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Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Buchstäblich ein Qualitätssiegel der besonderen Art, denn diese wirklich einzigartige Romanreihe ist generell der Maßstab und einer der wichtigsten Wegbereiter für den modernen Familienroman geworden. Weit über 2.600 erschienene Mami-Romane zeugen von der Popularität dieser Reihe. Es war einer dieser schwülen Sommertage, an denen sich fast alle schlapp und müde fühlten. Und ausgerechnet heute holte Uschi Behrend ihre Tochter Luisa aus dem Heim Tannengrund ab. So kam es, daß sie ihr dumpfes Herzklopfen nicht nur ihrem schlechten Gewissen, sondern auch dem drückenden Wetter zurechnete. Aber der Anblick dieser nicht endenwollenden Umklammerung, mit der ihre Tochter den Abschied von der Heimleiterin hinauszögerte, traf sie nun doch wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Jetzt erst wurde ihr bewußt, wie schwer es Luisa fiel, das Heim Tannengrund für immer zu verlassen. Sekundenlang schwankte sie, ob sie ihren Entschluß nicht rückgängig machen, einfach ins Auto steigen und allein zurück nach München fahren sollte. Durfte sie ihrer Elfjährigen einen Schulwechsel zumuten und tatsächlich von ihr verlangen, von nun an mit ihr und der winzigen Sophie allein im Haus in der Münchner Rotbuchenstraße zu leben? War nicht zu befürchten, daß sich Luisa nach der Zeit im herrlichen Voralpenland gar nicht mehr ans Stadtleben und an ein trautes Zusammensein mit ihrer jungen verwitweten Mutter und einem Schwesterchen, von dem sie bis jetzt nichts ahnte, gewöhnen konnte? »Komm, Luisa, ich bringe dich zum Wagen«, meinte Frau Dr. Stubbe in diesem Moment. »Dann haben wir noch einige Minuten für uns.« Sie streckte der verblüfften Uschi die Hand entgegen, bis die ihr die Autoschlüssel gereicht hatte. Dann bewegte sie sich Arm in Arm mit dem Mädchen hinüber zum schattigen Parkplatz. Die Geste der Heimleiterin verriet genug! Rabenmutter, Ungeheuer, herzlose Bestie! hätte sie sie wohl am liebsten genannt. Sollte sie hinterherlaufen, Frau Dr. Stubbe an den Schultern packen und sie auf ihre Verantwortung als Pädagogin hinweisen? Hatte sie überhaupt ein Recht dazu?
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Seitenzahl: 142
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Es war einer dieser schwülen Sommertage, an denen sich fast alle schlapp und müde fühlten. Und ausgerechnet heute holte Uschi Behrend ihre Tochter Luisa aus dem Heim Tannengrund ab. So kam es, daß sie ihr dumpfes Herzklopfen nicht nur ihrem schlechten Gewissen, sondern auch dem drückenden Wetter zurechnete.
Aber der Anblick dieser nicht endenwollenden Umklammerung, mit der ihre Tochter den Abschied von der Heimleiterin hinauszögerte, traf sie nun doch wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Jetzt erst wurde ihr bewußt, wie schwer es Luisa fiel, das Heim Tannengrund für immer zu verlassen. Sekundenlang schwankte sie, ob sie ihren Entschluß nicht rückgängig machen, einfach ins Auto steigen und allein zurück nach München fahren sollte.
Durfte sie ihrer Elfjährigen einen Schulwechsel zumuten und tatsächlich von ihr verlangen, von nun an mit ihr und der winzigen Sophie allein im Haus in der Münchner Rotbuchenstraße zu leben? War nicht zu befürchten, daß sich Luisa nach der Zeit im herrlichen Voralpenland gar nicht mehr ans Stadtleben und an ein trautes Zusammensein mit ihrer jungen verwitweten Mutter und einem Schwesterchen, von dem sie bis jetzt nichts ahnte, gewöhnen konnte?
»Komm, Luisa, ich bringe dich zum Wagen«, meinte Frau Dr. Stubbe in diesem Moment. »Dann haben wir noch einige Minuten für uns.« Sie streckte der verblüfften Uschi die Hand entgegen, bis die ihr die Autoschlüssel gereicht hatte. Dann bewegte sie sich Arm in Arm mit dem Mädchen hinüber zum schattigen Parkplatz.
Die Geste der Heimleiterin verriet genug! Rabenmutter, Ungeheuer, herzlose Bestie! hätte sie sie wohl am liebsten genannt. Sollte sie hinterherlaufen, Frau Dr. Stubbe an den Schultern packen und sie auf ihre Verantwortung als Pädagogin hinweisen? Hatte sie überhaupt ein Recht dazu? Und was brachte das? Die damenhafte Matrone mit dem geduldigen Blick hätte um eine Erklärung für dies vulgäre Verhalten gebeten. Und dann? Was sollte Uschi ihr erkären? Es gab keine Entschuldigung für ihre Vorgehensweise. Keiner verstand, warum sie ihre Tochter so plötzlich, ohne längere Ankündigung von hier fortholte, denn niemand wußte ja, daß sie inzwischen ein zweites Kind bekommen hatte.
Oder sollte sie sich der Direktorin anvertrauen? Ihr umständlich und verlegen erklären, daß sie, die junge Witwe sich drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes an die Illusion eines neuen Glücks verloren hatte. Daß ihr aber von dieser Illusion nichts geblieben war, außer einem kleinen Kind, der zwei Monate alten Sophie, diesem Wonneproppen, der sie über alle Bitternis hinwegtröstete und in ihr den Wunsch erweckte, auch Luisa wieder um sich zu haben?
Nun ja, sich jung zu fühlen und dabei mit aller Macht vom Glück zu träumen, das entschuldigte vielleicht den Leichtsinn einer alleinstehenden Frau. Aber einer berufstätigen Witwe, die ihr einziges Kind in ein Internat abgeschoben hatte, verzieh man eine solche Dummheit nie!
»Ich habe Luisa meine innigsten Wünsche für eine segensreiche und glückliche Zukunft mitgegeben, Frau Behrend.«
Mit diesen Worten kam die Heimleiterin zu Uschi zurück und reichte ihr den Autoschlüssel. Mit einem Blick, der Uschis jugendliche Aufmachung als völlig unpassend kritisierte, fügte sie dann doch noch mit sanftem Lächeln hinzu: »Sie hat sich beruhigt und wartet im Wagen auf Sie. Ich hoffe, Sie finden bald Gelegenheit, das zwischen Ihnen stehende Mißverständnis aufzuklären.«
»Ein ausgereifter Entschluß ist kein Mißverständnis«, widersprach Uschi. »Ich danke Ihnen deshalb von Herzen für die Zuneigung, die Sie Luisa immer entgegenbrachten. Ich werde alles tun, damit sie sich bei mir wohl fühlt, die Zeit bei Ihnen aber nie vergißt.«
»Ohne die Freundschaften, die sie hier geschlossen hat, wird es für Luisa nicht leicht werden, Frau Behrend.«
»Sie wird neue Freundschaften schließen.« Uschi setzte sich hinters Steuer. Noch ein tränennasser Blick und ein letztes Winken von Luisa, und sie fuhr den Wagen in hohem Tempo aus dem großen Tor hinaus. Sie lenkte ihn gar nicht erst ins Dorf, sondern wählte eine Straße, die direkt zur Autobahn führte. Als Luisa wieder zu schluchzen begann, suchte Uschi krampfhaft nach Worten des Trostes und der Zuversicht. Aber die nützten ja nichts, bevor ihre Große nicht endlich erfuhr, was sie zu Hause erwartete. Uschi hatte sich doch alles schon so gut zurechtgelegt. Aber wie beginnen, ohne Luisa dabei in die Augen zu sehen?
»Wollen wir zu Mittag ein riesiges Eis schlecken?« schlug sie eine halbe Stunde später vor. »Das ist bei dieser Hitze besser als ein richtiges Essen, wie?«
»Ja, das ist es«, kam es von hinten. Uschi atmete auf. Luisa saß zwischen Taschen und Kartons eingezwängt, weil der Kofferraum nur ein Drittel ihres Gepäcks faßte. Ihr mußte ja unerträglich heiß werden!
Auf der Terrasse der nächsten Autobahngaststätte war jeder Platz besetzt. Ungerührt zog Uschi ihre Tochter mit sich in den halbdunklen riesigen Gastraum. Hier war es wenigstens kühl. Und ganz hinten fand sich ein freier Tisch.
Der Kellner, der die Bestellung für zwei Eisbecher aufnahm, sah die junge Mutter mit dem typischen Blick eines Mannes an, der unverhohlen Flirtbereitschaft signalisiert. Uschi tat so, als bemerke sie es nicht. Daß sie nach Sophies Geburt vor zwei Monaten endlich wieder schlank und rank war und ihr die karierten Bermudas und das lockere T-Shirt hervorragend standen, wußte sie selbst. Sie war gerade Mitte Dreißig, fühlte sich aber so jung wie lange nicht mehr.
Und wenn Luisa ihr endlich wieder ein vertrautes Lächeln schenkte, war sie sogar dazu imstande, für ihre kleine Familie Bäume ausreißen oder wie eine Löwenmutter um das Wohlergehen ihrer beiden Töchter zu kämpfen.
Luisa weinte nicht mehr, aber ein Lächeln war nicht zu erwarten.
»Weihnachten hast du mich zum letzten Mal nach Hause geholt!« brach es auch schon aus ihr heraus. »Und ich hab gedacht, wenn du in den großen Ferien kommst, fahren wir zusammen weg. Nach Italien oder Österreich wie sonst. Aber du holst mich einfach für immer nach Hause! Ohne mich zu fragen, als wäre ich irgendein Ding… und nicht deine Tochter.«
»Luisa, bitte, mein Schatz, laß dir erklären…«
»Was denn? Ostern und Pfingsten hast du dich auch nicht blicken lassen. Nur immer Briefe und Päckchen geschickt. Hättest ja gleich schreiben können, daß ich zum nächsten Schuljahr wieder nach München muß.«
Uschi wußte selbst, was sie falsch gemacht hatte. »Freust du dich denn gar nicht, wieder und für immer bei mir zu sein?« Das klang wie ein Flehen.
Luisas braune Augen blitzten kurz auf. »Na ja…«
Dann wurde das Eis gebracht. Sie riß den Papierschirm aus dem Sahnehäubchen, wühlte mit dem Löffel die Früchte unters Eis und warf Uschi zur Abwechslung einen zweifelnden Blick zu.
»Wenn ich in der Münchner Schule keine neuen Freunde finde und du jeden Tag arbeiten gehst, soll ich dann nur mit Wilma reden oder wie?«
Wilma Buschholz war Uschis Haushaltshilfe, eine mütterliche Frau mit flottem, bayrischen Mundwerk und dem Herz auf dem rechten Fleck.
»Dann hätt’ ich auch im Tannengrund bleiben können. Da hab ich viele Freundinnen.«
»Du findest natürlich neue Freunde!« Uschis Worte klangen sehr bestimmt. Dabei wußte sie, daß sie ihr Geständnis nicht mehr lange aufschieben konnte. »Du weißt, wie ungern ich wieder zu arbeiten begann, damals, als Papi uns für immer verlassen hat?« begann sie mit einer Rückschau in die Vergangenheit.
»Er hat uns nicht verlassen. Das tun andere Väter. Papi ist gestorben, Mami. Gewollt hat er das nicht!«
Natürlich, Luisa war jetzt elf und kein Kind mehr, dem man die Welt und den Tod schönreden konnte.
»Ja, er ist gestorben. Ich meine ja nur, danach waren wir allein. Und ich stand vor der Wahl, aus dem Haus auszuziehen oder wieder zu arbeiten, um es abzahlen zu können. Darum habe ich mich auch entschieden, dich nach Tannengrund zu bringen.«
»Ich hab’s schon hundertmal gehört. Aber das war okay.«
»Ja, sicher. Entschuldige.«
Uschi blickte in den halbdunklen Raum. Das fängt ja gut an, dachte sie. Schon jetzt entschuldige ich mich bei Luisa. Und nur, weil mir längst Bekanntes herausgeschlüpft ist? Wie soll das nur weitergehen?
»Du hast aber immer gesagt, wieviel Spaß es dir macht, wieder bei Borell zu arbeiten. Stimmt das etwa nicht?«
Luisa hatte völlig recht. Borell war ein bekanntes Textilunternehmen für Kleidung der oberen Kategorie. Die Firma stellte vier Kollektionen im Jahr her, und Uschi setzte die Entwürfe der Designer in Musterschnitte um. Mit dieser Arbeit hätte sie in zwanzig Jahren die Schulden fürs Haus abzahlen können. Aber dann war es bald darauf und zum Glück ganz anders gekommen.
»Von nun an, Luisa, werde ich nur noch zu Hause für Borell arbeiten«, rückte sie endlich mit der angenehmen Nachricht heraus. »Du wirst also nicht nur mit Wilma zusammensein, sondern mich tagtäglich um dich haben. Es sei denn, ich muß ab und an für einige Stunden in die Firma.«
Luisa hielt den gutgehäuften Löffel vor ihrem Mund, bis das Eis herunterträufelte. »Du mußt nicht mehr in die Firma? Nur noch manchmal? Ist das wahr, Mami?«
»Ja, die Erbschaft von Onkel Gustav ermöglicht es mir.«
»Onkel Gustav, den du als kleines Mädchen immer Puvogel genannt hast?« Luisa schmunzelte. »Ja, das Geld von dem. Ich weiß. Warum hast du nicht gleich gesagt, daß du deshalb zu Hause bleiben kannst? Dann hätt’ ich nicht so geheult.«
Uschi streckte die Hand aus, bis sie Luisas nackten Arm berührte.
»Weil es noch einen Grund gibt, der mich dazu veranlaßt, zu Hause zu arbeiten. Ich denke, das wird eine wundervolle Nachricht für dich.«
»Hast du mir einen Hund gekauft?«
Während sie bedauernd den Kopf schüttelte, fragte Uschi sich, woher sie überhaupt den Mut nahm, von einer guten Nachricht zu sprechen.
»Also kein Hund.« Luisa blickte mit komischer Verzweiflung zur Decke.
»Onkel Puvogel hatte keine eigenen Kinder. Darum hat er mir ein Haus und eine Eigentumswohnung und dazu noch eine schöne Summe vererbt.«
Uschi wollte eigentlich gar nicht von Onkel Puvogel sprechen. Ihr lag doch etwas viel Wichtigeres auf dem Herzen.
»Klar. Jetzt fällt’s mir wieder ein«, fuhr Luisa mit steigender Stimmung fort. »Von dem Geld sind wir letztes Jahr in den Ferien vier Wochen durch Italien gereist, nicht?«
Uschi nickte. »Ja. Denn als ich begriff, daß ich von nun an bescheiden, aber recht sorglos leben konnte, mußte ich diese Freude mit dir teilen. Das war auch eine Belohnung für dich, weil du den Test fürs Gymnasium so gut bestanden hast.«
»Es war toll!« versicherte Luisa und löffelte ihr Eis mit großem Appetit aus. »Aber noch toller ist, daß du nun nicht mehr täglich zu Borell mußt.«
»…und daß uns das Haus endgültig gehört und uns keiner mehr daraus vertreiben kann.«
Das Haus in der Rotbuchenstraße hatte ihr Mann erworben, als Luisa drei war. Daß es Jahrzehnte dauern würde, bis es abbezahlt war, störte das junge Ehepaar nicht. Klaus Behrend steuerte damals eine höhere Beamtenlaufbahn im Kultusministerium an. Warum sollte er für seine geliebte Frau und sein winziges Töchterchen kein hübsches Haus mit Garten erwerben? Zwei Jahre später wurde er als unheilbarer Kranker in die Klinik eingeliefert. Da wußte er schon, daß ihm für die höhere Beamtenlaufbahn keine Zeit mehr blieb und er seine Uschi und die kleine Luisa in einer hoffnungslosen Situation zurücklassen mußte.
Uschi hatte ihren Mann mit jeder Faser ihres Herzens geliebt. Sie hatte ihn respektiert und bewundert. Nie wieder, das wußte sie inzwischen, konnte sie sich einem Menschen so vertrauensvoll ausliefern wie Klaus. Und doch war sie ein einziges Mal auf das Werben eines Mannes hereingefallen.
Dieses einzige Mal, empfand sie immer noch als Verbrechen, für das sie bitter gebüßt hatte und am Ende doch belohnt worden war. Aber daran wollte sie nicht mehr rühren, als fürchte sie, wie ein Fluch könnte die Vergangenheit sie einholen und sich als böser Bann auf ihre Liebe zu Klein-Sophie legen.
»Papi freut sich oben im Himmel bestimmt auch wahnsinnig darüber, daß wir nun beide allein im Haus wohnen. Das tun wir doch, Mami? Oder haben wir immer noch den Untermieter in der Mansarde?«
»Wo denkst du hin? Schon seit Anfang dieses Jahres nicht mehr!«
Luisa juchzte, und Uschis Anspannung ließ ein wenig nach. Jede Frage Luisas schenkte ihr Aufschub.
»Toll! Du und ich im Haus. Wir werden es uns richtig schön machen. Mutter und Tochter ganz allein. Wetten, daß es super-mega-irre wird?«
Kein Zweifel! Der Schmerz über den Abschied vom Tannengrund geriet schon in Vergessenheit. Kam er zurück, wenn Uschi ihrer Tochter endlich die ganze Wahrheit sagte?
Es ist heute zu schwül, versuchte sie sich wieder einzureden. An einem so drückend heißen Tag fällt alles schwer. Warum bleibe ich nicht kühl, oder cool, wie Luisa es nennen würde und rede einfach weiter?
Das tat Luisa.
»Wenn du mehr Zeit hast als sonst, dann können wir auch wieder wie früher in die Brombeeren gehen, Mami. Ich werd’ dir beim Marmelademachen helfen. Und Opa Karlchen kriegt dann zwei Gläser. Die ißt er doch so gern. Wie geht’s ihm eigentlich?«
»Opa Karlchen? Dem geht’s prächtig.«
Opa Karlchen war Herr Heinlein, ihr Nachbar am Ende der Rotbuchenstraße, mit dem sie sich die Perle Wilma Buschholz teilte.
»Es wird alles toll, Mami«, sprach Luisa ihrer Mutter jetzt sogar Mut zu. Denn sie hatte bemerkt, daß Uschi ihr Eis schmelzen ließ und den Löffel festhielt, als wollte sie damit Fliegen totschlagen. Nur gab es hier keine Fliegen. Luisa lächelte amüsiert.
»Das Eis hat viele Kalorien, wie? Du bist ja auch etwas dicker geworden.«
»So? Meinst du?« fragte Uschi verlegen. Aber sie wußte, Luisa hatte ihr das Stichwort gegeben. Sie konnte daran anknüpfen und ihrer Tochter endlich die gesamte neue Situation zu Hause schildern. Was heißt, sie konnte? Sie mußte es jetzt endlich tun!
»Du hast damit recht«, gab sie leise zu und umfaßte den Arm ihrer Tochter noch fester, um gleichzeitig den langen Eislöffel aus der Hand zu legen. »Aber ich war noch viel, viel dicker. Seit Juni habe ich acht Pfund abgenommen. Eigentlich bin ich stolz darauf.«
»Was? Du mußt ja schrecklich dick gewesen sein.« Es klang altklug, aber auch komisch. Nur konnte Uschi nicht lachen.
»Ja, so ist es. Aber wenn eine Frau ein Kind bekommt, legt sie manchmal gehörig zu.«
»Klar!« Luisa lachte. »Aber du bekommst doch kein Kind.« Sie sah sich um. »Können wir bitte noch einen Saft oder eine Limo bestellen? Ich krieg jetzt Durst.«
»Gleich, Luisa. Erst muß ich dir etwas sagen, das dich bestimmt freuen wird.«
»Noch was?« Lachend steckte Luisa ihre blonden Haare mit dem Kämmchen aus dem Gesicht.
»Ja.« Uschi machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ich habe ein Baby bekommen. Ob du’s glaubst oder nicht. Du hast ein Schwesterchen. Sie heißt Sophie, ist gerade zwei Monate alt und freut sich schon auf dich.«
Das Blondhaar fiel Luisa ins Gesicht. Durch die Strähnen hindurch traf Uschi ein entgeisterter Blick. Aber dann lachte Luisa auf einmal laut auf.
»Quatsch! Das geht doch gar nicht, Mami. Unser Papi ist im Himmel.«
»Es gibt Männer, die sind hier auf der Erde.«
»Wer…?«
»Wer Sophies Vater ist?« Totenstille herrschte zwischen ihnen. »Darüber möchte und werde ich nie sprechen, Luisa.«
Es waren endlose Sekunden, die schweigend verrannen, weil Luisa ihre Mutter voller Entsetzen ansah.
Und mit einem Schlag wurde Uschi klar, daß ihr Entschluß, Luisa aus Tannengrund fortzuholen, doch nicht so ausgereift war. Sie war der Stimme ihres Mutterherzens gefolgt. Auf ihren Verstand hatte sie nicht gehört. Und den würde sie von nun ordentlich benutzen müssen, wenn sie die Harmonie zwischen Luisa und sich erhalten und dennoch ihr Geheimnis bewahren wollte.
*
Drei Wochen waren vergangen, und Luisa hatte sich wieder eingelebt. Das neue Schuljahr hatte noch nicht begonnen. In der Rotbuchenstraße gab es kaum Kinder. Und die wenigen, die weiter unten an der Kirche wohnten, waren noch in den Ferien. Darum verging kaum ein Tag, an dem Luisa sich nach Tannengrund zurücksehnte. Ihr fehlten nicht nur die Freunde, die klare Stundeneinteilung und das unverfälschte Weltbild der bewunderten Direktorin, sondern auch die klaren Anordnungen und Verbote, die ihr langes Nachdenken oder Unsicherheiten ersparten.
Jetzt hatte sie jede Menge Zeit zum Nachdenken, und nun fiel ihr auch auf, wie anstrengend es war, wenn sich die Gedanken nicht aus ihrem ständigen Kreislauf bringen ließen und immer wieder dort landeten, wo sie begonnen hatten. So kam es, daß ihr der Tagesablauf, der sich zu allem Überfluß ganz nach den Bedürfnissen der kleinen Sophie richtete, schon bald langweilig wurde.
»Denk bloß nicht, du kannst dir alles erlauben!« zischte sie ihr Schwesterchen Sophie eines frühen Nachmittages an. »Du hast ein Bäuerchen gemacht, hörst du! Danach wird nicht mehr gespuckt. Schluß damit! Ist ja ätzend!«
Sie nahm ein Feuchttuch und wischte die Milchreste mit unwilliger Behutsamkeit aus der Falte zwischen Sophies Hals und Hemdchen fort. »So! Und jetzt wird geschlafen. Mami hat zu tun. Ich will keinen Mucks mehr hören!«
Sie knüllte das Tuch zusammen und warf es in den kleinen rosaroten Abfalleimer, der am Fenster stand. Dann seufzte sie und sah hinaus. Es war nicht mehr so heiß wie noch vor einigen Tagen, weil einige Gewitter heruntergegangen waren, aber die ruhige Straße gähnte nur noch öder zu ihr hinauf.