E-Book 1858 - 1867 - Isabell Rohde - E-Book

E-Book 1858 - 1867 E-Book

Isabell Rohde

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. E-Book 1: Kleines Herz auf Wanderschaft E-Book 2: Ich bring' dir Glück, Daniela E-Book 3: Per Zufall Vater werden E-Book 4: Schwesterherz, ich hab' dich lieb E-Book 5: Ich kann endlich Mutti sagen E-Book 6: Die frechen Nachbarskinder E-Book 7: Du bist unser Schutzengel E-Book 8: Ein Baby bleibt nicht allein E-Book 9: Lach doch wieder, Timmy! E-Book 10: … und plötzlich sind wir eine Familie

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Inhalt

Kleines Herz auf Wanderschaft

Ich bring' dir Glück, Daniela

Per Zufall Vater werden

Schwesterherz, ich hab' dich lieb

Ich kann endlich Mutti sagen

Die frechen Nachbarskinder

Du bist unser Schutzengel

Ein Baby bleibt nicht allein

Lach doch wieder, Timmy!

… und plötzlich sind wir eine Familie

Mami – Staffel 14 –

E-Book 1858 - 1867

Isabell Rohde Gloria Rosen Silva Werneburg Anna Sonngarten Susanne Svanberg Eva-Maria Horn Gisela Reutling Myra Myrenburg

Kleines Herz auf Wanderschaft

Roman von Rohde, Isabell

Das Haus der Petersens stand in einem mäßig großen und nicht gerade liebevoll gepflegtem Garten im Frankfurter Westend. Die Straße, die daran vorbei führte, verband zwei Verkehrsachsen, war aber zu schmal, um sich als Rennstrecke für eilige Autofahrer zu eignen. So herrschte hier, nur wenige Geh-Minuten vom Zentrum der Stadt entfernt, meistens eine fast dörfliche Stille.

Zum Leidwesen von Thilo und Corri Petersen wußten ihre drei Kinder – Patti, Helle und Dette – diese Stille nicht zu schätzen. Manchmal fürchteten die Eltern schon, ihr Nachwuchs brauche den Lärm, um sich wohl zu fühlen. Corri, die als Ärztin in einer nahegelegenen Klinik arbeitete, mußte den Krach ja nur abends ertragen. Vater Thilo arbeitete oben im ausgebauten Speicher als Grafiker in seinem Atelier, und so kam es nicht selten vor, daß er laut runterbrüllte: »Ruhe! Ruuhe! Seit ihr alle schwerhörig oder was?«

Dann stellten sich seine drei Sprößlinge wirklich schwerhörig, bemühten sich aber um eine Lautstärke, die der Hausherr gerade noch ertragen konnte.

Heute nachmittag war ihr Vater nicht da. Er hatte sich aufs Fahrrad geschwungen, um einen seiner Kunden in der City zu besuchen. Kaum war er um die nächste Ecke verschwunden, begannen Helle und Dette, die beiden Jungens, die eigentlich Helmut und Detlef hießen, sich wie auf Kommando zu streiten. Sie bewohnten ein riesiges Zimmer im Souterrain. Da nun also die Bücher flogen, die Türen knallten und Gegenstände aller Art durch die Gegend polterten, drang der Lärm bis in den ersten Stock, wo sich Patti, die auf den schönen Namen Patricia getauft worden war, in ihrem Zimmer aufhielt.

Sie war vierzehn und galt allgemein als recht vernünftig. Solange die Eltern nicht zu Hause waren, Klingel und Telefon aber noch zu hören waren, störte sie der Krach nicht. So vergingen die Stunden trotz des Gepolters in geschwisterlicher Harmonie.

Es war gegen fünf an diesem sonnigen Augustnachmittag, als Thilo Petersen von seiner Besprechung zurückkam. Er stellte das Fahrrad in die kleine Garage, hob die Tüten mit den Einkäufen und seine dicke Arbeits-Mappe vom Träger und trat schwerbeladen ins Haus. Sofort bekam er einen Fußball gegen die Brust geknallt, erhob mal kurz seine tiefe Stimme, um Dette und Helle noch für eine Stunde zum Fußballspielen in die kleine Sportanlage um die Ecke zu schicken und lud danach seelenruhig seine Einkäufe in der Küche ab.

Aber schon rief es von oben: »Papi! Papi, bist du endlich wieder da?«

»Ja, bin ich!« gröhlte Thilo zurück, schüttelte aber verwundert den Kopf. Benahm seine Älteste sich wie ein Zweijährige, die die Rückkehr ihres Papis kaum erwarten konnte? Sonst spielte sie doch immer die junge Dame, die längst flügge sein wollte.

Kurz darauf erschien sie unten in der Küche. Mit ihrem braunen, ganz kurz geschnittenen Haar, ihren großen blauen Augen und dem Mund, der so süß schmollen konnte, schien sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

»Oma Helma war am Telefon. Du sollst sofort zurückrufen, Papi.«

»So. Ist sie denn schon von Sylt zurück?«

Patti hob die Schultern. »Das weiß ich doch nicht. Die Jungens haben so rumgelärmt. Ich hab nur verstanden, daß du gleich zurückrufen sollst.«

»Das hat Zeit.« Er stellte drei Milchflaschen in den Eisschrank und schob das Netz mit dem Gemüse in Pattis Richtung. »Kannst du schon mal putzen. Heute abend gibt’s Omelett mit Salat.«

»Ich? Wieso immer ich? Können Dette und Helle nicht mal helfen?« Wie alle großen Schwestern hielt Patti ihre beiden Brüder von elf und zehn Jahren für schrecklich faul und verwöhnt. »Mami hat gesagt…«

Thilo sah zur Uhr. »Mami kommt in einer halben Stunde. Dann ist der Salat gewaschen. Heute ist Montag und Operations-Tag. Du weißt doch, daß sie danach immer ganz fertig ist und keine häuslichen Auseinandersetzungen verträgt.«

Patti rollte mit den Augen. »Gisi und Moni kommen gleich noch vorbei. Wir wollen unsere neuen CD’s hören. Ist doch blöde, wenn ich jetzt wieder helfen muß. Heute ist der letzte Ferientag. Habe ich dich nicht den ganzen Vormittag in Ruhe gelassen, damit du oben arbeiten konntest?«

Thilo, der schon ahnte, worauf das hinauslief, wandte den Kopf ab, weil er grinsen mußte.

»Salat waschen dauert nur zehn Minuten. Bitte, Papi, mach du’s! Nur noch heute, noch einmal… weil morgen die Schule anfängt.«

Wie meistens, wenn sie ihn so flehend anschaute, gab er sich geschlagen. Nur seine Mappe drückte er ihr schnell unter den Arm.

»Bring die mal hoch ins Atelier. Und ruf deine Freundinnen an, sie sollen erst nach dem Essen kommen. Vorher holst du die Jungens von der Anlage. Dann bist du nachher von allen Pflichten befreit.«

Patti nickte, klemmte sich die Mappe unter den Arm und verließ die Küche. »Montag ist trotzdem die reinste Hölle, Papi!«

»Ja, ja.« Thilo mußte grinsen, als er sich die Schürze vorband und mit der Salatwäsche begann. Seit Monaten hatte seine Corri am Montag von morgens sieben bis nachmittags fünf Uhr Dienst im OP. Danach waren ihr einfach keine heimischen Zwistigkeiten oder lange Debatten am Familientisch mehr zuzumuten. Und weil er seine Frau nicht nur liebte, sondern auch bewunderte und verehrte, nahm er gern einiges auf sich, um einen ruhigen Feierabend zu garantieren.

Eine Stunde später saß die Familie am großen runden Tisch im Eßzimmer gleich hinter der Küche. Durch die Tür, die von hier aus in das hintere Gartenstück führte, fiel noch ein letzter Sonnenstrahl. Weil morgen die Schule und damit der Ernst des Lebens begann, hatte Corri Petersen von unterwegs eine Packung von Dettes Lieblingseis mitgebracht.

Es war still am Tisch, weil alle mit Genuß löffelten. Nur Patti erhob nach einem vorwurfsvollen Seufzer ihre Stimme.

»Den Tag, an dem mir mal einer mein Lieblingseis mitbringt, möcht’ ich mal erleben!« beschwerte sie sich. »Nur, weil Dette der Jüngste ist, gibt’s immer Schokolade mit Nuß!«

»Arme Patti!« bedauerten Dette und Helle ihre Schwester voller Hohn. »Du arme, arme Patti!«

Die Eltern sahen sich an. Pattis vorwurfsvoller Ton hatte Thilo an seine Schwiegermutter erinnert. Jetzt fiel ihm siedend heiß ein, daß Helma Collien um einen Rückruf gebeten hatte.

»Du mußt deine Mutter anrufen, Corri.«

Corri war eine angenehme, aber nicht auffallend attraktive Erscheinung. Dabei gab es Tage, da konnte sie hinreißend schön aussehen, aber nach einem Arbeitstag wie heute bedurfte es schon eines besonderen Anlasses, um ihr Gesicht zum Strahlen zu bringen. Sie hob die Augenbrauen, und ihre Stirn legte sich in müde Falten.

»O je, ich kann mir schon denken, was sie will.«

»Du meinst, sie fühlt sich einsam, nicht wahr? Amelie ist bestimmt schon wieder in Bayern in ihrem Internat«, vermutete Thilo, denn er wußte, daß Helma mit der Tochter von Corris Schwester sechs Ferienwochen auf Sylt verbracht hatte.

»Oder sie will sich über Amelie beklagen. Sechs Wochen mit Amelie auf Sylt haben ihr den Rest gegeben. So verwöhnt wie die ist!« kicherte Dette.

»Ach, hör auf! Amelie ist ganz in Ordnung!« verteidigte Patti ihre kleine Cousine. »Außerdem kann sie ja nichts dafür, daß sie in so einem feinen Internat leben muß.«

»Das stimmt!« Corri erhob sich, um ans Telefon zu gehen. »Es wird wohl nur der Abschiedsschmerz sein, der Oma jetzt drückt.«

Der Schmerz der Großmutter mußte recht quälend sein, denn das Telefongespräch zog sich außergewöhnlich lang hin. Und als Corri endlich zurückkam, sah sie noch müder aus.

Patti, die mit ihren Brüdern den Tisch abgedeckt hatte, und nun die Küche aufräumte, war mit den Gedanken schon wieder bei ihren Freundinnen. Kaum klingelte die, verschwand sie und ließ ihre Eltern allein. Den beiden Jungens hatte Thilo erlaubt, noch bis Einbruch der Dunkelheit draußen auf ihren Rollerblades herumzutoben.

Er blickte seiner Frau besorgt entgegen. Sie trat zu ihm und sofort rückte er auf der Bank zur Seite, so daß sie sich neben ihm setzte und sich an ihn lehnen konnte.

»Und? Wo drückt Oma Helma der Schuh?« fragte er.

Corri seufzte. »Oma und Amelie sind gestern wieder in Bad Homburg eingetroffen. Und heute Morgen in aller Frühe erhielt Oma einen Anruf aus Amelies Internat. Man solle ihre Sachen abholen.«

»Ihre Sachen? Wieso? Sie ist doch seit zwei Jahren dort.«

»Ja, aber Loni hat sie dort abgemeldet. Amelie soll ab morgen eine Privatschule in Frankfurt besuchen.«

»Wie? Das ist doch unmöglich! Loni tickt wohl nicht richtig! Das ist mal wieder typisch für deine Schwester! Warum wußten wir nichts davon?«

»Wir waren bis vor einer Woche in Griechenland, Thilo.«

Corris jüngere Schwester Loni war seit zehn Jahren mit dem weltbekannten Geologen Doktor Stefan Sudhoff verheiratet. Um fast dreißig Jahre älter als seine Frau, brauchte er in den letzten Jahren immer häufiger ihre Unterstützung, wenn er im Ausland seinen Forschungsarbeiten nachging. Und da Amelie seit zwei Jahren zur Schule mußte, hatte Loni sie in einem guten Internat am Starnberger See untergebracht. Dann und wann verlebte sie die Ferien mit ihren Eltern, aber in der letzten Zeit war das nicht mehr möglich. Dem Kind war ein häufiger Aufenthalt in Afrika nicht mehr zuzumuten.

»Helma hat Amelie sehr gern mit nach Sylt genommen«, erklärte Corri. »Sie erfuhr schon vor Wochen, daß Stefan wieder erkrankt ist. Uns hat sie das verschwiegen, damit wir unbesorgt nach Griechenland fahren können.«

»Macht ihm wieder diese alte Virus-Erkrankung zu schaffen?« fragte Thilo.

»Ja. Ihm geht es gar nicht gut. Loni ist ihm nach Gambia gefolgt und kann ihn dort jetzt nicht allein lassen. Deshalb schaffte sie es auch nicht, die neue Wohnung hier in Frankfurt einzurichten. Helma nimmt an, sie wollte dort mit Amelie leben.«

»Wie?« fuhr Thilo auf. »Eine Wohnung in Frankfurt? Deine Schwester hat hier eine Wohnung gekauft? Sie haben doch eine Villa in München. Wozu ein zweiter Wohnsitz in Frankfurt!«

»Pscht!« versuchte Corri ihn zu besänftigen und strich ihm über die bärtige Wange.

Amelies Vater Stefan Sudhoff war ein ungewöhnlicher Mann, der auf seinem beruflichen Gebiet immer noch Großes leistete und vor kurzem von der amerikanischen Regierung einen riesigen Forschungsauftrag erhalten hatte. War er nicht auf einer seiner Reisen, schrieb er Fachbücher, die jedesmal Millionenauflagen erreichten. Daß er seit längerem nicht mehr gesund war, wurde dabei leicht vergessen.

»Ich würde Amelie gern zu uns nehmen, Thilo«, sagte Corri leise. »Das wäre augenblicklich für alle die beste Lösung.« Sie sah ihn bittend an. Thilo schlang sofort die Arme um sie und drückte dabei seine Zustimmung aus.

»Du weißt, wie gern wir Amelie schon mehrmals mit in unseren Sommerurlaub genommen hätten«, erinnerte er sich. »Wenn das nicht klappte, lag‘s gewiß nicht an uns. Immer war deine Schwester dagegen, ohne daß wir wußten, warum. Denkst du, sie läßt Amelie diesmal zu uns?«

»Ihr wird nichts anderes übrig bleiben, Thilo. Helma versucht sie seit gestern telefonisch zu erreichen. Aber das gelingt ihr nicht. Gambia ist weit weg und Stefan…« Sie schwieg bedrückt.

»Ist Stefan ernsthaft erkrankt und nicht transportfähig? Liegt er in einer Klinik?«

Corri schloß die Augen und nickte. »Helma nimmt auch an, daß es nicht gut um Stefan steht.«

»Also, wie können wir helfen?«

Sie blickte ihn dankbar an. »Helma gab mir die Nummer der Privatschule. Dort rufe ich morgen früh an und sage Bescheid, daß Amelie einige Tage später kommt. Und du? Hast du eilige Termine?«

»Natürlich.«

»Sag sie ab. Bitte, Thilo. Du mußt dich morgen gleich ins Auto setzen und Amelie hierher holen, damit sie zur Schule gehen kann. Bis Loni auftaucht, können allerdings Wochen vergehen.«

»Das mag zutreffen. Gambia ist nicht Mallorca«, murrte er.

Corri überhörte diese spöttische Bemerkung. »Wenn meine Vermutung zutrifft«, überlegte sie laut, »dann steckt hinter Lonis Plänen ihr starkes Bedürfnis nach Veränderung. Aber es geht doch um Amelie, nicht wahr?«

»So? Was vermutest du denn? Hat Loni die Ehe mit Stefan satt? Wenn seine Kräfte schwinden und er keine Bestseller mehr schreiben kann, wundert mich das nicht. Deine Schwester war nie eine Heilige. Stefan dagegen hat sich aus Liebe zu ihr zum Narren gemacht!«

»Aber er ist ein wunderbarer Mensch, Thilo! Nur als Vater eines kleinen Mädchens wie Amelie ist er viel zu weit vom Alltag entfernt. Er liebt sie, aber was Vaterschaft bedeutet, war ihm nie bewußt.« Corri schmiegte sich in Thilos Armbeuge. »Aber das ist nicht der einzige Grund, wenn Lotti und er sich auseinanderlebten. Sie kommt ihrer Pflicht als seiner Ehefrau ja noch nach, aber das Leben an seiner Seite erträgt sie nur noch widerwillig. Das weiß ich seit einem Jahr. Darum…« Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und fügte dann kaum hörbar hinzu: »… wenn mich nicht alles täuscht, hat Loni schon vor Monaten eine Affäre mit Ramon Rolando begonnen.«

»Ramon… wie? Wer ist das? Ein Schlägersänger?«

»Nein. Ein Golf-Profi, der in der ganzen Welt zu Hause ist. Ähnlich wie unser Schwager Stefan. Aber hier, unweit von Frankfurt ist Ramon Rolando Ehrenmitglied in einem Golfclub. Ich nehme an, er hat hier auch eine Wohnung.«

»Und du meinst, deshalb hat Loni ihre Amelie hier zur Schule angemeldet? Nur, damit sie sich in Frankfurt aufhalten und sich ungestört mit diesem Golf-Profi treffen kann?« Er stieß den Atem heftig aus. »Ich hab‘s ja schon immer gesagt. Loni denkt nur an sich. Ist es so?«

Darauf antwortete Corri nicht. »Aber jetzt zwingt Stefans schlechter Gesundheitszustand sie dazu, auch mal an ihn zu denken. Damit hat sie wohl nicht gerechnet.« Sie blickte ihn ernst an. »Also, holst du Amelie zu uns?«

Er seufzte. »Natürlich. Aber auf deine Verantwortung, meine Liebste! Den Konflikt, der sich daraus ergeben kann, mußt du ganz allein mit deiner Schwester ausfechten.«

»Ich weiß«, entgegnete Corri leise. Draußen schlug die Haustür zu. Patti war mit ihren Freundinnen abgeschwirrt. »Amelie kann oben bei Patti schlafen. Bestimmt entwischt Patti dann nicht so oft. Es wird ihr gefallen, für ein so kleines Mädchen da zu sein. Du wirst doch dafür sorgen, daß sie lieb zu ihr ist?«

»Noch was?« fragte er scherzhaft. »Dann bitte verrate mir wenigstens, wie Pattis Lieblingseis heißt. Mit irgend etwas muß ich sie doch milde stimmen.«

»Aprikose/Sahne«, schmunzelte Corri.

»Braves Mütterchen«, lobte er sie nach einem Kuß. »Unsere Kinder können stolz auf dich sein. Du weißt immer viel mehr als ich. Und das an einem Montag!«

Und er schloß ihre lächelnden Lippen mit einem sanften Kuß.

*

Helma Collien, die Großmutter von Patti, Helle, Dette und Amelie, war seit sechs Jahren Witwe. Vor vier Jahren hatte sie das Frankfurter Haus verlassen, weil es ihren Töchtern als Erbe zustand. Loni, die ihren Anteil den Petersens verkauft hatte, wurde von nun Corri und Thilo mit monatlichen Raten ausbezahlt. Das fiel ihnen nicht leicht, aber die Nähe zur Klinik, in der Corri arbeitete, und die günstige und doch ruhige Lage des Hauses waren dieses Opfer wert.

Helma Collien war dafür in eine elegante Vier-Zimmer-Wohnung in Bad Homburg gezogen, denn am liebsten verbrachte sie ihre Zeit jetzt mit Freunden und Bekannten beim Bridge- oder Golfspiel. So sollte es nach dem Urlaub mit Amelie auf Sylt auch weitergehen.

Aber der Anruf aus dem Internat in Bayern hatte alles verändert. Helma mußte nun erst entscheiden, was mit Amelie geschehen sollte. Und diese Entscheidung lag ihr jetzt, kurz vor dem Eintreffen ihres Schwiegersohns Thilo, noch immer schwer auf dem Magen.

Seit zwanzig Minuten saß sie auf einem ihrer Biedermeiersessel und beobachtete, wie ihre Enkelin draußen auf der Terrasse welke Blüten von den Geranien zupfte. Helma hatte Amelie während der vergangenen Wochen auf Sylt erst so richtig kennengelernt und von Herzen liebgewonnen. Natürlich sorgte sie sich um die Zukunft der Achtjährigen. Ob sie im Sinne von Stefan und Loni Sudhoff handelte, wenn sie die Kleine den Petersens anvertraute?

Als Amelie sich jetzt umwandte, ins Wohnzimmer trat, ihr die Hand voller welken Blüten entgegenhielt und meinte: »Das hat nichts zu bedeuten, Omi. Die sind nur verregnet. Sag also nicht wieder, jetzt wird’s Herbst«, da wurde das Herz der alten Dame ganz weit. Am liebsten hätte sie ihre Arme ausgebreitet, Amelie hineingezogen und nie wieder losgelassen. Aber das durfte sie nicht.

So lächelte sie nur, aber davon verflogen die Schatten auf ihrem Gesicht kaum. Wie sollte Amelie nur mit denVeränderungen, die ihr so unerwartet zugemutet wurden, fertig werden?

»Wenn die Sonne so kräftig wie heute scheint, ist es noch Sommer«, meinte sie geistesabwesend, als müsse sie sich selbst trösten.

»Das sag’ ich doch!« triumphierte Amelie. »Und wann gibt’s Mittag?«

Nebenan in der riesigen Küche, die wie alle Räume der Wohnung sehr komfortabel eingerichtet war, hatte Frau Emberg schon den langen Tisch vor der Balkontür für drei Personen gedeckt.

»Sowie Onkel Thilo kommt, setzen wir uns zu Tisch, Amelie.«

Amelie blieb mit ernstem Gesicht vor dem Sessel ihrer Großmutter stehen. Ihrer schmalen Brust entrang sich ein Seufzer.

»Kommt Onkel Thilo allein? Ohne Tante Corri, Patti, Dette und Helle?«

»Ja, die Schule hat heute begonnen. Und Tante Corri arbeitet im Krankenhaus.«

Helma sah ihre Enkelin forschend an. Seltsam, daß ihr schon vor vielen Jahren, als sie das winzige Baby zum ersten Mal im Arm hielt, der ernste Ausdruck des Kindes aufgefallen war. Er lag nicht immer auf ihrem zarten Gesicht, aber jetzt, als sie sich unbeobachtet glaubte, trat er sehr deutlich hervor und verriet einen verborgenen Schmerz.

Amelies schmales Gesicht wurde von den mandelförmigen Augen mit der olivfarbenen Iris beherrscht. Senkte sie die Lider, legte sich der dichte Kranz ihrer langen Wimpern wie ein zarter Trauerflor auf die Haut. Das war die Furcht vor dem Neuen, das sie erwartete. Und davon konnten auch die lustigen Sommersprossen, die während der Ferien auf ihrem Näschen entstanden waren, nicht ablenken. Nur der Pferdeschwanz, der an ihrem Hinterkopf herabbaumelte, tat immer noch so, als gehöre er zu einem ganz unbeschwerten, fröhlichen Mädchen.

»Du hast meinen Vater aber viel lieber als Onkel Thilo, nicht, Omi?« fragte Amelie plötzlich.

Helma stutzte. Wie kam das Kind darauf? Hatte sie sich durch unbedachte Bemerkungen verraten? Natürlich brachte sie ihrem Schwiegersohn Stefan Sudhoff mehr Bewunderung entgegen als Thilo Petersen. Wer bewunderte den würdigen und berühmten Forscher denn nicht? Dazu kam sein Ruf als Menschenfreund und unantastbares Vorbild, sein fortgeschrittenes Alter und das nicht unerhebliche Vermögen, das er in langen Jahren angesammelt hatte.

Thilo Petersen galt im Gegensatz dazu als leichtfertig, wankelmütig und damit als typische Künstler-Existenz. An seine saloppe Lebensart und unbeschwertes Auftreten hatte Helma sich immer noch nicht ganz gewöhnt. Nun ja, wenigstens verdiente er jetzt ein wenig und trug damit zum Unterhalt seiner Familie bei. Trotzdem traute sie ihm nicht zu, ihrer Tochter Corri im Lebenskamp zwischen beruflichen und familiären Verpflichtungen treu zur Seite zu stehen. Nur so war doch zu erklären, warum Patti, Dette und Helle immer wie eine verwilderte und viel zu lebhafte Bande auftraten.

»Wie kommst du nur darauf, Amelie? Thilo ist ein guter Mensch«, behauptete sie tapfer, um die Kleine bei Laune zu halten. Und stimmte es nicht auch? Ein Schwiegersohn, der ihren Notruf so schnell erhörte, konnte doch kein übler Bursche sein.

»Mami hat’s gesagt. Sie sagt, du kannst Onkel Thilo nicht leiden, weil Tante Corri einen besseren Mann verdient hat. So einen wie meinen Vati.«

O je! Hatte sie das wirklich gesagt?

Da klopfte es an die Tür. Frau Emberg steckte ihren Kopf herein. »Frau Collien, Herr Petersen ist jetzt da. Soll ich das Essen auftragen?«

Helma erhob sich. »Ja, aber erst in fünf Minuten, Frau Emberg.« Sie nahm Amelies Hand, drückte sie kurz und liebevoll und lächelte ihr ermunternd zu. »Du hast Onkel Thilo nur zweimal kurz gesehen. Er ist wirklich ein guter Mensch. Sonst wäre er doch nicht gleich heute gekommen!«

Sekunden später stand Amelie ihrem Onkel gegenüber. Da sie ihm bis jetzt nur zweimal begegnet war, sah sie voller Argwohn in sein braungebranntes Gesicht mit den strahlend blauen Augen. Sie knickste zur Begrüßung, wie sie es im Internat gelernt hatte, und als Thilo ihre Hand losließ, meinte er lachend: »Du und dein Haar sind aber mächtig gewachsen, Amelie. Du bist so hübsch wie deine Mami. Blond und grünäugig. Wetten, daß Patti ihr Haar nun auch wieder wachsen läßt?«

»Patti hat doch braunes Haar, oder? Ist es nicht dunkler als meins?« Und schon fiel alle Scheu von ihr ab. »Und sie trägt ganz kurz? Uii! Ich freu mich auf Patti. Und wie nennt ihr die Jungens noch?«

»Helle und Dette. Aber die sind richtig freche Bengel geworden.«

»Meinst du, die ärgern mich?«

»Nein! Dann werden Patti und ich denen was erzählen!« Thilo Petersen legte einen Arm um sie und zog sie an sich.

Später, nach dem gemeinsamen Essen, ging Amelie mit Frau Emberg ins kleine Gastzimmer, um letzte Hand an ihr Gepäck zu legen.Thilo war mit seiner Schwiegermutter allein.

»Hast du Loni inzwischen erreicht?« fragte er besorgt.

Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich habe mit dem Konsulat in…«

»…in Banjul? So heißt die Hauptstadt von Gambia.«

»Ja. Und man sagte mir dort, Stefan sei noch nicht ins Spital der Hauptstadt eingeliefert worden. Er liegt in einer kleinen Klinik auf dem Land, weil man noch kein geeignetes Transportmittel für ihn ausfindig machen konnte.« Sie seufzte. »Wie gut, daß Loni bei ihm ist. Die arme Loni! Es ist schrecklich. Wie lange muß ich noch auf ihren Anruf warten? Ich muß sie doch von allem informieren. Und wenn sie meine Entscheidung nun nicht gutheißt?«

»Um Amelie mußt du dich nicht sorgen, Helma. Wir werden sie wie unser eigenes Kind bei uns aufnehmen. Ich begleite sie morgen früh auch gleich in ihre neue Schule.«

»Sollte Corri das nicht tun?«

»Wir sind gerade vom Urlaub zurück, Helma. Corri wird in der Klinik gebraucht. Und ich vertrete sie immer bei allen Angelegenheiten, die die schulischen Probleme unserer Kinder betreffen. Glaub mir, alle Lehrerinnen haben mich gern. Du kannst mir vertrauen.«

Helma unterdrückte einen Seufzer. Wahrscheinlich machte er den Lehrerinnen schöne Augen. Das konnte er ja.

»Wenn ich nur wüßte, warum Loni diese Wohnung in Frankfurt kaufte! Bis jetzt erzählte sie mir doch immer, wenn in ihrem Leben Veränderungen entstanden.«

»Sie wird uns schon über ihre Gründe informieren«, versuchte Thilo seine Schwiegermutter zu beruhigen.

Sie sah ihn dankbar an. »Aber das kann Wochen dauern.«

»Bis dahin halten wir einander auf dem laufenden. Und wann immer du magst, besuchst du uns.«

Kurz darauf kam Amelie zu ihnen. Sie sei jetzt bereit, um mit ihm ins Auto zu steigen. Dann umarmte sie ihre Großmutter und küßte sie zärtlich.

»Onkel Thilo ist doch ganz o.k., Omi. Aber so toll wie mein Vati ist er nicht.«

»Natürlich nicht!« stimmte Thilo ihr zu. »Dein Vater ist ein wunderbarer Mensch und ein sehr bekannter Mann, Amelie.«

»Du bist das nicht, Onkel Thilo.«

»Nein. Aber morgen bring ich dich trotzdem zur Schule. Darf ich?«

Amelie sah in das entsetzte Gesicht ihrer Großmutter und nickte sofort. »Ja. Holst du mich auch ab?«

»Klar, denkst du, ich laß dich allein im Regen stehen?«

Damit hatte er die richtigen Worte gefunden, denn Amelie strahlte ihn an, als ahne sie, daß sie es nicht besser hätte treffen können.

*

Drei Wochen waren vergangen, und Amelie fühlte sich wie Patti, Helle und Dette zu den Petersens gehörig. Ganz leicht war es ihr am Anfang nicht gefallen, mit den Höhen und Tiefen, den kleinen Ärgernissen und großen Freuden eines richtigen Familienlebens fertig zu werden. Im Internat war alles von morgens bis abends geregelt, nie gab es Streit, weil keine Milch mehr im Eisschrank stand oder weil die Kinder Besuch von ihren Freunden bekamen, die das Haus erst gegen Mitternacht mit lautem Gekicher verließen.

Aber nie zuvor hatte sich ihr ein solches Glück aus Vertrautheit und nahem Beisammensein geboten. War es nicht immer eine Freude, wenn Onkel Thilo nach dem Unterricht im Auto auf sie wartete und sie ihm alles von den neuen Lehrern und den Mitschülern berichten konnte? Und was für einen Spaß hatte sie, wenn sie mit Helle und Dette zum Supermarkt einkaufen gehen durfte! Am gemütlichsten aber waren die Abendstunden, die sie mit Patti in dem gemeinsamen Zimmer verbringen konnte.

Meistens lag sie schon im Bett, während Patti noch beim kleinen Licht an ihrem Schreibtisch letzte Schulaufgaben erledigte und dabei die neuesten Hits aus dem Radio hörte. Natürlich mochte Amelie alle Songs, für die ihre große Cousine schwärmte. Nur schlief sie mitten drin immer ein. Manchmal aber, wenn sie aus einem Traum von ihrem Vater erwachte, kroch sie aus dem Bett und an der schlummernden Patti vorbei aus dem Zimmer, über den Flur und ins Ehebett von Tante Corri und Onkel Thilo. Die machten ihr dann schlaftrunken Platz, so daß sie bis zum Morgen zwischen ihnen weiterschlafen konnte. Aber auch das konnte die Harmonie im Haus der Petersens nicht stören. Im Gegenteil, Amelies Anwesenheit sorgte bei Helle und Dette sogar für erste Anzeichen von Rücksichtnahme.

Nur noch selten kam es zwischen den Brüdern zu lauten Streitereien. Die Blöße, sich vor Amelie zu prügeln, gaben sie sich ungern.

»Verflixt!« entfuhr es Thilo Petersen trotzdem an einem Montag nach einem Blick auf seine Armbanduhr, denn der Zeiger wanderte schon wieder auf die fünfte Nachmittagsstunde zu. Corri würde in einer guten halben Stunde zu Hause sein, und noch war nichts Vernünftiges zum Abendessen im Haus.

»Patti!« schrie er aus Leibeskräften, damit es auch überall im Haus zu hören war. »Patti!« Es blieb totenstill. Und das änderte sich auch nicht, als er genau so laut nach Dette und Helle und schließlich sogar nach Amelie brüllte.

In der Hoffnung, eines der vier Kinder könne sich unten in der Küche bei lauter Musik aufhalten, versuchte er es mit dem Haustelefon. Nichts rührte sich. Dann blieb ihm nur noch Pattis Handynummer. Sofort meldete sich Pattys kiksige Stimme auf der Mailbox und versprach, sofort zurückzurufen.

Thilo ächzte vor Zorn. Und da sollte er nicht aus der Haut fahren? Er stellte seinen Computer ab, fuhr leise fluchend in seine Strickjacke und wollte gerade hinunterrennen, um sich mit dem Einkaufsnetz aufs Fahrrad zu schwingen, als er die Tür zuschlagen hörte.

»Patti? Dette? Helle? Amelie? Wer von euch Rasselbande ist das?« fragte er aus dem ersten Stock hinunter, setzte zu einem Abwärts-Spurt an und stand Sekunden später zwei schweigenden Kindern auf Rollerblades gegenüber. Das waren der zehnjährige Dette und Amelie.

Die senkte sofort ihren Blick. Das war das schlechte Gewissen.

»Amelie! Schon wieder auf den Rollerblades!« bemühte er sich um einen strengeren Tonfall. »Das darfst du doch nicht!«

»Sie kann nichts dafür, Papi!« verteidigte Dette seine niedliche Cousine sofort. »Helle hat ihr seine geliehen. Tante Loni und Onkel Stefan sehen es doch nicht. Und ich war ja dabei. Die ganze Zeit!«

»Aber Amelie!« stöhnte Thilo. »Deine Mami hat’s verboten. Tut mir leid, aber so ist es nun mal!«

»Außerdem«, argumentierte Dette ungerührt weiter, »hab ich Amelie beschützt. Ich wollte auch mal mit ihr allein sein, Papi! Sie schläft oben in Pattis Zimmer. Die hocken ja immer zusammen. Und mit Helle redet sie Englisch, wie ich es noch nicht kann.«

Thilo unterdrückte ein Grinsen. Daß Amelie auf ihrem Internat schon einige Brocken Englisch gelernt hatte und auf der Privatschule weiter in der ersten Fremdsprache unterrichtet wurde, bewunderte Helle maßlos. Das mußte Dette ja neidisch machen.

»Aber Rollerbladen kann ich gut, Papi. Das wollte ich ihr mal zeigen. Und das hat ihr echt krass Spaß gemacht.«

Dette hatte die himmelblauen Augen seines Vaters geerbt und konnte damit wie ein Unschuldsengel schauen.

»Also gut«, entschied Thilo schmunzelnd. »Aber zieht die Dinger bloß aus, damit unsere Mami das nicht sieht. Die regt sich wahnsinnig darüber auf, weil sie nicht schwindeln mag, wenn Tante Loni anruft und sich erkundigt.«

»Deshalb sind wir ja jetzt schon heimgekommen, Onkel Thilo. Damit Tante Corri es gar nicht sieht«, gestand Amelie.

»So? Na, dumm seid ihr beiden nicht. Das muß ich zugeben. Und wo sind Helle und Patti?«

»Einkaufen!« kam es zweistimmig zurück.

»Dette und ich haben ihnen diesmal einen Einkaufszettel gemacht, Onkel Thilo.«

Thilo sank auf die unterste Stufe. »Alle Achtung!« lobte er seine kleine Nichte. »Hast du außer Eis auch noch was Vernünftiges draufgeschrieben?«

Kaum hörte Dette das, grinste er über sein breites, freches Bubengesicht. »Zu mir kannst auch alle Achtung sagen, Papi. Ich laß Amelie jetzt bei dir. Dann komm ich schneller voran und kann Patti und Helle beim Tragen helfen. Vielleicht schaffen wir’s noch, bevor Mami hier ist.« Und wutsch! war er auf seinen Rollerblades aus der Haustür geglitten.

Thilo sah zu, wie Amelie sich bemühte, schnell aus den Rollschuhen zu kommen. Er beobachtete sie immer gern, weil ihre Bewegungen so graziös und fast damenhaft wirkten. Darin war kaum noch etwas Kindliches zu bemerken. Und manchmal hatte er sich schon bei der unausgesprochen Frage ertappt, ob Amelie jemals wieder ein so unbekümmertes Kind sein durfte, wie sie es hier bei ihnen war.

»Du sagst Tante Corri doch nichts von den Rollerbladern?« fragte Amelie flüsternd. »Heute ist Montag. Du weißt doch, dann kommt sie immer ganz erledigt aus der Klinik. Sie mag dann keinen Ärger.«

»Das hast du auch schon bemerkt?« fragte er schmunzelnd.

Amelie schüttelte den Kopf. »Ich hab’s nur gedacht. Und dann hat Patti mir erzählt, daß es wirklich so ist.«

»Du bist ein sehr liebes und verständiges Mädchen, Amelie.«

»In der neuen Schule nicht«, seufzte sie. »Da bin ich nur in Englisch gut, weil ich das schon ein bißchen konnte. Aber sonst? Meine Mami hat wohl nicht gewußt, daß hier alles etwas schwerer ist als im Internat.«

»Bestimmt nicht!« behauptete Thilo. Aber während Amelie sich von den Knieschonern befreite und wieder in ihre Sportschuhe schlüpfte, kam er zu einer anderen Überzeugung. Loni hatte sich darüber gar keine Gedanken gemacht. Ihr war es nur um den Ortswechsel und Amelies Umschulung nach Frankfurt gegangen, weil sie hier ihren Freund Ramon Rolando ungestört treffen konnte. Oder tat er der Schwester seiner Frau unrecht?

Amelie wollte an ihm vorbei in die Küche. Sie streifte ihn mit einem ernsten Blick. »Du kannst wieder nach oben an die Arbeit gehen, Onkel Thilo. Ich fang schon mal an und setze Nudelwasser auf. Patti sagt, es gibt heute abend Spaghetti.«

»Kannst du das denn?«

Sie war schon halb in der Küche verschwunden. »Und wie, Onkel Thilo! Patti hat’s mir beigebracht. Das war klasse. Weißt du…«, und schon kam sie zurück und baute sich vor ihm auf, »…wenn ich in München bin, kocht unsere Haushälterin. Im Internat hat keiner der Kinder was in der Küche verloren und ja, bei Omi steht doch Frau Emberg immer in der Küche.«

»Und deshalb hilfst du hier so gern?« staunte er. Amelie nickte ernsthaft. Dann richtete sich ihr Blick fragend auf ihn.

»Meinst du, Onkel Thilo, ich darf auch noch bei euch bleiben, wenn mein Vati wieder gesund ist, und Mami die neue Wohnung eingerichtet hat?«

Thilo zögerte. Sollte er ihrer Frage etwa ein klares ›Nein‹ entgegensetzen? Es war doch abgemacht, daß Amelie nur so lange bei ihnen blieb, wie die Situation es erforderte.

Inzwischen war Stefan Sudhoff von der Provinzklinik in ein Hospital in der gambianischen Hauptstadt Banjul verlegt worden. Aber bis er in eine europäische Spezial-Klinik gebracht wurde, konnten noch einige Wochen vergehen.

So wenigstens hatte Loni es Helma in einem hastigen Gespräch aus Afrika deutlich gemacht. Und auch, daß sie vorerst nicht wage, ihren Mann auch nur einen Tag allein zu lassen.

»Du bleibst so lange, wie es nur möglich ist«, versuchte er Amelie diplomatisch beizubringen. »Du weißt doch, wie sehr sich deine Eltern nach dir sehnen. Vermißt du sie nicht auch?«

Das Nudelwasser mußte warten, denn schon wieder senkte Amelie den Blick. »Doch, ja«, flüsterte sie. »Meinst du eigentlich auch, daß mein Vati mein Opa ist, Onkel Thilo?« kam es dann kaum hörbar von ihren Lippen.

»Wer hat das gesagt?« fuhr er auf, bevor ihm klar wurde, daß diese Frage ihren Schmerz nur vertiefen konnte.

»Moni, die Freundin von Patti. Sie hat ein Foto von meinem Vati in der Zeitung gesehen und gelesen, wie alt er ist.«

»Na und? Moni ist eben dumm. Hat nur Boygroups und Hip Hop im Kopf.«

»Ja, ja, das hat sie!« triumphierte Amelie und für Sekunden verzog sie ihr Gesicht so fröhlich, daß er lachen mußte. Aber gleich darauf wurde sie wieder ernst. Ihr Blick ließ ihn nicht los.

»Patti hat auch gleich zu Moni gesagt, daß mein Vati ganz toll klug ist und die ganze Welt kennt.«

Thilo atmete auf. »So ist es. Ja, genau so ist es.«

»Und dann hat Patti noch gesagt, Moni darf nicht wiederkommen, wenn sie so etwas Gemeines sagt. Weil… unser Opa ist nur fünfundsechzig geworden. So alt wie mein Vati jetzt ist. Aber echt alt ist das nicht, oder?« Thilo suchte noch nach Worten, da fügte sie mit furchtsamen Stimmchen hinzu: »Auch nicht, wenn er krank ist?«

Thilo sah in ihre ängstlichen Augen. Nein, kein Mensch durfte die kleine Amelie mit solchen Taktlosigkeiten verletzen, solange ihre Eltern weder Kraft noch Zeit fanden, bei ihr zu sein.

Fast verlegen strich er ihr übers Haar. »Bei einem so klugen, tüchtigen und berühmten Mann wie deinem Vati zählen die Lebensjahre nicht. Verstehst du? Nur seine Liebe zu dir zählt. Und Liebe altert nicht. Moni mag Pattis Freundin sein. Aber sie ist noch zu dumm, um das zu begreifen.«

Sie nickte. »Und meine Mami? Hat die mich auch lieb?«

»Und wie, Amelie! Und wie! Du wirst es erfahren, wenn sie wiederkommt. Lange kann es nicht mehr dauern. Ganz bestimmt nicht.«

»Danke, Onkel Thilo.« Sie schlang ihre Arme um ihn, wandte sich dann um und verschwand in der Küche.

Und Thilo erhob sich, stieg wieder nach oben in sein Atelier und wollte weiterarbeiten. Aber er saß nur da und blickte grübelnd ins Nichts. Hatte er Amelie nicht nur mit halbem Herzen getröstet? Er wußte doch gar nicht, ob sie ihren Vater jemals wiedersah.

Eine halbe Stunde später wurde es unten laut. Das Rufen und Gelächter fröhlicher Kinderstimmen mischte sich mit dem vertrauten Klang von Corris Stimme, die schon zu ihm hochkam, und dabei letzte Anweisungen fürs Abendessen gab. Und dann stand sie im Atelier und sah ihn mit so zornigen Blicken an, daß ihm fast das Herz in die Hose gerutscht wäre.

»Was habe ich angestellt, Corri? Oder haben die Kinder…?«

»Nichts, Thilo.« Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und berührte sein Haar mit den Lippen. »Ich bin nur verzweifelt.«

»Verzweifelt?« Noch nie hatte er sie so erlebt. Blitzschnell zog er sie auf den Schoß. »Warum, meine Liebste?«

»Loni hat mich aus Gambia angerufen.«

»Stefan? Ist er.…?«

»Ihm geht es besser. Er ist transportfähig. Man fliegt ihn in ein Spezialkrankenhaus nach Paris.«

»Das ist mal eine gute Nachricht. Amelie wird jubeln.«

»O nein, Thilo. Du darfst ihr nichts sagen. Das bringt mich ja so auf! Loni kommt morgen nach Frankfurt. Sie will mich am Flughafen treffen. Aber Amelie darf vorerst nichts davon wissen.«

»Was soll das heißen? Deine Schwester will ihre Tochter nach fast elf Wochen Trennung nicht sehen? Das ist nicht richtig.«

Corri nickte. »Es ist grausam. Aber diesmal werde ich herausbekommen, was sie dazu veranlaßt. Und ich werde sie nicht schonen, Thilo. Das sind wir Amelie schuldig.«

»Dann will Loni gar nicht in Frankfurt bleiben?«

»Das weiß ich nicht.«

Sie umarmten einander. Von unten krähte Amelie fröhlich, die Eltern sollten jetzt zum Essen kommen.

»Wir müssen sehr lieb zu Amelie sein, Thilo. Vielleicht bleibt sie für länger.«

Er sah sie an. Ein kleines Licht funkelte in ihren braunen Augen. »Mich würde es nicht stören, Corri. Und dich?«

»Natürlich nicht. Sie ist glücklich bei uns. Ihre neue Schule gefällt ihr inzwischen auch.«

»Und uns? Uns allen gefällt Amelie besonders gut! Sogar ganz ausgezeichnet!« freute er sich, ließ sich von ihr unterhaken und so gingen sie hinunter an den Tisch, an dem sich jetzt wie jeden Tag eine große und glückliche Familie versammelte.

*

Es war Mitte Oktober, und an diesem Tag wehte ein herbstlicher Wind, so daß Corri, als sie das Klinikum gegen Mittag verließ, ihren leichten Trench zuknöpfte.

Eine halbe Stunde später, fast genau zu der mit Loni verabredeten Zeit, erreichte sie den großen Flughafen. Aber dann wurde es doch knapp, weil sie eine Weile herumirrte, bis sie den ausgemachten Treffpunkt fand. Von Loni war weit und breit nichts zu sehen. Corri setzte sich und bestellte einen Capuccino. Was wollte sie tun? Sie wußte nicht, von welcher Stadt die Maschine mit Loni gestartet war. Und wohin die Reise von hier aus weitergehen wollte, hatte Loni ihr auch nicht verraten.

Corri seufzte. Um zwei mußte sie wieder in der Klinik sein. Was dachte Loni sich nur? Wozu diese Geheimnistuerei? Ob sie es wagte, sich hier auch mit ihrem Freund Ramon Rolando zu treffen? Dann vergaß sie vielleicht sogar die gemeinsame Verabredung. Bei Loni mußte man immer mit Überraschungen rechnen.

»Huhu, Corri!«

Corri hatte ständig in die falsche Richtung gesehen. Sie schaute sich um und sprang sofort auf, als sie Loni bemerkte. Auf zierlichen Pumps und in ein elfenbeinfarbenes modisches Kostüm gehüllt, eilte ihre jüngere Schwester auf sie zu. Ihr langes Haar hatte einen leicht rötlichen Ton, ihr braungebranntes Gesicht war perfekt geschminkt. Ja, sie war wirklich eine elegante Erscheinung. Corri hatte sich immer ganz neidlos an dem attraktiven Äußeren Lonis erfreut.

Diesmal war es nicht anders. Wie immer streckte sie ihr die Arme entgegen, als trenne sie nichts voneinander.

»Viel Zeit bleibt mir jetzt natürlich nicht mehr!« sagte Loni im vorwurfsvollen Ton, als hätte Corri sich um eine halbe Stunde verspätet. »Ich darf die Maschine nach San Juan nicht verpassen.«

»Nach wohin?«

Loni führte Corri mit geduldigem Lächeln zu ihrem Platz zurück. »San Juan, Puerto Rico, Karibik.«

»Du machst Urlaub, während Stefan in Paris im Krankenhaus liegt?« brach es aus der Älteren heraus.

»Ach, du hast ja keine Ahnung!« seufzte Loni überheblich und winkte dem Kellner, um sich etwas zu trinken zu bestellen. »Stefan wird mir in wenigen Tagen, wenn die Untersuchungen in Paris abgeschlossen sind, folgen. Ich muß nach San Juan, weil uns die US-Regierung ein Domizil in der Nähe zur Verfügung gestellt hat. Eine Fachklinik für Tropenkrankheiten ist nur einen Kilometer entfernt, von dort kommt täglich ein Facharzt, um Stefan zu betreuen. Und außerdem wird ein Wissenschaftler, Tom Storren aus Washington, eintreffen, um Stefans letzte Aufzeichnungen mit ihm zu dokumentieren. Darauf habe ich bestanden, damit Stefans Wissen noch zu einem Buch werden kann.« Sie lächelte flüchtig. »Natürlich kannst du dir keine Vorstellungen von den Schwierigkeiten machen, mit denen ich mich herumschlage! Aber Stefans Buch über die Bodenschätze in Gambia muß wieder ein Knüller werden, verstehst du?«

Corri atmete auf. »Dann geht es Stefan endlich besser?«

»Nein, nein. Man hat jetzt erst festgestellt, daß dieser Virus seine Leber stark angegriffen hat. Aber natürlich ist die US-Regierung auf seine Forschungsergebnisse scharf. Deshalb hat man uns dieses Haus in der Nähe von San Juan angeboten. Dort im milden Klima, so hofft man, wird Stefan die Ergebnisse seiner Forschungen noch niederlegen können.«

»Warum? Läßt man ihm denn keine Zeit, sich zu erholen? Und das duldest du?«

Loni warf ihre Mähne zurück und schüttelte verärgert den Kopf. »Du hast immer noch nicht begriffen, daß Stefan eine Koryphäe auf seinem Gebiet ist… aber auch hinfällig, ja sehr hinfällig, Corri!« Dann fügte sie schärfer hinzu: »Mein Mann wird sechsundsechzig und leidet seit Monaten an diesem schrecklich heimtückischen Virus. Dieser Virus höhlt ihn aus. Eile tut not.«

Corri fühlte, wie sich ihre Kehle verengte. Unzählige Fragen lagen ihr auf der Zunge, während Loni eifrig in ihrer Handtasche herumwühlte, bis sie einen Umschlag fand und ihn vor Corri auf denTisch legte.

»Das ist das Flugticket für Amelie. In einer Woche wird sie von ihrer neuen Lehrerin am Flughafen von San Juan erwartet. Die Frau heißt Veronique, mehr habe ich noch nicht erfahren. Also, mach sie mit den Umständen vertraut. Aber erst einen Tag vor ihrem Abflug! Hast du verstanden? Viel Zeit darf ihr nicht bleiben, um sich auf den Zustand ihres Vaters einzustellen. Sonst fürchtet sie sich noch, nachdem sie bei euch nur mit gesunden Leuten zusammen war. Und erinnere sie auch daran, wie abgöttisch sie ihren berühmten Vater liebhaben muß. Das wird mir vieles erleichtern.«

Corri lehnte sich vor. Sie blickte in die grünen Augen ihrer schönenSchwester und versuchte, sich zu beherrschen.

»Du willst Amelie mit in die Karibik nehmen? Und sie soll die weite Reise allein antreten? Jetzt, da sie sich gerade in die neue Schule eingelebt und sich an uns gewöhnt hat?«

»Wenn Thilo oder du das Geld übrig habt und euch die Zeit nehmen könnt – bitte, begleitet sie.« Sie sah in Corris fassungsloses Gesicht und fuhr schnell fort: »Ja, denkst du, ich kann auf Amelie verzichten? Glaubst du, ich ertrage so ganz allein den herannahenden Tod im Haus?«

»So… so schlecht steht es um Stefan?«

Loni nickte. »Er ist nicht so ein junger, kräftiger und hübscher Bursche wie dein Thilo.«

Es traf Corri bis ins Mark.

»Wenn dein Thilo also Zeit hat, Amelie zu begleiten, dann soll er es tun. Er muß ja nicht verdienen, oder? Dafür bist du ja da. Aber denke nicht, ich verzichte aus Dankbarkeit auf die Raten meiner Erb-Abfindung. Das Haus unserer Eltern kam auch mit den Kindern gerade recht. Aber geschenkt habe ich euch meine Hälfte nicht.«

»Das wissen wir.« Corri bemühte sich um Beherrschung.

Als sie Thilo vor sechzehn Jahren geheiratet hatte, war er ein unbekannter Künstler gewesen. Sozusagen eine nichtswürdige Existenz in den Augen ihrer Familie. Und von diesem Urteil konnten ihre Angehörigen sich nicht lösen. Dabei verdiente Thilo inzwischen mit seiner Arbeit genau soviel wie sie. Und was er als anwesender Vater zu Hause leistete, war bewundernswert. Die Kinder vermißten nichts und waren gesund und fröhlich.

Fast ängstlich berührte sie mit ihren Fingerspitzen den Umschlag. »Dann wird Amelie in Zukunft in Puerto Rico leben? Und ihre Ausbildung?«

Loni seufzte. »Du hörst doch – ich habe für eine Lehrerin gesorgt. Und das, obwohl mir kaum Zeit blieb, um alles für Stefans Ankunft vorzubereiten. Ich muß doch immer alles allein organisieren. Ich habe nun mal keinem Mann wie Thilo an der Seite.«

Diesmal ließ Corri sich nicht provozieren. »Du hättest dir wenigstens die Zeit nehmen müssen, um Amelie zu sehen und ihr alles zu erklären.«

»Was soll ich noch erklären?« fuhr Loni auf. »Ich habe Stefan nach Gambia begleitet, obwohl ich mich dort noch nie amüsiert habe und seiner Arbeit schon lange nichts mehr abgewinnen kann. Ich habe fünf Wochen mit ihm in einem schrecklichen kleinen Hospital halb in der Wildnis und nur unter Eingeborenen verbracht. Das war ich ihm schuldig. Nun muß auch Amelie ihre Pflichten als Tochter erfüllen. Erklär ihr das.«

»Sie ist doch erst acht, Loni.«

»Na und? Es gibt bösere Kinderschicksale. Sie hat einen berühmten Vater, der mit seinen Büchern gut verdient und ihr eines Tages ein üppiges Erbe hinterläßt. Und sie hat mich. Ich bin jung und gesund.« In ihrem Blick war so etwas wie Mutterstolz zu erkennen.

»Als ich die Wohnung in Frankfurt kaufte«, fuhr sie lebhaft fort, »und Amelie im Internat am Starnberger See abmeldete, habe ich mich auf das Leben mit meiner Tochter gefreut. Ja, ich war fest entschlossen, ganz für sie zu leben. Konnte ich wissen, daß Stefan diesen Virus immer noch nicht los war?« Sie seufzte. »Als ich das vor Monaten erfuhr, habe ich gleich einen Makler beauftragt, damit das Münchener Haus verkauft wird.«

»Aber Loni, das war Amelies Geburtshaus! Wollt ihr dort nie mehr leben?«

»Ich? Amelie? Wir beiden allein in dem großen Haus – und das ohne Stefan? Dort hat er in den letzten zehn Jahren seine erfolgreichsten Bücher geschrieben. Alles würde mich doch nur an ihn erinnern. Nein, das ist vorbei. Auch ich bin jetzt heimatlos. Wie meine kleine Amelie. So etwas schweißt Mutter und Kind zusammen. Du wirst schon sehen, sie wird nichts vermissen. Sie kennt ja kein Elternhaus wie andere Kinder ihres Alters.«

Corri spürte wieder diese seltsame Regung in sich. Lonis Gedanken kreisten ja schon um die Zeit nach Stefans Tod. Durfte sie ihr das verübeln? Wer einen um dreißig Jahre älteren Mann heiratet, muß sich auf eine, wenn auch entfernte Zukunft ohne ihn einstellen. Aber durfte Loni alles entscheiden, ohne auf Amelies Bedürfnisse einzugehen?

»Du solltest uns in den nächsten Tagen anrufen und selbst mit Amelie sprechen, Loni«, bat sie eindringlich. »Thilo und ich können sie doch nicht ohne Vorwarnung am Tag vor ihrer Abreise vor die vollendeten Tatsachen stellen! Es wird ihr wehtun.«

»Unsinn! Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit mir wird ihr den Abschied erleichtern. Meine Tochter liebt mich, Corri. Wenn ich ihr erkläre, was ich durchgemacht habe und noch erleiden werde, läßt sie mich nicht im Stich. Nein, Amelie weiß genau, wozu sie mir und auch Stefan gegenüber verpflichtet ist.«

Loni sah zur Uhr, dann legte sie ihre schmale Hand mit den rotlackierten Fingernägeln auf den Umschlag. »Sollte sie es vergessen haben, weil bei euch alles drunter und drüber geht und angeblich nichts als sonnige Fröhlichkeit herrscht, dann müßt ihr sie jetzt daran erinnern. Dafür seid ihr da. Und keine Angst! Solltet ihr Amelie damit Kummer zufügen… den wird sie bald vergessen. Denn zu einem Wiedersehen mit euch kommt es ja nicht so schnell.«

»Aber Loni!« Fassungslos sah Corri in das lachende Gesicht ihrer Schwester. Nur ließ sie keinen Einwand zu.

»Für eine Stewardeß, die Amelie auf dem langen Flug betreut, ist gesorgt. An Geld herrscht kein Mangel. Außerdem drüben erwartet Amelie ein tropisches Klima. Pack ihre Sommersachen gut ein. Ja, und danke für alles, was du für sie getan hast.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich werde es nicht vergessen.«

»Davon bin ich überzeugt«, konnte Corri ihr noch entgegenhalten. »Und wenn du uns noch einmal brauchst, wirst du dich bestimmt wieder an uns erinnern.«

Loni erhob sich. Sie sah wirklich phantastisch aus. Corri, ungeschminkt und mit vom Wind zerzausten Haaren, kam sich neben ihr wie eine graue Maus vor.

»Die Erinnerung ist eine kostbare, wenn auch zerbrechliche Brücke.« Loni lachte übermütig. »Ich werde sie behutsam betreten. Aber erst, wenn mir nichts anderes übrigbleibt.«

Damit nahm sie den Umschlag und stopfte ihn energisch in Corris Schulterbeutel. »Verlier ihn nicht, wirf gleich heute einen Blick in Amelies Pass. Aber ich denke, der ist noch nicht abgelaufen. Ja, und schweige… bis nächste Woche am Donnerstagabend, einen Tag, bevor sie euch verlassen muß.«

In Corri stiegen Tränen hoch.

Loni sah es ihr an. »Sei nicht albern, Corri. Du hast alles, was sich eine Frau wünschen kann. Drei bezaubernde Kinder, Erfolg im Beruf, ein gutes Auskommen und dazu noch einen kerngesunden Ehemann. Also erspar mir deine Sentimentalitäten.«

Da preßte Corri die Lippen aufeinander. Und als Loni sie kurz und heftig an sich drückte, noch schnell etwas von ›viel Glück‹ murmelte und dann auf ihren hohen Absätzen davonstakste, blieb sie wie erstarrt und mit zwei Tränen auf den Wangen zurück, als sei sie ganz allein auf der Welt. Aber nein, das traf ja nicht zu. Sie hatte Thilo, ihre drei geliebten Kinder und für kurze Zeit blieb die kleine entzückende Amelie ja auch noch bei ihnen.

*

Vier Monate waren vergangen. In Europa herrschte fast noch der Winter, aber hier an der nördlichen Küste von Puerto Rico sehnten die Menschen um diese Zeit den Nord-Ost-Passat herbei, weil er täglich ein wenig Kühlung in das feuchtwarme Klima brachte.

Amelie hockte mit hochgezogenen Beinen auf einem der breiten Rattan-Sessel im unteren Zimmer des Hauses. Es lag am Rand der kleinen Stadt Fajado, direkt am Meer und nur eine halbe Stunde Fahrt von San Juan entfernt.

Sie trug ein weißes T-Shirt und bunte Bermudas, die ihren braungebrannten Armen und Beinen viel Freiheit ließen. Die Knie dienten ihr jetzt als Stütze für eins der Bücher, die die Petersens ihr zu Weihnachten geschickt hatten. Und wie immer, wenn sie am Bett ihres Vaters wachte, las sie eine Geschichte darin. Diesmal ging es um eine Pony-Farm in Irland, auf der drei Geschwister tolle Abenteuer bestanden.

Trotzdem blickte Amelie jedes Mal, wenn sie eine Seite umblätterte, zu ihrem Vati hinüber. Er war eingeschlummert, wie immer, wenn er am Vormittag einige Stunden mit Tom Storren an seinem Buch gearbeitet hatte.

Sein Atem ging ruhig, aber gelegentlich zog er ihn sehr lang wie ein Stöhnen, das ihm helfen sollte, etwas mehr Sauerstoff in sich hineinzuatmen. Dann richtete Amelie sich auf und sah genauer durch das zarte Moskitonetz, um erkennen zu können, ob sich unter seinen Augen auch nicht diese bedrohlichen dunklen Schatten bildeten.

Doctor Souloque, der zweimal täglich nach dem Patienten sah, hatte ihr das beigebracht. Und sie nahm jeden Hinweis des netten dunkelhäutigen Arztes sehr ernst. Schließlich glaubte sie fest daran, daß ihr Vater bei fürsorglicher Beobachtung bald wieder ganz gesund wurde.

In dem großen Haus, das die Familie seit vier Monaten bewohnte, war es selten ganz still. Auch jetzt sangen Mira und Jama, die beiden Hausangestellten, wieder in der Küche. Amelie hörte es gern. Blieb ihr Zeit, huschte sie zu den beiden, stellte sich vor ihnen auf und wiegte sich in den Hüften, bis Mira und Jama darüber zu lachen begannen und ihre Lieder sehr deutlich und langsam sangen, so daß sie die Worte wiederholen konnte.

Jetzt konnte sie nicht zu ihnen. Um diese Zeit bewachte sie den Schlaf ihres Vaters. Das gehörte, wie ihre Mami es nannte, zu ihren Pflichten. Erst, wenn Doctor Souloque am frühen Nachmittag zum zweiten Mal kam, durfte sie ins Freie schlüpfen.

Amelie ahnte nicht, wie schlecht es ihrem Vater ging. Einmal mußte er das Bett doch wieder verlassen können! Und dann würde sie ihn an der Hand nehmen und ihn zum Strand führen. Er hatte ja noch gar nicht gesehen, wie herrlich es dort war.

Sie seufzte, schloß ihr Buch und lehnte den Kopf zurück. Bis zum Meer waren es nur wenige Schritte. Dort im Schatten unter den Palmen würde sie ihm eine der Bastmatte zurechtlegen, ihn mit den vielen Kissen von der Terrasse einen bequemen Sitz bauen und ihn dann für kurze Zeit allein zurücklassen, um ins flache, klare Wasser zu rennen, bis sie den Boden unter den Füßen verlor und ihm zeigen konnte, wie prima sie inzwischen schwamm. Aber wann war es soweit?

»Pscht!« machte es. Amelie ruckte hoch. Dabei wußte sie schon, wer unter der Tür zum Zimmer stand. Das war Jano, der junge Mann, der jeden Morgen mit seinem uralten hellblauen Cadillac heranratterte, um für Sauberkeit in Haus und Garten zu sorgen. Dabei gab es eigentlich keinen Garten. Wenn man sich nicht um das Mangrovengebüsch kümmerte, zog sich das Grün bis zum Strandweg hin.

Amelie legte ihren Finger auf den Mund. Dieses viel zu laute »Pscht!« war Jano leider nicht abzugewöhnen.

»Was ist denn, Jano?« flüsterte sie.

»Madame ruft nach dir.« Wie immer, wenn er eine Situation als bedrohlich empfand, rollte er mit seinen schwarzen Augen.

»Ich hab nichts gehört.«

»Madame hat‘s in die Küche telefoniert. Geh nur schnell.«

Mit einem Seufzer streckte Amelie ihre Füße zum Boden. Sie trug selten Schuhe im Haus. Ihre Fußnägel waren blau-metallic lackiert, und die zu verstecken, fand sie viel zu schade. Den Lack hatte Mira ihr aus der Stadt mitgebracht, und sowie er vom Sand am Strand schadhaft wurde, pinselte sie eine neue Schicht darüber. Wenn Patti das sehen könnte! Die würde Augen machen!

»Bleibst du bei Vati?« hauchte sie im Vorübergehen Jano zu. Er nickte.

Sie tapste schnell die Stufen in den ersten Stock hoch. Vier geräumige Zimmer lagen hier hintereinander. Ihre Mutter bewohnte zwei davon, eins gehörte ihr, das vierte sollte ihrem Vater einmal, wenn er endlich wieder gesund war, als Schlafzimmer dienen. Aber soweit war es ja noch nicht. Und für Doctor Souloque und Tom Sorren war es einfacher, ihn unten zu besuchen.

»Wo bleibst du denn?« fragte Loni unwillig, als Amelie leise ins Zimmer trat. Sie trug eine schneeweiße Hose und ein luftiges Hemd und war gerade dabei, ihr Haar hochzustecken.

»Ich bin doch da. Jano hat mir gerade Bescheid gesagt.«

»Jano ist immer so langsam«, seufzte Loni, griff nach einem Lippenstift und malte sich einen schönen knallroten Mund. Dann sah sie auf Amelies Füße herab und schüttelte verärgert den Kopf.

»Wie oft habe ich dich schon gebeten, diesen schrecklichen Lack zu entfernen? Es sieht ziemlich ordinär aus.«

»Bei Mira sieht’s klasse aus, Mami.«

Loni legte den Lippenstift in ihre große Tasche. »Widersprich nicht immer, Amelie. Mira und Jama sind Mulatten. Die haben nun mal keine Kultur.«

»Jano ist Mestize. Seine Vorfahren waren Indianer.«

»Ach, was du schon weißt!«

»Veronique hat’s mir erklärt.«

»Veronique soll lieber Englisch und Spanisch mit dir pauken, als dir immer solche Rosinen in den Kopf zu setzen.«

Amelie lümmelte sich auf das große Bett ihrer Mami, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte nach oben zum Ventilator. Seine gleichmäßigen Drehungen beruhigten sie immer, wenn sie mit ihrer Mami stritt. Und eigentlich stritt sie meistens mit ihrer Mami. Warum das so war, wußte sie allerdings nicht. Vielleicht, weil ihre Mami so ganz anders als Tante Corri war. Amelie seufzte.

»Ich fahre nach San Juan zum Golfspielen…«

»Schon wieder?« entfuhr es Amelie.

»Was soll das heißen? Es ist heute nicht so warm. Ich muß trainieren, sonst verlerne ich alles wieder. Meine Golfstunden waren schon teuer genug. Außer dem Golfspiel bietet sich mir hier doch gar nichts an Abwechslung. Danach gehe ich noch mein Kostüm abholen. Zum Abendessen bin ich zurück. Brauchst du noch was aus San Juan oder Fajardo?«

Amelie überlegte. »Neue Buntstifte und Schokolade.«

»Gut, bring ich dir mit. Aber du wirst dich nur von Vatis Bett entfernen, solange Doctor Souloque da ist, verstanden? Ich habe ihn heute vormittag gebeten, nachmittags eine gute Stunde zu bleiben. Während der Zeit kannst du an den Strand. Aber bring bloß nicht wieder Paco mit ins Haus.«

Da setzte Amelie sich auf. »Paco ist mein Freund, Mami.«

»Das will ich nicht gehört haben! Du weißt doch, was Veronique über Pacos Familie herausgefunden hat! Seine Mutter ist eine Vodoo-Hexe. Sein Vater züchtet Kampfhähne. Sie gehen alle in die Messe, aber ihr Glauben hat nichts mit dem Christentum zu tun. Und außerdem… Paco ist schrecklich schmutzig.«

»Wir schwimmen doch immer zusammen!«

»Ja, aber er duscht danach nie.«

Diesmal widersprach Amelie nicht. Aber sie dachte auch nicht daran, sich an die Anweisungen ihrer Mutter zu halten. Einen anderen Freund als Paco hatte sie nun mal nicht.

»Ich geh wieder zu Vati. Bis heute abend, Mami. Schüß!«

»Schüß.«

Amelie und ihre Mutter pflegten sich längst nicht mehr zärtlich von einander zu verabschieden oder zu begrüßen. Diese nette Gewohnheit war ihnen wie vieles andere abhanden gekommen, seitdem sie hier lebten.

Dabei wußte Amelie nur zu gut, wie sehr auch ihre Mutter unter dem Zustand des Vaters litt. Der Alltag vollzog sich nach immer dem gleichen Ritus, das Leben war eintönig geworden. Viel zu selten wurde ihre Mutter zu einer Party geladen. War es ein Wunder, wie oft es sie in den Golfclub von San Juan zog?

Amelie schlich wieder hinunter, scheuchte Jama vom Sessel und warf, kaum saß sie, erneut einen wachsamen Blick auf ihren Vater.

Stefan Sudhoff war mager geworden. Auf seinem eingefallenen Gesicht wuchs der weiße Bart auf wächsern bleicher, fleckiger Haut. Wenn Jano ihn einmal wöchentlich rasierte, wurden die bläulichen Verfärbungen auf den Wangen deutlich sichtbar. Amelie legte dann immer ihre kleinen Hände um sein Gesicht, um sie nicht anschauen zu müssen. So wurde es ihr leichter, auf seine Genesung zu hoffen.

Sie las nicht weiter, weil sie über das nachdenken mußte, was Veronique über Paco gesagt hatte. Ihre Lehrerin war Mitte Dreißig, ziemlich dick, schön kaffeebraun und immer lustig. Sie hielt sich etwas auf ihren amerikanischen Vater zugute, der für ein Jahr mit ihrer Mutter verheiratet gewesen war und jetzt schon lange wieder in Florida lebte. Daß sie sich Privatlehrerin nennen durfte, verdankte sie ihm, denn er hatte dafür gesorgt, daß sie für einige Jahre die Universität von San Juan besuchen konnte.

Veronique kam jeden Morgen wie Jano angerattert. Aber sie fuhr einen Jeep, der noch klappriger war als Janos Cadillac. Amelie hatte sie schnell ins Herz geschlossen. Keiner außer vielleicht Paco konnte sie so schnell zum Lachen bringen wie Veronique mit ihren grusligen Geschichten. Und dabei lernte sie noch eine Menge von ihr, auch wenn ihre Mami fürchtete, das sei nicht die Richtige.

Manchmal, wenn es ihrem Vater gegen Abend etwas besser ging, erzählte Amelie ihm davon. Und er wußte ihrem Wissen immer etwas hinzufügen, auch, wenn seine Stimme leise und brüchig war. Und diese Stunden an seiner Seite liebte Amelie mehr, als seinen Schlaf zu beobachten. Sie seufzte. Einmal mußte er doch wieder gesund werden! Wenn es schon so ewig lang dauerte, warum begriff ihre Mami dann nicht wenigstens, wieviel Paco ihr bedeutete?

Fff!« machte Amelie und blies sich eine Strähne aus dem Gesicht. An Pacos Seite ertrug sich die Sehnsucht nach Patti, Dette, Helle, Tante Corri und Onkel Thilo wenigstens stundenweise!

Kurz darauf hörte Amelie, wie der Wagen ihrer Mutter anfuhr. Das Geräusch des Motors entfernte sich, bis es vom lauten Rauschen der Brandung verschluckt wurde.

Amelie rutschte lautlos aus ihrerm Sessel, schlich an dem Tischchen mit den vielen Medikamenten für ihren Vater vorbei und trat an die offene Tür, die hinaus auf die Terrasse führte. Weiter wagte sie sich nicht vom Bett ihres Vaters zu entfernen. Sie schob die durchsichtigen Vorhänge und die Jalousie beiseite und kniff die Augen zusammen, weil das grelle Sonnenlicht sie im ersten Moment blendete.

Wie entzückt Patti wohl quietschen würde, wenn sie diesen Blick genießen könnte? Ob Dette und Helle jemals aus dem Meer wieder herauskamen, wenn sie mal hereinplanschten? Und ob Tante Corri und Onkel Thilo es lange in der Sonne am Strand aushielten?

Wie lange Amelie sich der Sehnsucht nach ihren Verwandten in Frankfurt hingegeben hatte, wußte sie nicht. Sie bemerkte den schwarzen Wagen von Doctor Souloque, der sich langsam auf der Uferstraße aus dem Schatten der Palmen aufs Haus zubewegte und wischte sich unbewußt übers Gesicht. Ja, das waren wohl einige Tränen. Sie hatte ja auch an ihre Omi gedacht. Warum nur waren alle so unendlich weit weg?

»Hallo, Amelie! Geht es gut?« begrüßte der dunkelhäutige Doctor Souloque sie. Er hatte schlohweißes krauses Haar, eine breite Nase und einen Mund, der von einem Ohr zum anderen reichte.

Amelie knickste. »Ja, geht schon.«

»O.k. kleine Miss.« Er ergriff ihre Hand und ging mit ihr über die Terrasse ins Zimmer. »Seit wann schläft dein Vater?«

»Seit drei Stunden.«

Da wiegte er den Kopf hin und her, stellte einen Karton auf den Tisch und entnahm ihm ein seltsames Gerät.

»Was ist das?« fragte Amelie sofort.

»Das ist eine Vorrichtung, mit der ich deinem Vater Sauerstoff zuführen kann.« Er sah ihr erschrockenes Gesicht und fügte leise hinzu: »Ob er es braucht, ist ja noch nicht raus. Aber wenn, wird es ihm Erleichterung verschaffen. Sei nicht traurig, kleine Miss.«

Er strich ihr kurz über die Wange und spürte etwas Feuchtes an seinen Fingern. »Du hast doch nicht etwa geweint?«

»Nein!« flüsterte Amelie sofort. »Nein. Ich weine nie.«

Er nickte zögernd. »Das ist gut. Dein Vater soll keine Tränen sehen.« Nachdem er das Moskitonetz zur Seite geschoben hatte, nahm er Stefan Sudhoffs Hand und fühlte den Puls.

Aus der Küche klang der Sing-sang von Mira zu ihnen. Draußen stellte Jano den Rasenmäher an. Doctor Souloque sah sich nach Amelie um.

»Wie lange hat dein Vater heute früh mit Mister Sorren gearbeitet? Er kam um neun Uhr, als ich das Haus verließ.«

»Bis zwölf Uhr«, erwiderte Amelie leise. »Er fuhr weg, als Veronique auch wegfuhr.«

»Drei Stunden«, stellte der Doctor besorgt fest. »Das ist zu anstrengend. Deiner Mutter habe ich es schon gesagt.«

»Aber wenn Vati nicht mit Tom arbeiten kann, wird er traurig.«

»Das sagt deine Mutter, nicht wahr?«

Amelie nickte. Das Gesicht des Doctors verriet hilflosen Ärger. Aber ein Blick in Amelies Augen, und sofort lächelte er wieder. »Du kannst jetzt schwimmen gehen, kleine Miß. Grüß Paco von mir. Genieße dein Leben. Ist es nicht schön?«

Sie schluckte, nickte und lächelte. Dann rannte sie hinaus, eilte zu der kleinen Kabine neben der Terrasse, riß sich darin ihre Kleider vom Leib und schlüpfte in ihren winzigen knallgelben Bikini. So flitzte sie über den Rasen, durch die Öffnung im Mangrovengebüsch, machte einen Satz über den Sandweg und huschte unter den Palmen hindurch auf den makellos weißen Strand. Das Wasser spritzte auf, bis es ihr an den Bauch reichte. Sie ließ sich fallen, spaddelte mit Armen und Beinen und wandte sich erst um, als sie den Boden nicht mehr erreichen konnte.

Wie ein helles Band, das das üppige Grün begrenzte, breitete sich der Strand vor ihr aus. Dahinter konnte sie das Dach ihres Hauses erkennen. Es war grau. Und weiter links, wo sich die Straße in Richtung Fajardo schlängelte, tauchte nun ein kleiner, schwarz gelockter Junge auf.