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Selbst ein Ex-Navy SEAL kann sein Herz nicht immer schützen
Der Ex-Navy SEAL Bran Palladino ist attraktiv, mutig, stark und hat eigentlich keine Probleme, bei Frauen zu landen. Aber bei Maddy Powers hilft ihm seine Fähigkeit, in gefährlichen Situationen einen kühlen Kopf zu behalten, nicht weiter. Seit er geholfen hat, sie aus der Gewalt von Terroristen zu befreien, kann er die toughe junge Frau einfach nicht vergessen. Und Maddy scheint es ähnlich zu gehen, immerhin stehen sie seit ihrer Rettung in häufigem E-Mail Kontakt. Die Versuchung sie wiederzusehen ist groß, doch Bran weiß, dass Maddy ihn verlassen wird, wenn sie sein größtes Geheimnis erfahren würde. Um ihnen beiden diesen Schmerz zu ersparen, hält er sie auf Abstand. Doch dann wird Maddy gekidnappt und nur Bran kann sie retten ...
"Wer aktionreiche Abenteuer und heiße Alpha-Männer liebt, wird von diesem Buch begeistert sein." Romantic-Times-Book-Reviews
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Seitenzahl: 504
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Zitat
Prolog
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Epilog
Anmerkungen der Autorin
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Julie Ann Walker bei LYX
Impressum
JULIE ANN WALKER
Deep Six
Gefahr der Entscheidung
Roman
Ins Deutsche übertragen von Michael Krug
Selbst ein Ex-Navy SEAL kann sein Herz nicht immer schützen
Der Ex-Navy SEAL Bran Palladino ist attraktiv, mutig, stark und hat eigentlich keine Probleme, bei Frauen zu landen. Aber bei Maddy Powers hilft ihm seine Fähigkeit, in gefährlichen Situationen einen kühlen Kopf zu behalten, nicht weiter. Seit er geholfen hat, sie aus der Gewalt von Terroristen zu befreien, kann er die toughe junge Frau einfach nicht vergessen. Und Maddy scheint es ähnlich zu gehen, immerhin stehen sie seit ihrer Rettung in häufigem E-Mail-Kontakt. Die Versuchung sie wiederzusehen ist groß, doch Bran weiß, dass Maddy ihn verlassen wird, wenn sie sein größtes Geheimnis erfahren würde. Um ihnen beiden diesen Schmerz zu ersparen, hält er sie auf Abstand. Doch dann wird Maddy gekidnappt und nur Bran kann sie retten …
Für meine Eltern, Ian und Yvonne …
Von Robin Cook bis Louis L’Amour, von Nora Roberts bis Stephen King, unsere Bücherregale waren immer randvoll mit faszinierenden Geschichten, mit denen ich Reisen ins Reich der Herzen und Abenteuer im Kopf unternehmen konnte. Das hat mein Leben auf die erdenklich beste Weise geprägt. Danke, dass ihr so begeisterte Leser seid und mir die Liebe zum Lesen anerzogen habt. Das hier ist für euch!
Hat das Meer erst seinen Zauber gewirkt, hält es einen für immer in seinem Netz der Wunder gefangen.
Jacques Cousteau
Blut!
Der stumme Ruf hallte in seinem Kopf wider, während Schweiß sein Rückgrat hinabkroch wie eine Schlange entlang einer Ranke. Seine angeknackste Rippe klagte über jeden gepressten Atemzug. Die Luft strotzte vor Feuchtigkeit und dem widerlich süßen Aroma abgefallener, in der sengenden Hitze der Sonne verrottender Vegetation. Und sein Herz …
Sein Herz schrie nach dem Blut seiner Feinde.
Bartolome Vargas, der höchstdekorierte Kapitän zur See von König Philip von Spanien, tastete instinktiv nach dem Kurzschwert, das er in einer Scheide am Gürtel trug. Arglist krabbelte durch seine Adern wie ein lebendiges Wesen. Aber seine suchenden Finger fanden keine Klinge, nur trockenes, knarrendes Leder. Vor zwei Wochen war sein zuverlässiges Entermesser von derselben gefräßigen See verschlungen worden, der auch seine geliebte Galeone zum Opfer gefallen war.
Vielleicht besser so.
Wenn er die drei Engländer angreifen würde, die ans Ufer gerudert waren, würde er sich und die verbliebenen fünfunddreißig Mitglieder seiner Besatzung entlarven. Er würde preisgeben, dass diese kleine, verlassene Insel die Geheimnisse beherbergte, was aus der mächtigen Santa Cristina und dem gewaltigen Schatz geworden war, den sie in ihrem großen Bauch befördert hatte.
Bartolome kauerte knapp innerhalb der Grenze der Silberpalmen, Balsamäpfel und Mangroven. Er löste den Blick von den Eindringlingen und wandte die Aufmerksamkeit deren Schiff zu. Die Brigantine, an der munter die britische Flagge wehte, schaukelte knapp außerhalb des Riffs, das die Insel vor den schlimmsten Verwüstungen des Sturms geschützt hatte. Die Segel waren eingeholt, die zwei Masten ragten in den wolkenlosen Himmel. Ohne dass es die schändlichen englischen Mistkerle an Bord wussten, ankerte das Schiff nur ein kurzes Stück von den gesunkenen Überresten der Santa Cristina entfernt.
Die Nähe brachte Bartolomes Haut dermaßen zum Kribbeln, dass er unwillkürlich an sich hinabblickte und sich vergewisserte, dass keine Sandflöhe auf ihm krabbelten. Dann kapitulierte der Baum, den die drei Engländer als Ersatz für ihre gebrochene Rah fällten, vor ihren Sägen. Der Stamm gab ein gequältes Knirschen von sich. Rasch richtete Bartolome die Aufmerksamkeit wieder auf die Szene am Rand des Strands. Die hohe, gerade gewachsene Mangrove hatte der Gewalt des Sturms standgehalten, doch gegen den brutalen Willen von Menschen hatte sie keine Chance. Sie stürzte in den Sand. Blätter stoben auf und wurden vom heißen Wind wie Treibgut in alle Richtungen verweht.
»Hol mich der Teufel«, fluchte einer der Engländer und wischte sich mit einer Hand die verschwitzte Stirn ab. »Ich muss verdammt dringend pissen, aber dabei fühlt sich mein Schwanz jedes Mal an, als stünd’ er in Flammen.«
»Ha!«, polterte ein anderer und fügte ein grölendes, derbes Lachen hinzu. »Ich hab dir ja gesagt, du sollst die Finger von der rothaarigen Hure auf Tortola lassen. Hab dich davor gewarnt, dass sie verseucht ist.«
Der erste Mann grinste, schüttelte den Kopf und hob die Hände, als wolle er zum Ausdruck bringen, die Freuden der Dame wären den Preis wert, den er nun dafür bezahlte, sie genossen zu haben. Dann ging er auf die Baumlinie zu, direkt in die Richtung von Bartolomes Versteck.
Hinter Bartolome raschelte ein Blatt. Langsam drehte er den Kopf und bewegte leicht das Kinn hin und her, als Rosario, sein Fähnrich zur See, dazu ansetzte, hinter dem Gebüsch hervorzutreten, das ihn verbarg.
Ruhig, vermittelte Bartolome nur mit den Augen in Rosarios Richtung. Er schwenkte den Blick durch das dichte Unterholz des Waldes, sicherte sich die Aufmerksamkeit so vieler seiner verbliebenen Männer, wie er inmitten des Grüns sichten konnte. Jeden bedachte er mit demselben Blick: Haltet euch zurück, Männer.
Dann wandte er die Aufmerksamkeit wieder dem nahenden Feind zu. Trotz der Hitze bekam er Gänsehaut, als der Engländer neben einem Baum anhielt, der nur die Breite einer Landungsbrücke von dem entfernt wuchs, hinter dem sich Bartolome versteckte.
Nah. Zu verdammt nah.
Auf Bartolomes Zunge entfaltete sich der metallische Geschmack von Angst. Schweiß lief ihm von der Stirn in die Augen, brachte sie zum Brennen, doch er wagte nicht, ihn wegzuwischen. Er wagte nicht, sich zu rühren. Wagte nicht, zu atmen.
Der Kieljauche saufende Engländer stützte sich mit einer Hand am Stamm ab, während er mit der anderen die Schnüre seiner Hose löste. »Als ich Ausguckdienst hatte, hab ich sieben weitere Freibeuterschiffe gesichtet, die in diesen Gewässern nach der vermaledeiten spanischen Galeone suchen!«, rief er über die Schulter zu seinen Kameraden, die gerade die Äste von dem gefällten Baum sägten.
Bartolome hatte Englisch schon immer als abscheuliche Sprache empfunden. So harsch. So abgehackt. Aber ein Wort empfand er als noch schlimmer als den Rest.
Freibeuter.
Das war eine hochtrabende Bezeichnung für Piraten. Blutrünstige, nach Schätzen gierende Barbaren, die ihre Diebstähle und Morde hinter ihren Kaperbriefen versteckten, Dokumenten, mit denen ihnen ihre Regierung rechtlich gestattete, feindliche Schiffe anzugreifen, die fremden Seeleute zu versklaven und zu plündern, was immer sie an Beute fanden.
Und sie sind auf der Jagd nach uns.
»Dabei liegt der Kahn längst im nassen Grab am Meeresgrund!«, fuhr der Engländer fort und grunzte, als er die letzten Tropfen widerlicher Pisse von seinem verseuchten Schwanz abschüttelte. »Sonst wär sie inzwischen gefunden worden! Wir sollten Neugranada ansteuern! Ich hab gehört, dass es dort leichte Beute gibt!«
»Willst du derjenige sein, der’s dem Käpt’ vorschlägt, du dummer Hund?«, gab der mit dem grölenden Lachen zurück und schüttelte den Kopf.
Der zum Pinkeln ausgetretene Engländer murmelte etwas bei sich, bevor er sich abwandte, um zu seinen Gefährten am Rand des Strands zurückzukehren. Als er sich ein gutes Stück entfernt hatte, blies Bartolome langsam und stockend die Luft aus. Er beobachtete, wie die drei Männer die Äste zu Ende von dem Baumstamm entfernten, bevor sie ihn über den Sand zu ihrem Skiff schleppten. Dabei ging sein Verstand die ganze Zeit rasend die kümmerlichen Möglichkeiten durch, die ihm noch zur Verfügung standen.
Er hatte gehofft, König Philip würde Schiffe aus Havanna herschicken, um nach der Santa Cristina und ihrer verschwundenen Besatzung zu suchen. Jeden Tag der vergangenen zwei Wochen hatte er das Meer durch die Vergrößerungslinse seines Fernglases abgesucht und sich sehnsüchtig gewünscht, ein Schiff mit der spanischen Flagge zu sichten. Aber es war keines aufgetaucht. Nun wusste er auch, warum.
Englische Piraten tummeln sich in diesen Breiten wie ein Heuschreckenschwarm.
Beim Gedanken daran, was Spaniens Feinde mit dem gewaltigen Schatz des Schiffes anstellen könnten, drehte sich Bartolome der leere Magen um, als hätte er gerade verdorbenen Grog hinuntergestürzt. Dann spürte er Rosario an seiner Seite. Der Fähnrich zur See deutete mit dem Kinn in Richtung der englischen Seeleute, die gerade durch die Lagune ruderten. »Was haben die gesagt, Käpt’n?«, wollte Rosario wissen.
Als Bartolome ihm antwortete, wurden Rosarios Augen groß. »Eine Rettung ist immer noch möglich«, behauptete der Fähnrich zur See dennoch. »Wir müssen einfach Geduld haben und versteckt bleiben.«
»Ich weiß.«
»Aber schon bald kommen die Sommerstürme über uns. Die Winde werden über diese Insel hinwegfegen und das Meer um sie herum aufwirbeln, den Schatz verteilen und eine Bergung unmöglich machen.«
»Auch das weiß ich.« Beklommenheit nistete sich schwer in Bartolomes Magengrube ein.
Rosario legte ihm eine Hand auf den Unterarm. »Was sollen wir dann tun, Käpt’n?«
Bartolome schluckte. Die ihm bevorstehende Aufgabe erschien ihm entmutigend. Aber wenn ihn zwanzig Jahre auf See etwas gelehrt hatten, dann dass mit Entschlossenheit, harter Arbeit und der Hilfe Gottes alles möglich war. »Wir müssen einen Weg finden, den Schatz selbst zu bergen«, sagte er und spannte entschlossen die Kiefermuskulatur an. »Und dann vergraben wir ihn.«
Brando »Bran« Pallidino blinzelte und las die E-Mail in seinem Posteingang zum dritten Mal.
Hi, Bran!
Diesen Donnerstagabend betreue ich die drei Stipendiaten, von denen ich dir erzählt habe, bei einem Camping- und Schnorchelausflug auf die Dry Tortugas. Der Park liegt doch ganz in der Nähe von Wayfarer Island, oder? Irgendeine Chance, dass du rübersegeln könntest? Die Studenten würden zu gern etwas von deiner Suche nach der Santa Cristina hören. Und ich würde dich zu gern sehen!
Maddy
Wegen des heftigen Sturms, der am Wochenende über die Floridastraße gefegt war und die Satellitenschüssel vom Dach des klapprigen, zweigeschossigen Inselhauses geweht hatte, konnte Bran zum ersten Mal seit fast fünf Tagen seine E-Mails abrufen. Was bedeutete, dass Donnerstag heute war. Und Maddy Powers, die Frau, die er vor drei Monaten bei einer Mission kennengelernt hatte, bei der er nie hätte sein sollen – die Frau, die seither am Tag seine Gedanken und nachts seine Träume beherrschte –, befand sich nur fünfzehn Seemeilen entfernt.
So nah …
Die Erinnerung an den Kuss, den er sich gestohlen hatte, bevor er von der Jacht ihres Vaters über Bord gesprungen war, blitzte in seinem Hirn auf. Weiche Lippen. Süßer Atem. Eine begierige Zunge, die seine berührt hatte, bis …
Oh, he! Klopfte sein Herz etwa gerade einen Rhythmus zum Takt eines Freudenfeuerwerks? War da ein Klingeln in seinen Ohren? Schwoll der Idiot in seiner Hose bei der Erinnerung an? Zu seiner Bestürzung lautete die Antwort auf sämtliche Fragen: Ja!
Schon komisch, dass er cool wie ein Eisblock bleiben konnte, wenn er einen M4-Karabiner in der Dunkelheit unter schwerem Beschuss zusammensetzen musste. Aber geriet er in Steinwurfweite eines bestimmten Tornados von einer zierlichen Blondine aus Texas mit einem unverschämt frechen Mundwerk, verwandelte er sich schlagartig in einen stümpernden Tölpel.
Madison »Maddy« Powers …
Allein ihr Name genügte, um Schmetterlinge berauscht durch seinen Bauch flattern zu lassen.
Er griff nach dem Glas Wasser neben sich und trank zwei große Schlucke in der Hoffnung, die geflügelten Mistviecher zu ertränken. Dann legte er den Kopf schief und lauschte, als auf das Zuknallen der Insektenschutztür das Echo von Stimmen und das Klicken von schlitternden Hundekrallen folgten.
»Jeder hat sein Faible. Das bestimmte Etwas, das einen um den Verstand bringt. Die eine Sache, von der man nicht genug bekommen kann.« Alexandra »Alex« Merriweathers Worte drangen aus dem Wohnzimmer in die Küche.
»Redest du immer noch?« Nach Alex’ piepsigem Sopran glich Mason McCarthys Stimme einer Basstrommel.
»Mein Faible ist eben Sex and the City«, gestand Alex und überging Masons Kommentar geflissentlich. »Mein Forschungsgebiet bedingt, dass ich die Nase den ganzen Tag lang in Büchern vergrabe. Deshalb will ich seichte, laszive Unterhaltung, wenn ich mich entspanne. Ich will Sarah Jessica Parker und ihre Freundinnen. Ich will Möpse, Fusel und Gebumse.«
Gebumse?
Trotz der berauschten – und mittlerweile triefnassen – Schmetterlinge in seinem Bauch spürte Bran, wie ein Grinsen seine Lippen verzog. Alex gehörte erst seit zehn kurzen Wochen zu ihrem Team, hatte sich aber blitzschnell zu ihren Herzen durchgeschlängelt. Fast wie ein verflixter Bandwurm. Sie hatten die Frau im Nu lieb gewonnen wie eine kleine Schwester.
»Ich hab mir die erste Staffel auf ’nen USB-Stick runtergeladen«, fuhr sie fort. »Falls Bran die Satellitenschüssel noch nicht in Ordnung gebracht hat, was hältst du dann von einem Sex-and-the-City-Marathon mit mir?«
»Nein«, entgegnete Mason, der nie zehn Worte benutzte, wenn auch eines reichte.
»Warum nicht?« Alex’ Ton hörte sich aufrichtig gekränkt an.
»Scheiße auch, weil ich geistig so weit gesund bin und verfickt noch mal nicht will, dass sich daran was ändert.« Mason stammte aus der Southside von Boston, deshalb sprenkelte er seine Sätze – wenn er denn überhaupt sprach – gern großzügig mit Fäkalausdrücken.
»Oh, ha-ha. Sehr witzig«, sagte Alex im selben Moment, in dem Mason an der Tür auftauchte.
Mason war kein besonders großer Mann, gerade mal eins achtzig. Aber was ihm an Länge fehlte, glich er an Breite aus. Mit den mächtigen Schultern und dicken Armen sah er weniger wie der SEAL aus, der er war – offiziell mochten sie sich endgültig von der Navy verabschiedet haben, aber einmal ein SEAL, immer ein SEAL. Er sah eher so aus, als sollte er die Pforten der Hölle bewachen. Sabbernd und hechelnd in der Nähe seiner Füße befand sich Klops, die englische Bulldogge, die Mason wie ein dicker, pelziger, unheimlich runzliger Schatten folgte.
Bran war nicht sicher, weshalb er es tat, aber er schlug spontan den Laptop zu und spürte, wie ihm Farbe in die Wangen stieg. Mason sah erst den Computer an, dann Bran. Er zog die Brauen hoch. Zu Brans Erleichterung verlor Mason kein Wort.
Von Alex konnte er das nicht behaupten. Neben Mason wirkte sie winzig – winzig und ungefähr zwölf Jahre alt, ein Eindruck, zu dem ihr unbändiger Schopf lockiger roter Haare und die üppigen Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken beitrugen. Die ersten Worte aus ihrem Mund lauteten: »Ich geh mal davon aus, dass du die Satellitenschüssel wieder zum Laufen gebracht hast.« Und als Nächstes folgte aus ihrem Mund: »Bist du grade dabei, deine tägliche Dosis Pornos nachzuholen, oder was?«
Tägliche Dosis … Bran blieb die Spucke weg.
»Versteh mich nicht falsch, spricht nichts dagegen.« Alex hob beschwichtigend die Hände. »Nur …« Sie sah sich in der Küche um und rümpfte die Nase. »Nicht ausgerechnet hier, wo wir essen, okay?«
Bran schüttelte den Kopf und bedachte sie mit einem leidgeprüften Blick. »Das waren keine Pornos.«
Alex’ Miene vermittelte überdeutlich ihre Ungläubigkeit. »Wieso sonst solltest du den Laptop zuknallen, als wolltest du verhindern, dass giftige Nattern vom Bildschirm springen?« In ihren grünen Augen blitzte hinter den Gläsern ihrer Schildplatt-Brille etwas auf.
Oh-oh. Bran kannte diesen Blick. Und er gefiel ihm kein Stück. »Tu’s nicht«, warnte er.
»Was tun?« Sie blinzelte unschuldig.
»Was immer dir grade durch den Kopf geht und mich höchstwahrscheinlich stinksauer machen würde.«
»Oh.« Alex nickte wissend. Dann bewies sie, dass sie sich nicht im Geringsten vor ihm fürchtete und dass sie die Reflexe eines Ninjas besaß – sie entriss ihm den Laptop und tänzelte geschickt aus seiner Reichweite, als er über den Küchentisch hechtete und ihn sich zurückzuholen versuchte.
»Na, na, na!« Sie lachte hämisch, als wolle sie für die Rolle der Cruella de Vil vorsprechen, drehte ihm den Rücken zu und hielt den Laptop von ihm weg.
»Fungule, Alex!«, fluchte er. Wenn er aufgebracht wurde, ging der Italiener aus New Jersey mit ihm durch.
»Du kennst die Regeln.« Sie gab mit der Zunge einen tadelnden Laut von sich. »Wir müssen teilen.«
Wayfarer Island war ein abgelegenes Eiland zwischen Kuba und Key West. Offiziell gehörte es der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, war jedoch ungefähr das vergangene Jahrhundert an LTs Familie verpachtet gewesen. LT war Brans und Masons früherer Befehlshaber und hatte sie dazu eingeladen, sich ihm bei der Suche nach der legendären verschollenen Galeone namens Santa Cristina anzuschließen, nachdem sie den Dienst bei der Navy quittiert hatten.
In Kurzzusammenfassung lebte Bran mittlerweile seit Monaten auf dieser Insel mit endlos Sonne, himmelblauem Wasser und einer kühlen Brise, die sanft durch die Palmen und durch die Haare strich. Klang eigentlich ziemlich gut, oder? Könnte es überhaupt besser sein?
Tja, Bran wusste durchaus einige verbesserungswürdige Punkte zu nennen. Wie wär’s zum Anfang mit verfluchtem Mobilfunkempfang? Leider würde das ein frommer Wunsch bleiben, weil sie sich hoffnungslos weit vom nächstgelegenen Mobilfunkmast entfernt befanden. Sie mussten sich auf Seefunk und ein einziges Satellitentelefon verlassen, um anders als über den Laptop mit der Außenwelt zu kommunizieren.
Und wie wär’s mit verdammtem Strom? Na schön, um fair zu bleiben, Strom hatten sie. Allerdings lieferten die auf dem Dach montierten Solarkollektoren gerade genug davon, um den Kühlschrank, das WLAN und ein paar andere Dinge zu speisen. Deshalb teilten sie alle sich einen Laptop, wechselten sich dabei ab, sich Filme oder Sport darauf anzusehen oder E-Mails an Freunde und Angehörige auf dem Festland zu schicken.
»Ich kann’s kaum erwarten zu sehen, was du dir angeschaut hast, dass du bis in die Haarspitzen hochrot angelaufen bist«, sagte Alex und ließ sich Bran gegenüber auf den Stuhl mit Sprossenlehne plumpsen. Sie schob die Brille die kesse Nase hoch und griff sich die Silberdose mit Biscotti, die neben Salz- und Pfefferstreuer stand. Nachdem sie den Deckel aufgehebelt hatte, nahm sie sich einen Keks heraus, biss die Hälfte davon ab und sprach mit vollem Mund. »Wenn’s keine Pornos waren, was dann? Ooooh, was für ein Rätsel! Es muss gelöst werden!«
Ein Biscotti-Krümel spritzte ihr vom Mund und landete auf dem Tisch. Gedankenverloren wischte sie ihn auf den Boden, wo Klops darauf wartete und ihn aufschleckte, als wäre es Manna aus dem Paradies.
Alex war studierte Historikerin und ausgebildete Übersetzerin jahrhundertealter Texte. Zudem eine Koryphäe für hirnverbranntes, nutzloses Wissen, das sie gern unaufgefordert und sehr zum Verdruss aller in ihrem Umfeld zum Besten gab. Vor drei Monaten hatten Bran, LT, Mason und die anderen drei Mitglieder ihres SEAL-Teams – mittlerweile die Besitzer des Bergungsunternehmens Deep Six – Alex engagiert, damit sie historische Dokumente aus den spanischen Nationalarchiven übersetzte, die sich auf den Hurrikan im Jahr 1624 bezogen. Sie hatten gehofft, dadurch bei der Suche nach der Santa Cristina voranzukommen.
Zwei Wochen später hatte Alex sie alle damit überrascht, dass sie steif und fest behauptet hatte, die in den alten Dokumenten beschriebene Ringinsel wären nicht die Marquesas Keys, wo Schatzsucher – darunter LTs Vater – immer den Untergang des Schiffes vermutet hatten, sondern ihre eigene Insel, Wayfarer Island. Als zusätzliche Überraschung hatte sie die Forderung draufgepackt, bei dem Unterfangen an Bord kommen zu dürfen. Nicht wegen eines Anteils an dem Schatz, sobald sie ihn fänden, sondern weil sie ihre Doktorarbeit über die Suche und Bergung des sagenumhobenen Wracks verfassen wollte.
Damals hatte Bran den Vorschlag für eine Win-win-Situation gehalten. Für Kost und Logis – was auf Wayfarer Island jetzt nicht so berauschend ist, geben wir’s ruhig zu – bekamen sie ihre hauseigene Historikerin und Übersetzerin, und Alex bekam eine Geschichte, die ihr für den Rest ihres Lebens die begehrenswerten Buchstaben Dr. vor ihrem Namen einbringen würde.
Nun jedoch, als Alex einen weiteren großen Bissen von dem Biscotti nahm und den Laptop aufklappte, um die noch auf dem Bildschirm angezeigte E-Mail zu lesen, spielte Bran ernsthaft mit dem Gedanken, seine Meinung über die Win-win-Sache zu überdenken. Noch etwas über Alex: Sie war von Natur aus unheimlich neugierig. Man konnte sich getrost darauf verlassen, dass sie die Nase tief in jede Angelegenheit auf der Insel steckte, ob sie nun etwas damit zu tun hatte oder nicht.
»Tut mir leid.« Er runzelte die Stirn. »Noch nie was von Privatsphäre gehört?«
»Donnerstag ist heute.« Alex ignorierte seine Frage und zeigte auf den Bildschirm des Laptops.
»Was du nicht sagst, Sherlock«, lautete seine total reife Antwort. Er spürte, wie ihm erneut Farbe in die Wangen stieg. Verdammt.
»Alsoooooo …« Alex dehnte das Wort schier endlos aus und wackelte dazu mit den Augenbrauen. »Und hast du vor, hinzufahren und sie zu treffen, oder was?«
Bran öffnete den Mund, um mit Oder was zu antworten. Seine Beziehung mit Maddy war in der Hinsicht perfekt, dass sie gar keine wirkliche »Beziehung« war. Klar, sie schrieben sich täglich E-Mails – manchmal über ein Dutzend. Und klar, gelegentlich plauderten sie drei Stunden lang über das Satellitentelefon. Aber das Internet und die Entfernung zwischen ihnen schufen und bewahrten eine automatische Zwanglosigkeit. Eine natürliche Formlosigkeit. Und genau so gefällt es mir. Bevor er Alex antworten konnte, fragte Mason dazwischen: »Wen treffen?«
»Madison Powers.« Alex sang den Namen halb und brachte Bran damit zum Zähneknirschen. »Anscheinend campiert sie heute Nacht mit drei Stipendiatinnen auf den Dry Tortugas.«
»Hrmpf«, gab Mason von sich und ging hinüber zum Spülbecken im rustikalen Landhausstil, unter dem sie den Sack mit Trockenfutter verwahrten.
Wuff! Wuff! Klops bellte voll hündischer Leidenschaft. Seine Krallen klickten über den Boden, als er zu Mason rannte, sein Stummelschwanz wedelte hin und her. Das Einzige, was Klops noch mehr liebte als Mason, war Fresschen. Jedes Fresschen. Jede Menge Fresschen. Sogar so manchen Mist, der gar kein Fresschen war.
Kikerikiiii! Kleines Mistvieh, der Hahn, der sich einst bei einer Rückfahrt von Key West als blinder Passagier auf ihrem Segelboot eingeschlichen hatte, meldete sich vergnügt vom rings um das Haus verlaufenden Verandageländer, auf dem er hockte. Sein Krähen wurde von der zugleich süßen und salzigen Brise hereingetragen, die durch die offenen Fenster wehte.
Und so war es von Anfang an gewesen. Klops bellte, Kleines Mistvieh antwortete darauf mit einem lärmenden, krächzenden Krähen. Oder umgekehrt. Was auf der Insel für unglaublichen Lärm richtig früh am Morgen sorgte.
»Hrmpf.« Alex äffte Masons Brummen nach. »Das benutzt du so oft, ich hab schon überlegt, ob ich nicht beantragen sollte, es ins Wörterbuch aufzunehmen.«
Mason füllte Klops’ Schüssel, danach lehnte er sich ans Spülbecken. Zur Antwort verschränkte er nur die Arme vor der Brust.
Alex verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf, als wäre sie nie zuvor einem zermürbenderen Mann begegnet. Als Bran durch den Kopf gegangen war, dass sie Alex wie eine kleine Schwester lieb gewonnen hatten, da hatte er einen kleinen Zusatz vergessen: ausgenommen Mason. Alex und der muskelbepackte Kerl schienen sich auf Anhieb gegenseitig nicht ausstehen zu können. Und der einzige Grund, der Bran dafür einfiel, war der, dass Mason selten ein Wort sprach, während Alex genauso selten mal die Klappe hielt. Ein typischer Fall von Öl und Wasser, die sich nun mal nicht miteinander vertrugen.
»Und?«, wandte sich Alex wieder an Bran.
»Und was?« Während er sie finster ansah, malte er sich aus, auf wie viele Arten er sie an Ort und Stelle erwürgen könnte. Zwölf … vielleicht auch dreizehn. Danach ließ ihn die Vorstellungskraft im Stich.
»Wirst … du … dich … mit … ihr … treffen?«
»Nein.« Bran hoffte, die Endgültigkeit, mit der er das Wort aussprach, würde die Unterhaltung ein für alle Mal beenden.
Er hätte es besser wissen müssen.
»Aber du magst sie doch, oder?« Eine Furche bildete sich zwischen Alex’ Augenbrauen. »Ich meine, ich erinnere mich noch gut daran, wie eine ihrer E-Mails reinkam, als ich gerade den Laptop hatte. Ich dachte, du würdest mir die Arme ausreißen, wenn ich dir den Rechner nicht sofort gebe.«
»Das hab ich anders in Erinnerung«, murmelte er. Und dann, weil er wusste, dass sie ihn weiter bedrängen würde, fügte er hinzu: »Und ja, ich mag sie. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich den ganzen Weg zu den Dry Tortugas schippern will, um drei Teenager zu bespaßen.«
Alex verengte die Augen. Und setzte damit einen weiteren Gesichtsausdruck auf, der Bran ganz und gar nicht gefiel. Er spannte die Kiefermuskulatur an und wappnete sich für das Unvermeidliche, das gleich aus ihrem Mund dringen würde. Lange brauchte er nicht zu warten.
»Ich sage, das ist Quatsch«, erklärte sie. »Meine weibliche Intuition verrät mir, dass mehr dahintersteckt, was dich davon abhält.«
Natürlich ist da mehr. Dasselbe, was ihn schon seit … na ja … immer zurückhielt. Aber von dem Arsch zu reden, der Brans Y-Chromosom geliefert und ihn mit einem schrecklichen Erbe zurückgelassen hatte, war streng tabu.
Bran spähte zu Mason. Der Blick, den sie wechselten, besagte mehr als tausend Worte. Und da Alex eine überaus wache Beobachtungsgabe besaß, schürzte sie prompt die Lippen. »Wieso werd ich das Gefühl nicht los, dass mir grade irgendwas entgeht?«
»Können wir das Thema wechseln?«, fragte Bran, wenngleich es in Wirklichkeit eher eine nachdrückliche Forderung war. »Ich glaub, sonst krieg ich Ausschlag.«
Der Blick, den Alex auf ihn heftete, besagte klar und deutlich, dass sie ihm die emotionale Reife einer Kumquat zugestand. »Was ist das bloß mit euch Männern, dass ihr nicht über eure Gefühle reden könnt, wenn …« Das Krachen der Insektenschutztür ließ Alex mitten im Satz verstummen.
Gut. Bran hatte mit dem Ausschlag nicht gescherzt. Über Maddy zu sprechen – oder genauer gesagt über seine Gefühle für Maddy und warum er sie nie erblühen und gedeihen lassen konnte – brachte seine Haut zum Kribbeln.
»Wo zum Teufel sind denn alle?« LTs tiefe Stimme dröhnte von der Vorderseite des Hauses herein.
Da LTs schroffer alter Seebär von einem Onkel – John – und die anderen drei Mitglieder des Bergungsunternehmens Deep Six mit ihrem neuen Schiff nach Key Largo gekreuzt waren, damit ein renommierter Mechaniker einige Spezialkomponenten auf dem Gefährt einbauen konnte, vermutete Bran, dass LT mit alle sie drei meinte.
»Hier drin!«, rief er.
Alex’ Blick besagte: Das setzen wir noch fort.
Bran antwortete mit einem gekünstelten Lächeln, das besagte: Kannst du knicken. Dann ernüchterte er, als LT und dessen Verlobte, die ehemalige CIA-Agentin Olivia Mortier, die Küche betraten. Beide trugen einen Tauchanzug, hatten klatschnasse Haare, und ihre nackten Füße hinterließen Pfützen auf den abgewetzten Holzdielen. Ihre Mienen fielen in die Kategorie eines urtypischen Kinds im Süßwarenladen.
»Würdet ihr zwei wohl aufhören, die ganze Zeit so verdammt glücklich zu sein?« Bran grunzte und schüttelte übertrieben den Kopf. »Da wird einem ja schlecht von.«
Obwohl Mason zustimmend brummte, meinten es weder er noch Bran ernst. Tatsächlich waren Bran, Mason und der Rest ihrer Kameraden selig, dass ihr ehemaliger Befehlshaber seine bessere Hälfte gefunden und sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Wenn jemand von ihnen Glück verdiente, dann LT.
»Wir waren zum Speerfischen draußen vor dem Riff«, verriet Olivia und schenkte der Äußerung keine Beachtung. Bran legte angesichts ihrer funkelnden Augen und rosigen Wangen den Kopf schief. Sein sechster Sinn verriet ihm, dass irgendetwas im Busch war.
»Da ist mir was aufgefallen, das auf den ersten Blick bloß wie ein gewöhnliches Korallenstück gewirkt hat«, fügte LT hinzu. Sein schleppender Akzent aus Louisiana schimmerte durch, obwohl er den Großteil seiner prägenden Jahre auf den Keys verbracht hatte.
»Aber es war keine Koralle«, warf Olivia ein und vibrierte dabei förmlich. Bran vermeinte beinah, er könnte die gewellt gezeichneten Linien um ihren Körper in der Luft sehen.
»Oh nein, meine Freunde.« LT schüttelte den Kopf. »War’s eindeutig nicht.«
»Ihr erratet nie, was wir gefunden haben, als die Verkrustungen erst davon gelöst waren«, sagte Olivia.
»Nicht in tausend Jahren«, fügte LT hinzu.
»Nicht in einer Million Jahre!«, rief Olivia.
»Herrgott noch mal! Was war es?«, verlangte Alex zu erfahren.
»Der Griff eines Entermessers!«, verkündete LT und schwang das Artefakt hervor, das er hinter dem Rücken versteckt gehabt hatte.
Einige Sekunden lang rührte sich niemand, und es wagte auch niemand zu atmen. Dann schien es plötzlich so, als hätte jemand eine Auswerfertaste gedrückt. Bran, Mason und Alex stürmten alle gleichzeitig vor, um einen Blick auf das Relikt zu erhaschen, das LT in der offenen Handfläche balancierte. Das Ding erwies sich als schwarz vor Korrosion, doch die Form und die Charakteristika waren unverkennbar.
»Hör schon auf zu drängeln, du großer Ochse!«, klagte Alex, als Mason sie beiseiterempelte. Bei einigen Worten merkte man den Hauch eines Lispelns. Bran war aufgefallen, dass es umso deutlicher zum Vorschein kam, je aufgeregter Alex wurde.
»Mmmpf«, brummte Mason, der sich vorbeugte, um den Griff in Augenschein zu nehmen.
»Mmmpf«, äffte ihn Alex nach und verdrehte die Augen.
»Hört auf mit dem Quatsch, alle beide«, mahnte LT. »Mach dich lieber nützlich, Mason, und zünd ’ne Kerosinlaterne an. Ich will das Ding bei gutem Licht unter die Lupe nehmen. Alex, du läufst nach oben und holst die Übersetzung der Ladeliste der Santa Cristina. Mal sehen, ob ich Glück hab oder einfach gut bin.«
Trotz der aufregenden Neuigkeit des Funds ertappte sich Bran dabei, dass sein Blick wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen hinüber zum Laptop schwenkte.
Maddy Powers …
Na ja, wenigstens hatte er nun eine solide Ausrede, um die Fahrt zu den Dry Tortugas sausen zu lassen.
Wohl eher ’ne Ausrede dafür, ein elender, feiger Hasenfuß zu sein, flüsterte ein nerviges Stimmchen in seinem Kopf. Worauf er prompt erwiderte: Ach, weißt du was? Rutsch mir doch den Buckel kreuzweise runter.
»Hi!« Maddy winkte dem Parkaufseher zu, der darauf wartete, sie zu begrüßen, während sie sich den steilen Strand von Garden Key hinaufschleppte, der Hauptlandmasse unter dem Grüppchen abgeschiedener kleiner Inseln mitten im Golf von Mexiko, die zusammen den Dry Tortugas Nationalpark ergaben. Tortuga bedeutete »Schildkröte«. Den Namen hatten die Inseln im 16. Jahrhundert von Ponce de Leon erhalten. Einige Hundert Jahre später versuchten die Vereinigten Staaten, Garden Key zu nutzen, indem sie dort ein Fort errichteten. Aber durch mangelhafte Konstruktion, Krankheiten und den Bürgerkrieg wurde das Unterfangen fallen gelassen, und das Bauwerk wurde vor seiner Fertigstellung aufgegeben.
Garden Key war der einzige bewohnte Ort der Inselgruppe der Dry Tortugas. Zumindest, wenn man den einsamen Ranger, der in der kleinen Hütte am Rand des Strands lebte, als »Bewohner« zählte. Maddy hatte gelesen, dass die der Insel zugeteilten Parkaufseher immer nur Aufenthalte von drei Monaten am Stück absolvierten, um zu gewährleisten, dass ihnen die Abgeschiedenheit und Einsamkeit mental nicht zu viel wurde.
Warnendes Beispiel: Jack Torrance, der im Film den Verstand verlor und wieder und wieder auf seiner Schreibmaschine tippte: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen …
Brrr. Was man nicht alles aus Filmen lernte.
»Hallo!«, rief der Aufseher und riss Maddys Gedanken von der Szene aus Shining los. »Willkommen auf der wunderschönen Insel Garden Key und den Dry Tortugas!«
Als Maddy dem jungen Parkaufseher die Hand entgegenstreckte – Betonung auf jung, denn wenn der Bursche älter als zwanzig war, würde sie ihre Schnorchelausrüstung zum Abendessen verspeisen –, ließ sie den Blick über die Fassade der als Fort Jefferson bekannten, unvollendeten Befestigungsanlage wandern.
Die roten Ziegelsteine bildeten einen deutlichen Kontrast zum aquamarinblauen Wasser ringsum. Und der kleine, schwarz gestrichene Leuchtturm an einer Ecke der sechseckigen Ringmauer erinnerte an einen alten Wächter, gezeichnet von Wind und Regen, aber immer noch aufrecht. Maddy konnte es kaum erwarten, die Stipendiatinnen morgen nach dem Frühstück ausgiebig herumzuführen. Sie hatte sich umfassend informiert und kannte all die guten Geschichten, die mit Sicherheit die Fantasie ihrer Schutzbefohlenen anregen würden. Aber vorerst …
»Ich bin Maddy Powers«, stellte sie sich vor und schüttelte dem Parkaufseher kräftig die Hand. Dann drehte sie sich um und beobachtete, wie die drei Teenager auf sie zustapften. Sie trugen ihre Schlafsäcke und kleine Schutzzelte, die ihnen der Pilot des Wasserflugzeugs aus dem winzigen Laderaum der Maschine gereicht hatte. »Wie’s aussieht, leisten wir Ihnen heute Nacht Gesellschaft.«
»Freut mich, Sie hier zu haben, Ma’am.« Der Parkaufseher nickte und grinste, wodurch eine Reihe hinreißender Grübchen zum Vorschein kam.
Maddy zuckte theatralisch übertrieben zusammen. »Oh, bitte nennen Sie mich Maddy. Ich bin schon den ganzen Tag mit Siebzehnjährigen unterwegs und komme mir deshalb ohnehin bereits steinalt vor.«
Der junge Mann verzog das Gesicht, und seine Ohrenspitzen liefen schillernd rot an. Du meine Güte, was sagt man dazu? »Tut mir l-leid«, stammelte er. »Ich wollte nicht respektlos sein, Ma’am, und ich kann Ihnen versichern, d-dass …«
Jäh verstummte er, als ihm klar wurde, dass er sie schon wieder als »Ma’am« bezeichnet hatte. Vermutlich merkte er es an dem mürrischen Blick, den sie auf ihn heftete. Plötzlich fand er den Sand zu seinen Füßen unheimlich interessant und fing an, mit der Spitze eines Wanderstiefels nach irgendeinem geheimnisvollen Gegenstand zu scharren.
Maddy schmunzelte und widerstand dem Drang, ihm die Haare aus den Augen zu wischen und ihm den Rat zu erteilen, er sollte den Versuch aufgeben, sich diesen kümmerlichen, unregelmäßigen Abklatsch von einem Bart wachsen zu lassen. Stattdessen stupste sie ihn mit dem Ellbogen an – Maddy lernte eine Menge Fremde kennen, aber durch ihre natürliche Liebenswürdigkeit blieben sie das selten lange. »Nein, mir tut’s leid. Ich hab vier ältere Brüder, deshalb ist’s mir irgendwie in Fleisch und Blut übergegangen, Mitmenschen mit Gehänge zwischen den Beinen den Kopf zurechtzurücken. Und wenn ich vor dem Morgengrauen aus den Federn muss – um vier, wenn Sie’s genau wissen wollen – und dann Teenager abholen muss, die sich zu einer üblen Morgenmensch-Dreifaltigkeit« – sie zeichnete Anführungsstriche in die Luft – »verschworen haben, dann bin ich tendenziell noch spitzzüngiger.«
Ihre Mutter meinte immer, sie hätte eine Gabe für Geplapper, und wenn sie dazu ihr freundliches Lächeln packte – so wie jetzt gerade –, fühlten sich die Menschen in der Regel recht wohl in ihrer Gegenwart. Allerdings vermittelte der Gesichtsausdruck des jungen Parkaufsehers, als er sie blinzelnd anglotzte, etwas völlig anderes als das.
Ist das sein IQ, der grade durch seine Ohren rausdampft?
Oh-oh. Maddy war davon ziemlich überzeugt. Und den Ausdruck im Gesicht des Burschen kannte sie nur zu gut. Denselben Ausdruck setzten ihre großen, einfältigen Brüder jedes Mal auf, wenn eine Frau mit Dekolleté und üppiger Mähne an ihnen vorbeilief. Mit einem Wort: liebestoll.
Oder sind es im eigentlichen Sinn zwei Wörter, »Liebe« und »toll«, bloß zu einem zusammengezogen?
Egal. So oder so war sie darauf nicht gefasst und …
»Oooh«, kam von Louisa Sanchez, als sie sich den Weg zu Maddy und dem Ranger bahnte. »Ich glaub, Señorita Maddy hat einen Bewunderer. Sieh sich nur einer an, wie rot er anläuft!«
»Louisa …«, sagte Maddy tadelnd. »Benimm dich, sonst wird unser Gastgeber hier, Ranger …« Sie spähte auf die grünen, in die Brusttasche des jungen Mannes gestickten Buchstaben. »Sie heißen Rick? Also Ranger Rick? Ha! Wo sind Scarlett Fox und Boomer Badger?«
»Wer?« Ranger Rick blinzelte und legte den Kopf schief. Der Scherz perlte an ihm ab wie Wasser von einem frisch mit Wachs versiegelten Auto.
»Oh.« Maddy schüttelte den Kopf. »Äh … na ja, Sie wissen schon, aus dem Kindermagazin der National Wildlife Federation. Ranger Rick, der Waschbär.«
»Wer?«, fragte Rick ein zweites Mal, und die Spitzen seiner Ohren liefen erneut hochrot an.
»Äh …« Sie verstummte, fühlte sich auf einmal steinalt und dämlich. Zum Glück bewahrte sie der Lärm der zum Leben erwachenden Triebwerke des Wasserflugzeugs davor, ihre Ausführungen beenden zu müssen.
Der Geruch von Flugbenzin vermischte sich mit den süßeren Aromen von Sonnencreme und heißem Sand, als Maddy dem Piloten zuwinkte, der die Maschine vorsichtig vom Strand ins Wasser zurücksetzte. Sie schirmte die Augen gegen die untergehende Sonne ab und beobachtete, wie die Kufen des Flugzeugs ein paar Dutzend Meter lang über die Kämme der sanften Dünung glitten, bevor die Flügel die Brise erfassten und die Maschine in einen Himmel erhoben, der ein fröhliches Kaleidoskop von Rosa-, Orange- und Rottönen bildete.
Geht doch nichts über einen Sonnenuntergang in den Keys, dachte sie, während sie dem Brummen der Propeller und dem Kreischen der Möwen lauschte, die kreisten und herabstießen, um sich ihre letzte Mahlzeit vor Einbruch der Nacht aus dem Meer zu schnappen. Schließlich wandte sie sich wieder an Rick. »Wo sollen wir unser Lager aufschlagen?«
»Sie sind als Einzige für eine Übernachtung auf der Insel eingetragen«, antwortete er. »Also können Sie es sich frei aussuchen.«
»Ohhhh.« Maddy drehte sich zu den Teenagern um und wackelte mit den Augenbrauen. Bei gutem Wetter wurde Garden Key regelmäßig über die tägliche schnelle Fähre oder – wie im Fall von Maddy und den Mädchen – mit gecharterten Wasserflugzeugen besucht. Die meisten Leute blieben ein paar Stunden, erkundeten die Festung und schnorchelten zwischen den alten Stützpfeilern, bevor sie nach Key West zurückkehrten. Es wurden aber auch ein paar Campinglizenzen für Touristen ausgestellt, die einmal eine Nacht mitten im Nirgendwo erleben wollten. Zum Glück für Maddy und die Mädchen schienen sie in dieser Nacht die Einzigen zu sein, die den Versuch wagten. »Geht und sucht uns den besten Platz aus. Ich komm gleich nach, denn rösten wir uns Marshmallows.«
»Yo, schon gerafft, Miss Maddy.« Donna DeMarco zwinkerte ihr übertrieben zu. »Sie wollen den süßen Parkaufseher ganz für sich allein.«
»Bitte!« Maddy verdrehte die Augen und scheuchte die Mädchen den Strand entlang. »Ich bin schließlich alt genug um seine …« – nicht Mutter – »… ältere Schwester zu sein«, beendete sie den Satz lahm, und die Mädels prusteten prompt vor Gelächter.
Eins hatte Maddy bereits in der kurzen Zeit mit den Teenies gelernt: Ihnen entging nichts. Alle waren schlau wie Füchsinnen.
Na ja, kein Wunder. Stipendiatinnen, schon vergessen?
Richtig. Als sie an ihren Vater – den Besitzer von Powers Petroleum, dem größten Ölkonzern der Vereinigten Staaten – herangetreten und ihn gebeten hatte, ein Stipendium für Mädchen aus der Gegend von Houston mit Interesse an einem Abschluss in Erdöltechnik oder Erdölgeologie einzurichten, da hatte sie nicht damit gerechnet, von zweihundert Aufsätzen überschwemmt zu werden. Und wenngleich alle Bewerberinnen auf die eine oder andere Weise etwas vorzuweisen hatten, das für sie sprach, hoben sich die drei von ihr Ausgewählten zumindest auf dem Papier deutlich vom Rest ab. Beim ersten Kennenlernen hatten sie Maddie auch persönlich von sich überzeugt.
Zu ihnen gehörte die dunkeläugige Louisa Sanchez. Manch einer würde sagen, sie stammte aus dem »übleren« Teil von Maddys Heimatstadt. Ihre Eltern waren in der Hoffnung aus Mexiko eingewandert, ihre Tochter würde den amerikanischen Traum mit beiden Händen packen und in vollen Zügen leben.
Sally Mae Winchester wiederum war eine vogelartige Blondine aus einer winzigen ländlichen Gemeinde außerhalb der Stadt. Sie trat schüchtern und zaghaft auf. Ihr Südstaatenakzent klang noch breiiger als der von Maddy. Aber unter dem unscheinbaren Äußeren von Sally Mae steckten ein wacher Verstand und der innige Wunsch, etwas aus sich zu machen.
Und dann war da noch Donna DeMarco mit ihrem langen dunklen Haar und Augen, die entschieden zu weise für ihr Alter wirkten. Donna war erst unlängst nach Houston gezogen und stellte sich gern als toughe junge Frau aus Jersey dar. Was jedoch nur ein Trick war, um ihr Herz aus purem Gold zu verbergen. Donnas Mutter war gestorben, als sie noch ein Baby war, und ihr Vater verdiente als Lkw-Fahrer gerade genug, um Essen auf den Tisch zu bringen. Dummerweise litt er mittlerweile an belastender rheumatischer Arthritis. Deshalb träumte Donna davon, eines Tages genug Geld zu verdienen, um ihren »alten Herrn« zu unterstützen, wie sie ihn nannte, damit er nicht mehr Schmerzen leiden musste, wenn er die Finger stundenlang am Stück um ein Lenkrad gekrampft hielt.
Maddy lächelte den schlanken Rücken der Mädchen hinterher, als sie sich kichernd und gegenseitig hänselnd den Weg über den schmalen Strandstreifen bahnten, um die perfekte Lagerstelle zu suchen. Ob es sich um Spendengalas oder Forschungsstipendien handelte, Maddy war immer stolz auf die Arbeit, die sie für die Wohltätigkeitseinrichtungen des Unternehmens ihres Vaters leistete. Besonders lieb und teuer jedoch waren ihr der Stipendienfonds und diese drei Mädchen.
Sie lächelte immer noch, als sie sich zurückdrehte und feststellte, dass der junge Parkaufseher sie wieder mit diesem Blick anglotzte. Dem Blick. Maddy fragte sich, ob sie ihm vorschlagen sollte, den nächstbesten Optiker für einen Sehtest aufzusuchen. Ganz offensichtlich stimmte etwas mit seinen Augen nicht.
Ich meine, echt jetzt. Sie besaß kein Dekolleté – jedenfalls kein nennenswertes. Und ganz sicher hatte sie keine üppige Mähne. Tatsächlich hatte sie überhaupt kaum Haare auf dem Kopf – dank des impulsiven Naturells ihres zu allem bereiten Stylisten. Sie hatte Eduardo gesagt, sie wollte den »Michelle-Williams-Look« … allerdings war sie ziemlich sicher, dass er ihr stattdessen einen Justin-Bieber-Schnitt ungefähr aus dem Jahr 2009 verpasst hatte. Gefestigt wurde diese Überzeugung, als ihre Brüder, diese Primaten, prompt anfingen, sie als Belieber zu bezeichnen.
Nicht, dass sie nun hässlich wie die Nacht war oder so. Ihr jüngster Bruder gestand ihr sogar zu, dass sie immer noch »recht passabel« aussah. Mann, schönen Dank auch. Und sie hatte auch schon eine beachtliche Schar von Verehrern gehabt, die Maddy »süß« gefunden hatten. Es blieb jedoch die Tatsache, dass sie nie die Art von Frau gewesen war, die zu spontaner Liebe oder auch nur spontaner Lust anspornte. Was zum Geier stimmte also nicht mit Ranger Rick, dass er …
He, jetzt aber mal ganz langsam mit den durchgeknallten Pferden! Verkauf dich nicht so unter Wert. Hast du Bran Pallidino vergessen?
Und die Antwort darauf lautete nicht bloß nein, sondern dreifache Scheiße, nein, sie hatte ihn nicht vergessen. Diesen Mann zu vergessen, wäre ganz und gar unmöglich. Zum einen war er, um ihre liebe Großmutter väterlicherseits zu zitieren, schneidig und flott wie ein griechischer Gott. Mit seinem gewellten nerzbraunen Haar, den strahlend braunen Augen und dem Piratenlächeln könnte Bran Pallidino mühelos jeden Hollywood-Schönling vom ersten Platz der Liste des »Sexiest Man Alive« des People Magazine verdrängen.
Hinzu kam: Er hatte sie vor den irren Terroristen gerettet, die sich die Jacht ihres Vaters gekrallt hatten. Ganz genau, mein Herr. So hat sich das abgespielt.
Und zu guter Letzt hatte er ihr in den Monaten nach der Entführung geholfen, den verspätet eingesetzten Schock, Albträume und etwas zu bewältigen, das vermutlich als leichter Fall von posttraumatischer Belastungsstörung diagnostiziert worden wäre. In Hunderten E-Mails und gelegentlichen Gesprächen über Satellitentelefon hatte er ihr als Klagemauer gedient, als mitfühlendes Ohr, als Stütze und als Licht, wenn die Erinnerungen zu schwer und zu dunkel zu werden drohten.
Ja. Bran Pallidino war viel. Mutig. Witzig. Manchmal wortkarg. Eins jedoch war er definitiv nicht: vergesslich.
Trotzdem ist er nicht hier …
Maddie versuchte, sich die Leere ihres E-Mail-Posteingangs nicht unter die Haut gehen zu lassen – die krasse, dreiste, spöttische Leere ihres Posteingangs. Bisher hatte sie sich eingeredet, Bran hätte deshalb nicht geantwortet, weil er zu beschäftigt mit der Suche nach der sagenumwobenen Santa Cristina war. Nun jedoch, da sie hier war, so nah bei Wayfarer Island, so nah bei ihm, fragte sie sich unwillkürlich, ob er deshalb nicht auf ihre Einladung reagierte, weil sie zu viel in ihre Online-Dialoge hineininterpretiert hatte.
Vielleicht war das, was sie für eine solide Freundschaft mit der Hoffnung auf eine daraus ersprießende romantische Beziehung gehalten hatte, in Wirklichkeit weder das eine noch das andere. Vielleicht hatte er ihr nur deshalb durch eine schwierige Zeit geholfen, weil er nun mal Bran war, heldenhaft, galant und nicht in der Lage, den Gedanken an eine Maid in Not zu ertragen.
Verdammt. Und dabei hatte sie diesen ganzen Ausflug eigens geplant, um in seine Nähe zu gelangen. Um ihn wiederzusehen.
Oh, klar. Sie hatte sich einzureden versucht, sie hätte es getan, weil diese Mädchen etwas Besonderes zur Feier ihres Stipendiums verdienten. Aber sogar ihr Vater hatte ihre Masche durchschaut. Als sie ihm von dem Ausflug erzählt hatte, da hatte er sich über den großen, buschigen Tom-Selleck-Schnurrbart gestrichen und mit nachdenklich gerunzelter Stirn gemeint: »Ist das wirklich für die Mädchen? Oder tust du’s, damit du einen Vorwand hast, diesen Schatzsucher zu sehen, mit dem du eifrig E-Mails schreibst, wie mir deine Mama erzählt hat?«
Erwischt. Ich sollte meine Philanthropenlizenz zurückgeben.
»Ich weiß, wer Ihr Vater ist«, sagte Rick, der ihre Gedanken zu lesen schien. »Hab ihn mal im Fernsehen gesehen. Irgendein Sonderbericht oder so ähnlich. Er hat darüber geredet, wie er vom Landei zum Öltycoon aufgestiegen ist, indem er die Ärmel hochgekrempelt, angepackt und nie seine Wurzeln vergessen hat.« Ricks Lippen zuckten.
»Das war 60 Minutes.« Maddy schüttelte bei der Erinnerung voll Zuneigung den Kopf. Ihr Vater hatte gerade mal zehn Minuten gebraucht, bis ihm Moderator Morley Safer aus der Hand gefressen hatte. »Und das war nicht bloß so dahingesagt. Mein Daddy trägt immer noch jeden Tag zur Arbeit Wranglers mit einer Dose Kautabak in der Gesäßtasche und seinen geliebten, schweißfleckigen Stetson. Ich schätze, man kriegt zwar den Mann aus den Ölfeldern raus, aber nicht die Ölfelder aus dem Mann.« Und anders würde ich ihn nicht haben wollen. Den letzten Teil musste sie nicht laut aussprechen, er schwang unüberhörbar in ihrem Ton mit.
Immer noch mit der Hand über den Augen, um sie gegen die letzten glühenden Strahlen der Sonne abzuschirmen, beobachtete sie, wie das Wasserflugzeug am Horizont verschwand. Und da spürte Maddy sie. Die Abgeschiedenheit. Die … Einsamkeit. Im Umkreis von Kilometern gab es nichts außer Wellen, die im schwindenden Tageslicht silbrig glitzerten. Keine Geräusche außer dem Geplapper der Mädchen und der über den Sand leckenden Dünung. Die Isolation war tiefschürfend. Absolut. Beängstigend, aufregend und erhebend zugleich.
Also gut. Ob mit Bran oder ohne hin, sie würde dafür sorgen, dass es ein tolles Erlebnis würde. Für die Mädchen. Für sie selbst. Denn sie verdienten einen Urlaub. Ein Abenteuer. Und bei Gott, nach dem, was sie vor drei Monaten durchgemacht hatte, galt dasselbe für Maddy.
Und vielleicht kannst du die Zeit abseits deines technischen Schnickschnacks und deines leeren E-Mail-Postfachs nutzen, um deine Gefühle für einen gewissen ehemaligen Navy SEAL und nunmehrigen Schatzsucher neu zu beurteilen, flüsterte ihr Gewissen.
Klar doch. Logisch. Das würde sie total tun, und …
»Erwarten Sie noch Gesellschaft?«, erkundigte sich Rick.
»Wieso? Was …«
Maddy beendete die Frage nicht. Als sie sich in die Richtung drehte, in die der Parkaufseher schaute, sichtete sie ein kleines Tiefseeanglerboot, das langsam auf die Insel zukreuzte.
Maddys Herzschlag beschleunigte sich. Sprunghaft. Wären ihre Rippen nicht gewesen, wäre das Organ ihr vermutlich ganz im Stil von Alien aus der Brust hervorgebrochen, davon war sie beinah überzeugt. Der Wind schien ein Wort zu flüstern, einen Namen. Bran.
So viel zur Neubeurteilung ihrer Gefühle …
»Sie sind auf der Insel. Meine Leute sind in Position, rücken langsam vor und warten auf Ihr Zeichen zum Angriff«, sagte Tony Scott zu Gene Powers.
Tony saß neben Gene auf dem Sofa an Bord der kleinen Achtzehn-Meter-Jacht, die sie unter falschem Namen mit gefälschten Ausweisen gemietet hatten, und beobachtete, wie der ältere Mann um den Kloß in seinem Hals herum zu schlucken versuchte. Und nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob Gene die Nerven haben würde, ihren Plan durchzuziehen.
Reiß dich einfach noch ein bisschen länger zusammen, dachte er. Ungeduld saß ihm im Genick wie eine festgebissene Zecke.
»Sobald wir diese Grenze überschreiten, gibt’s kein Zurück mehr.« In Genes Stimme schwang ein Zittern mit. Es passte zu dem seiner Hände, als er gedankenverloren an der Naht des blauen Kissens in der Ecke des in einem Stück gegossenen Sitzbereichs im Heck des Bootes zupfte.
Tony hatte Gene immer für seinen Mut und seinen Abenteuerdrang bei Geschäften – und auch im Leben – respektiert. Wie sich herausstellte, fehlte dem alten Schlappschwanz jedoch die innere Stärke zu Skrupellosigkeit, wenn eine Gelegenheit danach verlangte. Und diese Gelegenheit verlangte eindeutig danach.
Und an der Stelle komme ich ins Spiel.
»Ich weiß, dass es kein Zurück gibt.« Er streckte die Hand aus, um Genes drahtige Schulter zu drücken. »Ich bin bereit. Und Sie?«
»Nein«, spie Gene hervor. »Ich denke mir ständig, dass es eine andere Möglichkeit geben muss.«
Tony biss sich auf die Innenseite der Wange und wappnete sich für dieselbe Diskussion, die sie die gesamte vergangene Woche immer wieder geführt hatten. So geduldig wie möglich sagte er: »Gene, wir sind das schon tausendmal durchgegangen. Kein Risikokapitalgeber wird sich auf uns einlassen. Wir haben unsere gesamten eigenen Reserven und die Reserven unserer Anleger erschöpft. Wir brauchen Bares.«
»Vielleicht könnte ich ihn ja noch mal fragen«, erwiderte Gene mit einem Ausdruck in den Augen, der an Verzweiflung grenzte. Sie beide wussten, wen Gene mit ihn meinte.
»Er hat Ihnen bereits dreimal eine Abfuhr erteilt«, erinnerte ihn Tony. »Er hält es für eine schlechte Investition. Im Lauf der Jahre ist er risikoscheu geworden. Zu risikoscheu. Außerdem hat er Sie in diese Lage gedrängt.«
»Nein.« Gene schüttelte den Kopf. »Das war nicht er. Es war die OPEC. Die gottverdammte OPEC!« Gene fluchte wüst, nahm seinen Stetson ab und fuhr sich mit einer Hand durchs graue Haar. Sein hängender Schnurrbart zitterte, als er hinaus aufs offene Meer schaute, als hoffe er, dort einen Ausweg zu sichten. Aber wie Tony wusste, umgaben das Boot nur endlose, gekräuselte Wellen und mit Sicherheit keine andere Lösung für ihr Problem.
Wenn sie das Ölunternehmen retten wollten, dann nur so. Ein Verzweiflungsakt in den letzten Minuten.
»Gottverdammte OPEC«, schimpfte Gene erneut und hieb mit der Faust auf die Armlehne des spritzgussgefertigten Glasfasersofas, bevor er seinen Cowboyhut wieder aufsetzte. Die Vereinigung der erdölproduzierenden Länder, kurz OPEC, bestand aus den zwölf erdölreichsten und Amerika nicht unbedingt freundlich gesinnten Nationen – ein Kartell, das durch seine Kontrolle über die Mehrheit der globalen Rohölreserven die gesamte Welt im Würgegriff hatte. Und im Augenblick hatte sie auch ihr Unternehmen im Schwitzkasten. »Keine Ahnung, warum wir die nicht gleich nach der Gründung vor fünfundsechzig Jahren zurück in die Steinzeit gebombt haben.«
»Wir haben Sie deshalb nicht ›zurück in die Steinzeit gebombt‹, weil es von … na ja, von so ziemlich jedem mit größter Skepsis betrachtet würde, ganze Nationen plattzumachen, nur um dafür zu sorgen, dass sie nicht von den eigenen natürlichen Ressourcen profitieren«, erklärte Tony. Dabei fiel ihm die Zeit auf, die seine goldene GMT-Master Rolex anzeigte, und er wurde zunehmend hibbeliger, während die Sekunden verstrichen.
»Ja, und jetzt versuchen sie, uns davon abzuhalten, unsere natürlichen Ressourcen zu kontrollieren und davon zu profitieren«, konterte Gene mit knurrendem Unterton. »Inwiefern ist das fair?« Bevor Tony etwas erwidern konnte, beantwortete Gene die eigene Frage selbst. »Ich sag’s Ihnen schlicht und einfach: Ist es überhaupt nicht.«
»Genau deshalb müssen wir das hier durchziehen«, betonte Tony. »Wenn wir das tun, haben wir genug Cash, um ein paar der neuen Projekte anzuleiern. Sobald die dann laufen, finanzieren sie den Rest. Und dann, wenn alles in Betrieb ist und wir jeden Tag Hunderttausende Fässer Öl fördern, werden die Vereinigten Staaten sicherer als je zuvor sein. Und das dank uns. Dank Ihnen und mir, Gene. Stellen Sie es sich nur vor.«
Gene hatte dem Plan letztlich nur zugestimmt, weil Tony seine Argumente in einen fetten Haufen Hurra-Patriotismus verpackt hatte. Das hatte zu dem Zeitpunkt astrein funktioniert. Und es funktionierte immer noch.
»Schwören Sie mir, dass niemand verletzt wird«, verlangte Gene. Seine unter dem lächerlichen Schnurrbart gerade noch erkennbare Unterlippe bebte.
Oh, Herrgott noch mal. Wenn der Mann zu weinen anfinge, würde Tony alle Mühe haben, ihm nicht ins Gesicht zu schlagen.
»Der Plan meiner Leute ist wasserdicht, jedes mögliche Szenario ist durchgespielt und berücksichtigt worden.«
»Ihre Leute.« Gene schüttelte den Kopf. »Sie nennen sie andauernd so. Wo haben Sie diese Truppe überhaupt aufgestöbert?«
»Sie wären erstaunt, wie viele ehemalige Spitzensoldaten bereit sind, ihre Dienste für den richtigen Preis zu verkaufen.«
Gene verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
Armer Tropf. Denkt immer nur das Beste im Menschen. Musste genetisch bedingt sein. In der Familie Powers litten alle an derselben Krankheit.
»Kommen Sie schon, Gene.« Tony seufzte. »Es sind bloß drei Mädchen, eine Frau, und ein Parkaufseher, der noch grün hinter den Ohren ist. Das wird ein Spaziergang.«
»Ein Spaziergang, was?« Gene strich seinen Schnurrbart glatt und befeuchtete die Lippen mit der Zunge. »Dann erklären Sie mir doch noch mal, warum Schusswaffen mit im Spiel sind.«
Tony lächelte, doch sein Gesichtsausdruck vermittelte dabei keinerlei Humor. »Ihnen als reinrassigem Texaner muss ich das bestimmt nicht erklären, oder?« Als Gene mit finsterer Miene seine Ungeduld verdeutlichte, tat es Tony dennoch. »Schrecken und Furcht, mein Freund. Schrecken und Furcht. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass es überzeugend rüberkommt, wenn wir wollen, dass er die Kohle zackig rausrückt.«
»Bei Schrecken und Furcht sollte es besser bleiben.« Gene presste sich eine Hand auf die Brust, als hätte er Herzschmerzen. Das würde Tony gerade noch fehlen, dass der ganze Opern schwafelnde alte Sack einen Herzinfarkt bekäme. Obwohl, wenn ich’s mir recht überlege … Wenn Gene mit einem Herzkasper ins Gras bisse, wäre Tony am Ruder. Wodurch sich alles so viel einfacher gestalten würde.
»Falls Maddy was passiert«, drohte Gene kopfschüttelnd, »werd ich niemals …«
»Ihr wird nichts passieren«, versicherte ihm Tony. Als ihm Gene suchend in die Augen sah, achtete Tony auf einen Gesichtsausdruck, der hundertprozentige Aufrichtigkeit vermittelte.
Schließlich wandte Gene den Kopf ab und starrte wieder aufs Meer hinaus. Ein Muskel zuckte in seiner Kieferpartie. Tony saß einfach da und wartete. Gene hatte seine Miene für Entscheidungsfindung aufgesetzt, und Tony wusste, dass man ihn dabei besser nicht störte. Schließlich blies Gene den Atem aus. »Okay. Tun wir’s.«
Tony zwinkerte Gene zuversichtlich zu, bevor er das Satellitentelefon ergriff und drei Worte hineinsprach: »Es geht los.«
»Ich glaub überhaupt nicht, dass ich immer recht hab«, sagte Mason. »Ich halt mich bloß für verdammt hyper-kompetent, und das führt nun mal dazu, dass ich mit einer überdurchschnittlichen Quote recht hab.«
»Tja, ich schätze, dann hast du mir wohl so richtig die Grenzen aufgezeigt, nicht wahr, Mr Muskelmeier-Oberschlau?«, konterte Alex. »Aber ich sage dir, ich hab irgendwo gehört, dass …«
»Und da kommt das nutzlose Wissen.« Für Bran ließ sich nicht übersehen, wie genervt Mason war, obwohl er hoch über dem Deck des Katamarans auf dem Kapitänsstuhl saß. Dort sorgte er dafür, dass der warme, über den Hawk Channel wehende Wind das Hauptsegel füllte, und versuchte, die schnellen Strömungen zu interpretieren, die das Segelboot hartnäckig vom Kurs abbringen wollten.
»Nur damit wir uns verstehen«, gab Alex schnaubend zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte Mason zornig an, »ich glaub, ich mag dich lieber, wenn du nicht redest.«
Bran blickte mit gerunzelter Stirn auf die beiden hinab. Sie tauschten schon Beleidigungen aus, seit sie den Anker gelichtet und die Segel in Richtung der Dry Tortugas gesetzt hatten. Schon erstaunlich, mit welcher Begeisterung und Hingabe sich zwei Leute in der Wolle haben konnten.
Erstaunlich und nervend. Definitiv nervend.
»Könnt ihr mich noch mal daran erinnern, warum ihr zwei hier seid?«, rief er ihnen zu. Und dann, als er genauer darüber nachdachte … »Und bei der Gelegenheit auch gleich, warum ich hier bin?« Es musste einen Grund dafür geben. Obwohl er sich ums Verrecken nicht daran erinnern konnte, welchen.
Alex drehte sich um und schirmte die Augen gegen das Gleißen der Fahrtlichter ab, die Bran eingeschaltet hatte, nachdem die Sonne langsam und träge im Westen hinter dem Meer versunken war. Kaum hatte die strahlende Scheibe das Wasser berührt, schien es, als hätte dort etwas Hungriges auf sie gewartet, das sie schnell verschlang und nur rötlich-orange Schlieren am Horizont zurückließ. Sterne erwachten am sich verdunkelnden Himmel zum Leben, und das blaue Wasser verwandelte sich in der zunehmenden Düsternis zu einem silbrigen Grau.
Bran liebte es, sich auf dem Meer aufzuhalten. Hier draußen fühlte er sich so frei und … abgekapselt. Hier draußen konnte er vergessen, wer er in Wirklichkeit war.
»Du bist hier, weil dein Stolz nicht zugelassen hat, dass du kneifst, als LT angefangen hat, dich mit gackernden Hühnerlauten zu verhöhnen, nachdem ich ihm von Madison Powers’ Einladung erzählt hatte«, rief Alex zu ihm hoch. Ein breites Grinsen dehnte dabei ihre Mundwinkel.
Richtig. Es fiel ihm wieder ein. Sein bester Freund hatte schon immer gewusst, wie er ihn dazu bringen konnte, Dinge zu tun, die er eigentlich nicht tun wollte. Der Penner.
»Und ich bin hier, weil ich noch nie auf den Dry Tortugas gewesen bin, was die Historikerin in mir als himmelschreiende Schande betrachtet«, fuhr Alex fort. »Außerdem kann von uns niemand was zu den Vorbereitungen für den Tauchgang morgen beitragen. Und wär ich auf Wayfarer Island geblieben, würd ich die ganze Nacht kein Auge zubekommen. Ich bin zu aufgekratzt.«
Aufgekratzt. Nach dem Reinigen des Griffs des Entermessers hatten sie nämlich Kennzeichen entdeckt, die zur Beschreibung eines Kurzschwerts passten, das keinem Geringeren als dem großen Kapitän Bartolome Vargas höchstpersönlich gehört hatte. Was bedeutete, dass sich Alex’ Theorie, die Santa Cristina könnte in den Gewässern um Wayfarer Island gesunken sein, als richtig erweisen könnte.
Eigentlich sollte auch Bran vor Aufregung förmlich vibrieren. Aber ganz gleich, wie sehr er es versuchte, er konnte sich bestenfalls halb auf den erstaunlichen Fund konzentrieren. Die andere Hälfte seines Verstands blieb hartnäckig von der Entfernung besessen, die Wayfarer Island von den Dry Tortugas trennte. Von der Entfernung zwischen ihm und der wundervollen, witzigen und ganz und gar unantastbaren Maddy Powers.
So nah.
Und jede Minute näher.
Er hob sich einen Feldstecher an die Augen. Durch die Vergrößerungsoptik konnte er die wenigen Scheinwerfer am Uferdamm ausmachen, der den Festungsgraben und Fort Jefferson vom Wasser des Golfs um Garden Key trennte. Da die Sonne mittlerweile untergegangen war, rotierte in dem kleinen Leuchtturm auf dem Rand der Ringmauer des Forts ein gelbliches Licht. Es erhellte den weißen Rumpf eines Schiffes. Schien sich um ein Tiefseeanglerboot zu handeln, das gerade vor Anker ging, ein paar Dutzend Meter von dem kleinen Strand entfernt, der sich entlang einer Seite der winzigen Insel erstreckte.
So verdammt nah. Und Bran hatte nicht den leisesten Schimmer, was er zu ihr sagen sollte, sobald sie sich letztlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würden.
Lange nicht gesehen, klang angesichts der Hölle, die sie zusammen durchgemacht hatten, und allem, was sie seither geteilt hatten, entschieden zu flapsig und abgedroschen. Tut mir leid, dass ich nicht auf deine E-Mail geantwortet hab, die Satellitenschüssel ist ausgefallen … Das wäre zwar grundsätzlich wahr, hörte sich allerdings trotzdem wie eine dicke, fette Ausrede an. Somit blieb … was? Die Wahrheit? Ich wollte eigentlich gar nicht kommen, weil du mir ’ne Heidenangst einjagst. Du bringst mich nämlich dazu, mir Dinge zu wünschen, die ich mir nicht wünschen sollte, und Dinge in Erwägung zu ziehen, die ich nicht in Erwägung ziehen sollte.
Als ob das je passieren würde.
Und verdammt noch mal, diese lächerlichen Schmetterlinge kehrten auch ungebeten zurück. Bran griff nach der Flasche Gatorade im Becherhalter an seinem Ellbogen, fest entschlossen, die flatterhaften kleinen Scheißer zu ersäufen. Schon wieder. Doch bevor er das Getränk an die Lippen heben konnte, wurde er davon abgelenkt, dass Alex immer noch redete.
»… und wenn man das alles zusammennimmt, war ja ziemlich klar, dass ich mitkommen würde. Allerdings hab ich keine Ahnung, warum er mit von der Partie ist.« Sie deutete mit dem Daumen nach hinten zu Mason. Als Alex das Gesicht verzog, erfassten die Fahrtlichter das auf ihren Nasenrücken geschmierte Zinkoxid und brachten es zum Glitzern. Sie war der einzige Bran bekannte Mensch, der noch Zinkoxid benutzte. »Ich behaupte mal, er ist hier, weil er’s nicht ertragen konnte, von mir getrennt zu sein«, fügte sie schelmisch hinzu.
Masons Gesichtsausdruck erklärte Alex für verrückt hoch zehn, doch er verlor kein Wort.
»Oh, klasse.« Alex klatschte in die Hände. »Er verständigt sich wieder nonverbal. Oh Jubel, oh Freude!«
Bran öffnete den Mund und wollte die beiden auffordern, damit aufzuhören, sich gegenseitig wie Kinder zu hänseln. Aber bevor er etwas sagen konnte, hallten dumpf zwei peitschende Laute über das Wasser, kaum von den Geräuschen des an der Spiere zerrenden Hauptsegels zu unterschieden, wenn eine besonders starke Bö des salzig riechenden Winds den Stoff straffte.
Die feinen Härchen in Brans Nacken sträubten sich, sein Adrenalinpegel schoss in die Höhe, und Erinnerungen an Hunderte Missionen am Arsch der Welt blitzten durch sein Gehirn. Selbst, wenn er tausend Jahre erlebte, würde er dieses Geräusch immer als genau das erkennen, was es war …
Schüsse automatischer Waffen.
Peng! Peng-peng-peng! Eine weitere Salve hallte über die Wellen und fuhr ihm in die Trommelfelle wie die Detonation von Schallgranaten.
»Maddy!« Ihm war nicht bewusst gewesen, dass er ihren Namen laut brüllte, bis er sah, dass Alex auf Masons Schoß sprang, den Kopf drehte und Bran mit großen Augen und verängstigtem Blick anstarrte.
»Hä? Was?«, fragte sie. Dann entfuhr ihr ein Quieken, als Mason von seinem Sitz aufsprang und sie auf den Armen balancierte, als wäre sie eine heiße Kartoffel. Kaum hatte Mason sie auf die Füße gestellt, knuffte sie ihn in den Arm und schaute finster drein. »Was zum Geier soll denn das?«, verlangte sie zu erfahren. »Du hättest mich leicht über Bord werfen können, und …«
Zu mehr kam sie nicht, bevor ein weiterer Knall über das Wasser peitschte, diesmal unverkennbar.
»Was ist das?«, fragte Alex und schob die Brille den mit Salbe eingeschmierten Nasenrücken hoch.
»Schüsse«, presste Mason knapp hervor.