9,99 €
Der Held, auf den wir alle gewartet haben
Seit Ethan "Ozzie" Sykes auf einer Auslandsmission ernsthaft verletzt wurde, muss er nun ein ödes Dasein im Hauptquartier der Black Knights Inc. fristen. Nichts wünscht er sich mehr, als endlich wieder selbst zur Tat zu schreiten. Doch weit gefehlt: Denn zu Ozzies großer Empörung soll er die Chicago Tribune-Reporterin Samantha Tate ablenken. Genau die Samantha Tate, die seit Jahren versucht, schmutzige Details über die Black Knights auszugraben. Aber je länger die beiden Zeit miteinander verbringen müssen, umso faszinierter ist der Special Agent von der Reporterin. Sie ist hübsch, hat Köpfchen, Humor - und schon bald muss Ozzie feststellen, dass es eigentlich Samantha ist, die ihn gewaltig von seiner Mission ablenkt ...
"Nervenkitzel garantiert von Anfang bis Ende!" Publishers Weekly
Band 9 der Black Knights Inc.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 547
JULIE ANN WALKER
Black Knights Inc.
Brennendes Geheimnis
Ins Deutsche übertragen von Michael Krug
Black Knights Inc.: Nach außen hin ein High-End-Motorradladen – in Wirklichkeit eine Elitespezialeinheit der Regierung, die für die riskantesten und geheimsten Einsätze gerufen wird …
Seit Ethan »Ozzie« Sykes auf einer Auslandsmission ernsthaft verletzt wurde, muss er nun ein ödes Dasein im Hauptquartier der Black Knights Inc. fristen. Nichts wünscht er sich mehr, als endlich wieder selbst zur Tat zu schreiten. Doch weit gefehlt: Denn zu Ozzies großer Empörung soll er die Chicago Tribune-Reporterin Samantha Tate ablenken. Genau die Samantha Tate, die seit Jahren versucht, schmutzige Details über die Black Knights auszugraben. Aber je länger die beiden Zeit miteinander verbringen müssen, umso faszinierter ist der Special Agent von der Reporterin. Sie ist hübsch, hat Köpfchen, Humor – und schon bald muss Ozzie feststellen, dass es eigentlich Samantha ist, die ihn gewaltig von seiner Mission ablenkt …
An alle BKI-Fans da draußen: Dieses Buch ist für euch.
Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter.
– Winston Churchill –
Red Delilah’s Bikerkneipe,
Chicago, Illinois
Aus dem Augenwinkel sah Samantha Tate, wie er sich bewegte.
Er stemmte sich von dem Tisch in der hinteren Ecke hoch, wo seine Freunde und Kollegen saßen. Sie beobachtete, wie er über den von Erdnussschalen übersäten Boden vorbei an den Billardtischen und durch ein Meer von weiblichen Bewunderern schlenderte. Ohne Scheiß, jedes Doppel-X-Chromosom in der Kneipe drehte sich um und glotzte ihm nach, als er vorbeiging.
Und einige XY-Chromosomen auch.
Samantha konnte niemandem einen Vorwurf daraus machen, dem bei seinem Anblick die Augen förmlich aus dem Kopf quollen. Der Mann besaß eines jener Gesichter, denen es gelang, zugleich schön und maskulin zu wirken. Kantige Kieferpartie, definierte Lippen und Augen so blau wie der Michigansee an einem windstillen Sommertag. Ergänzt wurde das Gesamtpaket um jungenhaftes, unbändiges blondes Haar, ein unterschwelliges Grinsen und die Art von lässigem Hüftschwung beim Gehen, die nur extrem fitte Typen glaubwürdig abziehen können. Ein Gesamtpaket, wie man es sonst nur auf der Kinoleinwand zu sehen bekam. Ein Gesamtpaket, das …
Oh nein, das hat er jetzt nicht wirklich grade gemacht.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fasste er nach unten und rückte seinen Schritt zurecht, als er an einem Tisch voller Studentinnen vorbeistolzierte. Samantha beobachtete, wie die jungen Frauen die Blicke auf die Ausbuchtung hinter dem Reißverschluss der abgetragenen Jeans hefteten, bevor sie alle verschämt zu kichern begannen. Als sich sein verhaltenes Lächeln zu einem vollwertigen Grinsen verbreiterte, erkannte Samantha, dass er die Aufmerksamkeit der Ladys absichtlich dorthin gelenkt hatte. Was für ein lüsterner Macho.
Samantha verdrehte die Augen und wandte sich wieder ihrem Drink zu. Dafür, dass ihr Martini aus einer Bikerkneipe mit raubeiniger Atmosphäre am Rand einer der grenzwertigeren Gegenden der Stadt stammte, schmeckte er überraschend gut. Die rothaarige Barkeeperin, der die Spelunke ihren Namen verdankte, hatte ihn extra kräftig und mit Olivenlake gemixt. Genau, wie Samantha ihn mochte.
Sie zog eine Olive von dem blauen Cocktail-Spieß in Schwertform und steckte sie sich in den Mund. Während sie kaute, achtete sie insbesondere darauf, jeden Blickkontakt mit dem bärtigen alten Biker am Ende der Theke zu vermeiden, der immerzu mit den buschigen Augenbrauen in ihre Richtung wackelte und sie mit tabakfleckigen Zähnen anlächelte. Zwischen dem Klirren von Gläsern und der Musik aus der Jukebox an der Eingangstür ertönten die knackenden Laute von aufeinanderprallenden Billardkugeln. In der Luft hing eine eigenartige Mischung von Gerüchen … salzige Erdnüsse, Abgase von Motorrädern und die Rückstände verschütteten Fusels aus mehreren Jahrzehnten. Jeansstoff und Leder beherrschten die Umgebung, so weit das Auge reichte.
All das nahm Samantha nur am Rande wahr. Denn auch, wenn sie den Mann nicht mehr direkt ansah, galt ihre Aufmerksamkeit weiter ihm, während er sich den Weg zur Theke bahnte. Wenn sie nur ein paar Minuten mit ihm allein ergattern könnte, würde es ihr vielleicht gelingen, ihm Antworten auf einige Fragen zu entlocken. Dann könnte sie den verdammten Artikel – Korrektur! Die verdammte Lobeshymne – schreiben, wozu sie von ihrem Redakteur verdonnert worden war.
»Die sind schon eine ganze Weile im Geschäft, und wir haben immer noch nichts über sie gebracht. Gib mir einfach zwei gute Absätze und ein, zwei Zitate von einem der Mitarbeiter«, hatte Charlie gesagt. »Ist ein Kinderspiel.«
Ja. Richtig. Es sollte ein Kinderspiel sein. Das Dumme war nur: Niemand von der auf Maßanfertigungen spezialisierten Motorradwerkstadt namens Black Knights Inc. hatte ihre Anrufe erwidert. Daher war sie gezwungen gewesen, zu tun, was jede Reporterin getan hätte, die etwas auf sich hielt. Sie war den Leuten zu ihrer Stammkneipe gefolgt und hatte sich verstohlen einen Barhocker gesichert, der ihr ungehinderte Sicht auf die Mannschaft bot, die sich Bierkrüge teilte und angeregt miteinander unterhielt.
Samantha hatte nicht lange gebraucht, um ihre Zielperson auszuwählen. Von all den muskelbepackten, raubeinigen Kerlen am hinteren Tisch wirkte Mr Filmstar mit Abstand am lebhaftesten. Außerdem schien er eine Schwäche für das weibliche Geschlecht zu haben, wenn man nach dem breiten Grinsen und den vielsagenden Blicken ging, die er auf alles mit Brüsten warf.
Gute Neuigkeiten!, dachte Samantha Ich hab’ welche!
Zugegeben, keine Grandiosen. Jedenfalls nicht annähernd so üppig wie der Vorbau der Barkeeperin. Aber zur Not würden sie reichen. Und nur, um sicherzugehen, öffnete sie die obersten zwei Knöpfe ihrer Bluse und bemühte sich, nicht zu würgen, als sich der angegraute Biker am anderen Ende der Theke über die Lippen leckte und anzüglich grinste.
»He, Delilah!«, rief Mr Filmstar der Barkeeperin über den Lärm hinweg zu und stützte einen in einer Lederjacke steckenden Arm auf die Theke. »Noch zwei Krüge für die Jungs hinten! Und ich nehme Wünsche für die Jukebox entgegen!«
Die Rothaarige warf ihm mit zusammengekniffenen Augen einen Blick zu und schob einen sauberen Krug unter einen Zapfhahn mit der Aufschrift Goose Island 312 – ein örtliches Gebräu. »Falls du auch nur irgendwas für mich übrig hast«, rief sie zurück, »verzichtest du auf Zeug aus den Achtzigern!«
»Ach, Delilah.« Mr Filmstar schüttelte gekränkt den Kopf. »Du weißt doch, ich liebe dich! Warum sonst sollte ich dich jedes Mal, wenn ich hier reinkomme, inständig bitten, mich zu heiraten?«
Die Äußerung ließ Samantha eine Braue hochziehen, doch der Ausdruck im Gesicht der Barkeeperin überzeugte sie davon, dass es sich bei diesen Heiratsanträgen bloß um heiße Luft handelte. Hätte ich mir denken können. Scheint mir der Typ dafür zu sein.
»Aber ich kann grade dem Lockruf einer guten Hair-Metal-Band nicht widerstehen!«, fügte Mr Filmstar hinzu. »Also hast du die Wahl zwischen Van Halen, Def Leppard, Quiet Riot …« Er zählte die Bands an den Fingern ab.
»Was bedeutet, deine Aufforderung, Wünsche zu deponieren, war bloß Verarsche!« Delilah schnaubte pikiert und reichte ihm zwei Krüge mit perfekt gezapftem Bier.
»Also erstens: Wie schon Twisted Sister singt: ›I wanna rock!‹« Mr Filmstar zwinkerte der Barkeeperin zu. »Und zweitens: Tu nicht so, als würdest du nicht voll drauf abfahren, wenn ich dich foppe!« Damit blies er ihr einen Kuss zu und trat den Rückweg zu seinem Tisch an.
Nachdem er die Krüge abgestellt hatte, steuerte er schnurstracks auf die Jukebox zu, hielt jedoch unterwegs kurz inne, um sich den Studentinnen zuzuwenden und etwas zu flüstern. Samantha beobachtete, wie die Wangen der jungen Frauen simultan erröteten, als ihre Münder aufklappten … ebenfalls simultan. Dann setzte Mr Filmstar mit einem wissenden Grinsen auf den Lippen den Weg zum Eingang der Kneipe fort. Die Blicke der Studentinnen folgten pflichtbewusst seinem Rücken – oder Hintern? –, und zwei fächelten sich doch tatsächlich mit den Händen Luft ins Gesicht.
Samantha gab sich der Versuchung hin, erneut die Augen zu verdrehen, als sie sich ihre Handtasche von dem Haken unter der Theke griff. Sie schlang sie sich über die Schulter und trank einen ausgiebigen Schluck von ihrem Martini. Komm schon, Gin, du herrliches Lebenselixier, lass mich jetzt nicht im Stich. Mit dem Gedanken hopste sie vom Hocker und trat ebenfalls den Weg zur Jukebox an.
»Hi!«, rief sie Mr Filmstar ohne Einleitung zu, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und betrachtete den Bildschirm der Jukebox, als wäre sie immens an seiner Songauswahl interessiert. Samantha öffnete den Mund, um dem so banalen Hi etwas Geistreicheres hinzuzufügen … allerdings blieben ihr die Worte im Hals stecken, als er sich zu ihr umdrehte.
Zum Gegenstand seiner vollen, ungeteilten Aufmerksamkeit zu werden, war … wow. Einfach nur wow.
Als er sie einer raschen Musterung unterzog und sein Blick kurz am kürzlich aufgeknöpften Dekolletee verharrte, wusste Samantha, dass sie sich eigentlich beleidigt fühlen sollte. Nur tat sie das nicht. Irgendwie wirkte die Art, wie er sie ansah, weder anstößig noch lüstern. Stattdessen eher schmeichelhaft, bewundernd, ganz so, wie ein Künstler sein Modell betrachtet. Als wüsste er den weiblichen Körper in all seinen verschiedenen Formen und Größen zu schätzen und wäre aufrichtig erfreut darüber, einfach dastehen und sich an dem Anblick ergötzen zu dürfen. Sich an ihrem Anblick ergötzen zu dürfen.
Dann lächelte er sie an.
Zu Samanthas totalem Grauen spürte sie, wie ihr Hitze in die Wangen schoss. Genau wie diesen albernen Studentinnen. Und als er sich näher zu ihr beugte, damit er nicht brüllen musste, als er mit einer tiefen, seidenweichen Stimme sagte »Na so was, hallöchen«, da hatte Samantha alle Mühe, sich nicht selbst Luft zuzufächeln. Auch genau wie diese albernen Gören. Auf einmal verstand sie all die Aufregung. »Hast du einen Wunsch?«
»Hä?«
»Irgendeinen bestimmten Song?« Er zog kess eine Braue hoch, als er sich aufrichtete, und seine blauen Augen drohten, Samantha einzusaugen.
Oh, um Himmels willen, Sammie. Hast du ja echt super hinbekommen. Bis jetzt hast du ein »Hi« und ein »Hä« herausgebracht. Es wird gleich jemand reingerannt kommen und deine Mensa-Karte zerreißen.
»Äh …« Sie ging die Hair-Metal-Bands durch, die sie kannte, stellte fest, dass man ihr geistiges Repertoire bestenfalls als dürftig bezeichnen konnte, und meinte schließlich: »Wie wär’s mit dem, der mit ›Come on, feel the noise!‹ beginnt?«
»Quiet Riot!« Mr Filmstar nickte und beäugte sie abwägend. Wahrscheinlich versuchte er zu entscheiden, ob es wirklich ihre Wahl war oder ob sie seine Unterhaltung mit der Barkeeperin belauscht hatte.
Als er sich abwandte und den Song am Display der Jukebox eingab, fiel Samantha auf, wie groß seine Handflächen aussahen und wie knorrig seine Knöchel und wie schwielig seine Finger waren. Die Hände eines Arbeiters. Was logisch erschien, zumal er diese Pranken benutzte, um krasse Motorräder zu bauen.
Und apropos …
Sie öffnete den Mund zu einer Überleitung für den Grund, aus dem sie eigentlich hergekommen war, doch wieder fehlten ihr die Worte. Denn er sah sie schon wieder an. Also, er sah sie so richtig an. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so … angesehen gefühlt. Es war beunruhigend.
»Ich bin Samantha Tate!« Sie streckte die Hand aus, weil sie irgendetwas tun musste, um sich von all dem Angesehen-werden abzulenken.
Oh-oh. Schwerer Fehler. Denn er schüttelte ihre Hand nicht bloß. Er verführte sie. Seine Handfläche erwies sich als warm und rau an der ihren, seine Finger drückten fest und zart zugleich zu. Als er ihre Hand langsam schüttelte, erinnerte sie die Bewegung eigenartig an zwei im leidenschaftlichen Liebesspiel ineinander verschlungene Körper.
»Ethan Sykes«, stellte er sich vor oder schnurrte es vielmehr wie eine Katze – eine große, warme, hochgradig gefährliche Katze. Wieder beugte er sich näher, um sich über den allgemeinen Lärm Gehör zu verschaffen. Sein Machogeruch – abgetragenes Leder, herbe Seife und sexy, sexy Pheromone – vermischte sich mit dem süßlichen Aroma des Hopfens in seinem Atem. »Aber alle nennen mich Ozzie.«
Ozzie …
Passte. Samantha war nicht sicher, warum. Vielleicht, weil er ein bisschen geheimnisvoll, ein bisschen gefährlich, ein bisschen Rock ’n’ Roll war.
Ohhhh, haben will!
Zu Samanthas Verdruss hatte sie eine totale Schwäche für Machos. Zumindest theoretisch. Sie wusste, dass man in der Realität mehr Ärger mit ihnen hatte, als sie wert waren. Aber um all das ging es nicht wirklich. Denn sie hatte generell keine Zeit für Kerle, ob Machos oder sonstige. Sie hatte eine Karriere voranzutreiben. Und der erste Schritt dazu bestand darin, die wilde Party ihrer Hormone in den Griff zu bekommen und sich auf Black Knights Inc. zu konzentrieren.
»Gehörst du zu …«, setzte sie an, verstummte jedoch abrupt, als sich einer von Ozzies Freunden zu ihnen gesellte.
Wenn Ozzie die perfekte Zielperson war, verkörperte der Neuankömmling das genaue Gegenteil der perfekten Zielperson. Zum einen war er riesig. Mit Armen, mit denen er mühelos jemanden zerquetschen könnte. Zum anderen sah er mit all den Narben im Gesicht aus, als hätte er sich für zehn Runden mit einem Häcksler in den Ring gestellt – und verloren. Definitiv nicht die Art von Antlitz, die zu Fragen einlud. Und zu guter Letzt hatte ihn Samantha in der ganzen Zeit, die sie die Gruppe beobachtet hatte, keinen einzigen Laut von sich geben gesehen.
Nur mühsam konnte sie sich ein mürrisches Brummeln wegen seines so ungelegenen Aufkreuzens verkneifen.
»He, Boss Man!«, rief Ozzie und klatschte dem Hulk eine Hand auf die Schulter. »Ich möchte dir Samantha Tate vorstellen. Die einen sauguten Musikgeschmack hat. Samantha, das ist Frank Knight. Aber alle nennen ihn Boss.«
»Hi!« Sie zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und streckte die Hand aus. Im Gegensatz zu Ozzies Händedruck erwies sich der von Frank Knight als nüchtern und knapp.
»Warum kommt mir der Name bekannt vor?«, fragte Boss über den dröhnenden Lärm von Quiet Riot, die verlangten, dass die Mädels ihre Jungs rocken sollten. Bevor Samantha etwas erwidern konnte, beantwortete er sich die Frage selbst. »Ach ja, richtig! Du bist die Anfängerreporterin von der Tribune, die eine Story über die Werkstatt schreiben will.«
Bei der Bezeichnung kam Samantha ein wenig die Galle hoch. Sie mochte erst vierundzwanzig sein, aber sie arbeitete bereits seit zwei Jahren bei der Zeitung, was bedeutete, dass sie ihre Anfängertage längst hinter sich hatte. Auch wenn man’s an den Aufträgen nicht merkt, die mir Charlie aufhalst. Es kostete Samantha einiges an Überwindung, doch es gelang ihr, breiter zu lächeln. »Schön zu wissen, dass mir mein Ruf vorauseilt.«
»Ist eher so, dass dir deine unablässigen Anrufe vorauseilen.« Franks Ton erwies sich als so fest und barsch, wie sich sein Händedruck angefühlt hatte.
Samanthas Augenlid zuckte, ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihr Temperament in die Gänge kam.
»Du bist Reporterin?«, fragte Ozzie.
All der natürliche, ungezwungene Charme verpuffte aus seinen Zügen. Auf einmal wirkte er, als wäre der Kerl, der hinter ihm saß, ein Proktologe, der entschieden hatte, ihm eine spontane Untersuchung angedeihen zu lassen.
»Ist das ein Problem?«, fragte sie neugierig. Plötzlich zuckte nicht mehr ihr Augenlid, sondern ihre Reporternase. Die eklatante Weigerung der Black Knights, auf ihre Anrufe zu reagieren, und Ozzies offensichtliche Abneigung gegen ihren Berufsstand ließen sie zusammengenommen eine Story wittern. Vielleicht sogar eine deftige?
Mann, ich hoffe es. Ich brauche echt einen Durchbruch, sonst nimmt mich Charlie nie ernst.
Bevor Ozzie antworten konnte, beugte sich Frank alias Boss zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nachdem sich Boss wieder aufgerichtet hatte, sagte Ozzie: »Tja, war toll, dich kennengelernt zu haben, Samantha Tate.«
Sie blinzelte ihn an und wirbelte herum, als ihr klarwurde, dass sich die Männer, die zuvor am hinteren Tisch gesessen hatten, mittlerweile hinter ihr scharten und gesammelt auf die Eingangstür zusteuerten. »Wartet kurz!«, rief Samantha. »Ihr geht schon?«
»Du weißt ja, wie man so schön sagt.« Ein Aufflackern jenes sexy Funkelns kehrte in Ozzies Augen zurück. »Die Arbeit ruft!« Lakonisch zuckte er mit den Schultern.
Was Samanthas Aufmerksamkeit auf zwei Dinge lenkte. Erstens: Unter der Motorradjacke trug er ein schwarzes T-Shirt mit einer Zeichnung des Raumschiffs Enterprise. Darunter standen die Worte Eigentum der Akademie der Sternenflotte. Also war der Mann doch nicht bloß ein verteufelt gutaussehender Biker mit einem sündhaften Lächeln und einem üblen Haarschnitt. Offensichtlich steckte in ihm auch ein kleiner Science-Fiction-Freak. Schön und intelligent. Samantha fand die Kombination unheimlich faszinierend. Zweitens: Sie war sich ziemlich sicher, einen flüchtigen Blick auf einen Lederriemen in der Nähe seines oberen Armbereichs erhascht zu haben. Vielleicht ein Schulterholster? Und das fand sie sogar noch faszinierender.
Als sie beobachtete, wie die Gruppe der Männer durch die Schwingtür des Eingangs trabte, rotierte in ihrem Kopf nur noch eine Frage. Wer zum Teufel sind diese Typen?
Auf die eine oder andere Weise würde sie es herausfinden …
Red Delilah’s Bikerkneipe
Sechs Jahre später …
»Ich weigere mich, eine weitere Nacht in diesem vermaledeiten Hühnerstall zu verbringen. Ich hab vor, mir eine willige Frau zu suchen, die mich aufnimmt wie einen Welpen in einem Gewitter.«
Ozzie trank einen maßvollen Schluck von seinem Bier und schaute mit hochgezogener Augenbraue zu Christian hinüber. »Hühnerstall, wie? Willst du damit sagen, wir hätten zu viel Pute und nicht genug Steak in der Werkstatt?«
Christian bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. Der Mann war Brite. Spöttische Blicke beherrschte er wie niemand sonst auf der Welt. »Apropos Steak«, fügte er hinzu. »Ich glaube, ich kann spüren, wie mein Schwanz in jeder Minute schrumpft, die ich dort bin. Was dort an Östrogenen in der Luft herumschwirrt, ist unerträglich.«
»Ihr zwei wisst schon, dass Barkeeper jedes verfickte Wort hören, oder?« Delilah polierte gerade ein Bierglas und brachte die beiden mit einem frostigen Blick zum Erstarren, kälter als jeder Winterwind in Chicago. Es war ungewöhnlich ruhig in der Bar, sogar die Jukebox war auf humane Lautstärke heruntergeregelt.
»He! Sieh nicht mich an.« Ozzie zeigte mit dem Daumen auf den Schuldigen. »Christian ist derjenige, der sich beschwert.«
Verstohlen fasste Ozzie unter den Rand der langen Mahagonitheke, um sich den malträtierten Oberschenkel zu massieren. Dann stellte er die Stiefelspitze auf die Fußleiste aus Messing und verlagerte auf dem Lederbarhocker das Gewicht, doch nichts verschaffte ihm Erleichterung. Er hatte die Schmerzmedikamente vor zehn Wochen abgesetzt, und seither kläffte ihn das verfluchte Bein unablässig an wie ein tollwütiger, räudiger Schrottplatzköter. Eine ständige Erinnerung an alles, was er verloren hatte und vielleicht nie zurückerlangen würde.
Aber Verlust bedeutete Leben, oder nicht? Das hatte er schon im zarten Alter von vier Jahren erfahren. Und dennoch, dieser Verlust drohte, ihn in die Knie zu zwingen. Von diesem Verlust würde er sich vielleicht nie vollständig erholen.
Scheiße, Kacke, Pisse und Dreck.
»Ach, was bist du doch für ein anständiger Bursche, Oz.« Delilahs Ton klang mehr als nur eine Spur herablassend. »Hier.« Sie schob eine Schüssel mit Brezeln vor ihn hin. »Dein Fresschen.«
Nun war er es, der sich an einem spöttischen Blick versuchte. Delilah wirkte unbeeindruckt. Sie stieg über ihren albernen gelben Labrador Retriever hinweg, der ausgestreckt hinter der Bar auf dem Boden lag, und widmete sich wieder dem Polieren von Gläsern.
Ozzie hob sein Bier an und trank einen weiteren Schluck. Die Bewegung wurde vom Spiegel an der hinteren Wand erfasst und erregte seine Aufmerksamkeit. Er musterte sich einen Augenblick. Ozzie erkannte den Mann nicht mehr wieder, der ihm entgegenstarrte. Den mit den noch struppigeren Haaren als sonst. Den, der sich den Wildwuchs im Gesicht zuletzt … wann gestutzt hatte? Vor einer Woche? Zwei? Den mit den Tränensäcken unter den Augen, den tiefen Furchen auf der Stirn und dem mürrischen Ausdruck. Den, der aussah … wie mein Vater.
Die beiden Wackersteine aus Selbstmitleid und Gewissensbissen, die er seit jener Mission in Malaysia – bei der er als einziges Opfer eine Reihe von Terroranschlägen mit Bomben überlebt hatte – in der Magengrube mit sich herumschleppte, spielten total verrückt und schwollen auf die dreifache Größe an. Das Selbstmitleid resultierte aus einem mit Sicherheit bleibenden Schaden an seinem Bein. Und die Gewissensbisse galten jenen Leuten, die sie verloren hatten und die wahrscheinlich gern beide Beine geopfert hätten, um heute noch atmen zu können. In Anbetracht dessen war er ein Penner, dass er auch nur einen Funken Selbstmitleid verspürte. Ozzie hasste sich für das, was aus ihm wurde – für das, zu wem er wurde. Nur wusste er nicht, wie er aus dieser Abwärtsspirale ausbrechen konnte.
Kopfschüttelnd zwang er sich, die Gedanken auf etwas zu konzentrieren, von dem er wusste, wie es ging. Nämlich darauf, Christian zu helfen, die Glückliche aufzuspüren, die sich vielleicht schon bald über ihre ganz persönliche britische Invasion freuen dürfte.
Nicht dass der ehemalige SAS-Offizier seine Hilfe brauchte. Mit dem Akzent, den Designerklamotten und dem aalglatten Auftreten verkörperte Christian einen wandelnden Magneten für die weiblichen Schnapsdrosseln in jeder beliebigen Bar. Dennoch benutzte Ozzie den Spiegel, um mögliche Kandidatinnen hinter ihnen in Augenschein zu nehmen.
Es war eine halbe Stunde nach acht Uhr an einem Mittwochabend, deshalb war die Auswahl karg. Bei den meisten Gästen handelte es sich um Kerle, die sich allein betranken, bevor sie nach Hause wanken, ins Bett fallen, ein paar Stunden ratzen und dann aufwachen würden, um den täglichen Trott von vorn zu beginnen. Ein paar wenige Pärchen saßen an den gewöhnlichen Tischen oder an den hohen mit den Barhockern, um sich zum Tagesausklang noch einen Schlummertrunk zu genehmigen. Und dann war da noch die Vierergruppe der Ladys, die Billard spielten. Ende zwanzig, aufgedonnert in Geschäftskleidung. Sie schienen die Antwort auf Christians Gebete zu sein. Abgesehen davon, dass sie johlten und brüllten, sich die High Heels von den Füßen traten und sich alle Mühe gaben, sich ins Koma zu saufen.
Mädelsabend.
Ozzie war schlau genug, bei so etwas lieber nicht zu stören.
»Sieht so aus, als hättest du kein Glück«, meinte er zu Christian, während er beobachtete, wie eine der Billardspielerinnen auf die Jukebox zuwankte. »Und schlimmer noch, die da sieht wie ein Taylor-Swift-Fan aus.«
Christian schaute über die Schulter zu der Frau, die betrunken auf das Display der Jukebox glotzte. »Wenn sie diesen Kack-Song ›Shake It Off‹ abspielt, erteile ich dir hiermit die Erlaubnis, meine Walther aus dem Holster zu ziehen und mir ins Gesicht zu schießen.«
»Hoffen wir mal, dass es dazu nicht kommt.«
Mit angespannten Schultern warteten sie, während die Jukebox lud, was die Frau ausgewählt hatte. »Shake It Off« ertönte.
»War ja klar. Vergiss das mit dem Ins-Gesicht-schießen«, verkündete Christian. »Ich hab’ ’ne bessere Idee. Besaufen wir uns ordentlich und rufen uns dann ein Taxi, das uns nach Hause bringt. Delilah, meine Liebe, bringst du uns zwei Wodka?«
»Ihr seid beide erbärmlich«, erklärte Delilah, nachdem sie den Wodka wuchtig vor ihnen abgestellt hatte. »Ist ja nicht so, als hätten sie einen von euch absichtlich zurückgelassen.«
Und mit sie meinte Delilah die Black Knights. Die erlesenste, geheimste Gruppe verdeckt arbeitender Agenten, die sich je dazu verpflichtet hat, die Drecksarbeit für Vater Staat zu erledigen. Ozzies Teamkameraden. Seine Freunde. Und im Augenblick befanden sich alle die halbe Erdkugel weit entfernt, um die Versorgungslinien des Islamischen Staats zu kappen und so die Defensiv- und Offensivmöglichkeiten der Terrorvereinigung zu schwächen.
Na ja, alle außer Zoelner. Der trieb sich irgendwo in Europa herum und half bei der Jagd auf einen geheimnisvollen Unterweltkönig namens Spider.
Aber das ist Jacke wie Hose. Denn ob es darum ging, ISIS oder zwielichtige internationale Gestalten zu bekämpfen, es lief alles auf denselben Nenner hinaus. Jeder Black Knight war im Einsatz, um die Welt zu einem sichereren Ort zu machen. Jeder Black Knight außer Ozzie und Christian. Und Christian würde schon bald zum nächsten Feldeinsatz aufbrechen. Seine Trommelfelle – gerissen, weil er unlängst bei einer Mission gezwungen gewesen war, ein 50er-Kaliber in einem beengten, geschlossenen Raum abzufeuern – waren größtenteils verheilt.
Und da waren sie wieder: Selbstmitleid und Gewissensbisse. Ozzie stürzte den Kurzen hinunter und begrüßte das Brennen des Alkohols. Er hoffte, er würde die dämlichen Wackersteine in seinem Magen auflösen.
»Ist überhaupt nicht so, dass wir uns selbst bemitleiden«, behauptete Christian, nachdem er seinen Drink geleert hatte. »Ist vielmehr so, dass wir Haie sind. Wenn wir aufhören zu schwimmen, sterben wir.«
»Ach, um des heiligen Fusels willen …« Delilahs Miene verriet keinerlei Mitgefühl. »Keiner von euch beiden muss was anderes als das tun, was ihr sowieso automatisch tut, und zwar gesund werden. Außerdem haben wir dich gern hier, Christian. Du braust verboten guten Tee.«
»Gott schütze die Königin.« Christian zwinkerte und prostete ihr mit seinem Bier zu.
Mit wir meinte Delilah die Ehefrauen und Lebensgefährtinnen der Knights – Delilah selbst gehörte zu Ersteren. Sämtliche Damen hatten sich neuerdings angewöhnt, sich abends im großen Lagerhaus zu versammeln, denn um Punkt 19:00 Uhr rief täglich einer der Jungs im Außeneinsatz mit einem verschlüsselten Satellitentelefon zu Hause an, um seiner eigenen besseren Hälfte kurz hallo zu sagen und die anderen besseren Hälften wissen zu lassen, dass es in Syrien allen gut ging. In den Minuten vor diesen Anrufen herrschte jeden Tag eine geradezu greifbare Anspannung in der Werkstatt. Nur ein Grund mehr, warum Christian und Ozzie mitten unter der Woche in einer Bar hockten. Nur ein paar Schlückchen, um die Nerven zu beruhigen.
Ozzie hob das Bier an, um das Brennen des Hochprozentigen hinunterzuspülen. Kaum hatte er das Glas zurück auf die Theke gestellt, schwang die Eingangstür auf, und ein Tasmanischer Teufel, auch bekannt als Starreporterin Samantha Tate, kam hereingefegt. Ihre rechte Schulter hing etwas unter dem Gewicht einer ihrer überdimensionierten Handtaschen, vollgestopft mit einer Unzahl von verschiedenstem Krempel, den sie ständig mit sich herumschleppte.
Christian warf einen Blick auf sie, wandte sich Ozzie zu und fing an, die Melodie von »Me and My Shadow« zu pfeifen.
Ozzie stupste ihn mit dem Ellbogen.
»Sieh dich vor, du Wichsfleck.« Christian täuschte an, in seine Jacke und nach der Walther zu greifen.
»Bitte. Du würdest mich nicht abknallen. Ich bin der Einzige, der mit dir zu Fadó’s geht, um Würstchen mit Kartoffelbrei zu essen.«
»Stimmt«, gestand ihm Christian zu. »Erinnere mich trotzdem noch mal, wieso du es für ein so gutes Ideechen hältst, dich mit einer Reporterin abzugeben, wärst du so nett? Mir will nämlich nicht einleuchten, wieso du wissentlich jemanden fickst, der deine Tarnung auffliegen lassen könnte. Hast du sie nicht mehr alle oder was?«
»Zunächst mal«, versicherte ihm Ozzie, »ficke ich sie nicht.« Obwohl ich jedes Mal, wenn ich sie sehe, schwer in Versuchung gerate.
»Na, das wär’ ja mal ganz was Neues«, kommentierte Christian.
»Und zweitens«, fuhr Ozzie fort, als hätte Christian nichts gesagt, »brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich behandle sie wie einen Pilz.«
»Wie bitte?«
»Ich lasse sie im Dunklen und füttere sie mit Scheiße.« Was mir allmählich echt zu schaffen macht. Ich hasse es, sie anzulügen, verdammt noch mal. Natürlich behielt Ozzie den letzten Teil für sich.
Christian verengte die Augen zu Schlitzen. »Den Spruch hast du doch aus einem Film geklaut.«
Ozzie heuchelte eine humorvolle Gutlaunigkeit, die er schon lange nicht mehr empfunden hatte. »Filmzitate und Songtexte, Kumpel. Die sind mein Brot und die Butter drauf. Außerdem kennst du bestimmt das alte Sprichwort.« Ozzie bemerkte den Moment, in dem ihn Samantha sichtete und sich in seine Richtung in Bewegung setzte. Die Frau hatte einen Gang, der ihn an weibliche Seeleute erinnerte. Durch ihre Hüften bewegten sich Matrosinnen grundsätzlich wie Frauen, aber durch ihre Marineausbildung lernten sie Bewegungseffizienz. So ließ sich Samantha Tate in einem Wort zusammenfassen. Effizient. Und wunderschön. Vergangenes Wochenende hatten sie sich im Lincoln Park zu einem Picknick auf dem Rasen getroffen. Das Sonnenlicht hatte scheckig durch die Blätter der Bäume geschienen und die Rot- und Goldtöne ihres lockigen, nerzbraunen Haars zur Geltung gebracht. Und die schlichte Lieblichkeit ihres Anblicks hatte Ozzie derart umgehauen, dass es ihm den Atem verschlagen hatte.
»Und welches alte Sprichwort soll das sein?«, hakte Christian nach.
»›Sei deinen Freunden nah, aber deinen Feinden noch näher.‹«
Wieder kniff Christian die Augen zusammen. »Soll ich dir etwa echt abkaufen, sie wäre dein Feind? Dann sind all diese Verabredungen zum Essen und zum Kaffee … was? Ablenkungsmanöver?«
So hatte es zwischen Samantha und Ozzie angefangen. Aber schnell war daraus … mehr geworden.
»Na schön, hast mich erwischt«, gestand Ozzie. »Ich mag sie. Die Frau verbrennt Worte so wie ein Illusionist Pyropapier – schnell und mit dem gewissen Showfaktor. Das stimuliert mein Gehirn.«
»Tja, irgendetwas stimuliert es bestimmt, da bin ich mir ganz sicher«, spöttelte Christian, der den Satz größtenteils flüsterte, weil sich Samantha näherte.
»Wie ich sehe, hast du heute Abend deinen Lover dabei, Ozzie.« Sie hopste auf den Barhocker neben ihm. Der zarte Puderduft ihrer Bodylotion wehte ihm entgegen, stieg ihm in die Nase und bescherte ihm eine Gänsehaut. Das geschah jedes verfluchte Mal, wenn sie ihm so nahe kam. Ozzie hatte die Regale bei Walgreens durchstöbert und an jeder Dose mit Körperbutter und Balsam geschnuppert, die dort verkauft wurde, weil er herausfinden wollte, welche Marke sie benutzte, damit er … was tun könnte? Sich damit einen runterholen? Bei Spocks Ohren, das war so was von erbärmlich. »Schön, dich wiederzusehen, Christian.« Samantha winkte dem Briten an Ozzie vorbei zu.
»Ach übrigens, Christian ist nicht schwul«, versicherte ihr Ozzie, ignorierte das rege Interesse seines Körpers an ihrer Nähe und konzentrierte sich stattdessen auf das unbeschwerte Schäkern, das sie sich angewöhnt hatte, von ihm zu erwarten. »Er ist bloß ein ziemlich hübscher Bengel. Aber bei all dem Zeug, das er sich in die Haare kleistert, und den maßgeschneiderten Klamotten kann ich den Irrtum gut verstehen.«
Christian grunzte.
Samantha nickte, schwenkte die Hand und ging nahtlos zum nächsten Thema über. »Tja, Leute, es ist offiziell. Die Zombieapokalypse ist ausgebrochen. Ich habe heute über eine Schießerei zwischen Polizisten berichtet, eine Karambolage von zehn Autos auf dem Kennedy Expressway, einen Salmonellenausbruch durch ein Restaurant, das wissentlich verdorbenes Sushi serviert hat, und eine Reihe von Einbrüchen, bei denen sich die Täter als Dreizehnjährige herausgestellt haben, die behaupten, verliebt zu sein« – an der Stelle verdrehte sie die Augen – »und die sich für eine moderne Version von Bonnie und Clyde halten.« Sie gab Delilah ein Zeichen. »Mach mir doch bitte eine deiner Spezialitäten, ja? Extra-steif mit drei Oliven.« Dann wandte sie sich wieder Ozzie und Christian zu. »Aber ihr zwei habt nichts zu befürchten. Zombies fressen Hirn, also kann euch nichts passieren.«
Da haben wir’s wieder. Verbales Pyropapier. Knister! Puff! Ohhhhh! Ozzie spürte, wie ein Lächeln – ein echtes Lächeln – seine Lippen verzog.
Christian schnaubte missbilligend. »Ich finde nicht, dass du mich gut genug kennst, um mein geistiges Vermögen zu beurteilen.«
»Mag schon sein. Nur kann es mit deiner Intelligenz nicht allzu weit her sein, wenn du dich bereitwillig mit dem da abgibst.« Samantha zeigte mit dem Daumen auf Ozzie. Das Funkeln in ihren dunklen Augen wirkte entschieden begierig.
»Heißt es nicht, wer im Glashaus sitzt, soll lieber nicht mit Steinen werfen?« Christian zog eine Braue hoch.
»Ach, du denkst, ich will Zeit mit dem Einstein-Frisurträger hier verbringen?« Samantha täuschte Ungläubigkeit vor. »Nein, nein. Er tut mir bloß leid. Ich meine, wem würde er nicht leidtun? Sieh ihn doch bloß an.«
Ozzie verzog das Gesicht und bedachte Samantha mit einer knappen Geste der Hand, bei der primär der Mittelfinger zum Einsatz gelangte.
»Gesprochen wie ein wahrer Gelehrter«, lobte sie ihn dafür sarkastisch.
Schallendes Gelächter brach aus ihm los. Und als sich Samantha zur Seite drehte, um Delilah für den Dirty Martini zu danken, nutzte er die Gelegenheit, um ihr Profil eingehend zu betrachten.
Samantha war wirklich wunderschön. Ihre braunen Augen leuchteten vor Intelligenz, und sie hatte eines dieser Gesichter, die einen magisch anzogen. Kein einzelnes Merkmal stach als unheimlich fesselnd oder einzigartig hervor, doch zusammengenommen ergaben ihre Züge ein verzauberndes Ganzes.
Und dann war da noch die Lücke zwischen ihren beiden Vorderzähnen. Sie war klein. Nur ein schmaler Abstand. Aber die winzige Spalte entsprach so total und wunderbar ihr.
Samantha setzte das Martiniglas an den Lippen an und genehmigte sich einen gewaltigen Schluck, schlürfte den Gin und den Olivensud, als wäre es der Nektar der Götter. Als sie das Glas senkte, wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund und ließ ein elegantes, feminin klingendes Rülpsen vernehmen. »Ich Frau. Muss man trinken hören.«
Ozzie entschlüpfte erneut ein herzhaftes Gelächter, und ihm schoss durch den Kopf: Gott, das fühlt sich so gut an. Sonst musste er sich neuerdings zu seiner Heiterkeit zwingen. Aber in Samanthas Gegenwart fühlte er sich … mehr wie sein altes Ich.
Dann dämmerte es ihm. Samantha Tate, die Frau, die er und der Rest der Black Knights jahrelang gemieden hatten, die Frau, die er wahrscheinlich immer noch meiden sollte, hatte sich irgendwie in sein Leben, unter seine Haut geschlängelt und war dabei zu … einer Freundin geworden.
Wer hätte das gedacht?
***
Wie konnte es sein, dass sie einen totalen Soziopathen nicht nur mochte, sondern ihn sogar begehrte – einen verlogenen, Waffen vertickenden Mistkerl?
Das hebt den Hang zu schlimmen Fingern auf eine völlig neue Stufe, findest du nicht?
Das Problem war: Der Ozzie, den sie mittlerweile besser kennengelernt hatte, schien ihr kein schlimmer Finger zu sein. Tatsächlich war sie zu der Überzeugung gelangt, dass alles, was sie über BKI vermutet hatte, völlig falsch sein könnte. Nachdem ihr die Black Knights jahrelang ausgewichen waren, hatte man sie vor ein paar Monaten endlich zu einem Besuch der Werkstatt eingeladen. Ozzie hatte den Rundgangführer gemimt, und es war ihm gelungen, sie davon zu überzeugen, dass die schroffen Männer von BKI nichts Schändliches verbargen und es sich bei der großen Anlage mit ihren verschiedenen Nebengebäuden und der riesigen Fabrikhalle um genau das handelte, was sie angeblich waren: eine erstklassige Motorradschmiede für Sonderanfertigungen mit einem elitären Kundenstamm von Motorradenthusiasten, die nicht bloß ein Transportmittel, sondern rollende Kunstwerke haben wollten. Ozzie hatte Samantha mit seinem Lächeln, seinem rasiermesserscharfen Verstand und seinem schrägen Faible für alles, was mit Star Trek und den 1980ern zu tun hatte, für sich eingenommen.
Ihre Gedanken kehrten zu einem bestimmten Tag vor rund sechs Wochen zurück. Der Winter hatte endlich den eisigen Griff um die Stadt gelockert, und die ersten echten Versprechen des Frühlings hingen in der Luft. Ozzie rief sie bei der Arbeit an, meinte zu ihr, es wäre ein perfekter Tag für einen Motorradausflug, und bettelte sie förmlich an, ihn zu einer Spritztour zu begleiten. Kaum hatte sie die letzte Zeile ihrer Aufträge für den Tag getippt, rannte sie auch schon zur Eingangstür des Tribune Tower hinaus, wo sie ihn auf seiner großen, violetten und grünen, umgebauten Harley am Randstein wartend vorfand.
Die Maschine glich einem Wunderwerk aus Chrom, Stahl und launischer Lackierung, der Mann selbst einem Wunderwerk aus Muskelmaske, Stärke und schlagfertigen, lustigen Witzeleien.
Stundenlang fuhren sie den Lake Shore Drive entlang und beobachteten, wie die Sonne die sanften Wellen auf dem Michigansee in poliertes Gold verwandelte. Und da war sie ihm verfallen. Nur ein bisschen. Weil man mit ihm so unbeschwert und locker reden konnte. Weil man in seiner Gegenwart solchen Spaß haben konnte. Und nicht zuletzt wegen der schlichten Freude, mit der seine Gegenwart ihr Herz erfüllte.
Aber das ist alles eine Lüge!
Eine große, fette, stinkende Lüge. Und Samantha wusste nicht, ob sie vor Enttäuschung schreien oder ihm die wunderschönen, verbrecherischen Augen aus dem wunderschönen, verbrecherischen Kopf kratzen sollte. Den Schein zu wahren und so zu tun, als wäre zuvor nichts geschehen – als wüsste sie nicht, wie die Wahrheit aussah –, verlangte ihr alles ab, was sie hatte.
Unter der Theke schlotterten ihr die Knie. Der Gin, der sie sonst immer mit einem warmen, heimeligen Gefühl durchströmte, fühlte sich sauer in ihrem Magen an. Und eingebrannt in die Innenseite der Lider sah sie jedes Mal, wenn sie blinzelte, den Ausdruck verängstigter Aufrichtigkeit in Marcels Augen, als er ihr erzählt hatte, von wem die Black Apostles, Chicagos berüchtigtste South-Side-Gang, ihre Waffen kauften.
Bleib cool, Sammie, wies sie sich an.
Ja, klar. Leichter gesagt, als getan, wenn man neben zwei Waffenschiebern saß. Aber wenn sie hoffen wollte, Black Knights Inc. auffliegen zu lassen und die Beweise zu beschaffen, die sie brauchte, damit die Rechtsabteilung den Segen zu dem investigativen Artikel gäbe, den sie schreiben würde, dann musste sie den momentanen Zustand aufrechterhalten. Und damit Ozzie keinen Verdacht schöpfte, musste sie weiterhin so tun, als wüsste sie nicht, was er in Wirklichkeit war.
»Äh, Hallo, Ozzie«, lallte eine kesse Blondine in Hose und körperbetonter, weinroter Bluse, als sie sich an Ozzie heranmachte wie ein Cheerleader an einen Quarterback. Irgendwie gelang es ihr, sich zwischen Samantha und das verlogene Arschloch zu zwängen. So würde Samantha ihn von nun an nennen. Nicht mehr Ozzie, sondern verlogenes Arschloch. Verlogenes kriminelles Arschloch. »Meine Freundin da drüben meinte, ich soll rüberkommen und mich dir vorstellen.«
»Oh, äh …« Ozzie stockte und blickte über den Spiegel zu den Frauen am Billardtisch. »Hi. Welche Freundin ist …«
»Die Rothaarige, Gloria. Sie war brünett, als ihr zwei was hattet.« Die Blondine versuchte, mit den Wimpern zu klimpern, doch der Alkohol in ihrem Blut ließ es weniger sexy und vielmehr so wirken, als verklebe ihr Kleister ein Auge. »Übrigens, ich bin Janie. Und Gloria hat auch gemeint, ich soll dir sagen, ich habe eine echt enge …« Sie sah sich um, dann beugte sie sich dicht zu Ozzie, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern.
Obwohl er ein verlogenes kriminelles Arschloch war, spürte Samantha, wie Eifersucht in ihren Eingeweiden blubberte, grün und schwer und insgesamt total eklig.
Aber nicht wegen diesem Ozzie, versicherte sie sich. Wegen dem Ozzie, für den ich ihn vorher gehalten habe.
Der gekünstelte Ozzie war großartig. Der gekünstelte Ozzie war mit dem Gesicht wie ein Löwe bemalt durch den Lincoln Park Zoo gelaufen, weil sie davor an der Kinderbetreuungsstation vorbeigekommen waren und Samantha ihn damit aufgezogen hatte, er würde sich nicht trauen, sich anpinseln zu lassen. Der gekünstelte Ozzie hatte am Morgen ihres Geburtstags einen singenden Stripper in ihre Wohnung bestellt. Als der »UPS-Fahrer« begann, sein Hemd auszuziehen, dabei seine beste Paul-McCartney-Interpretation darbot und ihr den Song »Birthday« von den Beatles als Ständchen brachte, hatte Samantha so ausgelassen wie noch nie zuvor im Leben gelacht.
Der gekünstelte Ozzie hatte ihr Hühnersuppe, die gesamte DVD-Sammlung von Orange Is the New Black und zwei Flaschen Wick gebracht, als sie mit einer fiesen Erkältung das Bett gehütet hatte. Er hatte an die Tür geklopft und die Sachen davor zurückgelassen, versehen mit einer Karte mit aufgedrucktem Raumschiff Enterprise. In die Karte hatte er mit seiner ausdrucksstarken Handschrift geschrieben: Werd’ bald wieder gesund und … lebe lang und in Frieden.
Ja, der gekünstelte Ozzie war ein hinreißender, herrlich schräger, wundervoller Mann. Jammerschade, dass der gekünstelte Ozzie von vorn bis hinten unecht war.
Das Lachen, das er sich abrang, als die Blondine mit einem blutroten Fingernagel über seine Kieferpartie fuhr, bevor sie zurück zu ihren Freundinnen wankte, klang gezwungen und heiser. Wenn sich Samantha nicht irrte, stieg ihm eine leichte Röte in die Wangen, als er den Blick auf sein Bierglas heftete und sich weigerte, sie im Spiegel anzusehen.
»Heilige Scheiße.« Christians Gesichtsausdruck glich dem Inbegriff von Ungläubigkeit. »Hast du so was wie einen magischen Pimmel?«
»Ich …« Ozzies stockender Beginn wurde von einem misstönenden Klingelton unterbrochen, der aus Samanthas Handtasche ertönte.
Vom Gong gerettet. Samantha fühlte sich wie ein Wrack, total fertig, und das Letzte, worüber sie reden, woran sie denken wollte, war Ozzies Penis. Sein verlogener, krimineller – wahrscheinlich großer und wunderschöner – Penis.
Sie kramte in ihrer Handtasche herum, grub sich an einem Snickers-Riegel, einer Dose Cola Light und all den verschiedenen Notizbüchern, Kugelschreibern, Bleistiften und sonstigem diversem Kram vorbei. Aber ihr Handy erwies sich als unauffindbar. Also blieb ihr keine andere Möglichkeit. Sie drehte die Handtasche um und leerte den gesamten Inhalt auf die Theke.
Samantha konnte fühlen, wie die Männer neben ihr die Augenbrauen hochzogen, als sie letztlich ihr Telefon aufspürte. Ozzie ergriff mit nachdenklicher Miene einen Tampon von dem Haufen. Wahrscheinlich gekünstelt nachdenklich. Sie schlug ihn ihm aus der Hand. Gleichzeitig spähte sie auf das Display des Handys und stellte fest, dass sie eine SMS von Donny Danielson erhalten hatte, ihrem besten Freund und Mentor. Zugleich der Mann, den es auszustechen galt, um ihren Namen als Verfasserin auf die Titelseite zu bekommen.
Samantha hielt die Tasche unter die Theke, öffnete sie weit und wischte mit dem Arm alles außer dem Handy zurück hinein.
»Das ist alles unerlässlich fürs tägliche Leben«, versicherte sie Christian und wahrte den Schein, als er sich um Ozzies Rücken herumbeugte, um blinzelnd ihren Krempel zu betrachten. Sie gab ihren Sicherheitscode ein, rief ihre SMS ab und spürte, wie ihr Herz schlagartig zu einem Eisblock gefror.
Ist das nicht einer von deinen?, stand in der Mitteilung, gefolgt von einem Tatortfoto von Marcel Monroe, der irgendwo in einer verdreckten Gasse lag, die dunklen Augen starr und blicklos zu beiden Seiten eines grausigen, nass aussehenden Einschlusslochs. Unwillkürlich schaltete ihre Erinnerung zurück zu den Tatortfotos von der Ermordung ihres Vaters. Und der durch ihren Magen schwappende Gin drohte, die Richtung umzukehren.
Blankes Grauen umklammerte sie mit spitzen Krallen und brachte sie heftig zum Zittern. Sie musste wohl irgendeinen Laut von sich gegeben haben, denn Ozzie fragte: »Ist alles in Ordnung?«
Als sich Samantha in seine Richtung drehte, wirbelten ihr tausend Gedanken durch den Kopf. War Marcel zum Opfer des Lebensstils eines Mitglieds der Black Apostles geworden, ausgeschaltet von einer rivalisierenden Gang? Oder hatte jemand herausgefunden, dass er heute mit ihr geredet hatte, und beschlossen, ihn zu beseitigen, bevor er ihr noch mehr Informationen liefern konnte? Könnte dieser Jemand einer der Black Knights gewesen sein? Könnte es … Ozzie gewesen sein?
Sie suchte in Ozzies Augen nach der Wahrheit, erinnerte sich jedoch daran, dass er in Wirklichkeit nicht der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Er war ein verlogenes kriminelles Arschloch. An ihm gab es rein gar nichts Wahres.
»Ich … äh …« Samantha musste schlucken. Sie klang, als hätte sie die Stimmbänder mit Sandpapier poliert, und ihr Herz hämmerte wie eine Bleifaust gegen die Rippen. »Ich muss aufs Klo.«
Und schleunigst hier raus.
Denn wer immer Marcel getötet hatte, würde nicht zögern, auch sie umzubringen. Hatte Ozzie ihr deshalb eine Nachricht mit der Aufforderung geschickt, ihn hier auf einen Drink zu treffen? Weil er vorhatte, sie nach hinten draußen zu locken und ihr eine Kugel zwischen dieAugen zu verpassen?
Ein Teil von Samantha – der Teil, der ursprünglich auf seinen ganzen Quatsch hereingefallen war – wollte es nicht glauben. Jenen Teil hätte es zu sehr geschmerzt, es zu glauben. Aber der Rest von ihr brüllte ihr innerlich ein einziges Wort zu: Lauf!
Volles Situationsbewusstsein …
Damit beschrieben Navy SEALs die Fähigkeit eines Elitesoldaten, sich auf tausend Dinge gleichzeitig zu konzentrieren und schnell Schlüsse darüber zu ziehen, wer oder was in der Umgebung ein potenzielles Problem darstellt. Soweit es Ozzie abschätzen konnte, barg seine momentane Umgebung drei potenzielle Probleme.
Das erste war Janie. Die Frau schien sich für einen weiteren Anlauf bei ihm zu wappnen. Er sah es in ihrem Blick, der besagte: Komm her und pack mich, Großer. Und was in Dreiteufelsnahmen dachte sich Gloria eigentlich? Dass er irgendein Spielzeug war, das man nach Belieben herumreichen konnte? Gut, er verdiente einen Arschtritt dafür, dass er sie nicht auf Anhieb erkannt hatte. Aber zu seiner Verteidigung: Sie hatten nur ein einziges Mal Sex gehabt. Und davon abgesehen, dass sie damals brünett gewesen war, hatte sie außerdem um die zehn Kilo mehr auf den Rippen gehabt. Und nur, um es festzuhalten: Sie war diejenige gewesen, die ihn nie zurückgerufen hatte.
Was so ziemlich der Geschichte meines Lebens entspricht, dachte Ozzie, dicht gefolgt von: Verdammt noch mal, verpiss dich, Selbstmitleid!
Sein zweites Problem war Samantha. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Zuerst war es ihm nicht aufgefallen, dann jedoch hatte er die unterdrückte Schärfe in ihrer Stimme und das leichte Beben ihrer Lippen bemerkt. Die beiden subtilen Anzeichen hatten sich exponentiell verstärkt, nachdem sie diese SMS gelesen hatte. Nicht gut. Wenn es darum ging, Ärger aufzuspüren, glich die Frau einem verdammten Trüffelschwein, und der Gedanke an ihren hübschen Hals auf jemandes Hackblock ließ Wut tief in seinem Bauch brodeln und Angst wie eine Giftspinne über seinen Rücken kriechen.
Und dann war da noch problemo número tres in Form des großen, stämmigen Bikers, der sich gerade den Weg in die Bar gerempelt hatte. Er trug die Aufmachung des Basilisk MC, eines der Hardcore-Motorradklubs von Chicago, und der Ausdruck in seinem Gesicht verriet, dass er nicht zum Trinken hergekommen war. Der Mann suchte jemanden. Obwohl man seine Augen zwischen dem zottigen Haaransatz und dem dunklen, auf seinen Wangen wuchernden Bart kaum erkennen konnte, schien sich sein Blick auf Samanthas Rücken zu heften, als sie den langen Flur hinunter in Richtung der Toiletten verschwand, was den Eindruck erweckte, er hätte seine Beute gefunden.
Ozzies Herzschlag beschleunigte sich jäh, ein Gefühl so vertraut wie das Atmen selbst. Das Blut, das durch die verletzten Muskeln seines Oberschenkels strömte, brachte sie zum Zucken, und die damit einhergehenden Schmerzen fühlten sich inzwischen auch so vertraut wie das Atmen an. Er versuchte, sich daran aufzubauen. Schmerz bedeutete Leben. Er sollte dankbar dafür sein, noch zu leben. Er war dankbar dafür, noch zu leben. Auch wenn sein Leben auf nichts mehr hinauszulaufen schien, was er ursprünglich geplant oder gehofft hatte.
»Aufgepasst«, murmelte er unauffällig.
»Ich sehe ihn.« Christian trank gemächlich einen Schluck von seinem Bier, als sie beide beobachteten, wie der Biker die gewöhnlichen Tische umging, bevor er an dem Hochtisch stehen blieb, der sich dem Beginn des Gangs am nächsten befand.
»Schwer zu sagen, was er unter seiner Kluft haben könnte«, merkte Ozzie an. Kluft diente den Bikern als Begriff für die Jacken mit den Farben und Abzeichen ihrer jeweiligen Klubs. Dabei verrieten die Farben und Abzeichen dem Kreis der Eingeweihten nicht nur, welchem Motorradklub jemand angehörte, sondern auch, welche Stellung er innerhalb des Klubs einnahm und welche Dinge er für den Klub bereits getan hatte. Laut den Abzeichen handelte es sich bei diesem Kerl um einen Zeremonienmeister und Vollstrecker der Basilisks, und er hatte für seinen Klub schon getötet. Mehr als einmal.
Himmel, Arsch und Wolkenbruch …
»Nach der Größe der Ausbuchung zu urteilen«, mutmaßte Christian, dessen Akzent vor Adrenalin stärker wurde, als er unscheinbar die Absätze von der Fußstange aus Messing löste und sich dafür wappnete, sich schnell in Bewegung zu setzen, »würde ich meinen, es ist entweder eine kleine Handfeuerwaffe oder ein verflixt großes Messer.«
»Braut sich da Ärger zusammen?«, erkundigte sich Delilah in leisem Ton, nachdem sie zu ihnen herübergekommen war, und tat dabei so, als wische sie die Theke ab. »Ist das erste Mal, dass ich einen der Basilisks in meiner Kneipe habe.«
»Hast du da hinten noch diese abgesägte Schrotflinte?«, fragte Ozzie. Zu den zahlreichen Dingen, die sie alle an Delilah schätzten, gehörte die Waffe mit dem nachträglich verkürzten Lauf, die sie bekanntermaßen hinter der Theke verwahrte.
Ein verhaltenes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ohne das gute Stück würde ich nie das Haus verlassen.«
»Gut«, meinte er zu ihr. »Falls hier die Hölle losbricht, will ich, dass du dir das Höllending schnappst und dich hinter die Theke duckst.«
»Aber …«, setzte sie an, doch Christian fiel ihr prompt ins Wort.
»Ruhig jetzt. Fresse halten. Da kommt Samantha.« Wenn Christian richtig in Fahrt kam, mischte sich in sein hochgestochenes London-Englisch ein wenig Gossenslang.
Aber Samantha kam gar nicht. Oh nein. Vielmehr rannte sie weg. Sie stürmte durch die Tür hinaus, die zur Gasse hinter dem Gebäude führte, als stünde die Kneipe lichterloh in Flammen.
Ozzies hämmerndes Herz schlug ihm bis in die Kehle, als der Vollstrecker der Basilisks von seinem Hocker am Hochtisch glitt und hinter ihr herpreschte. Im Laufen fasste er hinten an seinen Hosenbund, um die dort verwahrte Waffe zu ziehen. Die Reaktionszeit bei Männern in Ozzies und Christians Branche war berufsbedingt schneller als die Geschwindigkeit eines Gedankens. Den Bruchteil einer Sekunde später waren sie bereits mit gezückten Waffen von ihren eigenen Hockern aufgesprungen und rasten quer durch den Gastraum.
Samantha!
Ozzie war sich nicht sicher, ob er den Namen laut rief oder ob ihn bloß seine Seele voll Grauen schrie.
»Halt!«, brüllte er, als er durch die Hintertür pflügte und den Lauf seiner Beretta 92FS entlang auf den breiten Rücken des Basilisk-Bikers zielte. Der Kerl hielt ein zwanzig Zentimeter langes Jagdmesser in der Hand und war dabei, den Abstand zu Samantha zu verringern.
»Stehen bleiben, sage ich!«, brüllte Ozzie erneut, rannte die dunkle Gasse hinunter und wich einem großen, blauen Müllcontainer aus, der dem überwältigenden Gestank nach dringend von der Müllabfuhr geleert werden musste.
Das Pochen seiner Füße auf dem schmutzigen Asphalt jagte wie tausend Dolche stechende Schmerzen durch seinen verletzten Oberschenkel. Die Qualen breiteten sich sein Rückgrat hinauf aus und fuhren ihm brutal in die Schädelbasis.
Weder der Biker noch Samantha warfen einen Blick zurück, was Ozzie bewog, seine Absichten kristallklar zum Ausdruck zu bringen. »Weg mit dem Messer, Arschloch! Oder ich jag’ dir eine Kugel in den Hinterkopf und pisse anschließend auf deinen Kadaver!«
Das wirkte. Der Biker kam schlitternd zum Stehen und streckte langsam die Hände in die Luft. Ozzie blies erleichtert die Luft aus, als es Samantha zum Ende der Gasse schaffte und um die Ecke entkam.
Auf was zum Teufel hast du dich diesmal wieder eingelassen, Samantha?
»War der Teil mit dem Pissen auf seinen Kadaver wirklich nötig?«, fragte Christian, als sie die Schritte verlangsamten und auf den Basilisk zustopften.
»Ich bin kein Verfechter verbaler Zurückhaltung.« Ozzie ging um den Biker herum, damit er einen anständigen Blick auf das Gesicht des Mannes werfen konnte. Und um den Mann umgekehrt einen anständigen Blick auf das tödliche Ende seiner Beretta werfen zu lassen, damit das Arschloch nichts Krummes versuchen würde.
Das Licht der Straßenlaternen auf dem Parkplatz drang in die Gasse und erhellte die behaarte Visage des Basilisk-Mitglieds. Ozzie konnte förmlich sehen, wie sich die Worte in den schwarzen Knopfaugen des Kerls bildeten, bevor er sie laut zischte. »Wer zum Henker seid ihr?« Seine Stimmbänder klangen, als wären sie jahrelang mit Bourbon mariniert worden.
»Freunde der Lady«, antwortete Ozzie. Die schweren Atemgeräusche des Bikers hallten durch die Gasse. Seine üppige Mitte verriet, dass er Milchshakes und Käsefritten nicht abgeneigt zu sein schien, und wahrscheinlich lag es Jahre zurück, seit er zuletzt mehr als forsche Schritte zustande gebracht hatte.
Als der Basilisk lächelte, enthüllte er Vorderzähne, die allesamt aus Gold bestanden, fleckig von Kautabakrückständen. Den Kerl als hässlich zu bezeichnen, wäre eine Beleidigung des Worts gewesen. Er war ultra-hässlich. »Ach, ich wollt’ ihr doch nichts tun«, behauptete die Kinderschreckfresse und fügte ein Zwinkern hinzu, das Ozzies Blut zum Kochen brachte.
Sein Finger zuckte am Abzug. An dem Tag, an dem man ihm sein SEAL-Abzeichen an die Brust geheftet hatte, war Töten zu einem Teil seines Lebens geworden. Allerdings bestand ein gewaltiger Unterschied dazwischen, Dschihadisten in den hintersten Winkeln Afghanistans auszuschalten und einen fetten Biker in einer Seitengasse in Chicago um die Ecke zu bringen. Zwischen zusammengebissenen Zähnen presste er hervor: »Lass das Messer fallen.«
»Und wieso sollt’ ich das tun?«
»Weil du sonst nicht mehr geradeaus sehen oder pissen kannst, wenn wir mit dir fertig sind.«
»Große Worte.«
Ozzie schwenkte die Beretta hin und her. »Mit einer großen Knarre dahinter. Also weg jetzt mit dem Messer.«
»Ihr knallt mich nicht ab«, verkündete Kinderschreckfresse. Sein Grinsen wurde breiter und legte Backenzähne frei, die nicht vor Gold, sondern vor erbärmlicher Dentalhygiene gelblich schimmerten. Allein bei dem Anblick fühlte sich Ozzie dreckiger als der Boden eines Taxis.
»Jetzt pass mal auf, Faulmaul.« Allmählich neigte sich Ozzies Geduld dem Ende zu. »Ich gebe mir hier alle Mühe, höflich zu sein, aber ich muss dich warnen: Das ist nicht gerade meine Stärke.«
»Leck mich.«
»Oh, jetzt hast du’s aber echt geschafft.« Ozzie schüttelte den Kopf. »Damit bist du von meiner Weihnachtsliste gestrichen. Jetzt hast du noch ungefähr zwei Sekunden, um meiner freundlichen Aufforderung nachzukommen, bevor ich dich auf eine andere meiner Listen setze. Sie heißt: Arschgeigen, denen ich in den Wanst geschossen habe.«
Der Biker musterte Ozzie ungefähr zwei Sekunden lang. Dann löste er die Finger um den Griff des Messers. Das Licht fing sich in der Klinge und brachte sie zum Funkeln, als sie sich überschlagend zu Boden fiel und mit dem Griff voraus auf dem Asphalt zu seinen Füßen landete.
»So«, sagte Kinderschreckfresse. »Jetzt zufrieden?«
Die Richtung stimmt. »Versteckst du sonst noch Waffen?«
»Nur meinen Schwanz.« Der Kerl spuckte einen riesigen Pfropfen Tabaksaft auf den Boden neben Ozzies Stiefel. Ein visuelles Leck mich.
»Bist ’n Komiker, was?«, fragte Ozzie.
Da sich Samantha mittlerweile in Sicherheit befand und der Adrenalinpegel sank, wurde ihm bewusst, dass er schwitzte. In Chicago schlug der Juni in der Regel in eine von zwei Richtungen aus. Entweder klammerte sich der Frühling um die Zeit noch mit verbissenem Griff fest und sorgte für anhaltend milde Temperaturen. Oder der Sommer fegte über die Stadt und überzog sie mit Gluthitze. Dieses Jahr traf Ersteres zu, doch da in der Gasse kein Lüftchen wehte, drang die Kühle der Nacht kaum durch die Isolierung seiner Motorradjacke. Was er hingegen in der Luft spürte, war ein … erwartungsvolles Knistern, als braue sich in der Ferne ein Gewitter zusammen.
Ein Schweißtropfen perlte von seiner Schläfe zu seinem Kinn. Ozzie wischte ihn sich gerade mit der freien Hand weg, als ihm ein Laut vom Parkplatz schlagartig das Blut in den Adern gefrieren ließ und sein Genick mit einer Gänsehaut überzog. Es war ein schriller Schrei nackter Angst. Und er kam von Samantha.
»Pass auf ihn auf!«, brüllte Ozzie, wandte sich ab und stürmte ohne einen Blick zurück zum Ende der Gasse los.
***
»Komm schon! Komm schon!«, rief Samantha, während sie auf den Knien neben ihrem klassischen 1976er Ford Mustang Cobra nach dem Schlüsselbund suchte, der ihr vor lauter Hast, das eigene Leben zu retten, aus den zittrigen Fingern gefallen war.
Das Auto hatte ihrem Vater gehört, eines der wenigen Dinge, die sie noch von ihm hatte. Und normalerweise liebte sie es, von der kobaltblauen Lackierung mit den weißen Rennstreifen bis hin zur manuellen Viergangschaltung. Aber im Augenblick hätte sie alles für ein brandneues Fahrzeug mit schlüssellosem Zugangssystem gegeben.
Ihr Herz raste unkontrollierbar. Die dünne Schweißschicht, die ihre Haut benetzte, strotzte vor dem Geruch von Angst. Und ihre Kopfhaut brannte, als hätte sich eine Kolonie von Feuerameisen auf ihrem Schädel angesiedelt.
Er will mich umbringen!
Sie konnte nicht glauben, dass er sie wirklich und wahrhaftig umbringen wollte. Allerdings ließen seine Worte keine Zweifel offen. Ihre Brust schmerzte. Sie fragte sich, ob es das Gefühl ihres brechenden Herzens war.
Kaum war ihr der Gedanke gekommen, zerstampfte sie ihn. Bei dem Schmerz hinter ihrem Brustbein handelte es sich bestimmt bloß um Sodbrennen, ausgelöst von dem Dirty Martini und dem Umstand, dass der Mann, den sie für ihren Freund gehalten hatte – und bei dem sie gehofft hatte, er könnte sogar mehr werden –, offenbar versuchte, sie den Haien zum Fraß vorzuwerfen.
»Hab’ ich dich!«, stieß sie heiser hervor, als sie sich die Schlüssel schnappte, die hinter das Vorderrad gekullert waren. Samantha richtete sich auf, dann wirbelte sie herum wie ein Kreisel, als sie Ozzie ihren Namen rufen hörte.
Der Taser, den sie in den Toiletten der Kneipe aus der Handtasche geholt hatte, befand sich in ihrer Rechten. Die Schlüssel hielt sie in der Linken. Und vor ihr tauchte der umwerfendste, verräterischste Mann auf, dem sie je begegnet war.
»Alles in Ordnung?«, besaß er die Unverfrorenheit, sie zu fragen, als er auf sie zugelaufen kam. Seine Schritte wirkten wegen des verletzten Beins ein wenig ungleichmäßig. Er hatte ihr erzählt, er hätte einen Unfall mit dem Motorrad gehabt. Mittlerweile jedoch fragte sich Samantha, ob die Verletzung an seinem Oberschenkel nicht von etwas weit Düstererem herrührte.
Sie richtete den Elektroschocker auf ihn, wodurch ihr die Handtasche von der Schulter rutschte und am Ellbogen baumelte. In Gedanken verfluchte sie sich dafür, so viel Krempel mit sich herumzuschleppen. Laut schrie sie ihm entgegen: »Bleib sofort stehen, Ozzie! Komm keinen Schritt näher!«
Abrupt hielt er an und legte den Kopf schief. »Samantha? Was ist denn, Schatz? Warum bist du …«
»Schnauze!«, brüllte sie. Ihr Arm zitterte vor Anstrengung, als sie den Taser auf seine Brust gerichtet hielt, während die gefühlten zig Kilo ihrer Handtasche am Ellbogen in die entgegengesetzte Richtung zogen.
Schatz? Schatz? Er hatte noch nie zuvor einen Kosenamen für sie benutzt, und jetzt packte er einen aus? Sie versuchte, die Diskrepanz zwischen seinem Mund, aus dem Honig troff, und seinem Herzen zu verarbeiten, das schwarz wie ein Pikass war. Es gelang ihr nicht.
Wie konntest du nur?, wollte sie ihn anschreien. Die Worte brannten ihr scharf und bitter auf der Zunge, aber Samantha hielt sie zurück.
Wie er vor ihr stand, erinnerte sie an die Gelegenheit, bei der er sie zu einem Konzert im Millennium Park ausgeführt hatte. Sie hatte zu den Klängen der Bluesband enthemmt abgetanzt, er hatte danebengestanden und sie beobachtet, die Hände in den Jackentaschen, ein strahlendes Funkeln in den blauen Augen, ein sexy Grinsen auf den Lippen.
Im Moment grinste er nicht. Aber seine Augen funkelten definitiv im Schein der Straßenlaternen.
»Samantha, ich …«
Mehr hörte sie nicht. Mehr gelang ihm nicht, zu sagen. Denn er setzte dazu an, die Hände zu heben, und Samanthas Blick heftete sich auf das mattierte Schwarz seiner Pistole. In den vergangenen Monaten hatte sie sich eingeredet, sie hätte sich den flüchtigen Blick auf das Schulterholster in der Nacht, in der sie ihm zum ersten Mal begegnet war, bloß eingebildet. Seither hatte sie nämlich keine Spur mehr davon bemerkt. Natürlich war ihr mittlerweile klar, dass die Motorradjacke, die er ständig trug, für das Wort verdeckt in der Phrase verdecktes Tragen einer Handfeuerwaffe zuständig war.
Samantha zögerte nicht.
Sie drückte den Abzug des Tasers, feuerte die an Drähten befestigten Widerhaken ab und ließ Ozzie fünfzigtausend Volt spüren.
***
In seinen dreißig Lebensjahren war Ozzie von einem Baseballschläger am Hinterkopf getroffen worden, man hatte ihm in den Bauch geschossen, und sein Bein wäre ihm um ein Haar vom Körper gesprengt worden. Aber von einem Elektroschocker getroffen zu werden, hatte ein ganz eigenes Flair von Elend zu bieten.
Während er auf dem Boden zappelte, seine Muskeln spastisch zuckten und sich sein Hirn anfühlte, als würde es im Schädel frittiert, nahm er am Rande den Klang von Samanthas Muscle-Car wahr, dessen Motor röhrend zum Leben erwachte. Dann spürte er Schotterkörner, die auf ihn spritzten, als sie mit ausbrechendem Heck vom Parkplatz raste.
Als sich die Zuckungen legten, fand er sich auf dem Rücken wieder und starrte zu den wenigen Sternen hoch, denen es gelang, das ständige Licht der Stadt zu überstrahlen. Er hatte es nicht so mit Vorstellungen vom Himmel oder einem Leben nach dem Tod, dennoch ging ihm einen flüchtigen Moment lang die Frage durch den Kopf, ob womöglich gerade seine Mutter auf ihn herabblickte. Ozzie hoffte nicht. Denn das Gefühl, das er im Augenblick hatte, ähnelte dem nach einer heftigen Runde Erbrechen … erschüttert, schwach und unheimlich froh darüber, dass es vorbei war.
»Ist die Hose voll?« Christians Stimme schien aus weiter Ferne zu ihm zu dringen. Aber als Ozzie das Kinn hob, stellte er fest, dass sein Teamkamerad unmittelbar vor seinen Füßen stand.
»Ich hoffe nicht«, erwiderte er. Dann wurde ihm klar, dass sich Kinderschreckfresse nicht bei Christian befand, und sein Herz beschleunigte schneller als Raumschiff Enterprise auf Warp neun. Er sah sich um. »Was zum Geier ist aus dem Biker geworden?«
»Der Lutscher hat sich ungefähr zwei Sekunden nach dir vom Acker gemacht. Und ich konnte einem Unbewaffneten nicht einfach in den Rücken schießen.«
Wenigstens ist ihm Samantha durch die Lappen gegangen, dachte Ozzie. Erleichterung schwappte über ihm zusammen, als er den Kopf zurück auf den Schotter sinken ließ. »Er war nicht unbewaffnet. Er hatte doch noch seinen Schwanz, schon vergessen?«
»Freut mich zu sehen, dass Samantha nicht deinen Sinn für Humor verschmort hat, Ozzie, alter Knabe.« Christian kauerte sich neben seine Schulter. »Und ich nehme zurück, was ich darüber gesagt habe, dass ihr beiden keine Feinde seid. Der Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie den Abzug gedrückt hat, war entschieden enthusiastisch.«
Ozzie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Sein Gehirn war völlig durcheinander. Der einzige Gedanke, der sich einigermaßen klar durchsetzen konnte, war: Ich kann nicht fassen, dass sie mich getasert hat! Und darauf folgte ziemlich schnell: Wieso zum Teufel hat sie mich getasert?
Bevor er ausgiebiger darüber nachdenken konnte, kam Delilah mit wildem Blick durch den Eingang der Kneipe herausgestürmt und schnaubte mit geblähten Nasenflügeln wie ein aufgescheuchtes Pferd. In einer Hand hielt sie die abgesägte Schrotflinte, mit der anderen umklammerte sie Fidos Halsband. Der Hund, der die Aufregung seines Frauchens spürte, hatte die Lippen zu einem Knurren zurückgezogen. Da es sich um einen schlappohrigen, gefährlich zu Molligkeit neigenden Labrador mit sanften Augen handelte, empfand Ozzie den Anblick als ziemlich komisch. Als würde ein Kaninchen versuchen, krass hart rüberzukommen.