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Neues von den Black Knights Inc.! Vier Jahre ist es her, dass Navy SEAL Jake Sommers nach einer leidenschaftlichen Nacht für immer verschwand und damit Michelle Carters Herz brach. Michelle hat ihm nie vergeben und dachte auch, dass sie ihn niemals wiedersehen würde. Doch als sich Frank Knight, ihr Bruder und Chef der Eliteeinheit Black Knights Inc., mit den falschen Gegnern anlegt, und Michelle zwischen die Fronten gerät, bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihr Leben - und ihr Herz - erneut in Jakes Hände zu legen. Rasante Action und heiße Sinnlichkeit - Romantic Thrill vom Feinsten!
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Seitenzahl: 426
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Motto
Prolog
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Anmerkung der Autorin
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Julie Ann Walker bei LYX
Impressum
JULIE ANN WALKER
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Kerstin Fricke
Zu diesem Buch
Vier Jahre ist es her, dass Navy SEAL Jake Sommers nach einer leidenschaftlichen Nacht für immer verschwand und damit Michelle Carters Herz brach. Michelle hat ihm nie vergeben und dachte auch, dass sie ihn niemals wiedersehen würde. Doch als die Black Knights Inc., die Eliteeinheit ihres Bruders Frank Knight, ins Visier von gefährlichen Attentätern geraten, und Michelle zwischen die Fronten kommt, bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihr Leben – und ihr Herz – erneut in Jakes Hände zu legen …
Für meine Mutter. Ich habe all das dir zu verdanken.
Du hast mich bei all meinen Unternehmungen unterstützt und ermutigt und in mir eine Liebe zum geschriebenen Wort geweckt, die mein Leben geformt und bereichert hat. Hin und wieder hatten wir nicht genug Geld für die Designerjeans, ohne die ich vermeintlich nicht leben konnte, aber es war immer genug für Buchklubs und Buchmessen da. Danke, dass du mir die Augen für das geöffnet hast, was wirklich wichtig ist.
Nicht die glänzende Waffe gewinnt den Kampf, sondern das Herz des Helden.
Sprichwort
Prolog
Hoch in den Bergen des Hindukusch
Oktober …
»Das ist ein gewaltiger Mist, Leute«, flüsterte Preacher und richtete die Mündung seines M4 weiter auf den Taliban-Anführer, der im Schneidersitz auf dem trockenen Schieferboden saß. Al-Masris Mund war mit Isolierband zugeklebt worden, aber dennoch erkannte man an den bärtigen Wangen, dass er verbittert den Mund verzog, und in seinen dunklen Augen glomm unverhohlener Hass.
Mist. Jacob Sommers alias Jake »The Snake« konnte dieser Aussage nur zustimmen, die seiner Meinung nach sogar noch untertrieben war. Er hätte ihre aktuelle Situation eher als »Riesenscheiße« bezeichnet. Aber das war der Unterschied zwischen ihm und Preacher: Er fluchte wie ein Seemann, während Preacher nur selten ein Schimpfwort entschlüpfte.
Zugegebenermaßen war es eigentlich völlig egal, wie man es nannte, da es im Grunde genommen darauf hinauslief, dass ihre ganze Mission von Anfang an ein einziges Desaster gewesen war. Es hatte damit angefangen, dass ihr einziges Satellitentelefon beim Abseilen in feindliches Territorium an einem Berghang zerschellte, nachdem der Riemen gerissen war. Genauso katastrophal war es weitergegangen, als sie al-Masri in einem der winzigen Häuser unten im Tal aus dem Bett geholt und gefangen genommen hatten, nur um dabei von einem seiner Männer entdeckt zu werden, der ausgerechnet um drei Uhr auf die Toilette musste. Schließlich war die Armee des Taliban-Anführers vom Dorf aus ins ganze Tal ausgeschwärmt und hatte Jake und seinem Team dadurch den geplanten Fluchtweg abgeschnitten, sodass sie ihre Abholung aus diesem gottverlassenen Höllenloch verpasst hatten. Daher waren sie gezwungen gewesen, sich auf der winzigen Felsnase zwischen den Bäumen zu verschanzen, die sich auf einem unglaublich steilen und kargen Berghang befand.
Das Schlimmste war jedoch, dass jetzt auch noch im Osten über den Bergen die Sonne aufging und sie in ihr schrecklich grelles Licht tauchte.
»Was wollt ihr jetzt tun?«, wollte Rock in seinem Südstaatensingsang wissen, und Jake warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit erneut ihrem Kommandanten zuwandte.
»Ihn umbringen!«, sagte Boss und spuckte auf den Boden, als müsse er seine Worte auf diese Weise unterstreichen. »Wenn wir es nicht tun, kommen wir wahrscheinlich nicht mehr hier raus. Und wenn wir versuchen, ihn mitzunehmen, wird uns dieses Arschloch bei der ersten Gelegenheit auffliegen lassen. Laut unserer Information besteht seine Armee aus achtzig bis hundertzwanzig Kämpfern, sodass es bestenfalls zwanzig und schlimmstenfalls dreißig zu eins steht. Wir sind zwar gut, Männer, die Allerbesten, aber diese Aussichten gefallen mir trotzdem nicht.«
Hamza al-Masri, der hiesige Taliban-Anführer, war für die Bombardierung der Kasernen verantwortlich, bei der mehr als zweihundert Marines ihr Leben verloren hatten. Man hatte die vier Navy-SEALs vom Bravo-Platoon damit beauftragt, ihn gefangen zu nehmen und in die Vereinigten Staaten zu bringen, damit man ihn dort vor Gericht stellen konnte. Aber es wurde immer unwahrscheinlicher, dass ihnen das gelang, da die Stunden verstrichen und der Tag anbrach.
»Das ist nicht unser Befehl«, murmelte Jake, dem diese ganze Situation gehörig auf den Zeiger ging. »Wir sollen ihn lebendig abliefern.«
»Ach ja?« Boss schnaufte und verzog höhnisch das Gesicht. »Und was denkst du, wer uns diese Befehle erteilt hat? Irgendein Sesselpupser in Washington, der nicht die geringste Ahnung hat, wie es hier draußen auf dem Schlachtfeld überhaupt aussieht. Das ist eine ernste Angelegenheit, Männer, die uns bestenfalls einen Tadel, aber auch eine Degradierung oder Schlimmeres einbringen kann. Ich werde die Entscheidung nicht treffen. Wir müssen uns schon alle einig sein.«
Jake wusste, dass Boss recht hatte. Ihre Chancen standen am besten, wenn sie al-Masri erledigten. Er wollte den Kerl ohnehin am liebsten tot sehen, da er ihn seit der Bombardierung abgrundtief hasste. Aber das war wohl auch ein Teil von Jakes ständig wachsendem Problem.
»Niemand müsste davon erfahren«, überlegte Preacher. »Wir könnten ihn umlegen, die Leiche vergraben, von hier verschwinden und behaupten, wir hätten ihn nie gesehen.« Aber noch während er diese Worte aussprach, konnte man seinem mit Tarnfarbe beschmierten Gesicht ansehen, dass ihm dieser Gedanke überhaupt nicht gefiel.
Den anderen ging es ebenso. Neben Patriotismus, Loyalität und Ehre gehörte auch Ehrlichkeit zu den Eigenschaften, auf die die meisten SEALs überaus stolz waren. Lügen kamen für sie im Allgemeinen nicht infrage.
»Nein. Wenn wir das durchziehen, dann stehen wir auch dazu«, erklärte Boss, in dem es merklich arbeitete. »Wir kehren zur Basis zurück und sagen: ›Wir mussten es tun, weil wir keine andere Wahl hatten.‹ Und jeder, der nicht völlig auf den Kopf gefallen ist, wird erkennen, dass das die reine Wahrheit ist. Ich fälsche keine Berichte. So was mache ich nicht.«
»Vielleicht hat es ja auch gar keine Folgen, wenn wir ihn eliminieren und es melden«, überlegte Preacher. »Sie wollen ihn ja sowieso lebenslänglich nach Gitmo stecken oder ihn aufhängen, also was soll’s? Ich denke, dieses Mal sollte es von oben keinen Ärger geben.«
Wie bitte?
Jake widerstand dem plötzlichen Drang, nach oben zu sehen und zu prüfen, ob dort Schweine vorbeiflogen, die »I Believe I Can Fly« von R. Kelly sangen.
Er mochte Preacher, ganz im Ernst, auch wenn der Kerl seit sechs Wochen mit der einzigen Frau verheiratet war, die Jake je geliebt hatte. Aufgrund dieser Geschichte mit dem Stolz und der Ehrlichkeit musste er sich allerdings eingestehen, dass Preachers Ehe mit Michelle größtenteils seine eigene Schuld war, schließlich hatte er die beiden zusammengebracht …
Und es war doch nun wirklich keine Überraschung, dass sie gut zusammenpassten, oder?
Nein, das wunderte eigentlich niemanden. Angesichts der Tatsache, dass Michelle Knight die wundervollste und süßeste Frau auf dem Planeten war und Steven »Preacher« Carter der absolut feinste Kerl, dem Jake je begegnet war, war es eigentlich nur logisch, dass die beiden ein perfektes Paar abgaben.
Ihm war durchaus bewusst, dass die meisten Menschen einen Mann, der gerade eine philosophische Diskussion darüber führte, ob man einem anderen Kerl die Kehle aufschlitzen sollte, nicht unbedingt als »feinen Kerl« bezeichnen würden, aber Preacher war nicht nur das, sondern er war auch ein verdammt guter Soldat.
Er wusste, was hier auf dem Spiel stand.
Aber wenn er wirklich glaubte, dass sie auch nur die geringste Chance hätten, aus diesem Mist ohne einen Kratzer wieder rauszukommen, dann konnte er sich gleich aufgrund von Wahnvorstellungen einliefern lassen.
»Jetzt mach mal halblang, Junge«, knurrte Jake und fiel wie immer in stressigen Situationen in die Surfersprache zurück, mit der er aufgewachsen war. »Du weißt doch, dass man sich auf die Vorgesetzten besser nicht verlassen sollte. Die guten alten Vereinigten Staaten wollen al-Masri als Beute, um alle anderen Fanatiker auf dieser Welt zu warnen und ihnen zu demonstrieren, dass man sich vor uns nicht verstecken kann, weil wir sie überall finden und vor Gericht stellen werden. Wenn wir ihn umbringen, sind wir am Arsch. Nein«, er schüttelte den Kopf, »wir müssen ihn heil zu Hause abliefern.«
Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er jedoch nicht mal besonders große Angst davor, degradiert zu werden oder dem stinksauren General gegenüberzustehen und von ihm den Arsch aufgerissen zu bekommen. Oh nein. Sein Rang und der ganze andere Scheiß waren ihm relativ egal. Aber bei der Vorstellung, sein Messer aus der Scheide zu ziehen und al-Masris Leben hier und jetzt zu beenden, verspürte er ein schreckliches Verlangen, und das bewirkte, dass sich sein Brustkorb vor Angst zusammenzog. Denn eigentlich sollte er bei seinen Missionen überhaupt keine Gefühle zeigen. Er musste ruhig abwägen und einen kühlen Kopf bewahren. Distanziert sein. Aber in letzter Zeit fiel ihm das zunehmend schwerer. Seit der Bombardierung, seitdem sie die grauenvolle Aufgabe übernommen hatten, die Leichen dort herauszuholen, hatte sich ein Same festgesetzt und zu einem Monster mit Giftklauen entwickelt. Ständig wurde er von einer alles umfassenden Wut gepackt, die außer Rachegedanken nichts anderes mehr zuließ.
Und das war grundlegend falsch. Rechtfertigten sich die Terroristen nicht auf dieselbe Weise, wenn sie Gebäude, Botschaften und Marktplätze bombardierten? Natürlich! Aber auch wenn der rationale Teil seines Verstandes brüllte: Mann, was zum Geier denkst du da eigentlich?, schien das Monster in seinem Inneren von Tag zu Tag lauter zu werden. Und es schrie immer wieder dieselben Worte: Bring sie alle um. Räche deine Brüder …
Er schämte sich, zuzugeben, dass er diesem Monster einmal beinahe nachgegeben hätte. In diesem Augenblick hatte er eine Heidenangst, dass ihn nichts davon abhalten würde, es immer wieder zu tun, wenn er seinem Drang nach Rache nachgeben und al-Masri trotz anders lautender Befehle umbringen würde. Wieder und wieder und wieder …
»Hältst du es wirklich für möglich, dass wir hier rauskommen, bevor uns al-Masris Leute umzingelt haben, mon ami?«, fragte Rock.
»Denk doch mal nach«, sagte Jake, rang die blutrünstige Bestie in seinem Inneren nieder und bezwang die Angst, die ihn unausweichlich dabei überkam. Er holte die topografischen Karten und Aufklärungsfotos des Gebiets heraus und bedeutete seinen Teamkameraden, ihm zu folgen, bis sie so weit entfernt standen, dass der Taliban-Anführer sie weder hören noch sehen konnte. Dann breitete er alles auf dem Boden aus. »Wenn wir den Berg raufgehen und das Plateau erreichen«, er deutete mit einem dreckigen Finger auf die Karte, »müssten wir mit unseren Handys wieder Empfang haben. Dann können wir Kontakt mit der Basis aufnehmen und eine Abholung anfordern. Wir brauchen etwa fünfzehn Minuten für den Aufstieg, zwei Minuten für den Anruf, acht Minuten, bis der Heli einsatzbereit ist, und dreißig Minuten Flugzeit bis zu unserer Position. Das macht insgesamt fünfundvierzig Minuten. Ich schätze, dass al-Masris Armee wenigstens fünfundvierzig bis fünfzig Minuten brauchen wird, bis sie vom Tal raufgekommen ist. Es wird verdammt knapp, aber wir sind in der besseren Position und können sie die letzten paar Minuten bestimmt noch zurückhalten.«
Es war keine Aufschneiderei, dass er davon ausging, sie könnten zu viert einhundertzwanzig Leute in Schach halten. Die Annahme basierte auf ihrer Ausbildung, ihren überragenden Schießkünsten, ihren überlegenen Waffen und ihrer besseren Position.
»Okay«, meinte Preacher und nickte, »du hast mich überzeugt.«
»Rock«, wandte sich Jake an den Cajun, »was denkst du darüber, Bruder?«
Rock beäugte ihn einige lange Augenblicke, und Jake wusste, dass sein Teamkamerad die Situation genau analysierte. Rock war an jenem Tag dabei gewesen, an dem Jake beinahe das Undenkbare getan hätte, und er musste wissen, dass Jake diese Entscheidung jetzt aus nackter, erstickender Angst heraus traf. Angst vor dem, was er werden könnte.
»Oui, mon frère«, meinte Rock schließlich, nickte und musterte ihn mit einem Blick, der … Bitte, Gott, lass es kein Mitleid sein. »Versuchen wir’s.«
Jake stieß zitternd die Luft aus, und zum ersten Mal seit verdammt langer Zeit kam kein Fluch über Boss’ Lippen, auch wenn der Mann vermutlich der Ansicht war, dass sie einen Riesenfehler machten. Stattdessen akzeptierte Boss das Ergebnis der Abstimmung, ging zurück zu al-Masri und bedeutete ihm mit einer Geste aufzustehen.
Der Taliban-Anführer schüttelte den Kopf, und seine Nasenflügel flatterten. Daraufhin packte Boss den Kerl unter den Achseln und zerrte ihn auf die Beine, wobei er ihn ein wenig durchschüttelte, bevor er ihn hinstellte und mit einem heftigen Schubser vorwärtsdrängte.
»Bewegung«, befahl Boss.
In weniger als zwei Sekunden waren sie alle dabei, den Berghang zu erklimmen. Der lockere Schiefer- und Felsboden gab unter ihren tarnfarbenen Stiefeln nach, und es kam ihnen so vor, als würden sie für je zwei Schritte, die sie vorankamen, wieder einen zurückrutschen. Dabei war es auch nicht gerade hilfreich, dass sich al-Masri nach Leibeskräften wehrte und sie derart bremste, dass sie schon glaubten, sie würden ihr Ziel nie erreichen. Als sie die Hälfte der Entfernung zum Plateau zurückgelegt hatten, verschmierte Schweiß die Tarnfarbe in ihren Gesichtern und ließ dunkle Flecken auf ihrer Kleidung entstehen.
Jake hatte so großen Durst, dass seine Zunge am Gaumen klebte. Als er gerade nach dem Trinkschlauch seiner CamelBak greifen wollte, manifestierte sich vor seinen müden Augen der erschreckendste Anblick, den er je gesehen hatte …
Die Taliban-Kämpfer schwärmten auf das Plateau wie Ameisen auf einen Ameisenhügel. Sie waren alle mit Kalaschnikows bewaffnet. Und sie hatten nur eines im Sinn: Tötet die Amerikaner.
Großer Gott!
Irgendwie war es ihnen gelungen, an der Rückseite des Berges nach oben zu kommen, auf der sich Jakes Karten zufolge nur ein steiler Berghang befinden sollte …
Tja, offenbar waren seine Karten nicht korrekt. Das war ja mal wieder typisch und passte perfekt zu diesem Scheißtag.
»Holt ihn nach vorn!«, brüllte Boss, während sie hinter al-Masri Aufstellung nahmen und ihn als menschlichen Schutzschild benutzten. Die Männer des Taliban-Anführers würden niemals riskieren, ihren geschätzten Kommandanten zu verwunden. Aber als sie den Rückzug antraten, streckte al-Masri einen Fuß aus und brachte Rock, der direkt hinter ihm ging, zu Fall.
Jake und Boss griffen nach ihrem Teamkameraden, und Preacher versuchte, den Taliban-Anführer festzuhalten, aber er kam zu spät. Irgendwie gelang es al-Masri, Rocks KA-BAR-Messer aus der Scheide an Rocks Taille zu ziehen, und im nächsten Augenblick hatte er es schon bis zum Griff in Rocks Schulter gebohrt. Eine Sekunde später zog er es wieder heraus und zielte direkt auf Rocks Halsschlagader.
Was als Nächstes geschah, wirkte völlig irreal.
Das ist der Mann, der für den Anschlag verantwortlich ist …
Es war nur ein flüchtiger Gedanke, aber er reichte aus. Sobald er Jake durch den Kopf schoss, hatte er das Monster in seinem Inneren nicht mehr im Griff. Der Zorn durchflutete seinen Körper und schaltete alles andere aus.
Dieser Mann, dieser böse Mensch, hat genug meiner Kameraden getötet oder verwundet. Jetzt reicht’s!
Dann war ihm, als würde er neben seinem eigenen Körper stehen. Seltsam distanziert schien er sich selbst zu beobachten. Er sah zu, wie er seine Waffe hob, auf al-Masris Turban zielte und abdrückte.
Das Blut spritzte als schreckliche, purpurfarbene Fontäne aus dem Kopf des Taliban-Anführers, und Jake wurde zurück in seinen Körper katapultiert. Kurz empfand er ein wunderbares Gerechtigkeitsgefühl, bevor ihm bewusst wurde, was seine Impulsivität, sein Blutdurst sie alle möglicherweise kosten würde.
Oh, Scheiße! Was habe ich nur getan?
»Rückzug!«, brüllte Boss, als der erste Kugelhagel um sie herum einschlug, den Schiefer zertrümmerte und rasiermesserscharfe Steinsplitter in die Luft fliegen ließ.
Rückzug. Ja, das musste er Jake nicht zweimal sagen. Er versuchte sich umzudrehen, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren, damit er zumindest probieren konnte, sich wieder den Berg herunterzubewegen, aber wenn er geglaubt hatte, der Aufstieg wäre schon schwierig gewesen, musste er jetzt feststellen, dass der Abstieg unmöglich war.
Zumindest war es unmöglich, diesen auch nur ansatzweise kontrolliert anzugehen.
Er rutschte und schlitterte, und seine Stiefel mit den dicken Sohlen fanden auf den lockeren Schieferplatten keinen Halt, während er sich im Laufen immer wieder umdrehte, um das Feuer zu erwidern.
SEALs werden dazu ausgebildet, dass jeder Schuss zählt, und während al-Masris Männer wild um sich feuerten, schossen Jake und seine Teamkameraden nur, wenn sie ein gutes Ziel vor Augen hatten. Als sie die relative Sicherheit des kleinen Wäldchens erreichten, konnte Jake die Leichen von wenigstens sieben Taliban-Kämpfern am Boden des steilen Abhangs sehen.
Doch das war nicht genug. Bei Weitem nicht. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass immer mehr von al-Masris Männern auf das Plateau strömten. Die Informationen, die sie über die Anzahl der Kämpfer des Taliban-Anführers erhalten hatten, waren offensichtlich falsch.
Völlig falsch.
Er hätte seinen linken Hoden verwettet, dass in diesem Moment wenigstens zweihundert Kämpfer mit grimmiger Miene auf sie zukamen.
»Das ist übel!«, schrie Preacher, der sich hinter einem schmalen Baumstamm in Deckung brachte und weiterfeuerte. Er versuchte, ihre linke Flanke zu decken, während Jake die rechte übernahm. Boss sorgte dafür, dass jeder, der es von vorne mit ihnen aufnehmen wollte, diese Idee rasch wieder aufgab, und Rock schaltete jeden aus, dem es gelang, den anderen dreien zu entgehen.
»Wir müssen von diesem Scheißberg runter!«, schrie Boss, dessen M4 mit Schalldämpfer leise ein Geschoss nach dem anderen abfeuerte und noch mehr Taliban-Kämpfer ihr Leben aushauchen ließ.
Der säuerliche Geruch von Kordit erfüllte die Luft um sie herum, als die heißen Kugeln in die Bäume einschlugen, hinter denen die vier SEALs Deckung gesucht hatten. Jakes schwacher, kleiner Schössling würde dem Sperrfeuer nicht mehr lange standhalten.
»Wenn wir es bis ins Tal schaffen, können wir uns in einem der Häuser verschanzen und die Position halten, bis Hilfe kommt!«, schrie er und wechselte das Magazin.
Sie hatten Munition und Waffen. Der Plan konnte aufgehen.
Es würde allerdings verdammt schwer werden, überhaupt dorthin zu gelangen, und er konnte die Tatsache nicht leugnen, dass das Ganze deutlich einfacher wäre, wenn sie al-Masri noch als Schutzschild und Druckmittel gehabt hätten.
Was zum Teufel habe ich getan? Wieder schoss ihm diese Frage durch den Kopf, und die Schuldgefühle sowie das Adrenalin in seinen Adern drohten ihn zu überwältigen.
»Rückzug!«, rief Boss, und erneut fielen sie mehr, als dass sie liefen.
Der Berghang wurde unterhalb des kleinen Wäldchens noch steiler – falls das überhaupt möglich war –, sodass sie nur noch nach unten stolperten. Schon bald rollten und kugelten die vier herum wie Kleidungsstücke in einem Wäschetrockner. Scharfkantige Steine und Trümmerstücke zerrten an den Riemen und Ausrüstungsgegenständen, rissen sie los, und die ganze Zeit regnete es weiter Kugeln auf die vier SEALs herab.
Mit schmerzenden Muskeln und ineinander verschränkten Gliedmaßen landeten sie aufeinander liegend am Fuß des Berges neben den winzigen Häusern. Boss und Rock waren ein besonders harter Landeplatz, aber Jake vermutete, dass Preacher, der ganz oben zu liegen kam, vermutlich ähnlich dachte.
Es gelang ihnen, sich voneinander zu lösen, um sofort wieder zu feuern und sich zurückzuziehen, indem sie einander abwechselnd Feuerschutz gaben.
Glücklicherweise leisteten die Dorfbewohner keinen Widerstand. Offenbar hielten sich alle bewaffneten Männer bereits am Berghang auf.
Tja, mahalo an den großen Kahuna im Himmel für dieses kleine Wunder.
Während Jake, Preacher und Rock Deckungsfeuer gaben, trat Boss mit einem seiner großen Stiefel gegen die Tür eines kleinen, aus Lehmziegeln errichteten Hauses, und zwei Sekunden später taumelten sie alle hinein.
Sie stellten erleichtert fest, dass es leer war.
Wieder übernahm Jake die rechte Seite, Preacher die linke und Boss hielt stetig in die Mitte, während Rock absicherte. Sie schalteten alle Gegner aus, die sich dem Haus näherten. Während einer kurzen Feuerpause griff Jake nach seinem Handy, doch es war nicht mehr da. Verdammt! Er musste es bei dem langen Abstieg irgendwo verloren haben, ebenso wie zwei Magazine, seinen M203-Granatwerfer und seinen Rucksack.
»Ich hab mein Handy verloren!«, brüllte er und sah aus dem Augenwinkel, wie Boss, Rock und Preacher ebenfalls nach ihren Taschen griffen und sie abklopften, da die Handys ihre einzige Möglichkeit darstellten, es hier noch lebend rauszuschaffen.
Sowohl Boss als auch Rock hatten ihr Handy ebenfalls verloren, aber Preacher hatte mehr Glück gehabt.
Er hielt sein Telefon triumphierend hoch, aber Jake konnte seiner Miene ansehen, dass sie sich zu dicht am Berghang befanden, um Empfang zu haben.
»Gebt mir Deckung!«, rief Preacher.
Bevor ihn jemand aufhalten konnte, war Preacher schon durch die Haustür und über die unbefestigte Straße gelaufen. Rings um ihn herum schlugen Kugeln ein und ließen Staubwolken aufsteigen, während er sich in Schlangenlinien den Weg zum Mohnfeld am Südende des Dorfes bahnte, auf dem die Chance auf ein Handysignal am größten war.
Das war das Tapferste, was Jake je gesehen hatte, doch er hatte keine Zeit, um sich das packende Spektakel anzusehen. Er musste weiterschießen, um so viele der Männer mit den Sturmgewehren auszuschalten wie möglich, damit Preacher überhaupt so weit kam, dass er ein Notsignal an die Basis absetzen konnte.
Jake wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Es kam ihm wie Tage vor, doch in Wirklichkeit waren vermutlich gerade mal fünfzehn Minuten vergangen.
Auf einmal war das wundervollste Geräusch überhaupt im Tal zu hören. Mehrere Kampfjets der U. S. Air Force warfen jenseits des Tales Bomben ab, ließen den Tod vom Himmel regnen.
Die Explosionen hallten mit unglaublicher Lautstärke durch das Tal, und die Erschütterungen bewirkten, dass alle mehrere Sekunden lang so gut wie taub waren.
Die drei SEALs in dem winzigen Haus beäugten misstrauisch das Dach, als eine ganze Wand Risse bekam und splitterte wie bruchsicheres Glas. Der Boden unter ihnen schwankte mehrmals, aber sie hatten Glück: Das Dach hielt. Als die Bombardierung endlich aufhörte, sahen sie vorsichtig aus der Tür und dem Fenster.
Der Großteil von al-Masris Männern war tot. Dort, wo zuvor noch Gruppen feuernder Kämpfer gestanden hatten, klafften jetzt große Löcher im Boden. Nur ein paar verwundete Taliban-Angehörige versuchten schwankend auf die Beine zu kommen, um den Kampf fortzusetzen.
Jake zielte und begann damit, die Überlebenden auszuschalten. Sie mussten die Sache beenden und Preacher finden.
Er war schon viel zu lange weg und hielt sich ungeschützt da draußen auf.
Als keine weiteren Kämpfer mehr zu sehen waren, die ihre rostigen Sturmgewehre auf sie richteten, verließen sie den Schutz des Hauses und liefen über die staubige Straße auf das Mohnfeld zu. Als sie zur Mitte des Feldes vordrangen, sahen sie, wie sich einer von al-Masris Männern Preacher näherte und auf seinen ungeschützten Rücken zielte.
»Preacher!«, schrien Boss und Rock gleichzeitig, während Jake »Steven!« brüllte. Sie hoben ihre Waffen, aber der gegnerische Schütze kam ihnen zuvor und gab zwei Schüsse ab.
Preacher wirbelte herum, als er getroffen wurde, und Jake rannte schreiend wie ein Berserker auf den Taliban-Kämpfer zu und drückte immer wieder den Abzug.
Der Mann zuckte zusammen, als die Kugeln in sein Fleisch eindrangen, und fiel zu Boden, aber Jake hörte noch immer nicht auf. Er schoss einfach weiter auf den am Boden Liegenden.
Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte das Monster in ihm die Oberhand gewonnen …
Als er nahe genug war, um das Gesicht des Mannes sehen zu können, jagte er ihm noch eine Kugel zwischen die bösen, leblosen Augen, spuckte auf den Leichnam und verfluchte den Schweinehund.
Dabei hätte er eigentlich eher sich selbst verfluchen sollen.
Wenn er nicht so ein Angsthase gewesen wäre und sich nicht derart vor dem gefürchtet hätte, was aus ihm werden könnte, hätte er die taktisch klügste Entscheidung treffen können – nämlich die, al-Masri gleich am Berghang zu töten. Dann hätten sie das Plateau erreicht, bevor al-Masris Armee dort auftauchte, und hätten sie von der erhöhten Position aus in Schach halten können, bis ein Team eintraf, um sie abzuholen.
Als wäre das noch nicht schlimm genug, war er auch noch durchgedreht und hatte die Kontrolle verloren, als sie al-Masri tatsächlich gebraucht hatten, und hatte ihn umgebracht. Weil Jake an diesem Tag in jeder nur möglichen Situation versagt hatte, lag Preacher jetzt in einer Blutlache, die sich immer weiter ausbreitete.
Jake lief zu der Stelle, wo Boss und Rock bereits neben Preacher knieten, und musste würgen, als er das klaffende Loch in Preachers Brust und das zweite in seinem Unterbauch sah. Erstaunlicherweise war Preacher noch immer bei Bewusstsein und umklammerte mit einer Hand sein M4 und mit der anderen sein aufgeklapptes Handy, mit dem er den Luftschlag angefordert hatte, dem sie ihr Leben verdankten.
Sofort fiel Jake auf die Knie und half seinen Teamkameraden, die schrecklichen Wunden zuzuhalten. Preachers Blut quoll ihm warm durch die zitternden Finger.
»Halte durch, Mann«, flüsterte er und blickte auf, als Boss aufstand und sich das T-Shirt auszog. Sie hatten ihr Verbandszeug beim Abstieg vom Berg verloren und besaßen somit nichts, womit sie die Wunden verbinden konnten. Daher mussten sie versuchen, mithilfe ihrer Kleidungsstücke zu verhindern, dass Preacher verblutete.
»Heli ist … unter…«, stieß Preacher hervor und hustete, wobei ihm blutige Luftblasen in den Mundwinkeln standen. »…wegs«, brachte er schließlich heraus.
»Ja, Mann, ja«, murmelte Jake und versuchte nicht einmal, gegen die Tränen anzukämpfen, die ihm die Wangen hinunterliefen. Er riss das T-Shirt entzwei, das Boss ihm reichte, und drückte die beiden Hälften auf Preachers klaffende Wunden. »Du hast verdammt gute Arbeit geleistet«, sagte er, auch wenn es ihm die Kehle zuschnürte. »Du hast den Jungs von der Air Force die perfekten Koordinaten durchgegeben. Sie haben al-Masris Leute in Stücke gesprengt.«
»Gut«, krächzte Preacher, und Jake hätte am liebsten den Kopf in den Nacken gelegt und seine Trauer und Qual in die heiße afghanische Luft hinausgeschrien.
Die Hilfe würde niemals rechtzeitig eintreffen, um Preachers Leben noch retten zu können.
»Ich gehe unser Verbandszeug suchen«, sagte Boss.
»Ich komme mit«, murmelte Rock, dem das Blut von den Fingerspitzen auf die dunkle Erde des Mohnfelds tropfte. »Vier Augen sehen mehr als zwei.«
Jake nickte und sah seinen beiden Teamkameraden benommen nach, die zurück zum Berg rannten.
»S-Snake?«, stieß Preacher hustend hervor, und Jake kannte dieses Geräusch nur zu gut. Die meisten Menschen nannten es das Todesröcheln.
»Ja, Bruder?«
»Sh-Shell.« Wieder hustete und röchelte Preacher. »Sie ist …« Preacher riss die Augen auf, und sein Husten wurde zu einem Würgen.
Jake konnte nichts tun. Er konnte seinem Teamkameraden, seinem Bruder, seinem Freund nicht helfen. Er lag im Sterben. Fast glaubte er, die Anwesenheit des Todes zu spüren, der sich wie eine kalte, feuchte Decke über Preachers Körper legte, und er wusste, wenn der Schweinehund eine Gestalt gehabt hätte, dann hätte er ihn voll Blei gepumpt und in den stinkenden schwarzen Abgrund zurückgeschickt, aus dem er gekommen war.
»Sie ist …«, irgendwie fand Preacher die Kraft, den Satz zu beenden, »schwanger.«
Sie war schwanger? Großer Gott …
»G-Glückwunsch, Bruder.« Jake erstickte beinahe an seinen Tränen. Er konnte nur hoffen, dass Preacher nicht wusste, wie viel er für Michelle empfand, und dass sie ihm nichts von diesem Abend in der Toilette des Clover Bar and Grill erzählt hatte, an dem er beinahe die Kontrolle verloren hätte. In jener Nacht hatte er sie in Preachers Arme gedrängt.
Damals hatte er natürlich nicht im Traum damit gerechnet, dass sie tatsächlich das Klügste tun und sich in den Kerl verlieben würde …
Mit einem mächtigen Atemzug kämpfte Preacher ein letztes Mal gegen den Tod an.
Aber der Tod war stärker.
Jake konnte nichts weiter tun, als dazusitzen, zu weinen und den leblosen Körper eines der besten Männer, den er je gekannt hatte, an sich zu drücken.
Er weigerte sich auch dann noch, Preacher loszulassen, nachdem Boss und Rock mit leeren Händen vom Berg zurückgekehrt waren und mit tränenüberströmten Gesichtern neben ihm zu Boden sanken. Auch als die Night Stalkers eintrafen und sie alle in ihren Chinook luden, ließ er die Leiche nicht los. Erst als es an der Zeit war, Preachers Leiche zu säubern und auf den Rücktransport in die Staaten vorzubereiten, gab er schließlich auf.
Und die ganze Zeit dachte er nichts anderes als: Das ist meine Schuld. Das ist alles meine Schuld …
Chicago, vier Jahre später …
»Legen Sie sie einfach auf die Veranda«, sagte Michelle und sah durch das Guckloch zu dem Blumenlieferanten hinaus, während sie sich die mit Mehl bedeckten Hände an der Schürze abwischte.
Irgendwas stimmte hier nicht.
Erstens hielt der Mann die blauen Rosen so hoch, dass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Und zweitens rechnete sie nicht mit einer Blumenlieferung.
Vielleicht war sie einfach paranoid, aber das war nun mal eine Nebenerscheinung, wenn man die kleine Schwester eines verdeckt für die Regierung arbeitenden Ermittlers war. Aus diesem Grund neigte sie dazu, hinter jeder Ecke irgendwelche Schurken zu erwarten.
»Aber ich brauche eine Unterschrift, Ma’am«, erwiderte der Mann, dessen dunkle Stimme durch die Blumen gedämpft wurde.
Oh nein. Ihr Bruder hatte ihr oft genug gesagt – »eingetrichtert« traf es wohl eher –, dass sie immer ihren Instinkten folgen sollte.
»Tut mir leid«, rief sie. »Ich erwarte keine Blumen. Dann müssen Sie sie eben wieder mitnehmen.«
Der Mann schien zu zögern. Dann konnte sie sehen, wie er hinter dem riesigen Strauß die Achseln zuckte, sich umdrehte und die Rosen auf die oberste Verandastufe legte. Er überquerte rasch die Straße, steckte die Hände in die Hosentaschen und ging die Straße hinunter und um die Ecke, wo er vermutlich den Lieferwagen geparkt hatte. Sie hatte sein Gesicht noch immer nicht erkennen können, aber auf der Rückseite seiner Baseballkappe war in weißen Buchstaben das Logo des Silly Lilly Flower Shop eingestickt gewesen.
Verdammt. Offenbar hatte sie sich ganz umsonst Sorgen gemacht.
Sie öffnete die Tür, holte den Strauß herein und suchte nach einer Karte.
Aber da war keine.
Seltsam …
Während sie verwirrt den Kopf schüttelte, ging sie in die Küche und holte eine Vase vom Kühlschrank. Nachdem sie Wasser hineingefüllt und die strahlend blauen Rosen arrangiert hatte, stellte sie sie mitten auf den Küchentisch und ging dann zurück zur Arbeitsplatte, wo sie gerade Nudelteig zubereitet hatte.
Sie war noch immer verwirrt wegen der seltsamen Blumenlieferung, als ihr Bruder durch die Hintertür hereinkam und zusammenzuckte, da er mit seinem Gips versehentlich gegen den Türrahmen gestoßen war.
»Stimmt was mit der Haustür nicht?«, fragte sie, während er zum Kühlschrank gehumpelt kam.
»Ich wollte mal was Neues ausprobieren«, antwortete er, holte einen Milchkarton heraus, drehte die Verschlusskappe ab und legte den Kopf in den Nacken, um direkt aus der Packung zu trinken.
»Na, ganz reizend«, murmelte sie und schüttelte den Kopf, um dann ein weiteres Teigstück in ihre Nudelmaschine zu schieben.
Es war sinnlos, ihn deswegen zu schelten. Sie hatte es oft genug versucht, aber das Einzige, was sie damit bewirkte, war, dass sie nur noch frustrierter wurde.
»Snake ist wieder da«, stieß er hervor, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, stellte die Milchpackung wieder zurück und humpelte herüber, um sich mit der Hüfte an den Küchentresen zu lehnen.
Die Stille in der Küche schien zum Schneiden dick zu sein.
Erst nach dreißig Sekunden gelang es ihr, den Klumpen in ihrem Hals herunterzuschlucken und ihr dummes Herz zu beruhigen. Sie hatte sich vor dem Tag gefürchtet, an dem sie diese Worte hören würde, auch wenn sie immer gewusst hatte, dass er irgendwann kommen würde.
»Ach ja?«, brachte sie schließlich heraus und war froh, dass ihre Stimme nicht so zitterte wie ihre Knie. »Was will er denn?«
»Er hat gesagt, dass er dich gern sehen will«, sagte Frank und steckte sich ein Stück Teig in den Mund, bevor sie seine Hand wegschlagen konnte.
Obwohl sich ihr Magen bei seinen Worten zusammenzog, beschloss sie, dieses Gefühl zu ignorieren.
»Du solltest das nicht essen!«, schalt sie ihn und ignorierte seine zweite Bemerkung, da sie beim besten Willen nicht darauf eingehen wollte. Noch nicht. »Okay, wie du willst. Iss ruhig den rohen Teig, du Dummkopf. Aber wenn du hinterher Salmonellen hast, dann heul dich nicht bei mir aus.«
»Das werde ich nicht«, versicherte er und zwinkerte ihr zu. »Dann gehe ich lieber zu Becky. Sie gibt eine verdammt gute Krankenschwester ab.« Er tätschelte den blauen Gips, der dafür sorgte, dass er seine frisch operierte Schulter ruhig hielt, und grinste dümmlich. Sie wusste natürlich, dass sein überglückliches Lächeln darauf beruhte, dass Becky Reichert seinen Heiratsantrag angenommen hatte – die heiße Motorraddesignerin, deren Werkstatt und Geschäft die Fassade für Frank und seine Männer von Black Knights Inc. darstellte.
Diese Ehe war wahrlich im Motorraddesigner-/Geheimagentenhimmel geschmiedet worden.
Und die Braut trägt schwarzes Leder, oder was?
Kopfschüttelnd versuchte sie, dieses Bild einer Hochzeitszeremonie vor ihrem inneren Auge zu vertreiben, was ihr jedoch nicht gelang.
»Onkel Frank! Onkel Frank!« Franklin kam aus dem Wohnzimmer in die Küche gerannt und umklammerte das blaue Bastelpapier, auf das er ungewöhnlich geformte farbenfrohe Fische aus Seidenpapier geklebt hatte. Michelle ging das Herz auf, als sie ihren Sohn mit seinem zerzausten, schwarzen Haar und den lebhaften grauen Augen erblickte. »Guck mal, was ich heute mit Miss Lisa gebastelt habe!«
Frank hob ihn mit seinem unverletzten Arm hoch und betrachtete das klebrige, leicht zerknitterte Kunstwerk, als wäre es die Mona Lisa.
»Wow, sieh dir das an«, murmelte er mit seiner tiefen Stimme, in der genau die richtige Menge an Ehrfurcht mitschwang, um das Ego eines Dreijährigen zu streicheln. »Anscheinend ziehst du dir einen aufstrebenden Künstler heran, Shell.«
Franklin drückte einen Fisch mit seinem kleinen Daumen fester auf das Papier, sodass der durchdringende Geruch des Klebers von seinem Kunstwerk aufstieg.
»Es könnte sogar sein«, fuhr ihr Bruder fort, »dass dieser kleine Mann hier der nächste Michelangelo wird.«
Franklin schürzte die Lippen. »Ach, Quatsch! Ich werde doch nicht irgendein Michel! Ich werde mit dir zusammen Motorräder bauen, Onkel Frank!«, erklärte er und wand sich, damit er wieder abgesetzt wurde.
Ihr Bruder stellte ihn wieder auf den Boden, und Franklin trottete zurück in Richtung Wohnzimmer, da die Unterhaltung seiner Meinung nach offenbar beendet war, bis ihr Bruder hinzufügte: »Tja, du kannst tun, was du willst, Kleiner. Nach oben sind keine Grenzen gesetzt.«
Franklin drehte sich um und blinzelte zweimal, als würde er das Ausmaß dieser Aussage tatsächlich begreifen. Dann wirbelte er herum und lief davon, wobei er aus Leibeskräften »On Top of Spaghetti« sang und die Lämpchen an seinen Turnschuhen wild blinkten.
»Ihr beide solltet mich heute Abend begleiten«, erklärte Frank.
Wieder machte ihr Magen einen Satz bei der Vorstellung, Jake Sommers wiederzusehen.
Sie sollte längst dazu bereit sein, ihm erneut gegenüberzutreten.
Aber sie war es nicht …
»Wir versuchen, Becky von dem abzulenken, was gestern Abend passiert ist. Sie ist noch immer ein bisschen durch den Wind«, fuhr Frank fort, und Michelle schob den Gedanken an das Wiedersehen mit Jake weit genug beiseite, um zu denken: ein bisschen? Becky Reichert hatte vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden auf einen hundsgemeinen, blutrünstigen Mann geschossen und ihn getötet, und sie war nur ein bisschen durch den Wind? »Rock will ein paar Steaks und Würstchen grillen. Es ist wirklich ein wunderschöner Abend für ein Barbecue.«
Da war schon wieder dieses dämliche Grinsen. Das war fast schon unheimlich. So gruselig wie ein Angriff von Außerirdischen.
»Komm schon«, köderte er sie, und sie verzog störrisch das Gesicht. »Jetzt, wo Snake zurück und Rock endlich wieder zu Hause ist, wird das fast wie in alten Zeiten.«
»Du meinst die alten Zeiten, die dich dazu gebracht haben, mich die letzten dreieinhalb Jahre vor deinen Kollegen bei Black Knights Inc. zu verstecken?«
Nach all den schrecklichen Dingen, die in Coronado passiert waren, hatte es ihr Bruder für klüger gehalten, sie von dem Teil seines Lebens, der mit seiner Arbeit für die Regierung zu tun hatte, fernzuhalten. Er hatte geglaubt, indem er seinen Angestellten bei Black Knights Inc. nichts von ihr erzählte, würde er sie beschützen. Damit sie nicht noch größere Angst haben und nicht noch mehr Schmerz erleiden müsste. Vielleicht hatte er damit sogar recht. Aber sie war es leid, ständig nur eine Randfigur in seiner Welt zu sein. Daher war sie nach Franks Schulteroperation ins Krankenhaus gekommen und hatte sich den ganzen Knights vorgestellt, die darauf warteten, dass er aus dem Aufwachraum kam.
Ups. Meine Tarnung ist aufgeflogen!
Ach, verdammt …
»Tja, dank dir ist ja ohnehin alles aufgeflogen«, meinte er mit finsterer Miene und tat so, als wollte er sie gegen die Schulter boxen. »Daher kannst du auch gleich mit zur Werkstatt kommen und dir ansehen, was ich so getrieben habe.«
»Ich muss diesen Teig fertig ausrollen.« Sie versuchte verzweifelt, vom Thema abzulenken. Wenn Frank diesen besonderen Blick bekam, mit dem er sie genau jetzt ansah, dann ließ er sich nicht mehr abwimmeln. Doch das würde sie nicht davon abhalten, es dennoch zu versuchen. »Außerdem muss ich morgen früh raus.«
»Na, das ist doch perfekt. Dann packt ihr beide einfach ein paar Sachen ein und bleibt über Nacht.«
»B-bist du verrückt?«, stieß sie aus. Das wird ja immer schlimmer! »Erstens weißt du ganz genau, dass ich Franklins Tagesablauf nur sehr ungern durcheinanderbringe. Und zweitens willst du doch nicht wirklich, dass ein Dreijähriger in deiner …«, sie sah um die Ecke ins Wohnzimmer, um sicherzugehen, dass ihr kleiner Sohn nicht lauschte, »… supergeheimen Spionagewerkstatt herumläuft?«
»Ich würde ihn ja nicht in die Kommandozentrale lassen.« Die Miene ihres Bruders vermittelte ihr ziemlich deutlich, dass sie ihn nicht für blöd halten sollte. »Ihr könntet im Haus des ehemaligen Vorarbeiters schlafen. Dan benutzt es ohnehin nicht mehr.«
Die Vorstellung, all das zu sehen, was ihr Bruder aufgebaut hatte, war verlockend, aber bei Weitem nicht so groß wie ihr Wunsch, Jake aus dem Weg zu gehen. »Ich kann wirklich nicht. Ich muss heute Abend noch einiges erledigen. Franklin muss in die Wanne. Außerdem liegt da noch bergeweise Wäsche, die ich zusammenlegen muss, und …«
»Michelle Knight, versuchst du etwa gerade, dich herauszureden?«
Sie starrte ihn wütend an. »Ich bin Michelle Carter, hast du das etwa vergessen? Und ich begreife wirklich nicht, warum wir auch gleich die Nacht dort verbringen sollen. Das ist doch absurd.«
»Wie ich bereits sagte, möchte Snake dich sehen. Auf diese Weise hättet ihr genug Zeit, um euch in Ruhe zu unterhalten.«
»Warum sollte ich mich mit ihm unterhalten wollen?« Nachdem er uns einfach im Stich gelassen hat. Ohne dass sie es aussprechen musste, schwang dieser Satz mit. Direkt nach Stevens Beerdigung … Himmel, Stevens Beerdigung. Ihr wurde noch immer ganz anders, wenn sie daran dachte. Jake hatte sich ins Alpha-Platoon versetzen lassen und war auf eine zweijährige Mission wohin auch immer verschwunden. Als er dann endlich in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war, hatte sie ihren Stolz heruntergeschluckt, ihren gesunden Menschenverstand ausgeschaltet und ihm einen Brief geschickt. Sie hatte ihn angefleht, zu ihnen zurückzukommen, ihm mitgeteilt, dass sie seine Familie seien, ihn liebten und brauchten, und was hatte er getan?
Komplett ignoriert hatte er sie und so getan, als würden sie und ihr Bruder, sein bester Freund, gar nicht existieren.
»Shell?« Frank legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie konnte nur hoffen, dass er nicht merkte, wie sehr sie zitterte. »Was ist zwischen euch beiden vorgefallen? Hat er dich etwa so behandelt wie all die anderen …«
»Nein«, unterbrach sie ihn schnell. Denn obwohl sie vor vier Jahren entschlossen gewesen war, zu einer weiteren Kerbe in Jakes Bettpfosten zu werden – und sie hatten in dieser Nacht im Clover so verdammt kurz davorgestanden –, sollte ihr Bruder auf keinen Fall glauben, dass sein bester Freund seine typische Austin-Powers-Show auch bei ihr abgezogen hatte, mit der er so gut wie jede Frau ins Bett bekam.
Wollen wir jetzt gleich oder lieber später vögeln?
Sehr zu ihrer Überraschung und auch Verärgerung hatte Jakes Sinn für Loyalität und Freundschaft und jegliche andere noble Emotion, die man sich denken konnte, an jenem Abend die Oberhand gewonnen.
»So war Jake zu mir nicht«, gab sie zu. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie sich gefragt hatte, was in ihrem Leben alles anders gelaufen wäre, wenn sie beide in jener Nacht das, was sie auf dieser Toilette begonnen hatten, tatsächlich beendet hätten.
»Gut.« Frank nickte entschlossen, und seine finstere Miene hellte sich wieder auf, als sein dämliches Grinsen zurückkehrte. »Dann gibt es also keinen Grund, warum du nicht mit zur Werkstatt kommen und ihn mit mir zusammen begrüßen kannst.«
Keinen Grund? Großer Gott …
Aber vielleicht war es ja besser so. Es hieß schließlich, dass man sich seinen Ängsten stellen sollte, um sie zu besiegen.
Sie schluckte schwer, schürzte die Lippen, rief dann Franklin zu sich, damit er seine Jacke anzog, während sie versuchte, nicht ohnmächtig auf dem Küchenboden zusammenzubrechen. Tapfer packte sie den restlichen Teig weg und ging zum Spülbecken, um sich die Hände zu waschen.
Die zitterten allerdings wie Kies auf einer unbefestigten Straße bei einem Erdbeben.
Hauptquartier von Black Knights Inc.
Goose Island, Chicago
»So, mon ami«, murmelte Rock mit seinem trägen Cajun-Dialekt, während die Brise den köstlichen Duft der Steaks herübertrug, die in der Nähe auf dem Grill brutzelten, und ihn mit dem leicht fischigen Geruch des Chicago River, der in der Nähe vorbeifloss, vermengte, »du hast gesagt, dass du wegen Shell hier bist?«
Ähm … ja. Das war das Erste gewesen, was er gesagt hatte, als er am Vorabend hier aufgetaucht war. Ich bin wegen Shell hier.
Himmel. Noch direkter hatte er es wohl kaum ausdrücken können.
»Genau das habe ich gesagt«, knurrte er betreten und rutschte auf dem in leuchtenden Farben lackierten Holzstuhl herum.
Rock grinste und das Weiß seiner Zähne bot einen Kontrast zu seinem dunklen Ziegenbart. Er beugte sich gespannt vor. »Dann erzähl mir doch mal, was für Eier ein Kerl haben muss, der zu seinem früheren kommandierenden Offizier marschiert und erklärt, er wolle dessen kleine Schwester gewissermaßen zu seinem Territorium erklären. So groß wie Texas? Oder eher wie Alaska?«
»Lass gut sein«, knurrte er und wich Rocks Blick aus, während er einen Schluck Bier trank und den Blick über den Hof der Motorradwerkstatt schweifen ließ, die die Fassade für Black Knights Inc. bildete.
Black Knights Inc. …
Sie hatten es tatsächlich getan.
All die Jahre hatten Rock, Boss und er darüber geredet, Pläne geschmiedet und davon geträumt, ein eigenes Unternehmen aufzubauen, das verdeckt für die Regierung arbeitete. Und sie hatten es wirklich durchgezogen.
Ohne ihn …
Er wusste nicht, ob er vor Stolz auf seine ehemaligen Teamkameraden aus dem Bravo-Platoon platzen oder zusammenbrechen und weinen sollte, weil er das alles verpasst hatte. Was er allerdings wusste, war, dass ihm auf der Fahrt von der Westküste nach Chicago übel vor Angst gewesen war, weil er nicht wusste, wie man ihn hier empfangen würde.
Aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Männer, die im Krieg nebeneinander gekämpft hatten, waren derart tief miteinander verbunden, dass weder Zeit noch Entfernung noch Familienbande dieser Verbindung etwas anhaben konnten.
Rock und Boss hatten ihn mit offenen Armen aufgenommen. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte sich Jake wieder, als wäre er zu Hause, als er Rocks vertrauten sardonischen Gesichtsausdruck sah.
Wenn zu der Heimkehr auch dieses Kribbeln gehörte, das er verspürte, während er auf Shell wartete, dann musste er wohl damit leben …
Denn sosehr er es auch versucht hatte – und er hatte sich die größte Mühe gegeben –, er hatte nie aufgehört, Shell zu lieben.
In jener Nacht im Clover hatte er nicht aufgehört, sie zu lieben, nachdem er sie fast an die Wand des Männerklos gedrückt hätte, um Sex mit ihr zu haben. Halb verrückt vor Angst hatte er sie dann in Preachers Arme gedrängt und dabei ihren verletzten und ungläubigen Blick gesehen. Er hatte auch an jenem regnerischen Tag nicht aufgehört, sie zu lieben, als sie ihm am Haupttor der Basis gestanden hatte, dass sie in Preacher verliebt war. Auch als ihn Preacher zwei Wochen später auf dem Weg zur Kantine beiseite genommen und ihm mitgeteilt hatte, dass Shell und er heiraten würden, hatte seine Liebe nicht aufgehört. Selbst an jenem Tag in den Bergen von Afghanistan, als er erfuhr, dass sie das Kind eines anderen Mannes bekommen würde, war seine Liebe zu ihr nicht versiegt. Wenn überhaupt, dann war seine Liebe immer nur noch größer geworden, bis sie kaum noch zu ertragen war.
Und jetzt musste sie jeden Moment durch diese Tür kommen. Es konnte nicht mehr lange dauern.
Er warf einen schnellen Blick zu der fraglichen Tür. Hatte sich der Türknauf gerade bewegt?
Nein. Das hatte er sich nur eingebildet. Meine Güte, er war wirklich kurz davor durchzudrehen.
»Und Shell?«, störte der Cajun seine Gedankengänge. »Was wird sie wohl davon halten, dass du wieder da bist?«
Das war die große Frage, nicht wahr?
Er zuckte die Achseln und starrte an Rocks rechtem Ohr vorbei, während ihm die Luft aus der Lunge gesaugt wurde, als hätte er gerade ein Vakuum betreten.
»Keine Ahnung, Bruder«, stieß er mühsam hervor und versuchte, den dringend benötigten Sauerstoff einzuatmen. Vergeblich. »Aber ich glaube, ich werde es gleich herausfinden.«
Warum sieht er immer noch so verdammt gut aus?
Das war Michelles erster Gedanke, als sie auf den Hof trat und Jake entdeckte. Er saß auf einem knallroten Holzstuhl und wirkte so lässig, als wäre er der sorgenfreieste Mann der Welt. Die Dreistigkeit seiner Pose nach … nun ja … nach allem, was passiert war, ging ihr gehörig gegen den Strich.
Da sie sich zum ersten Mal auf dieser Seite der großen Tore von Black Knights Inc. aufhielt, sollte sie sich eigentlich eher auf dem Gelände umsehen, ihrer großen Neugier nachgeben und all das, was ihr Bruder in den letzten dreieinhalb Jahren aufgebaut hatte, genau unter die Lupe nehmen.
Das tat sie ja auch … gewissermaßen.
Mit einem winzigen Teil ihres Gehirns registrierte sie das riesige, dreistöckige Fabrikgebäude mit den alten Ziegelmauern und den Bleiglasfenstern. Mit einem ausgesprochen flüchtigen Blick nahm sie die zahlreichen kleineren Gebäude wahr, die den ordentlichen Hof umgaben, der mit einem rot-weiß gestreiften Baldachin überdacht war. Mit einem unbedeutenden Teil ihres Verstandes registrierte sie die nicht entzündete Feuergrube, den gigantischen Grill aus rostfreiem Stahl, den Basketballkorb, der neben dem entlegensten Gebäude stand, und die seltsame Sammlung grell gestrichener Gartenmöbel.
All das konnte sie jedoch gerade mal mit etwa null Komma eins Prozent ihres Gehirns registrieren. Von dem Augenblick an, in dem sie den Hof betrat, ruhte ihr Blick auf Jakes unfassbar attraktivem Gesicht und seinem Körper, mit dem er problemlos für jede Anatomieklasse Modell stehen könnte, sodass die anderen neunundneunzig Komma neun Prozent ihres Gehirns mit einem ganz anderen Gedanken beschäftigt waren …
Warum, ach, warum nur muss dieser verdammte, nichtsnutzige Kerl immer noch so unglaublich gut aussehen?
Hätte das Universum nicht zur Abwechslung mal Mitleid mit ihr haben und den Wunderknaben glatzköpfig oder dick werden lassen können? Wieso hatte er nicht eine sehr schwere Form von Schuppenflechte oder seltsame Muskelzuckungen bekommen?
Ach, verdammt! Blödes Universum!
Aber wenn er wirklich ein merkwürdiges Leiden bekommen hätte, dann wäre sie dank ihres weichen Herzens dennoch schwach geworden.
Doch das durfte nicht passieren.
Oh nein. Das durfte sie auf gar keinen Fall zulassen.
Sie holte tief Luft und rief sich ins Gedächtnis, wie er sie die letzten vier Jahre behandelt hatte, wie er sich den anderen gegenüber verhalten hatte. Und auch wenn ihre Knie bei jedem Schritt nachzugeben drohten, ging sie weiter.
Am liebsten hätte sie sich in das nächstbeste Loch verkrochen und wäre erst wieder herausgekommen, wenn Jake wieder verschwunden war – und er würde verschwinden, denn das tat er immer. Da ihr diese Option jedoch nicht zur Verfügung stand, riss sie sich zusammen und sagte das Erstbeste, das ihr in den Sinn kam.
»All die Jahre haben offenbar keine positiven Auswirkungen auf deinen Kleidungsstil gehabt, Jake.« Ihre Stimme klang nicht so zittrig, wie sie sich fühlte, und dafür war sie sehr dankbar. Sie würde nie wieder einen Wackelpudding machen können, ohne daran denken zu müssen, wie sich ihr Innerstes in diesem Augenblick anfühlte. »Du trägst noch immer diese scheußlichen Hawaiihemden, als wolltest du für eine Rolle als der neue Magnum vorsprechen.«
Allerdings sah er mit seinem zerzausten, sonnengebleichten Haar und seinem dunklen Bartschatten eher ein bisschen aus wie Josh Holloway.
Verdammt.
Ja, sie hatte jede einzelne Folge von Lost nur aus dem Grund geguckt, weil sich die beiden Männer derart ähnlich sahen …
Mist, Mist, Mist!
»Magnum! Ha!« Rock brüllte vor Lachen und schlug sich auf ein Knie. »Der war gut, Shell!«
»Hm.« Jake rieb sich das Kinn, und seine wundervollen smaragdgrünen Augen funkelten amüsiert, während er auf sein Hemd hinunterblickte, das sie gerade derart kritisiert hatte. Zu dem lächerlichen Ding trug er eine zerschlissene Jeans und ausgetretene Flipflops aus Leder. Er würde vermutlich bis an sein Lebensende ein kalifornischer Surfer bleiben.
Und, Mann!, es stand ihm gut. Sie konnte sich gar nicht satt sehen …
»Ich glaube, ich habe noch nie zwei Worte gehört, die weniger gut zusammenpassen als Kleidung und Stil«, murmelte er und grinste. Oh Gott, jetzt sah sie auch seine Grübchen. »Und, Mann«, er musterte Rocks ausgeblichenes Green Day-T-Shirt, die löchrige Jeans und die uralten Krokodilleder-Cowboystiefel, »du solltest lieber die Klappe halten.«
»Okay«, gab Rock kichernd zu, »wir beide sind definitiv keine Georgio Armanis.«
»Darin sind wir uns einig«, entgegnete Jake und stieß mit Rock an. Fast mühelos schienen sie in ihre alten Verhaltensmuster zurückzufallen. Als wäre nie irgendetwas passiert. Als hätte er nie Shells Seele zerschmettert und sie alle im Stich gelassen.
Es war alles so vertraut und herzzerreißend, dass sich ihre Kehle zuschnürte, als hätte sie etwas von dem Reinigungsmittel getrunken, mit dem sie Franklins Töpfchen immer sauber machte. Dann konnte sie auf einmal gar nicht mehr atmen, als Jake ihr auf die für ihn typische flirtende Weise zuzwinkerte, bevor er den Kopf in den Nacken legte und von seinem Bier trank.
Sie nutzte die Zeit, in der er abgelenkt war, um zwei Dinge zu tun: Zuerst versuchte sie, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen und die dringend benötigte Luft einzuatmen, bevor sie noch ohnmächtig wurde. Danach nahm sie fast schon gierig seinen Anblick in sich auf.
In seinen Augenwinkeln zeichneten sich feine Linien ab, die vor vier Jahren noch nicht da gewesen waren, und er hatte eine kleine, halbmondförmige Narbe an der linken Schläfe. Trotzdem sah er noch immer so aus, als wäre er einer Werbeanzeige für teuren Rasierschaum oder Aftershave entsprungen.
Das war nicht fair! Erst recht nicht, als er den Kopf senkte und seinen Blick langsam an ihrem Körper hinabwandern ließ.
Unter seiner gründlichen Musterung wurde sie so rot, als hätte sie den Kopf in einen heißen Ofen gesteckt.
Jetzt bekam sie wieder Luft. Sie schnappte danach, als wäre sie kurz vor dem Ertrinken gewesen.
Hör gefälligst auf, mich anzustarren!, hätte sie am liebsten wie eine widerspenstige Fünfjährige gebrüllt. Denn obwohl sie vollere Brüste, breitere Hüften und einen leicht gerundeten Unterbauch hatte, der trotz Gymnastik und Yoga einfach nicht flacher wurde – die körperlichen Nachwirkungen der Schwangerschaft –, sah er sie auf dieselbe Weise an, wie er es früher getan hatte. Mit Zuneigung, Humor und einem süßen, brennenden Verlangen in den Augen.
Plötzlich fielen ihr all die Dinge wieder ein, von denen sie geglaubt hatte, sie hätte sie längst vergessen. Und sie stellte ihre Entscheidung infrage …
Nein. Sie hatte ihm mehr als genug Chancen gegeben, und er hatte sie doch immer wieder enttäuscht. Er war ein Schwerenöter und ein Streuner, wie es auch ihr eigener Dad gewesen war, und anstatt deswegen wütend zu sein und Gift und Galle zu spucken, wie er es verdient hatte und wie es jede intelligente Frau tun würde, schien sie nun lediglich noch Traurigkeit empfinden zu können.
Eine starke, überwältigende Traurigkeit …
»Du siehst schöner aus denn je, Shell«, murmelte er anerkennend. »Die Zeit ist offenbar spurlos an dir vorbeigegangen.«
Wie machte er das nur? Wie brachte er sie nur dazu, ihm zu glauben?
»Wann bist du zum letzten Mal beim Augenarzt gewesen?«, konterte sie und unterdrückte den Drang zu weinen, als sie neben Rock stehen blieb und dem Cajun einen schwesterlichen Kuss auf die Wange gab. Dann setzte sie sich auf den Stuhl, den ihr Frank heranzog.
Okay, Shell, das machst du gut. Wenn du dieses Wortgeplänkel weiterhin aufrechterhalten kannst, wird niemand merken, dass du im Inneren tausend Tode stirbst.
»Meine Augen sind sehr gut«, erklärte Jake und musterte demonstrativ ihre Beine in der engen Jeans, als sie sich setzte und die Beine überschlug.
Zumindest dieser Teil ihres Körpers sah wieder aus wie vor der Schwangerschaft. Sie war sehr stolz auf ihre schlanken Beine. Aber viel konnte er aufgrund ihrer alten Jeans eigentlich nicht erkennen.