür in die Empfangsloge getreten.

Sie war eine Frau von Mitte dreißig, aber in ihrem klaren frischen Gesicht saß ein so keckes Näschen, daß sie bedeutend jünger wirkte.

Heute jedoch schien sie schlechter Laune zu sein. Ihre hohe Stirn, die von einem weichen Lockenkranz umrahmt wurde, hatte sich in Falten gelegt.

»Herr Kempf«, sagte sie leise, »es ist etwas Furchtbares passiert.«

»Frau Heymes!« stieß der alte Herr erschüttert hervor. »Doch nicht etwas mit Jo!?«

Gisela trug ein Kostüm aus flaschengrünem Samt, ihre ganze Erscheinung war vornehm und damenhaft. Aber in diesem Moment sah sie wie jede andere Mutter aus, die sich um ihr Kind sorgt. Sie preßte die Lippen aufeinander und nickte stumm.

Knut, der sie betroffen beobachtet hatte, wäre am liebsten auf sie zugegangen und hätte sie getröstet. Was mit dem kleinen Jo geschehen war, interessierte ihn nicht, aber es quälte ihn, wie sehr die junge Mutter unter ihrem ungeratenen Jungen litt.

»Ist Jo denn krank?« hörte er den Empfangschef fragen.

»Ach, wenn es das nur wäre«, stöhnte Gisela, »das könnte ich schon auskurieren. Aber er hat wieder etwas ausgefressen.«

»Soll ich ihn nicht einmal über’s Knie legen, Frau Heymes?« Gisela warf ihrem Chef einen dankbaren Blick zu, dann schüttelte sie mit einem schmerzlichen Lächeln den Kopf.

»Sie werden nicht mit ihm fertig, Herr Kempf. Und außerdem wird mir dadurch der Schaden nicht ersetzt.«

»Was denn für ein Schaden?«

»Sechshundert Euro für die Frontscheibe der Eisdiele in Bedenau, Herr Kempf. Die Aufschrift und die Leuchtreklame inbegriffen.«

»Wie bitte?«

Knut hätte zu gern gehört, wie es weiterging. Aber plötzlich fiel ein Schatten vor seine Füße. Jemand stellte sich vor die Sonnenstrahlen, die an diesem prächtigen Sommermorgen in die Halle fielen. Es war kein geringerer als Herr Malten, der Direktor und Besitzer des »Hubertus-Hofes«.

»Knut«, mahnte der gelassen. »Der Nachtzug ist vor einer Viertelstunde in Kufstein angekommen. Unser Wagen mit den neuen Gästen muß jede Minute vorfahren. Steh hier nicht herum und spitze die Ohren am falschen Ort. Was Frau Heymes und Herr Kempf zu besprechen haben, dreht sich doch nur um die Zimmerreservierungen im September… Geh lieber vor’s Portal und helfe den Gästen und den Chauffeuren beim Gepäckausladen.«

»Ja, sicher, Herr Malten.«

Knut gehorchte natürlich, aber er grinste in sich hinein, als er außer Sichtweite war. Die Geschichte mit der Eisdielenscheibe in Bedenau wurde ja allmählich ein packender Krimi! Dieser Jo Heymes hatte es aber auch wirklich faustdick hinter den Ohren.

Knut stellte sich hinaus in den Sonnenschein. Fünfzig Meter vor ihm erhob sich das schmiedeeiserne Portal, das den Vorderteil des Hotelparks begrenzte. Dahinter – mit dem bloßen Auge waren sogar die Gardinen an den Fenstern zu erkennen – lag Bedenau. Knut wußte schon lange, daß Herr Heymes seine Frau vor drei Jahren verlassen hatte.

Daß er ein charmanter, aber rücksichtsloser Mensch war, pfiffen die Spatzen von den Dächern. Er hatte sich nicht wieder blicken lassen und schickte weder Geld noch Briefe. Frau Hey-mes hatte dennoch Glück gehabt. Einige Monate nach dem Verschwinden ihres Mannes hatte sie sich als Küchenhilfe im Hubertus-Hof beworben…

Immer wieder versuchte Knut sich vorzustellen, wie es eine Küchenhilfe so flink zur Empfangsassistentin bringen konnte. Er schaffte es nicht. Und jetzt konnte er auch nicht mehr darüber nachdenken, denn der Hotelwagen durchfuhr gerade das Portal.

Sekunden später kletterte ein sehr junges Mädchen aus dem Auto. Sie hatte einen dunklen Pagenkopf, große verträumte Augen und einen niedlichen Mund. Knut starrte sie an. Ob die mit dem schnurrbärtigen Mann, der nun aus dem Fond des Wagens stieg, verheiratet war?

»Da sollen wir wohnen?«

Das hübsche zierliche Wesen zog eine Schnute und sah sich den Bau des Hotels mißbilligend an.

»Was ist denn das für ein alter Kasten, Papi? Hättest du denn nichts Besseres finden können.«

»Ich hätte schon, aber ich wollte nicht«, antwortete der andere Gast seelenruhig. »Außerdem wird es dir schon gefallen. Es gibt einen Swimming-Pool und Tennis-Plätze, Angela. Die Natur allein schon war die Reise wert. Gefallen dir nicht die schneebedeckten Berge dahinten?«

»Nee«, erwiderte sie schnippisch. »Strand ist viel schöner.« Dann klemmte sie sich ein kleines Täschchen unter den Arm und stolzierte auf das Haus zu.

Knut machte einen tiefen Diener, wie er es gelernt hatte. Als er sich aufrichtete, stand Angela immer noch vor dem Eingang und hielt den Kopf so hochmütig erhoben, daß sich ihr Kinn himmelwärts streckte.

»Na ja«, zwitscherte sie maliziös, »da oben sind wenigstens Kinder hinter dem Fenster. Dann wird hier wohl einiges los sein.«

Zu gern hätte Knut ihr geantwortet, daß gerade jetzt kein einziges Kind im Hubertus-Hof wohnte. Aber das war ihm streng verboten. Mit den Gästen sprechen durfte er nicht, nur, wenn er gefragt wurde oder etwas auszurichten hatte. Außerdem mußte er jetzt die Koffer tragen.

Er folgte dem Vater des Mädchens, mit der Last von zwei Koffern, drei Taschen und einem Tennisbeutel fast zusammenbrechend. Aber dieser Ziege wollte er unbedingt zeigen, wie stark er war…

Er kam nicht mehr dazu. Plötz-
lich machte es »Platsch!« Sein Käppi rutschte ihm vor die Augen, Gesicht, Arme, Schultern und Hände waren klitschnaß.

Knut stellte das Gepäck trotzdem sorgfältig zu Boden. Dann schob er sein Käppi hoch.

»Das ist ja ein starkes Stück!« sagte der Vater des eingebildeten Mädchens. »Empfangen Sie Ihre Gäste immer 
so?«

»N-n-nein, gewiß nicht!« stammelte Knut, denn der Herr war noch viel durchnäßter als er. Auf dem Boden lag ein rosa-violettes Stückchen Gummi.

»Das war ein Luftballon, Papi. Mit Wasser gefüllt. Neu ist der Trick nicht, aber wirksam!« Diese Angela, die nichts abbekommen hatte, betrachtete ihren Vater, als sei er ein achtes Weltwunder. Dann lachte sie laut los.

Jetzt stürmten mehrere Herren auf den pudelnassen Gast und den erschrockenen Pagen zu. Sie sprachen alle durcheinander. Herr Malten entschuldigte sich, Herr Kempf sprach von Aufbügeln und Reinigen, der Chefkellner empfahl sofort einen heißen Tee mit Rum. So geleiteten sie Herrn Dr. Christian Wolfhardt und seine Tochter in die Halle. Gisela Heymes stand kreidebleich hinter der Empfangstheke.

»Wie konnte das geschehen?« fragte sie. »Blumen begießen wir doch nur an der Rückfront des Hauses.«

»Es war keine Gießkanne, sondern ein mit Wasser gefüllter Luftballon«, erklärte Angela Wolfhardt. »Ich habe kurz vorher einen Buben gesehen. Er wird uns einen Streich gespielt haben.«

»Das ist unmöglich. Augenblicklich haben wir keine Herrschaften mit Kindern im Haus«, meinte Herr Malten.

»Wollen Sie damit sagen, daß ich lüge?«

»Ich bitte dich, Angela!«

Ihrem Vater war diese ganze Aufregung unangenehm. Er sah immer wieder lachend an seinem Anzug hinab, die nassen Haarsträhnen verliehen ihm ein jungenhaftes Aussehen, als freue er sich über den unterhaltsamen Beginn seiner Urlaubswochen.

Nun kam Frau Heymes auf ihn zu.

»Ich werde dafür sorgen, daß Ihr Anzug schon heute Abend wieder in Ordnung ist, Herr Dr. Wolfhardt. Sie brauchen ihn nur dem Zimmermädchen zu geben.«

Er sah auf und genau in die dunkelbraunen Augen dieser Frau. Sein amüsiertes Lächeln vertiefte sich, aber bevor er etwas erwidern konnte, faßte seine Tochter ihn am Arm.

»Das ist er, Papi! Da draußen…«

»Wer?«

»Der Junge, der den Ballon auf dich geworfen hat?«

»So, das ist ja interessant!«

Nun blickten alle zur hinteren Tür der Halle hinaus. Durch den dichtbesetzten Frühstückssalon rannte ein blonder Junge auf die Terrasse, sprang über die Mauer und war in Sekundenschnelle verschwunden.

»Moment mal!«

Ehe ihn jemand daran hindern konnte, folgte der Page Knut ihm. Vorhin hatte er der hübschen Angela Wolfhardt nicht beweisen können, wie stark er war. Dann sollte sie eben jetzt sehen, wie flink er rennen konnte.

Irgend jemand lachte. Es mußte einer der Gäste sein. Denn gleich da-nach herrschte wieder beklemmendes Schweigen unter den Betroffenen.

»War das nicht Jo, Frau Heymes?« Otto Kempf hatte sich besorgt an seine Mitarbeiterin gewandt, denn ihr verzweifelter Gesichtsausdruck hatte ihm zu denken gegeben. Sie nickte. Offensichtlich war sie den Tränen nahe. Da ergriff der Empfangschef ihre Hand und drückte sie mitfühlend.

»Vielleicht erwischt Knut ihn nicht, dann kann es uns keiner beweisen«, flüsterte er listig. Aber seine Hoffnung wurde nicht erfüllt. Knut hatte ganze Arbeit geleistet. Bald darauf kehrte er mit Jo Heymes am Schlafittchen zu der Gruppe zurück.

»Siehst du, Papi«, zwitscherte Angela und genoß es, für wenige Augenblicke der Mittelpunkt des Interesses zu sein, »ich täusche mich nicht. Diesen Bengel habe ich vorhin oben am Fenster gesehen.«

»Jo!« Frau Heymes hatte Tränen in den Augen. »Wie kannst du mir das antun! Gestern die Scheibe und heute… Wie kommst du überhaupt in ein Hotelzimmer?«

»Ach, Mami, das war vom Flur aus«, beschwichtigte er seine Mutter.

»Wieviel Liter waren es denn?« fragte Dr. Wolfhardt gutgelaunt. »Drei, vier oder fünf?«

Jo blickte plötzlich zu Boden. Daß man ihn erwischt hatte, grämte ihn längst nicht so wie das Gefühl einer absoluten Unterlegenheit. Dieser Mann, den er durchnäßt hatte, war ja ein ganz übler Typ. So gelehrt und so ironisch, und trotzdem konnte er ihm nicht recht böse sein. Aber seiner Tochter, die ihn verraten und verpetzt hatte, der würde er noch eins auswischen.

»Ich interessiere mich nicht für den weiteren Verlauf der Dinge«, verkündete der nasse Gast nun, »sondern will endlich auf mein Zimmer und etwas Heißes trinken. Sorgen Sie dafür – Frau – Frau…«

Er wandte sich an Jos Mutter, ohne den Jungen eines Blickes zu würdigen und suchte nach ihrem Namen.

»Heymes«, sagte sie schnell und tonlos.

»Besorgen Sie Ihrem Sohn einen Meßbecher, Frau Heymes. Er ist doch bestimmt schon zehn Jahre alt, nicht wahr?«

»Ja«, entgegnete sie, wußte nicht, ob das ein Witz oder Ernst sein sollte und fühlte, wie die Wut auf ihren Sohn ins Unermeßliche anwuchs.

Dann ging Dr. Wolfhardt von dannen.

Seine Tochter und der Page Knut folgten ihm, Otto Kempf starrte ihm verwirrt nach, Jo machte Angela Wolfhardt eine lange Nase, und Direktor Malten verschwand, nachdem er Gisela Heymes und ihrem Sohn einen vernichtenden Blick zugesandt hatte.

»Jetzt werde ich entlassen«, meinte Gisela düster.

»Bestimmt nicht, Frau Heymes. Dieser Dr. Wolfhardt ist Direktor an einer Jungenschule. Er muß solche Streiche doch gewohnt sein.«

»Das kann sein. Aber Herr Malten ist der Direktor dieses Hotels. Und er kann es nicht dulden, daß seine Gäste so behandelt werden. Jo«, ihre Stimme, die noch eben fest geklungen hatte, bebte plötzlich, »warum tust du mir das alles an? Begreifst du nicht, daß ich hier unseren Lebensunterhalt verdiene?«

»Doch, Mami.«

Dafür, daß er sich diesen üblen Streich ausgedacht hatte, sah der Zehnjährige jetzt ungewöhnlich reumütig aus. Er nickte aber nur so ergeben, um seine Mutter fürs erste zu beruhigen. Denn was er jetzt schon wieder im Schilde führte, durfte sie erst recht nicht ahnen.

Jos ganzes Denken und Fühlen kreiste nur um diese dumme und eingebildete Ziege Angela Wolfhardt. Sie hatte ihn verpetzt und würde noch ihr blaues Wunder erleben.

Er wußte nur noch nicht, wie dieses Wunder aussehen sollte. Aber sein Freund Sepp aus Bedenau konnte ihm bestimmt auf die Sprünge helfen.

*

Christian Wolfhardt und seine Tochter hatten zwei nebeneinanderliegende Zimmer gemietet. Sie wurden durch einen herrlichen Südbalkon miteinander verbunden. Hier hatte sich der Schuldirektor gleich nach seiner Ankunft einen Liegestuhl aufstellen lassen. Und dort verbrachte er den ganzen Tag. Sogar sein Essen hatte er hier eingenommen.

Jetzt senkte sich die Sonne hinter die Berge. Angela trat zu ihm. Sie hatte sich ein lindgrünes Chiffonkleid angezogen und stellte sich abwartend vor ihn hin.

»Gehst du heute Abend mit mir in die Hotel-Bar, Papi?«

Christian Wolfhardt hatte sich erschöpft und müde gefühlt. Das Schuljahr lag nun hinter ihm, und er freute sich auf geruhsame Tage in der herrlichen Natur. Als Angela so erwartungsvoll vor ihm auftauchte, sah er sie befremdet an.

»In die Hotel-Bar? Bist du verrückt geworden? Ich bin erholungsbedürftig und will meine Ruhe haben.«

»Ich aber nicht, Papi. Für mich ist es hier stinklangweilig. Ich bin nur mitgekommen, um mich zu amüsieren. Was soll ich denn jetzt tun?«

»Komm, setze dich zu mir, Töchterchen.« Seine Stimme klang schon ein wenig verständnisvoller. Er nahm das Buch, das er auf dem anderen Liegestuhl abgelegt hatte, fort, und deutete auf den Platz. Angela setzte sich mit einem bockigen Gesicht und sah ihn skeptisch an.

»Als deine Mutter und ich uns scheiden ließen, hast du dich entschlossen, bei ihr zu leben, Angela. Ich habe das immer als ganz richtig empfunden, obwohl es mir zuerst sehr weh getan hat. Du bist unser einziges Kind…«

»Das weiß ich selbst, Papi!« antwortete sie schnippisch. Ein wehmütiges Lächeln legte sich um Christians Mund. Lange suchend tastete sein Blick ihr hübsches Gesicht ab. Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich.

»Ich habe dich nicht gezwungen, mich in den Ferien zu begleiten, Angela. Aber als du mich vor drei Wochen darum gebeten hast, war ich hocherfreut. Ich werde auch alles tun, damit du dich wohl fühlst. Aber bitte, laß mir ein wenig Zeit. Hinter mir liegen arbeitsreiche Wochen und Monate. Gönne mir ein wenig Ruhe. Erwarte nicht, daß ich mich gleich am ersten Abend an eine Bar hocke. Dazu hin ich schon zu alt.«

»Ach was, du bist erst dreiundvierzig, Papi. Mami ist auch schon vierzig. Sie ist längst nicht so langweilig wie du.«