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Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese einzigartige Romanreihe ist der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Beate von Redwitz räumte den Staubsauger weg, schloß die Tür zur Besenkammer und blickte sich dann im Flur um. Zum Staubwischen blieb ihr keine Zeit mehr, denn wenn Reinhard gleich erschien, erwartete er einen hübsch gedeckten Tisch, frisch aufgebrühten Tee und dazu die englischen Biskuits, die er so liebte. Erfüllte sie seine Ansprüche und war pünktlich, übersah er hoffentlich den leichten Staub auf den Möbeln. Sie lächelte nachdenklich. Reinhard von Redwitz war einer der anspruchsvollsten Männer, die sie kannte. Aber kannte sie ihren Bruder? Überraschte sie sein Verhalten nicht immer wieder? Und geschah es nicht oft, daß seine Kälte sie abstieß? Nur ließ sie sich nichts davon anmerken, um ihn ja nicht zu verärgern. Solange Sandro bei ihr bleiben durfte, nahm sie alles hin. Denn Sandro, der Vierjährige, den sie wie ihr Fleisch und Blut liebte, war Reinhards Sohn. Sie fand im Schrank noch eine Packung der Biskuits, legte sie beiseite und setzte erst mal Teewasser auf. Ob sie Reinhard nicht doch zu streng beurteilte? Oder gelang es ihr einfach nicht, ihn richtig einzuschätzen, weil sie ihn kaum mit anderen Männern vergleichen konnte? Außer ihren männlichen Patienten, die mit Schulterverspannungen und ähnlichen Leiden zu ihr in die Praxis kamen, fand sie kaum Gelegenheit, sich mit dem starken Geschlecht zu beschäftigen. Sie war auch nicht der Typ Frau, der auf Männer anziehend wirkte. Alle suchten sie nur auf, um sich von ihr behandeln und aufrichten zu lassen. Zu weiteren Kontakten kam es danach nicht.
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Seitenzahl: 138
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Beate von Redwitz räumte den Staubsauger weg, schloß die Tür zur Besenkammer und blickte sich dann im Flur um. Zum Staubwischen blieb ihr keine Zeit mehr, denn wenn Reinhard gleich erschien, erwartete er einen hübsch gedeckten Tisch, frisch aufgebrühten Tee und dazu die englischen Biskuits, die er so liebte. Erfüllte sie seine Ansprüche und war pünktlich, übersah er hoffentlich den leichten Staub auf den Möbeln.
Sie lächelte nachdenklich. Reinhard von Redwitz war einer der anspruchsvollsten Männer, die sie kannte. Aber kannte sie ihren Bruder? Überraschte sie sein Verhalten nicht immer wieder? Und geschah es nicht oft, daß seine Kälte sie abstieß? Nur ließ sie sich nichts davon anmerken, um ihn ja nicht zu verärgern. Solange Sandro bei ihr bleiben durfte, nahm sie alles hin. Denn Sandro, der Vierjährige, den sie wie ihr Fleisch und Blut liebte, war Reinhards Sohn.
Sie fand im Schrank noch eine Packung der Biskuits, legte sie beiseite und setzte erst mal Teewasser auf. Ob sie Reinhard nicht doch zu streng beurteilte? Oder gelang es ihr einfach nicht, ihn richtig einzuschätzen, weil sie ihn kaum mit anderen Männern vergleichen konnte?
Außer ihren männlichen Patienten, die mit Schulterverspannungen und ähnlichen Leiden zu ihr in die Praxis kamen, fand sie kaum Gelegenheit, sich mit dem starken Geschlecht zu beschäftigen. Sie war auch nicht der Typ Frau, der auf Männer anziehend wirkte. Alle suchten sie nur auf, um sich von ihr behandeln und aufrichten zu lassen. Zu weiteren Kontakten kam es danach nicht.
Bis das Teewasser kochte, fand sie noch Zeit, sich im Bad etwas herzurichten. Ob sie ihr von der Urlaubsonne und dem Meerwasser strohiges Haar nicht lieber unter dem bunten Tuch verbarg? Damit konnte sie sich eine hämische Bemerkung Reinhards und ihm die schmerzliche Feststellung ersparen, daß er eine recht unattraktive Schwester hatte.
»Tante Bea! Tante Bea!«
Bea sah durchs Küchenfenster in ihren kleinen Garten. Da stand Sandro und schrie aus Leibeskräften nach ihr.
»Was ist denn, mein Liebling?« rief sie hinaus und war schon auf dem Sprung, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Sandro, das hatte sie sich schon vor zwei Jahren eingestanden, war eben der einzige, wenn auch sehr kleine Mann, der sie ohne Vorbehalte und von ganzem Herzen liebte.
Aber eigentlich brauchte er sie jetzt nicht. Er rüttelte mit aller Kraft am Stamm des jungen Apfelbaums. »Wann kommt Papi denn?« wollte er nur wissen.
»Es kann nicht mehr lange dauern.«
»Aber ich langweile mir so!«
»Es heißt, ich langweile mich«, verbesserte sie lächelnd.
»Aber Kiki und Linus sind nicht da!« beschwerte Sandro sich und rüttelte noch heftiger an dem Baum, als könnte er damit die Nachbarskinder aus den Ferien herbeizwingen. Und plumps! donnerte ein unreifer Apfel neben seinem Fuß auf den Rasen. Sandro, erst erschrocken hob ihn gleich darauf auf, um ihn zu betrachten. »Ist da ein Wurm drin, Tante Bea?«
»Schau genau nach!« riet sie ihm. Jetzt war er wenigstens beschäftigt, und sie konnte letzte Vorbereitungen für Reinhards Besuch treffen. Sie deckte den Tisch mit dem kostbaren Porzellan ihrer verstorbenen Eltern und brühte den Tee auf, aber etwas fehlte noch. Ja, sicher es gab keinen einzigen Blumenstrauß im Haus. Sollte sie noch schnell in den Garten und dort einen Strauß aus Dahlien und Astern zusammenstellen? Oder lieber die letzten Minuten nutzen, um ihrer äußeren Erscheinung einen Hauch von eleganter Weiblichkeit zu verpassen? Das würde Reinhard milde stimmen.
Sekunden später hupte es auf der stillen Straße vor ihrem bescheidenen Reihenhaus. Da wußte Beate, daß die Zeit gerade noch reichte, um ihre Nase zu pudern, die Biskuits auf eine Schale zu ordnen und hastig die Krümel von ihren Jeans zu entfernen. Dann bereitete sie sich auf Reinhards kritische Blicke vor, öffnete ihm aber mit strahlendem Gesicht die Tür.
»Meine heißgeliebte Bea!« begrüßte Reinhard sie und zog sie kurz, aber heftig an sich, um sie dann näher und mit unverhohlenem Mißfallen zu betrachten.
»Mein Gott! Wie siehst du wieder aus! Wenn du nicht etwas mehr auf dich achtest, findest du nie einen Mann, Schwesterchen!«
Das war nun wirklich starker Tobak!
»Sandro und ich haben auf deinen Wunsch unseren Urlaub an der Ostsee abgebrochen«, erwiderte sie gereizt. »Wir sind erst heute mittag angekommen, Reinhard. Was erwartest du denn?« Mit ihm zugekehrten Rücken, setzte sie kühl hinzu: »Sandro ist im Garten. Er hat schon auf dich gewartet. Ich hole inzwischen den Tee.«
»Du bist schlechtgelaunt?« lachte Reinhard.
»Ein wenig schon. Weil alles immer nach deinem Willen gehen muß!«
»Nicht immer, Schwesterherz. Nur heute. Denn ich habe gute Neuigkeiten für dich. Sandro kann warten. Bist du nicht neugierig?«
»Nein. Ich kann mir ja denken, was du auf dem Herzen hast. Mußt du nach New York oder Tokio, vielleicht sogar nach Johannesburg oder nach Sibirien? Oder willst du Sandro endlich mal wieder für ein Wochenende zu dir nehmen, damit er nicht ganz vergißt, daß er einen Vater hat?« fragte sie giftig aus der Küche heraus.
Sie erhielt keine Antwort. Reinhard war durchs Wohnzimmer und über die Terasse in den Garten zu Sandro gegangen. Sie konnte beobachten, wie er den Jungen in die Arme schloß, um ihn dann genauso kritisch zu betrachten wie sie vorher.
Vor zwei Jahren war Reinhard Witwer und Sandro Halbwaise geworden. Seitdem lebte der Kleine bei ihr und sah seinen Vater nur einige Male im Jahr. Reinhard war eben ein vielbeschäftigter Mann. Als international anerkannter Wirtschaftsexperte flog er von einem Kontinent zum andern, um die Interessen der europäischen Wirtschaftsunion zu vertreten. Nun ja, er war eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Kaum eine Woche verging, ohne daß er nicht vom Bildschirm aus seine Thesen vertrat oder irgendein kluger Artikel im Wirtschaftsteil einer angesehenen Zeitung von ihm erschien.
»Tante Bea, Papi will seinen Tee!« Sandro kam an Reinhards Hand zu ihr in die Küche.
»Du mußt mit dem Jungen unbedingt zu einem guten Friseur, Bea. Sein Haarschnitt ist katastrophal!«
»Ja, ja. Soll ich dir vorher oder nachher eine Tasse Tee einschenken?« parierte sie spöttisch.
»Linus und Kiki sind noch in den Bergen, Papi!« plapperte Sandro ungerührt weiter. »Und der Kindergarten macht erst nächste Woche wieder auf. Ich hab keinen Freund zum Spielen!«
»Mit so einem wilden Wuschelkopf findest du bestimmt keine neuen Freunde.«
Beate sah ihn fassungslos an. Reinhard übertraf sich an Taktlosigkeit heute selbst! »Laß dir von Tante Bea einen Keks geben und geh wieder in den Garten!« setzte Reinhard ungerührt hinzu. »Ich muß mit ihr allein sprechen.«
»Über Sandros Haarschnitt?« feixte Bea und freute sich, weil ein Ausdruck von Ärger über das braungebrannte Gesicht ihres Bruders huschte.
Respektlose Bemerkungen dieser Art haßte er. Und ausgerechnet Beate, seine jüngere und so unattraktive Schwester, erdreistete sich dazu. Nun ja, in wenigen Minuten bekam sie die Quittung dafür.
Sandro stapfte mit einem Biskuit in jeder Hand gehorsam in den Garten. Als Bea mit dem Tablett ins Wohnzimmer trat, warf sie ihrem kleinen Liebling einen wehmütigen Blick nach. So war es immer. Sandro konnte das Eintreffen seines Papis kaum erwarten. War Reinhard da, hielt seine Freude kaum länger als drei Minuten an.
»Ich werde Mitte November heiraten, Beate!« verkündete Reinhard, nachdem er im bequemsten Sessel Platz genommen und einen Schluck Tee getrunken hatte.
»Wie bitte?« Sie konnte es nicht fassen. Reinhard wollte wieder heiraten? Hatte er nicht wiederholt zugegeben, nicht für die Ehe geschaffen zu sein? Hatte er schon vergessen, wie unglücklich seine Frau mit ihm gewesen war? Bea sah ihn an. Nun ja, er war achtundvierzig, ein noch immer sehr attraktiver Mann.
»Ich war lange genug Witwer. Und du kennst meine zukünftige Frau, Schwesterchen. Erinnerst du dich an meinen Geburtstagsempfang?«
»Ja.« Sie zuckte mit den Schultern. »Halb Hamburg war anwesend.«
»Und die schönste Frau trug ein weißes Kleid und einen großen Strohhut auf ihrem kastanienbraunen Lockenhaar.«
»So?« Mindestens dreißig bildschöne Frauen waren durch den Garten flaniert. Fast alle hatten Strohhüte getragen, um sich vor der brennenden Julisonne zu schützen.
»Klaudia Waller!« sagte Reinhard. »Du willst doch nicht etwa behaupten, sie habe keinen Eindruck bei dir hinterlassen?«
»Kann sein«, erwiderte sie nach einer Weile. »Jetzt erinnere ich mich. Du hast sie mir vorgestellt. Ist sie nicht Moderedakteurin oder so was? Sie erschien mir recht jung. Warum willst du sie gleich heiraten?«
»Weil sie eine wunderbare und bildschöne Frau ist. Ja, und die einzige Tochter des Pharmazie-Unternehmers Waller. Der lebt mit seiner zweiten Frau auf Mallorca. Klaudia bewohnt die väterliche Villa ganz allein.« Er lächelte. »Genau genommen sind wir seit Jahren Nachbarn, nur ahnte ich das nicht. Zwei Minuten mit dem Wagen, und ich bin bei ihr. Zu Fuß sind es genau vier Minuten.«
»Akkurat wie du bist, hast du das schnell herausgefunden«, meinte sie kopfschüttelnd. »Und was gefällt dir sonst noch an ihr?«
»Klaudia und ich haben uns im Frühjahr auf einer Hochzeit kennengelernt. Wir sahen uns seitdem gelegentlich, aber in letzter Zeit häufiger. Vorige Woche, kaum war ich aus Israel zurückgekehrt, habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie bestand auf drei Tage Bedenkzeit, aber gestern hat sie angenommen.« Er war glücklich und stolz, nur konnte Beate seine Freude nicht teilen.
Sie ahnte zu gut, was das bedeutete. Die Angst davor schnitt ihr ins Herz, aber sie durfte es sich nicht anmerken lassen. Vielleicht sah sie alles zu schwarz? Eine so junge Frau wie diese Klaudia wollte bestimmt das Leben an Reinhards Seite genießen und dachte nicht daran, sich mit der Verantwortung für ein Kind zu belasten. Noch hatte Reinhard ja nicht angekündigt, daß er Sandro wieder zurückholen wollte.
»Der Gedanke, auf Sandro verzichten zu müssen, kann dir nicht gefallen, Bea. Ich weiß«, begann Reinhard da schon und wenigstens mit ein wenig Einfühlungsvermögen. »Aber bitte, sieh es von der positiven Seite. Du wirst unabhängig sein und kannst dein Leben genießen. Vielleicht hat das Schicksal ja auch noch ein Stück Herzensglück für dich bereit.«
Leben genießen? Herzensglück? Ihr Glück bestand daraus, jede freie Stunde mit Sandro zu verbringen. Hatte Reinhard das immer noch nicht begriffen?
»Du wirst dich wieder mit großer Sorgfalt deinen Patienten widmen und noch Zeit und Muße haben, dich nach einem Ehemann umzusehen, Bea. Noch ist es nicht zu spät. Vierzig ist kein Alter für eine Frau. Nur mußt du natürlich mehr aus dir machen.«
Ihre Brust hob und senkte sich wie unter einer großen Anstrengung.
»Außerdem wünsche ich mir, daß Klaudia und du Freundinnen werdet. Sie hat Stil und einen hervorragenden Geschmack. Sie wird dich beraten können, wenn du dein Äußeres auffrischen willst.«
Danach wurde es ganz still in Beas gemütlichem Wohnzimmer. Reinhard von Redwitz mochte ein kühler Kopf sein, aber ein Unmensch war er nicht. Deshalb hoffte er, Bea könnte ein irgendwie anders geartetes Glück finden, als an seinem Sohn Mutterstelle zu vertreten.
»Wird Klaudia Waller Sandro denn eine gute Mutter sein?« beendete Bea das Schweigen.
»Ich denke doch. Natürlich mute ich ihr nicht zu, sich tagtäglich zwölf Stunden um ihn zu kümmern. Wir werden ein Kindermädchen einstellen, das ihn nachmittags, wenn er nicht im Kindergarten ist, betreut. Ich bestehe darauf, daß Klaudia ihre berufliche Tätigkeit fortsetzt. Ich möchte nicht, daß sie sich wie Ruth zu Hause langweilt, wenn ich auf Reisen bin.«
Beate starrte ihn an. Warum ließ er ihr den Jungen dann nicht?
»Der Gedanke, wieder eine Frau zu Hause sitzen zu haben, die sich vor Langeweile grämt, ertrage ich kein zweites Mal. Klaudia versteht das.«
»Aber Reinhard! Das kannst du doch nicht zulassen! Sandro braucht einen Menschen, der nur für ihn da ist. Er hat keine Mutter mehr und du, entschuldige, bist nicht gerade ein idealer Vater!«
Er erhob sich und sah zu Sandro hinaus. »Ich weiß. Aber du hast deine Patienten und konntest ihn auch nicht ständig an deinem Kittelzipfel dulden.«
»Nur bin ich immer hier. Und bei mir fühlt er sich geborgen. Seine Freunde, die Umgebung, der Kindergarten an der Ecke…«
»Er wird sich schnell wieder bei mir eingewöhnen.«
»Und wenn Klaudia Waller es vorzieht, dich auf deinen Reisen zu begleiten? Wenn sie die Anstrengungen besser erträgt als Ruth und sich nichts Schöneres denken kann, als überall auf der Welt an deiner Seite zu sein?«
Reinhards Gesicht wurde zu einer Maske. »Das will ich nicht. Ich habe Ruth nur wenige Male mitgenommen, und daraus wurde jedesmal ein Fiasko. Darum will ich auch Klaudia nicht an meiner Seite haben. Bei offiziellen Besuchen im Ausland sind Ehefrauen überflüssig und deshalb nicht gern gesehen.«
»Und wenn deine… zweite Frau es trotzdem von Herzen wünscht?«
»Unsinn. Ist Klaudia erstmal Chefin der Moderedaktion, wird sie doch gar keine Zeit für häufige Reisen haben.«
»Chefin? Ich dachte, sie ist Redakteurin?«
»Ich habe gute Kontakte zu ihrem Verleger und schon dafür gesorgt, daß sie befördert wird. Wenn ihr Aufgabenbereich sich erweitert, kommt sie nicht auf trübe Gedanken. Du mußt anerkennen, daß ich aus meiner Ehe mit Ruth viel gelernt habe.«
»… aber ganz vergessen, daß sie am gebrochenen Herzen starb.«
»Ruth starb an Leukämie. Verdreh die Tatsachen nicht, Bea.«
Bea wich seinem Blick aus. »Laß Sandro wenigstens so lange bei mir, bis er in die Schule kommt«, bat sie leise. »Er kann euch immer besuchen. Zwei Jahre gehen schnell vorüber. Deiner… zweiten Frau bleibt dann Zeit, sich an ihre neuen Aufgaben zu gewöhnen.«
Reinhard musterte sie mit einem scharfen Blick. »Das kommt nicht in Frage, Bea. Ruth hat bestimmt, daß du dich nach ihrem Tod um Sandro kümmern sollst. In meinem Testament habe ich dich auch im Falle meines Ablebens als Sandros Vormund bestimmt. Aber nun werde ich eine junge Frau heiraten und Sandro deshalb eine ganz normale, glückliche Kindheit bieten können. Er braucht eine erstklassige Erziehung und eine Umgebung, die ihm außer familiärer Geborgenheit auch Möglichkeiten zur Selbstentfaltung bietet.«
»Selbstentfaltung!?« wiederholte sie verdattert.
»Ja. Fairness im Alltag, hervorragendes Benehmen, Zielstrebigkeit und eine anspruchsvolle Lebensführung.«
Er wird keinen Baum schütteln und keinen Wurm beobachten dürfen, dachte Beate und sah ihren Bruder mit einem entsetzten Blick an.
»Bitte, Bea, sieh mich nicht so entsetzt an! Damit hättest du rechnen können. Oder mißgönnst du mir mein zweites Glück?«
»Mit Ruth warst du nie glücklich. Also ist es wohl dein erstes Glück«, meinte sie seufzend, »Aber natürlich gönne ich es dir von Herzen.«
»Gut. Dann klammere dich nicht an meinem Sohn. Du hast viel für ihn getan, aber er gehört dir nicht.«
»Das wußte ich immer.«
Sie wußte aber auch, wie eintönig ihr Leben ohne Sandro sein würde. Nein, sie konnte sich die Zukunft ohne ihn nicht mal vorstellen. Durfte sie nicht ein einziges Mal um ihr Glück bangen und kämpfen?
Reinhard setzte sich wieder. Er atmete schwer.
»Sandro hängt mit zärtlicher Liebe an dir, Bea. Aber er gehört nicht für immer in ein kleines Reihenhaus weit vor der Stadt. Hier würde er wie viele andere Kinder aufwachsen, die es später im Leben nur zum Mittelmaß bringen. Als Vater kann ich das nicht verantworten.«
Ihr Atem bebte, als sie Luft holte. Schon jetzt lähmte sie die Angst vor der Einsamkeit.
»Versteh ’s doch«, fuhr er fort. »Klaudia wird seine Stiefmutter. Wie alles, was sie beginnt, wird sie auch daraus das Beste machen. Sie hat Verständnis für mich und steht im Gegensatz zu Ruth mit beiden Beinen im Leben. Wir werden nach der Hochzeit eine lange Reise nach Südostasien unternehmen, aber Weihnachten wird Sandro bei uns verbringen. Du hast also Zeit, dich mit der Trennung von ihm abzufinden.«
Sie konnte ihn nicht ansehen, wenn sie nicht in Tränen ausbrechen wollte. »Ja, das habe ich«, schwindelte sie tapfer.
*
Nach zehn Stunden Flug setzte die Maschine über Hamburg zur Landung an. Unter den Passagieren war eine Gruppe von fünf Ärzten, die nach einem Einsatz in einem Notgebiet südlich des Äquators wieder in die Heimat zurückkehrten.
Ralf Nolte sah seinen Freund und Kollegen Kai Hoffmann an, der auf dem Sitz neben ihm eingenickt war. Ralf schmunzelte. Jetzt zeigte sich, daß der etwas jüngere Freund sich mal wieder bis zur Erschöpfung verausgabt hatte.
»He, Kai!« Minuten später mußte er ihn trotzdem wecken. »Wir landen gleich. Wach auf. Noch kannst du dich rasieren. Klaudia wird es dir danken«, grinste er.
»Was ist los?« schrak Kai hoch. Dann begriff er, sah nach links und rechts und auf seine Uhr und strich sich schließlich übers Kinn. »Sie wird es aushalten«, lächelte er und räkelte sich wohlig.
»Du meinst, sie nimmt dich auch unrasiert glücklich in die Arme, weil sie weiß, du mußt in vierzehn Tagen wieder los?«