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Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese einzigartige Romanreihe ist der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. "Du mußt schon gehen?" fragte Schreinermeister Ruppert Lange seine Tochter. "Und was soll ich tun, wenn der nächste Bewerber kommt?" Barbara schüttelte den Kopf, sah ihn mit gespieltem Mitleid an und schlüpfte mit einem vernehmlichen Seufzer in ihren Lodenmantel. Es war heute kalt für Ende März, und sie hatte es ziemlich eilig. "Du wirst ihm nahebringen müssen, daß du mir, deiner einzigen Tochter, die große Wohnung über der Werkstatt ausgebaut hast. Damit ich immer bei dir bleibe, kann sie keinem anderen zugestanden werden. Darum muß er, wenn er unbedingt eine Unterkunft braucht, mit einem Kämmerchen im alten Haus vorliebnehmen und als dein Mitbewohner eben alle deine Schwächen ertragen", neckte sie ihn. "Und wenn er daraufhin wieder auf die Stellung verzichtet?" "Dann hast du nichts verloren, Väterchen. Tut mir leid. Ich muß jetzt fahren." Sie legte sich noch einen leichten Schal um. Neblig und ungemütlich war es draußen. Der Nebel in den Bergen ließ keinen noch so winzigen Sonnenstrahl durch. Und weil sie spät dran war, mußte sie die kurze Strecke zur Schule mit dem Auto fahren. "Servus! Bis mittags. Ich koch uns dann was Feines." "Ohne deinen Beistand finde ich nie einen Gesellen, der später als Meister den Betrieb übernehmen kann", meinte er gottergeben, winkte ihr aber lächelnd nach, als sie im Hof in ihr Auto stieg und davonfuhr. Barbara gab Gas. Mehr als eine Unterrichtsstunde konnte sie nicht ausfallen lassen, um ihrem Vater zur Seite zu stehen, wenn sich am frühen Morgen ein Bewerber in der Schreinerei vorstellte. Was dachte er nur? Sie konnte ihm doch keine Entscheidung abnehmen.
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Seitenzahl: 139
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»Du mußt schon gehen?« fragte Schreinermeister Ruppert Lange seine Tochter. »Und was soll ich tun, wenn der nächste Bewerber kommt?«
Barbara schüttelte den Kopf, sah ihn mit gespieltem Mitleid an und schlüpfte mit einem vernehmlichen Seufzer in ihren Lodenmantel. Es war heute kalt für Ende März, und sie hatte es ziemlich eilig. »Du wirst ihm nahebringen müssen, daß du mir, deiner einzigen Tochter, die große Wohnung über der Werkstatt ausgebaut hast. Damit ich immer bei dir bleibe, kann sie keinem anderen zugestanden werden. Darum muß er, wenn er unbedingt eine Unterkunft braucht, mit einem Kämmerchen im alten Haus vorliebnehmen und als dein Mitbewohner eben alle deine Schwächen ertragen«, neckte sie ihn.
»Und wenn er daraufhin wieder auf die Stellung verzichtet?«
»Dann hast du nichts verloren, Väterchen. Tut mir leid. Ich muß jetzt fahren.« Sie legte sich noch einen leichten Schal um.
Neblig und ungemütlich war es draußen. Der Nebel in den Bergen ließ keinen noch so winzigen Sonnenstrahl durch. Und weil sie spät dran war, mußte sie die kurze Strecke zur Schule mit dem Auto fahren. »Servus! Bis mittags. Ich koch uns dann was Feines.«
»Ohne deinen Beistand finde ich nie einen Gesellen, der später als Meister den Betrieb übernehmen kann«, meinte er gottergeben, winkte ihr aber lächelnd nach, als sie im Hof in ihr Auto stieg und davonfuhr.
Barbara gab Gas. Mehr als eine Unterrichtsstunde konnte sie nicht ausfallen lassen, um ihrem Vater zur Seite zu stehen, wenn sich am frühen Morgen ein Bewerber in der Schreinerei vorstellte. Was dachte er nur? Sie konnte ihm doch keine Entscheidung abnehmen. Manchmal fragte sie sich schon, ob er das von ihr erwartete, weil sie nun schon seit einem Jahr Lehrerin an der kleinen Schule in Wesing war. Und was aus ihm werden sollte, wenn sich seine Unentschlossenheit und Hilflosigkeit noch verstärkte? Aber dann lächelte sie. Trotz seiner kleinen Schwächen war und blieb ihr Vater der einzig geliebte Mann in ihrem Leben.
Als sie den Parkplatz für die Lehrkräfte der Dorfschule erreichte, hatte sich das Lächeln auf ihrem frischen Gesicht längst verloren. Der fröhliche Lärm, der aus dem flachen Schulgebäude drang, mahnte sie an ihre eigenen Pflichten. Grete Niebauer, die als Gemeindeschwester manchmal für eine Lehrerin einsprang, kam ihr auf dem Flur entgegen.
»Ist alles gutgegangen?« fragte Barbara gleich.
»Aber ja! Ihre Klasse ist ja musterhaft. Und so eine Stunde Basteln und Malen mit den Kleinen macht mir selbst Freude. Nur denke ich, Frau Lange, Ihre ABC-Schützen haben mich nur ungern akzeptiert. Ich kann Ihnen, der heißgeliebten Lehrerin, das Wasser kaum reichen«, fügte sie schmunzelnd hinzu.
»Danke fürs Kompliment und daß Sie mich trotzdem vertreten haben!« entgegnete Barbara gutgelaunt. Sie betrat den Aufenthaltsraum fürs Kollegium gar nicht mehr, sondern zog sich auf dem Flur schon den Mantel aus. Keine weitere Minute wollte sie sich verspäten, denn sie liebte ihren Beruf und jeden einzelnen ihrer ABC-Schützen. Auch, wenn es einige darunter gab, die ihr das Leben nicht immer leichtmachten.
»Guten Morgen, Frau Lehrerin!« begrüßte sie die Schar von zweiundzwanzig Kindern. Rosige Gesichter, von blonden und braunen Locken umrahmt und glänzenden Augen beherrscht, strahlten ihr entgegen.
»Guten Morgen. Ihr könnt euch setzen!« Barbara hängte ihren Mantel an den Haken, stellte ihre Tasche auf den Stuhl am Tisch und holte ihre Bücher hervor. Sie legte das Kästchen mit den bunten Kreiden zurecht und freute sich schon darauf, eine Narzisse und eine Tulpe an die Tafel malen zu können. Wie so oft wollte sie heute den Unterricht im Lesen mit der Naturkunde verbinden. War es nicht trotz des trüben Wetters höchste Zeit, sich mit den ersten Frühlingsboten zu beschäftigen?
Ein Tuscheln und Raunen ging durch den Raum und wollte kein Ende nehmen. Barbara blickte in die Gesichter. »Was ist denn? Was gibt’s zu lachen und zu tuscheln? Holt lieber eure Malstifte hervor, wenn ihr sie schon wieder weggeräumt habt. Wir werden sie auch in dieser Stunde brauchen.«
Das Gekicher und Geschwätz hielt an. Besonders der rotbäckige Karli in der ersten Reihe krümmte sich vor Lachen. Barbara schoß ihm einen scharfen Blick zu, denn Karli war der Sohn ihrer Freundin Traudl und wollte nicht einsehen, daß sie ihm deshalb noch lange nichts durchgehen lassen durfte.
»Karli, reiß dich zusammen!« zischte sie, warf aber einen verstohlenen Blick auf ihre Blusenknöpfe und danach auf den Reißverschluß ihrer Jeans. Nein, alles war korrekt verschlossen. Nichts an ihr gab Anlaß zu diesem anhaltenden und recht respektlosen Gelächter ihrer Schützlinge.
»Kurti«, rief sie den karottenschöpfigen Sohn des Dorfgastwirts auf. »Verrat mir mal, was eigentlich so komisch ist.«
Kurti erhob sich. Sein Gesicht wurde so rot wie sein Haar. Er sah zu Boden, weil er gegen sein Lachen ankämpfte.
»Nun? Was ist los?« forderte Barbara ihn auf und spürte dabei, wie ihr selbst ein Lachen hochstieg. Sie war sechsundzwanzig, lebensfroh und kicherte dann und wann selbst noch gern wie ein Teenager.
Patricia Strecker, die Tochter eines Steuerberaters, der sich hier im Dorf niedergelassen hatte, hob den Arm.
»Kannst du es erklären, Patricia?«
Patricia, die immer besonders sorgfältig gekleidet und frisiert war und als Klassenbeste galt, erhob sich und sah sich beifallheischend um.
»Sie ist wieder nicht gekommen, Frau Lehrerin.«
Zwanzig Kinder brachen in schadenfrohes Gelächter aus.
»Das Gritli über den Wolken hat den Bastelunterricht versäumt«, tat Patricia sich wichtig. »Es ist das dritte Mal in diesem März.«
»So.« Barbara setzte sich und ließ ihren Blick über die Köpfe schweifen. Tatsächlich, in der dritten Reihe war Gritli Heimhofers Platz mal wieder leer geblieben. »Und warum ist das so komisch?« fragte sie streng.
»… weil, weil«, meldete sich der rote Kurti jetzt tapfer zu Wort, »die Wolken heute so tief hängen. Dann muß sie doch nicht aufs Felshorn hoch, um sich wieder auszuspinnen. Gekommen ist sie aber trotzdem nicht.«
»Hoho!« jubelte Karli und warf den Kopf in den Nacken, so laut mußte er losprusten. »Aber weil sie so g’schert ist, schafft sie nicht mal den kurzen Weg von über den Wolken hinein in die Schule!« Theo nickte und wollte sich ebenfalls vor Lachen ausschütten.
»Ruhe!« rief Barbara. »Es kann auch andere Gründe für ihr Fehlen geben.«
»Naaa! Das glaubst selbst nicht, Tante!« widersprach Karli. »Das Gritli mag die Schul’ nicht und dich auch nicht. Da hockt sie lieber über den Wolken oben an der Felswand und träumt sich in den Himmel hinein.«
Der zornige Blick seiner Tante ließ ihn dann aber verstummen. Sekunden später herrschte endlich wieder Ruhe im Raum.
»So, und nun schlagt Seite vierzehn im Lesebuch auf. Das Gedicht ›Frühlingsboten‹ war zu üben. Wer will anfangen?«
»Und ihre Hausaufgaben macht sie auch nie!« fügte Theo noch wichtigtuerisch hinzu. Er hatte es gerade nötig!
Barbara überhörte das. Sie übersah auch Patricias aufgeregtes Fingerschnipsen. Lieber nahm sie die kleine Petra dran. Während Petra brav Zeile für Zeile las, begann Barbara eine Osterglocke an die Tafel zu malen. Dabei dachte sie an Gritli und wie zutreffend Karli ihre häufige Ungeduld dem Kind gegenüber erwähnt hatte. War sie vielleicht doch ungerecht? Sie wußte es doch längst, die kleine Gritli hatte es schwerer als die anderen Kinder.
Ob sie sich deshalb so oft auf die Gipfel der Berge flüchtete, um von dort aus weit nach Westen zu schauen und aus den Schattierungen des Sonnenlichts auf den Höhen der Bergriesen und der zahllosen Formen der Wolken das Wetter der nächsten Tage vorhersagen zu können? Gritlis Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Bald darauf war ihr Vater in die weite Welt verschwunden. Seitdem wurde das Kind von seiner Großmutter Agnes, der alten Tante Theres und dem Onkel Sepp Heimhofer aufgezogen. Aber außer der alten Tante, die schon recht hinfällig sein mußte, fand keiner der Verwandten Zeit, um der Kleinen bei den Hausaufgaben zu helfen. Außer ihr gab es dort oben am Hang auch keine anderen Kinder, sondern nur Schafe, Kühe und Ziegen, Hühner und Katzen. Im Sommer, wenn die Kühe auf der Alm grasten, mußte das Kind beim Herunterschaffen der Milch helfen. Das allein nahm doch Stunden in Anspruch!
Und so kam es, daß Gritli sich oft so benahm, als sei sie nicht ganz von dieser Welt, eben ›Gritli über den Wolken‹. Und darüber hatte Barbara sich schon einige Male geärgert und es Gritli wohl auch spüren lassen.
»Frau Lehrerin!« Das war die kecke Stimme von Kurti Strecker. Sie sah sich um, und er deutete mit vielsagendem Gesicht zur Tür. Da stand Gritli. Und als ob Gritlis Furcht vor der drohenden Strafpredigt alle anderen ansteckte, erstarrte die Klasse in erschrockenem Schweigen.
»So, Gritli, na, das wurde aber auch Zeit!« Barbaras Stimme klang nun doch wieder streng. »Setz dich auf deinen Platz, und erklär mir, warum du dich wieder verspätet hast.«
Gritli rührte sich nicht. Kreidebleich stach das zarte Gesicht mit dem strengen Scheitel über der Stirn aus dem Schultertuch aus viel zu grober Wolle hervor. Die tiefblauen Augen schimmerten feucht und schienen viel dunkler als sonst. Unter der Joppe bauschte sich ein Schottenrock in verblichenen Farben, und die rote Strumpfhose war am Knie zerfetzt.
Gleich würde Gritli mit ihrer schüchternen Stimme erklären, die Wolken im Westen hätten ganz besonders schön oder bedrohlich ausgesehen, so daß der Nebel sich tagelang halten würde. Barbara kannte das schon. Aber diesmal sagte Gritli kein einziges Wort. Nein, heute brachte sie keine Wettervorhersage an.
»Hast du unterwegs die Sprache verloren?« erkundigte Barbara sich leicht gereizt. Gritli blickte auf ihre schmutzigen Gummistiefel.
»Tante… Tante Theres ist tot«, kam es kaum hörbar von ihren Lippen.
Barbara legte die Kreide beiseite. »Tot?« Sie ging auf Gritli zu und nahm sie in den Arm. »Deine Tante Theres ist gestorben? Das tut mir leid.«
Gritli schluchzte auf. »Ich hab ihr in der Früh die Hafersuppe gebracht. Sie hat sich nicht gefreut wie sonst. Und gerührt hat sie sich auch nicht. Da bin ich zur Großmutter, und die ist mit mir ins Haus von Theres. Großmutter hat gesagt, jetzt ist Theres im Himmel. Und dann hat Großmutter arg geweint…«
»Theres war die Schwester deiner Großmutter, nicht wahr?« flüsterte Barbara und drückte das zarte Kind an sich.
Gritli nickte stumm.
»Wenn du willst, Gritli, kannst wieder hochsteigen auf den Hof«, schlug Barbara vor. »Du mußt heute nicht am Unterricht teilnehmen.«
Da schüttelte Gritli den Kopf. »Ohne Theres will ich nicht wieder hoch.«
»Wennst oben über den Wolken bist, ist deine alte Theres doch auch nicht bei dir«, gab Karli seinen Senf dazu. Zu Barbaras Erleichterung wagte diesmal keiner darüber zu lachen. Sie führte Gritli behutsam zu ihrem Platz, nahm ihr den Ranzen ab und fuhr ihr übers Haar.
»Ich fahr dich nach Schulschluß schnell heim auf den Berghof«, flüsterte sie. »Ich laß dich nicht allein zurückgehen. So, und nun hol deine Malstifte vor.«
»Die hab ich vergesen«, hauchte Gritli und fügte mit erstickter Stimme hinzu: »Bittschön! Schimpfen ’s mich nicht wieder so.«
»Nein, heut schimpf ich nicht«, versprach Barbara.
Es war ja das erste Mal, daß eines ihrer Schützlinge mit dem Tod eines geliebten Menschen fertig werden mußte. Warum hatte es ausgerechnet Gritli, dieses sonderbare Kind, getroffen? Wieviel Leid sollte sie noch erdulden? Denn nun gab es auf dem Berghof wohl keine gute Seele mehr, deren Liebe die elternlose Sechsjährige stützte und ihr Halt gab. Noch häufiger würde sie den Unterricht versäumen und noch seltener ihre Hausaufgaben machen.
Barbara sah es klar voraus. Um Gritli würde sie sich kümmern müssen.
*
Drei Monate waren seit dem Tod der alten Theres vergangen. Der Bach Wese, der im Frühjahr vom vielen Schmelzwasser aus den Bergen immer über die Ufer trat, hatte längst wieder in sein schmales Bett zurückgefunden. Im Dorf ließen sich einige Touristen blicken, aber die meisten zogen es vor, in einem der gutgeführten Berghotels einige Kilometer weiter Quartier zu beziehen.
Im Leben des Schreiners Lange und seiner Tochter, der hübschen Lehrerin, war nicht viel geschehen. Ruppert Lange hatte noch immer keinen zweiten Gesellen eingestellt und die Hoffnung, den richtigen zu finden, wohl schon aufgegeben. Nur Barbaras Äußeres hatte sich ein wenig verändert. Eines Tages war sie ins Städtchen Oberau gefahren und mit einem neuen Kleid und etwas kürzeren Haaren zurückgekehrt. Beides stand ihr gut, aber ihren Tagesablauf beeinflußte es keineswegs.
An einem Samstagnachmittag Ende Juni, als die Sonne vom klarblauen Himmel hinunter ins Dorf brannte und den Duft vom frischgemähten Heu noch verstärkte, zog Barbara ihr neues Kleid zum ersten Mal an. Das kleine Blumenmuster in blau und violett brachte ihre grünen Augen hübsch zur Geltung und unterstrich den leichten Goldton auf Armen und Décolleté. Sie blickte kurz aus dem Fenster, entnahm ihrer Schultertasche dann die Sonnenbrille und schob sie sich über die Stirn aufs Haar.
Ein kurzes Klopfen an der Wohnungstür verriet ihr, daß Ruppert sie mal wieder brauchte. Ihr Vater trat ein und sah sie mißbilligend an.
»Du gehst fort? Heute? Und wer hilft mir bei der Steuer zum zweiten Quartal?«
»Ich. Wenn ich wieder zurück bin, Vater«, schmunzelte Barbara.
»Und wann bist du zurück?«
»In zwei Stunden.«
Er sah sie mißtrauisch an. »Schaust aus, als wolltest in die Stadt fahren oder Traudl besuchen. Dann wird’s Abend.«
»Ich fahr aber nur hoch zum Berghof.«
Ruppert Lange hob die Brauen. »Mit der Sonnenbrille und dem hübschen Kleid? Was willst denn da? Dem Sepp Heimhofer schöne Augen machen?«
»Was du nur denkst!« lachte sie und schulterte ihre Tasche. »Dem Sturkopf Sepp Heimhofer doch nicht! Ich muß mit Agnes, der Großmutter vom Gritli, sprechen. So geht es nicht weiter mit dem Mädchen. Seitdem die alte Theres verschieden ist, bummelt das Gritli noch mehr als sonst. Eine Schande ist’s, weil sie nicht dumm, sondern nur verwahrlost ist. Keiner gibt acht auf das Mädchen. Das regt mich richtig auf.«
Der Schreinermeister nickte. »Viel kannst erreichen im Leben, mein Bärbelchen, aber die alte Agnes, die Heimhoferin, war schon immer ein stockertes Weib. Brauchst gar nicht erst hochzufahren, erreichen wirst nix! Und überhaupt! Hast doch Sommerreifen drauf. Ob du so weit hoch kommst mit dem Wagen? Willst meinen Kombi?«
Barbara stutzte nur sekundenlang. Dann holte sie den Beutel mit ihren Bergstiefeln, schwenkte ihn hin und her und meinte: »Wenn nichts mehr geht, schaff ich den Rest des Wegs zu Fuß. Zufrieden?«
»Das paßt scho’!« schmunzelte er. »Dann wird’s aber gewiß Abend!«
Fünf Minuten später hatte Barbara schon die Hälfte der Fahrt hinter sich. Aber nun begann das dicke Ende. Nach der Bahnunterführung ging es nach links, dann kam der düstere Tunnel, an dem eine Ampel den spärlichen Gegenverkehr zurückhielt, und danach führte die Asphaltstraße hoch, bis sie an einer Biegung in einen steilen Weg überging. Im ersten Gang schaffte ihr Wagen den Hang ohne Schwierigkeiten, nur legte sie die restlichen drei Kilometer im Schneckentempo zurück. Recht mühsam wand sich ihr Auto über
die Serpentinen hoch auf die Wiesen, wo nur noch vereinzelte Fichten zwischen den kleinen Felsen standen.
Barbara stöhnte, und ein mitfühlendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Gritli mußte wirklich jeden Tag einen beschwerlichen Weg zur Schule hinter sich bringen. Hatte denn keiner ihrer Angehörigen Mitleid mit dem Kind?
Sie konnte nicht ahnen, daß die alte Agnes das Auto der jungen Lehrerin schon seit Minuten mit Adleraugen beobachtete. Agnes Heimhofer war knapp über siebzig. Sie trug das weiße Haar streng aus dem sonnengegerbten Gesicht gekämmt und hinten mit einer Spange zusammengehalten. Dazu konnte sie eine Miene aufsetzen, die alle das Fürchten lehrte. Der faltige Rock ihres dunklen Dirndls bauschte sich über den mächtigen Hüften, das hochgeschlossene Oberteil betonte ihre matronenhafte Gestalt. Wenn sie wie jetzt das Kinn kampfeslustig vorschob, glich sie eher einem Feldherrn als einer Großmutter.
»Ts! Ts!« verriet sie schon jetzt ihren Unwillen, denn aus dem Auto stieg eine elegante junge Dame, die ihr schon mal begegnet war. Agnes wußte nur nicht, wann und wo. Ja, doch, auf der Bestattung von Tante Theres. Und war diese Dame nicht ausgerechnet Gritlis Lehrerin, die Tochter vom Dorfschreiner Lange?
Während ihrer letzten Schritte ließ Barbara sich Zeit, um das behäbige Gebäude der Heimhofers genauer betrachten zu können. Es lag trotzig an einem Hang und schien majestätisch ins Tal zu blicken. Aber nichts an dem ausladenden Bau deutete auf Wohlstand oder auch nur einen Hauch von Lebensfreude hin. Es gab keine Blumen an den Fenstern, so daß deren Höhlen wie düstere Löcher aus der graufahlen Mauer stierten. Und vor dem Haus boten sich dem Betrachter ein Wust von Unordnung, also unzählige Beweise bitterer Armut dar. Und die alte Agnes zeigte mit ihrer stolzen, abweisenden Haltung auch nicht gerade an, daß hier ein Fremder willkommen war.
»Sie wollen doch wohl nicht zu mir?« rief sie ihr entgegen. »Wenn S’ das Gritli suchen, die ist mit dem Sepp zur Alm hoch. Aber da können S’ mit dem Auto nicht hin.«