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Das literarische Tagebuch der Jahre 1989 bis 1995 in erweiterter Neuausgabe.
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Ende der DDR erscheint Hanns-Josef Ortheils literarisches Tagebuch aus jener Zeit in einer neuen, erweiterten Ausgabe. In hochgenauen Bildern, Skizzen und Erzählungen führt uns dieser intensive Zeitroman an der Seite eines Autors, der die rasanten Umbrüche sensibel und mit hellwachem Geist beobachtet, zurück in eine der spannendsten Perioden der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Ohne es zu ahnen und vorherzusehen, wird Hanns-Josef Ortheil in den Jahren 1989 bis 1995 vom mächtigen Strom der historischen Ereignisse erfasst und zu einem bedeutenden Zeugen der Zeit. Das beginnt während eines Aufenthaltes in Prag, wo die ostdeutschen Flüchtlinge gerade die westdeutsche Botschaft besetzen. Und es setzt sich fort in Reisen nach Sofia, Wien, Leipzig, durch ganz Deutschland und immer wieder nach Berlin, wo Ortheil in der Nacht der deutschen Wiedervereinigung im Berliner Hotel Kempinski allein mit Kanzler Kohl an einer Hotelbar sitzt. Den Kontrast zu all diesen Reisen direkt in die Zentren der vielen neuen Geschichten bilden die Aufenthalte in seinem Stuttgarter Gartenhaus. Im stillen Raum eines alten Weinberggeländes kommt der Autor zwischen seinen Reisen zu sich, reflektiert die Veränderungen und porträtiert Freunde und Kollegen bei ihren Versuchen, die Gegenwart überhaupt noch zu begreifen. Dabei erweist er sich als einer der wenigen Autoren aus dem Westen der Republik, der eine genaue Sprache für die große Wende sucht und sie auf eine bis heute ungemein beeindruckende Weise auch findet.
Mit dem Nachdruck von Hanns-Josef Ortheils »Blauem Weg« wird ein wertvolles Zeitzeugnis aus den Wendejahren wieder aufgelegt. Zur Neuveröffentlichung dieses berühmt gewordenen und zu Recht hoch gelobten Buchs hat er einen einleitenden Essay geschrieben, in dem er aus heutiger Sicht zu ergründen versucht, warum er damals diese ganz besonderen Ära so emphatisch und geschichtsnah begleitet hat.
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Seitenzahl: 624
HANNS-JOSEF ORTHEIL
Blauer Weg
LUCHTERHAND
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»Blauer Weg« erschien zum ersten Mal 1996 im Piper Verlag, München.)
© 2014 erweiterte Neuausgabe Luchterhand Literaturverlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-14331-2V003
www.penguin.de
Inhalt
Das Ich und die Geschichte.
»Blauer Weg« – wiedergelesen
1989
Stuttgart, Gartenhaus
Bodensee, September 1989
Prag, September 1989
Freiheitsszenen
Leipziger Oktober
4. November 1989
Graz, 4./5. November 1989
Sofia, 7./8. November 1989
Amras bei Innsbruck, 9. November 1989
Stuttgart, Gartenhaus
Coburg, November 1989
Nürnberg, Dezember 1989
Athen, Dezember 1989
Stuttgart, Gartenhaus
1990
Brüssel, Januar 1990
Lektüren
Berlin, Februar 1990
Cabarete, Dominikanische Republik, März 1990
Stuttgart, Gartenhaus
Berlin, Mai 1990
Brief an Katja G., Juli 1990
Richard von Weizsäcker
Lektüre
Unterwegs, September 1990
Berlin, 3. Oktober 1990
Freiburg, November 1990
Stuttgart, Gartenhaus
Fellbach bei Stuttgart, November 1990
Stuttgart, Gartenhaus
Lektüre
1991
Mainz, Januar 1991
Rom, Villa Massimo, März 1991
Innozenz X., gemalt von Diego Velazquez
6075 kHz
Katholisch
Slowenien, April 1991
Das alte Rom
Deutschlanddebatte
Mysterienfeiern
Der Bundespräsident
Der Ehrengast
Stipendiatenleben
Gespenster
Putschtage
Brief an Katja G.
Pranzo totale
Via Appia Antica
Die römische Schrift
Stuttgart, Gartenhaus
Meißen/Dresden, September 1991
Lektüre
Schlemmen
Lektüre
Vierzig
Stasi-Geschichten
Blockade
Leipzig, November 1991
Bamberg, November 1991
Aachen, Jahreswende 1991/92
1992
Lektüre
Stuttgart, Gartenhaus
Offenbarungen
Stuttgart, Gartenhaus
Berlin, März 1992
Frankfurt/Main, April 1992
Leipzig, Mai 1992
Stralsund/Hiddensee, Mai 1992
Schwarzwald, Juni 1992
Berliner Sommer, 1992
Stuttgart, Gartenhaus
Hannover, September 1992
Willy Brandt
Stuttgart, Gartenhaus
Lichterketten
Köln, Jahreswende 1992/93
1993
Warten
Das Kind
Wien, März 1993
Lektüre
Biographien
Lesen und Schreiben
Berlin, April 1993
Stuttgart, Gartenhaus
Zweite Heimat
Stuttgart, Gartenhaus
Stutgard, Juni 1993
Solingen
Leipzig, Juni 1993
Römischer Sommer/Villa Massimo 1993
Rückkehr
Stuttgart, Gartenhaus
Fulda, Oktober 1993
Goslar, November 1993
Monika Maron
Hildesheim, November 1993
Leipzig, Dezember 1993
Köln, Jahreswende 1993/94
1994
Im Wahljahr
Stuttgart, Gartenhaus
Bonn, Februar 1994
Stuttgart, Gartenhaus
Mainz, April 1994
Deutschlandberichte
»Schindlers Liste«
Römisches Frühjahr
Magdeburg/Halberstadt, Juni 1994
Roman Herzog
Lektüre
Italienischer Sommer
Elias Canetti (14. August 1994)
Rückblicke
Lektüre
Frankfurter Buchmesse, Oktober 1994
Bundestagswahl
Stuttgart, Jahreswende 1994/95
1995
Stuttgart, Gartenhaus
Berlin, Februar 1995
Prag, März 1995
Stuttgart, Gartenhaus
Für Imma
(in memory of Rome III)
Das Ich und die Geschichte
»Blauer Weg« – wiedergelesen
1
FÜNFUNDZWANZIG JAHRE nach dem Mauerfall erscheint mein literarisches Tagebuch Blauer Weg, das zum ersten Mal 1996 veröffentlicht wurde, in einer um diesen einleitenden Essay erweiterten Neuausgabe. Die Wiederlektüre nach so vielen Jahren hat mich erstaunt, entdeckte ich in diesen tagebuchartigen Erzählungen und Porträts aus der Zeit von 1989 bis 1995 jetzt und im Nachhinein doch viele Spuren eines größeren Erzählzusammenhangs, der meine literarischen Arbeiten untergründig durchzieht und miteinander verbindet. Einige Motive und Themen dieses Zusammenhangs möchte ich erläutern, da sie zu einem erweiterten Verständnis des Buches Blauer Weg aus heutiger Sicht beitragen.
2
AUF DEN ersten Blick ist Blauer Weg eine Art Panorama aus kurzen Geschichten, Stimmungsbildern und Reflexionen, wie ich sie bereits seit frühen Kinderjahren geschrieben habe. Solche Texte entstehen noch heute mehr oder minder lang täglich, ergänzt durch chronikartige Berichte über das Vergehen und den Lebensrhythmus der Tage. (Genaueres zu diesen Werkstattverfahren findet man in dem Essay Die unendliche Arbeit am Text,der meinen Essayband Die weißen Inseln der Zeit einleitet.)
In den Jahren von 1989 bis 1995 nahmen all diese Aufzeichnungen überhand, denn die geschichtlichen Ereignisse der sogenannten »Wendejahre« drängten mich immer wieder dazu, bestimmte Details zu notieren. Insgesamt ergaben die Texte dieses Zeitraums ein großes Konvolut, aus dem ich später vor allem jene Teile für den Druck auswählte, die sich im engeren Sinn mit den historischen Ereignissen beschäftigten.
3
WOLLTE MAN ein Leitmotiv des gesamten Tagebuchs fixieren, so könnte man es in der Auseinandersetzung einer einzelnen Person und eines einzelnen privaten Raums mit den Ereignissen der größeren Geschichte erkennen. Ohne es zu ahnen und zu beabsichtigen, gerate ich nämlich schon im September 1989 während eines Arbeitsaufenthaltes in Prag in den Sog dieser Ereignisse. Unweit von meinem Prager Quartier liegt die westdeutsche Botschaft, auf deren Gelände sich genau während meines Aufenthaltes viele DDR-Flüchtlinge einfinden, um die Ausreise in die alte BRD zu erzwingen. Mit einigen dieser Flüchtlinge komme ich in Kontakt, und es sind genau diese Kontakte und Berührungen, die sich immer heftiger fortsetzen und ein intensives Interesse an den Folgevorgängen der deutschen Wiedervereinigung in Gang bringen.
Am Anfang bin ich noch reiner Beobachter, der die Ereignisse zu verstehen und vor allem genau zu beschreiben versucht. Die Beobachterhaltung geht aber allmählich verloren, bis sie sich schließlich in der auch leiblichen Teilnahme an dem, was ich »die Geschichte« nenne, zeigt. Diese Teilnahme findet dann vor allem in Berlin statt. Dorthin reise ich seit dem Herbst 1989 immer häufiger, beschreibe die Veränderungen in der Stadt, lasse mich durch die jetzt leicht zu erreichenden östlichen Quartiere treiben und beziehe dort im Osten schließlich sogar für einige Zeit ein kleines Zimmer, um dem geschichtlichen Umbruch so nahe wie möglich zu sein.
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EMOTIONAL WAREN diese Jahre in meinen Augen eine Zeit starker Glücksmomente und unerwarteter Emphasen, wie ich sie im Erleben und Verstehen geschichtlicher Vorgänge noch nie erlebt und auch nie für möglich gehalten hatte. Dass und wie »Geschichte« die private Existenz in bestimmten Zeiträumen stärker einnehmen und prägen kann, wusste ich durch die Biografien meiner Eltern zwar längst. Diese Prägung war jedoch in ihrem Fall seit Beginn des Dritten Reiches eine durch und durch destruktive gewesen.
In einem kleinen westerwäldischen Ort zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aufgewachsen, waren sie später mitten hinein in die Zentren deutscher Geschichte verschlagen worden und hatten das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg am eigenen Leib als eine einzige Fortsetzung brutaler Zerstörung erlebt. Im Verlauf dieser Destruktion hatten sie während des Krieges und in den ersten Kriegsjahren vier Söhne verloren, so dass man rückblickend behaupten konnte: Meine Eltern waren von »der Geschichte« erfasst, und ihr Lebenswille war beinahe ganz vernichtet worden. Eine noch so geringe Hoffnung, gegenüber der destruktiven Gewalt »der Geschichte« wieder zurück in ein eigenes Leben finden zu können, war ihnen kaum geblieben.
Durch das Beispiel ihrer katastrophischen Biografien hatte ich daher vor Augen, wie Menschen aus einem auf den ersten Blick alltäglichen, privaten und stillen Raum herausgerissen und mitten in geschichtliche, öffentliche und dramatische Aktionen versetzt werden konnten. Umso mehr musste es mich daher faszinieren, dass die Veränderungen nach 1989 in meinen Augen genau gegenteilig verliefen. Sie machten auf mich zum großen Teil den Eindruck einer Beruhigung und einer Wiedergewinnung von Freiheit, Glück und längst vergangenen, weit vor dem Dritten Reich liegenden historischen Perspektiven und Räumen. Ja, es erschien mir so, als löste sich durch die Wiedervereinigung allmählich auch die Blockade, die viele Deutsche beim Rückblick in die Vergangenheit fast nur auf das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg sehen ließen. Die innerdeutsche Geschichte öffnete sich wieder ins weiter und längst Vergangene, und die Annäherung an die östlichen Nachbarländer trug dazu bei, sich einen dauerhaften Frieden in Europa vorzustellen, zu dem das wiedervereinigte Deutschland würde beitragen können.
5
DIE AUFZEICHNUNGEN in Blauer Weg folgen zunächst meinem starken, von den Lebenserfahrungen meiner Eltern ausgelösten Interesse an den Reibungen von privatem und politischem Erleben. Wie solche Reibungen und Konflikte im Einzelnen entstehen konnten, hatte ich bereits in meinem 1983 erschienenen Roman Hecke an den Lebensumständen und Erlebnissen meiner Mutter während der Zeit des Dritten Reiches untersucht.
Von Beruf Bibliothekarin, war sie gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in den Fokus der geschichtlichen Umbrüche geraten. Damals, im Jahr1933, hatten Mitglieder der nationalsozialistischen Partei ihres kleinen westerwäldischen Heimatortes sie aufgefordert, die Benutzerlisten der katholischen Bücherei vorzulegen, in der sie damals gearbeitet hatte. Sie hatte diese Auslieferung verweigert und dadurch nicht nur ihre Stelle verloren, sondern von diesem Zeitpunkt an auch zusammen mit ihrer Familie unter besonderen Schikanen der neuen Machthaber zu leiden gehabt.
Diese Schikanen hatten sich noch verstärkt, als ihr Vater, der für die Zentrums-Partei politisch aktiv war, offen gegen die Nationalsozialisten auftrat und ihr Bruder als katholischer Geistlicher Predigten hielt, in denen er vor den neuen Machthabern warnte. Im Kreis ihrer siebenköpfigen Familie war es daher selbstverständlich gewesen, nach außen hin mit höchster Vorsicht zu agieren. Jedes öffentlich geäußerte Wort musste bedacht und abgewogen werden, so dass ein normales Familienleben nicht mehr möglich war. Das alltägliche, private Erleben stand vielmehr unter Kontrolle, es wurde laufend beobachtet, eingekreist und durchleuchtet. Mit der Zeit zog meine Mutter sich immer mehr ins Private zurück, ging ihren geheim gehaltenen Lektüren nach und dachte in ihren versteckten Aufzeichnungen darüber nach, welche Sprache überhaupt noch gesprochen werden konnte, wenn man die Begriffsfelder der nationalsozialistischen Machthaber umgehen und vermeiden wollte.
Diese schwierigen Lebensumstände dramatisierten sich, als sie im Jahr 1939 kurz nach ihrer Heirat mit ihrem Mann ausgerechnet nach Berlin zog, wo mein späterer Vater eine Stelle als Vermessungsingenieur bei der Deutschen Reichsbahn angetreten hatte. Das junge Paar wohnte in einem Neubau in Lichterfelde, der sich in der Nähe einer SS-Kaserne befand. Auch hier war Geheimhaltung des eigenen Denkens und der eigenen Meinungen das oberste Gebot. Eine erneute Anstellung meiner Mutter als Bibliothekarin verhinderten die Nationalsozialisten, und schon bald bemerkten meine Eltern, dass sie unter Beobachtung standen und sich laufend genau überlegen mussten, wie sie sich den Nachstellungen der Machthaber entziehen konnten.
Während eines Bombenangriffs auf die Reichshauptstadt verloren sie dann ihr erstes Kind, das zweite, bereits dreijährige, kam beim Einmarsch der Amerikaner in den letzten Kriegswochen des Jahres 1945 durch eine Artilleriegranate deutscher Soldaten ums Leben. Die zuvor noch spärlich vorhandenen Momente privaten Rückzugs waren durch diese Ereignisse unmöglich geworden. Alles Private war vielmehr durchsetzt und zerstört von den von außen kommenden politischen Eingriffen, diese Politik vernichtete das Familienleben, und als sichtbarstes Zeichen dieser Vernichtung sprach meine Mutter in den Nachkriegsjahren immer weniger und hörte schließlich ganz auf zu sprechen, als sie wiederum zwei Söhne durch Totgeburten verloren hatte.
So war ihre Biografie eine exemplarische Geschichte der vollständigen Zerstörung privater Ressourcen. Diese Privatheit war schrittweise ausgelöscht worden, und genau von den Details dieser schrittweisen Auslöschung hatte ich in meinem Roman Hecke erzählt.
6
IN DER Nachkriegszeit hat es lange gedauert, bis meine Mutter wieder eine Vorstellung von einem neuen Leben gewonnen hatte. Diese Vorstellung war in den späten fünfziger Jahren durch eine Lektüre geprägt worden, die sie stark angezogen und lange beschäftigt hatte. Gelesen hatte sie damals die Schriften des spätantiken Philosophen Epikur, der über die Grundsätze einer lebensklugen Existenz nachgedacht hatte. Dabei hatte er seinen Schülern nahegelegt, ein Leben im Verborgenen zu führen und in einer Zelle der Zurückgezogenheit zusammen mit wenigen, gut ausgewählten Freunden und Begleitern ein autarkes, selbstbestimmtes Leben zu gestalten.
Der verborgene und geschützte »Garten Epikurs«, in dem das Leben wie in Quarantäne wieder von Neuem erstand, war eine Vorstellung, die meine Mutter sehr faszinierte. Zusammen mit meinem Vater machte sie sich bald daran, für eine solche Existenzform auch die praktischen Grundlagen zu schaffen. So kauften sich meine Eltern in ihrer westerwäldischen Heimat ein relativ großes, bewaldetes, einsam auf einer Anhöhe gelegenes Grundstück und bauten später mitten in diese Waldumgebung hinein ein kleines Haus. Dieses Haus lag geschützt und im Verborgenen, aber es erlaubte einen kilometerweiten Blick in die nähere Umgebung, so dass man gut erkennen konnte, was in dieser Umgebung vor sich ging.
Ich selbst habe in diesem »Haus Epikurs« und dem es umgebenden Garten große Teile meiner Kindheit und Jugend verbracht. Von seiner besonderen Räumlichkeit, vom Raumerlebnis auf der Höhe und den damit verbundenen Momenten des Rückzugs ist mein ganzes Leben stark geprägt worden. Später hatte diese Prägung unter anderem zur Folge, dass ich es nur schwer in Mietwohnungen aushielt und selbst unter einfachsten Bedingungen lieber irgendwo in einem freien Naturraum lebte. So suchte ich immer wieder nach stillen Räumen und Orten des Rückzugs, die dem westerwäldischen Kindheitsraum ähnelten und mir jene Geborgenheit und Ruhe gaben, die ich dort gefunden hatte.
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SOLCHE RÄUME des Rückzugs waren jedoch meist nur für eine befristete, kurze Zeit zu finden. Das aber hatte zur Folge, dass ich vor allem in den frühen siebziger Jahren, nach meiner Rückkehr aus Rom, wo ich ein pianistisches Studium hatte abschließen wollen, nach mehreren Sehnenscheidenentzündungen jedoch mit diesem Lebenstraum gescheitert war, ein sehr unstetes Leben führte. Ich war viel unterwegs und fand nirgends ein Zuhause, das dem meiner Kindheit auch nur entfernt entsprochen hätte. Nachdem meine pianistische Laufbahn gescheitert war, war ich vielmehr in unruhige »Suchbewegungen« (wie man das damals nannte) abgetaucht, die ich als eine Art von »Desertion« verstand.
»Desertion« bedeutete: Ich entzog mich allen Verpflichtungen, ich machte nirgends mit, ich mied die öffentlichen Sphären und vergrub mich in eine Privatheit, die ich mit fast niemandem teilte. Nach der Zerschlagung meiner Kindheits- und Jugendträume, die mich an ein gelingendes Leben als Pianist hatten glauben lassen, wusste ich nicht weiter. Ich duckte mich weg, ich wollte unsichtbar sein, ich dachte nicht daran, irgendwelche Verpflichtungen einzugehen. Am liebsten wäre ich einfach zurück in das westerwäldische Kindheitshaus gekrochen, um dort weiter und wieder mit meinen Eltern zu leben – das aber hätte wie das Eingeständnis einer endgültigen Niederlage ausgesehen.
Mein erster Roman (Fermer), der im Jahr 1979 erschien, erzählt das Leben eines jugendlichen Deserteurs, der sein Kindheitshaus nach einer langen Fluchtbewegung nur für ein paar Tage aufsucht und sich darauf wieder einer endlos erscheinenden Reise durch Westdeutschland hingibt. Erzählt wird das so, als sollte diese Reise niemals aufhören und als gäbe es nicht die geringste Idee von einer möglichen Ankunft oder gar Heimkehr. Über all dem, was in diesem Roman an flüchtigen Kontakten und Enttäuschungen geschieht, liegt eine schwere, fast bleierne Melancholie. In ihr war die große Traurigkeit aufgehoben und gleichzeitig verborgen, die mich nach dem Abschied aus Rom erfasst hatte.
Das zentrale Romanthema der Desertion fixierte ich dann auch ausdrücklich in einem kurzen poetologischen Kommentar, den ich nach Erscheinen des Romans Fermer in der FAZ(vom 30. März 1979) veröffentlichte. Überschrieben war dieser Kommentar Deserteure in bleierner Zeit – der Titel war nichts anderes als die Formel, die ich für mein damaliges Leben gefunden zu haben glaubte.
An den »Garten Epikurs« erinnerte ich mich erst wieder Anfang der achtziger Jahre, als ich mich längere Zeit mit philosophischen Schriften der antiken Lebenskunst beschäftigte. Damals erstand die alte Sehnsucht nach einem solchen Leben neu, die meine Mutter in den späten fünfziger Jahren aus ganz anderen Gründen erfasst hatte. Als Reaktion auf diese Wiederlektüre schrieb ich einen längeren Essay, der das Lebensmodell Epikurs umkreiste und dabei einigen späteren Philosophien nachging, die sich ebenfalls mit ihm beschäftigt hatten. (Nachlesen kann man diesen Essay mit dem Titel Suchbewegungen der Lebensklugheit heute am einfachstenin meinem Essayband Köder, Beute und Schatten aus dem Jahr 1985).
Während ich an diesem Text arbeitete, spürte ich, dass ich mit ihm auch so etwas wie einen Abschied von meiner »Desertion« formulierte. Theoretisch hatte ich diesen Abschied wohl formuliert, doch ich wusste damals nicht, wie er sich in jene Lebenspraxis umsetzen ließ, von der Epikur geschrieben hatte.
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BLAUER WEG beginnt im Jahr 1989 mit einem Rückblick auf eine große Entdeckung. In den achtziger Jahren war ich nämlich nach der Heirat mit meiner Frau nach Stuttgart gezogen, wo sie dann als Verlegerin arbeitete. Ich war mir unsicher, ob ich mich in Stuttgart wohlfühlen könnte, doch meine Frau und ich waren mitten in der Stadt durch puren Zufall schließlich auf ein großes Garten- und Waldgelände gestoßen, das dem westerwäldischen Zufluchtsraum auf unglaubliche Weise ähnelte. Auch hier gab es ein kleines, bescheidenes Haus, von den Seiten her nicht einsehbar und in weiter Entfernung von Nachbarn, und auch hier gab es den umgebenden Wald, einen weiträumigen Garten und den Blick hinab ins Tal und in die weitere Umgebung.
Die erregten Zeilen gleich im ersten Text von Blauer Weg (»Hier, hier, hier! Hier bleibst Du, genau hier, genau jetzt, im Alter zwischen dreißig und vierzig.«) erzählen also von dem in den späten achtziger Jahren längst nicht mehr erwarteten Fund eines epikureischen Raums, in dem sich nach meiner damaligen Vorstellung leben ließ. Sie fallen so emphatisch und triumphal aus, weil in diesem neuen Stuttgarter Raum die Verbindung zu meinen westerwäldischen Kindheitsräumen wiederhergestellt werden konnte.
In gewissem Sinn war der Stuttgarter »Garten Epikurs« eine späte Variante des westerwäldischen Gartenraums, jetzt aber ins Offenere, Leichtere gewendet. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung war das Motto des Essaybandes Köder, Beute und Schatten zu verstehen, der als erstes Buch nach dem Einzug in die Stuttgarter Behausung erschien. Für Außenstehende wohl schwer zu verstehen, lautete es: »Offen steht jetzt wieder ein Saal.« Dieses Zitat war einem Gedicht Friedrich Hölderlins entnommen, der gerade die Stadt Stuttgart und seine Wege, Gärten und Höhen immer wieder als einen Ort der glücklichen Heimkehr besungen hatte. (So etwa, besonders schön, in dem von mir sehr geliebten Gedicht Der Gang aufs Land.)
Aus dem verborgenen Schutzraum des Stuttgarter Gartens führen dann die Wege der Jahre 1989 bis 1995 immer wieder hinaus ins Öffentliche und Weite, wobei ich diese Öffentlichkeit der Zeitereignisse wie schon angedeutet in ganz anderem Sinn als meine Eltern erlebe. Hatten sie sich nach den destruktiven Erlebnissen des Dritten Reiches in den epikureischen Raum wie in eine Fluchtburg zurückgezogen, so verließ ich diese Fluchtburg mitten in Stuttgart, um nach einem langen (»blauen«) Weg durch die Geschichte nach 1989 dann wieder auf glückliche Weise in diesen Schutzraum zurückzukehren.
In diesem Sinn sind die vielen Texte zu verstehen, die in Blauer Weg vom Raum des Stuttgarter Gartenhauses aus erzählt werden. Sie bezeichnen Momente der Rückkehr und Heimkehr, in denen das gerade noch »außen« Erlebte verarbeitet und durchdacht wird. Blauer Weg ist dadurch bestimmt von einer Pendelbewegung: Es geht immer wieder weit ins Öffentliche, Geschichtliche, scheinbar sehr Entfernte – und diese Bewegungen der Entfernung werden dann eingeholt durch die Bewegungen zurück ins Verborgene, Private, Nahe, wo sie nacherlebt und ausfantasiert werden.
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WENN ICH hervorhebe, dass all diese Pendelbewegungen aus dem Stuttgarter Raum hinaus in den öffentlichen Raum (und wieder zurück) einen insgesamt glücklich erscheinenden (»blauen«) Weg zu ergeben scheinen, so vernachlässige ich damit bewusst eine starke Gegenbewegung der Depression und Vernichtung, die in den Jahren 1989 bis 1995 in meinem Leben gleichzeitig verlief, im Gesamttext von Blauer Weg jedoch fast vollständig ausgeblendet wird oder nur in Andeutungen erscheint.
Diese Gegenbewegung zum Gang des »blauen Wegs« war der »schwarze Weg« einer tiefen Trauer, die mich nach dem Tod meines Vaters im Jahr 1988 erfasst hatte. Um die Gewalt dieser Trauer zu verstehen, muss man wissen, dass mein Vater in meinem Leben eine nicht nur herausragende, sondern lebensrettende Rolle gespielt hat. Seit den frühsten Kinderjahren war ich mit ihm besonders eng verbunden, zugleich war er zu meinem wichtigsten Lehrer geworden war.
In meinem autobiografischen Roman Die Erfindung des Lebens (2009) habe ich davon erzählt, wie ich etwa im Alter von drei Jahren genau wie meine Mutter verstummte und lange Zeit nicht zum Sprechen zu bewegen war. Weiter habe ich auch davon erzählt, wie es meinem Vater später gelang, mir das Schreiben, Lesen und Sprechen beizubringen und mir dabei jene Freude an der Schrift und am schriftlichen Ausdruck zu vermitteln, die mich schließlich zu einem täglichen, kleinen Schreiber und Notierer machte.
Mit der Hilfe meines Vaters hatte ich erst ins Leben gefunden, ihm verdankte ich fast alles, was ich konnte, und mit ihm verstand ich mich seit den Kinderjahren so gut wie mit keinem anderen Menschen. Jahr für Jahr waren wir in den Sommermonaten zu zweit auf Reisen, und jede dieser in meinen Augen besonders schönen und abenteuerlichen Unternehmungen hatte ich zunächst in meinen Notizheften protokolliert und anhand dieser Notizen dann in einer Reiseerzählung porträtiert. (Zwei dieser kindlichen Reiseerzählungen habe ich inzwischen veröffentlicht – Die Moselreise (2010) und Die Berlinreise (2014).)
All das macht vielleicht verständlich, dass der Tod meines Vaters für mich mehr war als der Tod eines nahen Angehörigen. Dieser Tod raubte mir eine erhebliche Menge der Sicherheit und Selbständigkeit, die ich nach den gar nicht leichten Kinder- und Jugendjahren erworben hatte. Am deutlichsten zeigte sich das daran, dass ich – ganz ähnlich wie nach dem plötzlichen Ende meiner Pianistenzeit – wieder in eine tiefe Depression versank und mich auf eine lange Reise (der erneuten »Desertion«) begab.
Diese Reise führte mich nicht mehr durch halb Deutschland, sondern in die USA, nach St. Louis, New Orleans, San Franzisco, Key West und weiter in die Karibik, nach Santo Domingo. Kein Plan und keinerlei Idee lag diesen Fahrten und Trips zugrunde, sie ergaben sich völlig willkürlich und zufällig, ja, es konnte sein, dass ich einfach in irgendeinen Bus oder in irgendein Flugzeug stieg und mich zu einem Ziel fahren oder fliegen ließ, an das ich vorher nicht einmal gedacht hatte. Ich ließ mich erneut treiben, ich fand keinen Halt mehr, ich saß nächtelang allein in amerikanischen Hotels oder Bars herum und verstummte immer mehr. (Die Geschichte dieser »Desertion« habe ich dann später in meinem Roman Abschied von den Kriegsteilnehmern erzählt.)
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DIE RETTUNG aus diesen stark depressiven und zerstörerischen Zeiten kam Anfang der neunziger Jahre dann völlig unerwartet: Ich erhielt ein Stipendium für einen Aufenthalt in der römischen Villa Massimo. Nach über zwanzig Jahren, in denen ich Rom nicht betreten hatte, fuhr ich also wieder für längere Zeit in jene Stadt zurück, in der ich mich außerhalb Deutschlands am wohlsten gefühlt hatte.
In Blauer Weg erscheinen die beiden römischen Studienaufenthalte von 1991 und 1993 noch teilweise angebunden an die Ereignisse des deutschen Umbruchs. Vor allem in den Texten aus dem Jahr 1991 ist die Wiedervereinigung (und die Reaktionen der Stipendiaten auf die historischen Ereignisse) oft ein zentrales Thema. Anders ist das im Jahr 1993, als ich die zweite Hälfte der Stipendienzeit lange Zeit allein mit meiner damals gerade geborenen Tochter verbringe. Die römischen Notizen dieses Jahres (die noch in Rom in einem separaten Büchlein mit dem Titel Römische Sequenz zusammengefasst wurden) handeln vom bis heute glücklichsten Zeitraum meines Lebens überhaupt. Im Gesamttext von Blauer Weg bilden sie daher wohl auch so etwas wie eine Insel – fern von Deutschland, fern von epikureischen Rückzugsorten, losgelöst von Geschichte und Öffentlichkeit, reines Dasein.
»Reines Dasein« – das meint: stilles, konzentriertes Unterwegs-Sein in Rom, genaues Sehen, geduldige Annäherung an die Stadt, möglichst präzise Beschreibung der Erlebnisse, unangestrengte Gelassenheit, ja selbst so etwas wie »Heiterkeit«, begleitet von einem Kind, das erst ein paar Monate alt war. Im römischen Raum dieser Erfahrungen verblasste in mir dadurch auf wohltuende Weise der Plan, auch die Ereignisse der deutschen Wiedervereinigung in einem umfangreichen Roman zu erzählen. (So wie ich die westdeutsche Nachkriegsgeschichte bis vor dem Mauerfall, gespiegelt in den Biografien eines brüderlichen Zwillingspaares, in dem Roman Schwerenöter (1987) erzählt hatte.)
Stattdessen ahnte ich, orientiert an den Aufzeichnungen, die 1993 in Rom in lockerer Folge entstanden, dass sich von der deutschen Wiedervereinigung auch ganz anders erzählen ließ: indem ich unentwegt weiter notierte und für einen späteren Rückblick dann jene Notizen auswählte, die dieses Thema in den Vordergrund stellten.
So entstand 1993 in der römischen Villa Massimo der Plan der späteren Textgestalt von Blauer Weg: als Folge tagebuchartiger Eintragungen und Erzählungen, die eine Folge von Pendelbewegungen zwischen privatem und öffentlichem Erleben markierten, als ein dauerndes Hin und Her zwischen epikureischem Dasein und Lebenserfahrungen in einer noch kaum begriffenen Ferne.
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DER MARKANTESTE und für mich am schwierigsten wahrnehmbare Raum dieser Ferne war Berlin. Ich habe bereits davon berichtet, dass meine Eltern in den Jahren von 1939 bis 1945 dort die schlimmste Zeit ihres Lebens verbracht hatten. Nach dem Krieg waren sie nicht wieder in die ehemalige Reichshauptstadt zurückgekehrt, erst im Jahr 1964 war ich mit meinem Vater für nur einige Tage noch einmal dorthin gereist. Im Verlauf dieses Aufenthaltes hatte ich nicht nur alte Berliner Freunde meiner Eltern, sondern auch ihre frühere Wohnung und viele Details ihrer früheren Lebensumstände kennengelernt. (Wie das genau geschah, habe ich noch als Kind in der vor kurzem veröffentlichten Reiseerzählung Die Berlinreise beschrieben.)
In diesem Kindertext wird auch von zwei Besuchen im Berliner Osten erzählt. Der eine ergab sich während einer Stadtrundfahrt, die meinen Vater und mich für nur wenige Stunden dorthin führten, den anderen unternahmen wir auf eigene Faust, indem wir beide einen ganzen Tag über nach Ostberlin fuhren, um uns dort allein und zu Fuß genauer umzuschauen.
Vom zweiten Aufbruch nach Osten behalte ich das bedrückende Gefühl zurück, von den Hintergründen und Lebensgewohnheiten der Menschen dort nur sehr wenig zu wissen. Als Reaktion auf dieses Unwohlsein nehme ich mir vor, später (wenn ich »älter bin« und »mehr und besser verstehe«) häufiger in den Osten zu fahren, um dort genau so exakt und fortlaufend das alltägliche Leben zu protokollieren und zu notieren, wie ich es als Kind mit dem Westen getan hatte. Im Text der Berlinreise ist dieses Vorhaben sogar eine Art von Versprechen: Ich sage und verspreche mir selbst, dass ich irgendwann einmal häufiger in den Osten Berlins fahren werde, um das Leben dort besser zu begreifen und ihm näher zu sein.
Später (als ich »älter war« und »mehr verstand«) ist es dann in der Tat schrittweise zu immer häufigeren Aufenthalten im Osten Berlins gekommen. Sie begannen in den späten siebziger Jahren, als ich meinen ersten Roman veröffentlicht hatte, und sie führten mich mit meinem damaligen Lektor zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie etwa Monika Maron, Wolfgang Hilbig oder Gert Neumann, die in Ostberlin oder Leipzig wohnten. Zu ihnen ergaben sich mit der Zeit recht intensive Kontakte, die teilweise sogar in Briefen und vielen Telefonaten weitergeführt wurden.
Hinzu kam, dass ich in den achtziger Jahren zusammen mit meiner Frau gute Bekannte ihrer Familie in Leipzig aufsuchte, wo wir uns dann auch häufiger während wochenlanger Ferienzeiten aufhielten. Neben Leipzig besuchten wir Dresden oder fuhren in die Sächsische Schweiz und lernten so auch das alltägliche Leben in der früheren DDR besser kennen.
In Blauer Weg ist von all diesen Aufenthalten dann aus der Perspektive der Wiedervereinigung immer wieder die Rede. Durch sie und die intensiven Kontakte mit den Autoren des Ostens, die in diesem Buch einige singuläre Porträts erhielten, versuchte ich mir eine genauere Vorstellung von »dem Leben drüben« zu bilden. Zusammen genommen, lösten diese Texte das Versprechen ein, das ich mir selbst noch als Kind im Blick auf den Osten gegeben hatte: Menschen, die dort lebten, in ihren Eigenarten zu porträtieren, Skizzen des Alltags zu schreiben, den Hintergründen des mir fremden Lebens auf die Spur zu kommen. In den neunziger Jahren verlief die Annäherung an Berlin dann am intensivsten. Ich lebte monatelang dort, und ich quartierte mich schließlich in einer Ost-Wohnung ein, um die Stadt auch von Osten her zu erleben.
So gesehen, führt Blauer Weg den stark melancholischen Abgesang der Berlinreise auf das frühere, elterliche Berlin weiter und lässt diesen Abgesang in die Fortsetzung einer Spurensuche münden, die in einen glücklicher erlebten Raum vordringt. Wo ich als kleiner Junge auf dem Platz der Republik im Jahr 1964 als Zuhörer einer Kundgebung noch Bundeskanzler Erhard und den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, von Stacheldrahtverhauen, der Mauer und dem Wunsch der Berliner nach Freiheit und Frieden hatte sprechen hören, stand ich am 3. Oktober 1990 mit Tränen in den Augen und hörte den Klang der Freiheitsglocke.
Die merkwürdigste Illusion, die ich dabei hatte, war die, dass diese Glocke nicht nur zum Ende der deutschen Teilung und damit aus Anlass eines übergreifenden geschichtlichen Ereignisses läutete, sondern dass aus ihrem Läuten auch die Wiedergewinnung des privaten Friedens für meine eigene Geschichte (und die meiner Eltern) herauszuhören war.
Hanns-Josef Ortheil
Stuttgart, Köln, Wissen/Sieg – im Sommer 2014
1989
Stuttgart, Gartenhaus
SEIT EINIGEN Jahren wohne ich in einem Versteck, in einem kleinen Gartenhaus aus roten Ziegelsteinen, jetzt im Sommer umgeben von einer dichten Wildnis aus Grün. Dahin führt keine Straße. Wer mich besuchen will, erreicht mich nur über einen schmalen, sich auf halber Höhe über dem Stuttgarter Tal entlangwindenden Fußweg, der früher die schrägen Weinberge durchschnitt. Es ist ein verborgener, paradiesischer Weg, von dem man sagt, daß er geradewegs ins Blau führt, ins Blau der Ferne, des Meeres oder des Südens.
Zur Rechten verläuft eine mannshohe Trockenmauer, rötlich, ocker- und sandsteinfarben, die hier und da Buckel wirft und Schlupftore anbietet. Oberhalb die herrschaftlichen Gärten, mit hohen Zypressen und gut gewachsenen Obstbäumen, wo man nur manchmal einen Gärtner sieht und selten einen Anwohner. Unten im Tal liegt die Stadt, dicht verwachsen die Häuser, entlang der Ausfallstraße nach Süden, bevor es wieder steil hügelan geht, hinauf zu den Höhen, wo es auch heute noch Weinberge gibt und verlorene Waldstreifen.
Schon nach einem kleinen Stück Wegs glaubt man nicht mehr, noch auf ein Haus zu stoßen, so plötzlich hat es einen aus der Stadt in die Natur verschlagen. Obstgärten, schmale Grundstücke, die wegen der steilen Hanglage schwer zu bewirtschaften sind. Doch dann sieht man, nach einigen hundert Metern, kurz bevor der Wald einen endgültig verschluckt, unterhalb des schmalen Wegs das kleine Ziegelsteinhaus, kaum fünfzig Meter entfernt von den wie mit dem Silberstift gezogenen Eisenbahnschienen.
Man bleibt stehen, überrascht von diesem Anblick. Damals im Mai, vor einigen Jahren, erschrak ich beinahe, als ich das dunkelrot glänzende Ziegeldach erkannte, in einem Gewoge von Obstbaumblüten, neben einer einzelnen, steil aufragenden Fichte.
Das Haus stand leer, es war zugewachsen, umwuchert von dichten Brombeerranken, wild aufgeschossenen Robinien und üppigem Ahorn, und seine Erscheinung flirrte in der Maisonne wie das Urbild eines Traums, des Traums der Verborgenheit in einem vorzeitlichen Jenseits, in dem die Menschen noch glaubten an den Garten des Glücks.
Von einem Moment auf den andern wußte ich, daß ich genau hier und sonst nirgends wohnen wollte. In meinen Phantasien sah ich das kleine, verfallene Haus mit hellen Sprossenfenstern und weißen Holzläden, ich sah das neu gedeckte Dach und die blitzenden Regenrinnen aus Kupfer, und ich dachte mir das weite Terrain drumherum als Gelände für schmale Pfade, Aussichtsterrassen und versteckte Pavillons.
Ich suchte die Grenzsteine, die Vermessungspunkte, ich lief das Terrain ab, erregt wie ein Spürhund, und ich dachte: ›Hier, hier, hier! Hier bleibst Du, genau hier, genau jetzt, im Alter zwischen dreißig und vierzig.‹
Heute, an einem Sommertag, erzähle ich K., der zu Besuch ist, diese Geschichte. Wir sitzen zusammen auf der kleinen Terrasse, die jetzt an das Haus anschließt, und während ich weiter erzähle, ziehen die Bilder der vergangenen Jahre noch einmal vorbei: wie ich mir Zugang verschafft habe zum Haus, wie ich erst wenige Meter vor dem zugewucherten Eingang den nahen Bahnkörper bemerkt habe, wie ich später, nach Ankaufverhandlungen mit dem Besitzer, begonnen habe, den steilen Hang zu roden, Jahr für Jahr, wie dann ein Pfad angelegt wurde, hinauf, und wie ich zu den verschiedenen Jahreszeiten immer wieder an der Rutsche des abfallenden Geländes stand, um den Obstbäumen Luft zu verschaffen oder die Unkrautinseln zu bändigen.
Ich beschreibe K. das Gelände: dort, die Hügel, schon jenseits des Neckars, dort der Rotenberg, wo der württembergische König Wilhelm I. mit seiner Frau Katharina in einem Sarg aus carrarischem Marmor liegt, dort, in den dichten Wäldern jenseits des Tals der Dornhaldenfriedhof und der ältere Waldfriedhof, mit den Gräbern von Theodor Heuss und Oskar Schlemmer.
Mitten in meinen Erklärungen fährt ein Zug an uns vorbei. K. reckt den Kopf, versucht, das Richtungsschild zu lesen, und sagt, mit einem flüchtigen Blick hinter dem Zug her: »Und dort liegt also Italien …«
Bodensee, September 1989
DAS SCHIFF befährt den Bodensee fast einen ganzen Tag, legt hier und da an, aber kaum einer der Fahrgäste steigt aus. Die meisten haben das Schiff auch nicht betreten, um eine Rundfahrt zu machen, sondern um – bei Kaffee und Kuchen – Dichter lesen zu sehen; so wird die Umgebung kaum beachtet, nur selten steigt man an Deck, ins Freie, um einen Blick auf den See oder die Landschaft zu werfen.
Dichter und Gäste sind eng beisammen und können, für die Dauer fast eines ganzen Tags, nicht voreinander die Flucht ergreifen. Ein Minister ist anwesend und ein Großverleger, einige Kritiker aus der Region, die Dichter gehen einander aus dem Weg oder werfen sich ein paar warmherzige Aufmunterungen zu. So treibt das Schiff dahin, und wer es wie eine große Muschel an sein Elephantenohr halten könnte, würde das ungeduldige Scharren von Kuchengabeln hören und die durch ein Mikrofon verstärkte, ins Flehentliche zurückgeschraubte Stimme eines falsch postierten Alleinunterhalters, der, während er liest, längst weiß, daß die Tiefe des Sees seine Stimme verschluckt hat.
Unter den Vortragenden ist auch Wolfgang Hildesheimer; das Gerücht, daß es einiger Überredungskunst bedurft hat, ihn auf dieses Schiff zu locken, ist glaubhaft. Wir begegnen uns das erste Mal am Vormittag, ich sitze eine kurze Weile neben ihm, doch rasch hat sich unser Gespräch in einem sich immer schneller drehenden Wortstrudel verfangen, in dem alle Meisterschaft der Anstrengung gilt, dem Gegenüber eine immer höflichere und gewähltere Anerkennung zukommen zu lassen.
Beide haben wir über dieselbe Person (Mozart) ein Buch geschrieben, er das Standardwerk, die große Abhandlung, ich einen schmalen, auf einen einzigen Aspekt konzentrierten Essay. So kommen wir nicht umhin, schon in den ersten Sätzen auf Mozart zu stoßen, und je länger wir sprechen, desto heller erstrahlt das Werk des anderen im Licht eines von Eingeweihten beglaubigten Ruhms.
Wie zwei asiatische Weise, die sich laufend voreinander verneigen, läßt Mozart uns reden und stammeln, während wir zugleich unerschütterlich davon überzeugt scheinen, daß wir nur unberufene Wortdiener dieses Ersten der Musik sind. Nach einiger Zeit ähneln wir hohen Priestern, die sich diskret Heimlichkeiten über ihren Gott zuflüstern, schamhaft darauf bedacht, der überall lauernden Gegenwärtigkeit dieses Gottes zu entgehen.
Aber Hildesheimer ist der Oberpriester, der hoch geehrte und geweihte, während ich noch zur Jünglingsgilde gehöre. Nie jedoch ist in unseren Gunstbezeugungen von diesem Unterschied die Rede, obwohl wir uns seiner bewußt sind.
Erst als der Minister erscheint, klärt sich die Lage. Entschieden nimmt er den Großmeister beiseite, legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt: »Ja, die Zeiten der Gruppe 47, lieber Hildesheimer, das waren noch Zeiten, die kommen nicht wieder! Was ist dagegen heutzutage schon los?«
Und ich sehe, wie Hildesheimer mich ein letztes Mal anschaut und wie er, nachdem unsere Priesterrede so plötzlich zusammenbrach, tief erschrickt, als habe er gerade zu hören bekommen, er stamme aus einer tiefen Vorzeit, dem Reich der Urahnen, aus dem kein einziges Pfädchen in die Gegenwart führe.
Später, als Lesungen und Diskussionen uns nicht mehr irritieren, sitzen wir noch einmal eine Stunde zusammen, abseits, recht ungestört. Doch jetzt, als die Gunstbeweise längst getauscht sind, spricht nur er allein. Es ist ein langer Monolog, von großer Müdigkeit, von Verdruß, und Hildesheimer sitzt so nah, daß ich seine Erschöpfung und Bitterkeit beinahe physisch, im Kleinerwerden seiner Gestalt, wahrzunehmen glaube.
Und ich denke, ich müßte ihn buckeln und ihn hoch hinauf, an Deck, ins Freie tragen, wo jetzt der Abendwind weht. Da aber sagt er: »Jetzt ist es genug, Sie haben alles gehört, in meinem Alter höre ich mich nicht mehr gern reden.«
Prag, September 1989
WIR WOHNEN auf dem Hradschin, in schönen, großen Zimmern, aber wir wohnen geheim, unsere Freunde haben uns gebeten, nicht weiter aufzufallen in diesem geräumigen Mietshaus, dessen breite Steinwendeltreppe tagsüber in dunkler, feuchter Zugluft liegt. So hasten wir jedes Mal hinauf in den obersten Stock, dort fuhrt die schmale Pawlatsche (Pawlatsche, Pawlatsche denke ich jedes Mal, wenn ich sie betrete, und diese Worte sind noch fremd wie ein alter Gesang) zur Eingangstür unserer Wohnung.
Unsere Freunde sind nach London gefahren, für drei Wochen, und so haben wir jetzt diese Wohnung für uns. Vom Schlafzimmer sieht man hinaus auf eine ockergelbe Häuserflucht, und genau das will ich sehen, Arkaden, Voluten, in den Farben verblichen. Es ist eine Gasse, die in der schwachen Beleuchtung der Nacht eine täuschende Wirkung entfaltet, in der Stille hallen die Schritte, und jede Bewegung in diesem Arkadenraunen bekommt etwas Heimliches, als huschten schmale, wendige Körper von Versteck zu Versteck.
Solcher Eindrücke wegen bin ich hierher gefahren. Ich denke an eine Erzählung, die im Prag des späten achtzehnten Jahrhunderts spielt. Ich habe sie recht genau im Kopf, ihre Figuren sind mir so vertraut, daß sie längst beginnen, für sich selbst einzustehen. Was mir aber fehlt, sind Vorstellungen von ihrer Umgebung, eine genaue Kenntnis von Straßen und Häusern, Phantasien darüber, wie es um 1800 wohl ausgesehen hat.
Um diese Phantasien zu beleben, laufe ich wie ein Archäologe durch die Stadt. Ich bemühe mich, das alte Prag wiederzufinden, und da große Partien der Innenstadt sich wirklich seit dieser Zeit kaum verändert haben, hoffe ich auf die Gegenwart der Gespenster, als könnte man zurückfinden zu den Rudimenten eines fast versunkenen Traums.
Bei meiner Arbeit ist mir ein plastisches Modell der Stadt sehr behilflich, das der Maler und Lithograph Antonín Langweil aus Holz und Papierpappe schuf. Langweil hatte ein Modell von Paris so begeistert, daß er sich entschloß, etwas Ähnliches auch von Prag anzufertigen. Acht Jahre, von 1826 bis1834, arbeitete er an seinem Projekt, so genau und fanatisch, daß er darüber seine Gesundheit einbüßte.
Bis in die kleinsten Details, die Unebenheiten des Straßenpflasters, die Farben der Portale, die Windungen der Dachröhren, porträtierte Langweil die Stadt, und zu meinem Glück tat er es rechtzeitig vor den großen Umbauten und Veränderungen seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Fotografien seines farbigen, aber menschenleeren Modells, die ich zur Hand habe, sind die idealen Ergänzungen zu meiner Gespensterschau, als betrachtete ich eine stille Bühne, hinter der Scharen von Schauspielern auf ihren Auftritt warten: das satte Rot der Dächer ist durchsetzt von Tausenden grauweißer Schornsteine, die blaßgelben Häuserfassaden werden durchbrochen vom Blaugrün der Fenster, die Plätze und Straßen wirken künstlich und sauber, als seien all diese Szenerien eingelassen in eine Kugel aus Glas, die ihre Zeitversunkenheit noch verstärkt.
Wenn wir am Morgen hinab in die Stadt gehen, kommen wir an unserer Botschaft vorbei, die sich heute im alten Palais Lobkovic befindet, dessen Entrée auf Langweils Modell noch von dichten Büschen und Bäumen umgeben ist, stadtentrückt und geheimnisvoll wie ein Eichendorffsches Zauberschloß.
Jetzt wird dieses Terrain streng bewacht. Durch den Sehspalt eines tristen Bretterverschlags kontrollieren Polizisten und Geheimdienstfiguren den Eingang, doch weiter rechts führt ein schmaler Pfad an der Mauer entlang, die den rückwärtigen Garten zu beiden Seiten umschließt. An manchen Punkten erhascht man einen Blick auf das Gelände. Man sieht die großen schneeweißen Zelte mit den winzigen Schornsteinen, die Wäscheleinen mit den zum Trocknen aufgehängten Wäschestücken und kleine Gruppen der DDR-Flüchtlinge, von denen sich jetzt schon Hunderte hier aufhalten.
Die meisten gehen irgendwelchen Tätigkeiten nach, ohne daß ein einziger Laut zu hören wäre. Es ist, als beherbergte man hier ein fremdes und in seinen Riten eigenwilliges Volk von Nomaden, das sich auf einer langen Wanderschaft befindet und dabei um jeden Preis für sich bleiben will. Niemand schaut nach draußen, über die Mauer, jeder scheint mit sich beschäftigt, und doch kommt es einem so vor, als handelten alle nach einem gemeinsamen, schon immer feststehenden Plan.
Erst an der Rückseite des Parkgeländes trifft man auf einen hohen, schmiedeeisernen Zaun, wo man all diesen merkwürdig verlangsamt erscheinenden Bewegungen sehr nahe ist, so nahe, daß man unwillkürlich zusammenzuckt wie einer, der verbotenerweise eine intime Szene betrachtet. Sobald man erkannt wird, nähern sich einige, wie aufmerksame und doch irgendwie gleichgültige Wachen, die eine Grenze andeuten. Spricht man sie an, legen sie diesen Habitus sofort ab, fragen zurück und beginnen zu erzählen. Manche kommen schon bald regelrecht in Fahrt und berichten ihre Fluchtgeschichte, als hätten sie das schon oft getan; andere trumpfen mit sarkastischen und heftigen Worten gegen das Regime auf, als müßten sie einen wachrütteln. Meist gipfeln solche Reden in der mehrfachen, trotzig geäußerten Behauptung, daß man niemals in die DDR zurückkehren werde, als sei die DDR ein Liebhaber, dem man in Jugendjahren vertraut und der einen dann abgrundtief und über viele Jahre enttäuscht und betrogen habe.
Es sind Einzelgänger, mit denen man sich da unterhält. Sie sind mißtrauisch, nicht nur gegenüber dem Fremden, sondern anscheinend noch mehr gegenüber dem Nächsten, der sich ebenfalls am Zaun eingefunden hat. Manchmal werden sie von den weiter weg Stehenden zur Räson gerufen, als erhielten sie von dieser Klasse der Familienväter und Zeltinsassen, die besonders mißtrauisch ist und alle Kontakte nach draußen streng meidet, geheime Befehle. Sie wenden sich ab und kehren in die innere Zone zurück, nur selten schert einer noch einmal aus, kommt für Sekunden plötzlich zurück und bittet einen flüsternd um etwas Kaffee oder eine Flasche Rum, was zu übergeben und auszuhändigen wäre zu einer bestimmten, rasch vereinbarten Stunde.
Ich bin mit einem der höheren Angestellten des Clementinum, der großen Staatsbibliothek in der Nähe der Karlsbrücke, verabredet. Es ist der Leiter einer der vielen Abteilungen, der mir bei meinen Buchrecherchen über das Prag des späten achtzehnten Jahrhunderts behilflich sein soll. Doch als ich zur vereinbarten Stunde erscheine, erklären mir seine Mitarbeiter, daß der Herr heute leider verhindert sei, aus recht undurchsichtigen Gründen. Ich werde hinab in den großen Katalogsaal geführt, man drückt mir einige Bestellformulare in die Hand, ich soll allein mein Glück versuchen, irgendwann wird der Herr Abteilungsleiter schon auftauchen, obwohl er viele Termine hat, unglaublich viele Termine.
Nach einiger Zeit habe ich zumindest einige Titel entdeckt, die mir weiterhelfen könnten. Ich gebe die Bestellformulare ab, und man sagt mir, ich solle am Nachmittag vorbeischauen, oben im großen Lesesaal, wo man mir die Bücher aushändigen werde.
Am Nachmittag erhalte ich meine Bestellformulare zurück. Jedes ist mit einem dunkelblauen, schweren Stempel versehen. Die Bücher, heißt es, seien nicht vorrätig, sie befänden sich in einer der zahlreichen Außenstellen der Bibliothek, beinahe schon auf dem Land. Als ich darum bitte, sie mir für einen der nächsten Tage zu besorgen, erklärt man mir, eine solche Bestellung werde sich über Wochen hinziehen, und wochenlang wolle ich doch sicherlich nicht warten.
Auch an den nächsten Tagen erreiche ich meinen Abteilungsleiter nicht. Er scheint krank zu sein, oder er ist verschollen, oder er ist untergetaucht, in einem der vielen unterirdischen Kanäle der Bibliothek, wo meine Bücher auf mich warten.
Seit ich die Menschen auf dem Botschaftsgelände gesehen habe, betrachte ich die vielen DDR-Touristen, die sich in der Stadt aufhalten, schon wie potentielle Flüchtlinge. In einem Lokal sitzen drei jüngere Burschen in einer Ecke beim Bier und machen sich, wie ich deutlich höre, Mut, es am frühen Abend zu versuchen. Angeblich ist es ganz einfach, nur ihren Wagen wollen sie noch vorher verkaufen. Auch der Wagen ist Schrott, sagen sie, alles ist Schrott, was in der DDR zu erhalten war, deswegen haben sie auch nur das Notwendigste dabei, in einer Reisetasche, ebenfalls Schrott. Im Westen wird man sich sofort eine neue kaufen, oder vielleicht erhält man dort sogar eine neue geschenkt, ganz zu schweigen von den Autos, von denen jedes gebrauchte, sei es noch so heruntergekommen, ein DDR-Modell in den Schatten stellt. Sie reden, als sei die DDR so etwas wie eine schleichende, furchtbare Krätze, oder wie eine Infektion durch Tausende kleiner Viren, von denen man sich nur durch eine Radikalkur, durch absolute Vernichtung, befreien könne.
Nach einigen Glas Bier sprechen sie einen an und beginnen von neuem mit ihren Geschichten. Am Abend, sagt einer, sind wir drüben, dann kommst du zum Zaun, uns besuchen, dann kannst du uns gratulieren, dann fängt das ganze Leben erst richtig an.
Verglichen mit diesen Abenteurern, wirken die Reisegruppen, die etwa im Innenhof des großen Bierlokals U Fleku noch einen langen Tisch belegen, als seien sie wirklich nur wegen des Urlaubs aus der DDR hierher gekommen, bereits wie gedemütigte und hinters Licht geführte Vorführreisende. Sie sitzen eng beieinander, die Bestellung wird zentral aufgegeben, und als die immergleichen Portionen von Schweinebraten, Kraut und Knödeln kommen, machen sich alle still darüber her, als gehörte selbst das Essen zum Vorführritual der gespielten Gleichgültigkeit. Selten verläßt einer den Tisch, sie bleiben zusammen, sprechen leise, die Speisekarten werden gleich weggeräumt, als habe schon das bloße Angebot etwas Verstörendes. Man nippt am dunklen Bier, ohne zuviel davon zu trinken, wahrscheinlich wurde man eindringlich gewarnt. Später stehen alle wie auf ein gemeinsames Kommando hin wieder auf, schließen sich zu einer unverwundbar erscheinenden Zelle zusammen und lassen sie vielfüßig hinauswandern, in Reih und Glied, ganz gehorsam.
Ich habe die Bertramka gesehen, die draußen, etwas außerhalb des alten Stadtzentrums, an einem sanft ansteigenden Hang liegt, der früher einmal ein Weinberg gewesen sein soll. Die Bertramka ist das Heiligtum aller Mozart-Freunde, denn einer schwach gesicherten Tradition zufolge soll Mozart in diesem Landhaus seiner Prager Freunde, der Sängerin Josefa Dušková und des Komponisten Franz Xaver Dušek, einen Großteil des »Don Giovanni« geschrieben haben. Dort, erzählt jemand, dort im Garten, habe er an seinem Meisterwerk geschrieben, an dem kleinen Steintisch, der sich bis heute erhalten habe; dort, erzählt ein anderer, habe ein kleiner Pavillon gestanden, in dem man den Arbeitsunwilligen eingeschlossen habe, damit er die Ouvertüre des Werkes endlich vollende; und dort, in seinem Arbeitszimmer, stehe noch heute das Cembalo, das er benutzt habe.
Ich habe die Bertramka gesehen, und die Bertramka ist etwas sehr Fremdes. Der große Garten neigt zum Verwildern, es gibt dort einen feuchten und kalten Steintisch, der etwas so jämmerlich Hilfloses hat, daß niemand je auf den Gedanken gekommen sein kann, auf seiner windschiefen Platte eine Oper zu schreiben; auch den Pavillon gibt es nicht, er wurde von den vielen Mozartverehrern abgetragen, jeder nahm ein kleines Stück mit, und am Ende befand sich an seiner Stelle ein gewaltiger Ameisenhaufen. Das Cembalo, doch, das Cembalo ist noch da; es steht vor einem ordentlich hohen Fenster mit weißen Sprossen und weißen Gardinen. An der Decke hängt ein Leuchter, der Tag und Nacht brennt, und zwischen den weißsprossigen Fenstern brennen vier kleine Lämpchen, Tag und Nacht. Das Cembalo steht auf einem recht großen Teppich, und vor ihm steht ein hübscher Rokokostuhl mit rotem Polster, der jedoch eigentlich zu dem kleinen Tischchen gehört, neben dem Cembalo, ebenfalls rot überzogen.
Ich habe die Bertramka gesehen. Drinnen, drinnen glaubt man, wenn man das Glück hat, niemandem zu begegnen, in einem diffusen Jenseits zu stehen. Man möchte darum bitten, die großen Läden zu schließen; man möchte die Lampen löschen, und auch die kleinen, weißen Vasen mit frischen Blumen gehören hinaus. Man möchte sich auf den Boden legen, in dieser Bertramka, nicht auf den Teppich, nicht zwischen die Möbel. Auf dem glatten Parkettboden möchte man eine Nacht lang liegen, bis alle Bilder sich verflüchtigt haben und die Phantasien so heraufziehen, als wären es wahrhaftig die eigenen.
Die neugierigen Reisenden, die über ihre Aufenthalte im Prag des späten achtzehnten Jahrhunderts berichten, erwähnen immer wieder den außerordentlichen Appetit der Bewohner. Schon früh am Morgen würden die Dienstboten in die Fleischbank geschickt, um Ochsen-, Kalb- und Schweinefleisch zu besorgen; die Frauen der Fleischhacker säßen dort beieinander und frühstückten bis zum Mittag, indem sie sich im Verlauf dieser Morgenstunden mit gebratenen Gänsevierteln, Spanferkeln, Bratwürsten, Gebackenem, Wein, Bier und Kaffee versorgten, und zwar ununterbrochen. Durch die Gassen zögen die Milchweiber, von denen täglich viele hundert vom Land in die Stadt kämen, mit großen Krügen und mit schweren Löffeln zum Umrühren der Milch; das Geschrei der Würstelmänner sei an allen Ecken zu hören, auch die Ziegenmilchhändler, meist mit zwei Ziegen unterwegs, machten sich lautstark bemerkbar. Vier Gerichte am Tag seien üblich, nicht nur bei den höheren Kreisen, sondern auch beim Mittelstand; die Garküchen auf den Straßen, in offenen Buden oder Lauben, seien überlaufen; der Dampf des Fettes, der Speisedunst, der Geruch von Essig und Öl übten auf beinahe jeden Spaziergänger eine betäubende Wirkung aus; in allen Straßen gebe es Bäckerbuden, mit köstlichen Lebkuchen, Obst- und Konditoreiwaren; sehr in der Früh seien die Wein- und Branntweinhäuser schon voller Menschen, und in den Läden der Spezereiwarenhändler würden köstliche Liköre, Meeresfische, seltene Früchte angeboten; die meisten Brauhäuser der Altstadt befänden sich in der Langengasse, von den Bierbrauern seien Ruzizka, Langquara und Waclawka die vorzüglichsten; in den öffentlichen Gärten, Tanz- und Spielsälen von nicht überschaubarer Zahl werde viel Selzer mit noch mehr Wein vermischt getrunken …
Solchen Einflüsterungen folge ich. Ich versuche, mir die andere Stadt vorzustellen, eine Stadt, wo die jungen Herren mit Hofmeistern und Bedienten unterwegs sind und die Mädchen mit Gouvernanten, eine Stadt mit Aschesammlerinnen, die hölzerne Bottiche auf dem Rücken tragen, mit Mausefallenhändlern, die ihr ›Follo! Follo!‹ schreien, eine Stadt mit Seifensiedern, mit Wachsziehern, mit Rauchfangkehrern, eine Stadt mit Büchsenmachern, Schleifern, Schwertfegern und Strumpfwirkern …
In den inneren Zonen meiner Stadt gruppieren die Stimmen sich zu Clustern, rhythmisiert vom Geschrei der Verkäufer; in den Randzonen hört man das Singen und Fiedeln aus den Tanz- und Ballsälen, punktiert vom dumpfen Krachen der Kegel; an den Toren aber, wo die Wachtposten aufmarschiert sind, lagert schon die Stille des weiten Landes, lauernd und groß.
Mehrmals haben wir uns nun schon am rückwärtigen Teil des Palais Lobkovic eingefunden, wo am hohen schmiedeeisenen Zaun immer wieder dieselben auskunftsbereiten Flüchtlinge auf die Passanten zu warten scheinen. Wir erhalten kleine Zettel, auf denen die Wünsche exakt verzeichnet sind. Inzwischen haben sie begonnen, sich als Medienschicksale zu sehen; sie berichten von japanischen Kamerateams, Kürzel wie BBC und CBS gehen ihnen jetzt leicht über die Lippen und wirken wie magische Siegel, die jede Wende zum Schlechteren bannen sollen.
An diesem frühen Abend jedoch wurden wir Zeugen, wie eine Frau mit ihren zwei kleinen Kindern versuchte, das hohe Gitter zu übersteigen. Die drei haben sich dem Zaun sehr langsam genähert, die Frau trug eine kleine Tasche, die Kinder hielten ihre Stofftiere in Händen, das alles erweckte den Anschein, als seien es Bewohner aus der Nachbarschaft, die den holprigen Weg zum Laurenziberg hinaufzögen.
Plötzlich aber begann die Frau laut zu schreien, als wollte sie die Kinder aufwecken, scheuchen oder warnen vor einer immensen Gefahr. Das unvermutete Schreien gellte hinüber zu den weißen Zelten, von wo sofort Gruppen von Hilfsbereiten an den Zaun eilten. Die Kinder hatten ebenfalls zu schreien begonnen, sie schrien, während sie sich gleichzeitig die Ohren zuhielten. Steif vor Schreck, mit weiten Augen standen sie neben der Mutter, die sie nacheinander hinauf zu den griffbereiten Händen der Parkbesetzer hob, während sie selbst weiter schrie vor Erregung und Furcht. Erst als sie den Kindern gefolgt war und den rettenden Boden der anderen Seite erreicht hatte, hörte sie damit auf, weinend jetzt, erbärmlich weinend, als sei sie einer Katastrophe entkommen.
Seit diesem Erlebnis machen wir um das Palais Lobkovic einen weiten Bogen, sei es, weil uns der Schreck wie ein unvergeßlicher Biß in den Körper gefahren ist, sei es, weil wir unsere Zeugenschaft als unwürdig empfinden, als müßten wir uns entschuldigen dafür, was wir gesehen.
Wir haben Prag noch vor Ankunft unserer Freunde verlassen, so war es vereinbart. In dem alten Mietshaus sind wir niemandem begegnet. Wir haben heimlich den Briefkasten unserer Freunde geleert, ihre Blumen begossen und darauf geachtet, jeden Lärm zu vermeiden. Wir sind über die Pawlatsche gehuscht wie schwache Schatten, und wir haben unseren Wagen weit abseits geparkt, in einer unauffälligen Nische. Wir haben nichts mitgenommen aus Prag außer den ältesten Bildern und außer den jüngsten, ganz fremden; das gegenwärtige Prag haben wir, so gut es ging, gemieden. Nur die Augen eines Mannes sind uns in Erinnerung, der oben, neben unserer Wohnung, manchmal hinter einem Holzverschlag auftauchte und zu unserer Eingangstür herüberschaute. Er schaute minutenlang, ohne sich zu bewegen. Es waren die Augen eines uralten bärtigen Mannes, eines Mannes wie aus dem Kinderbuch, und das ließ uns glauben, es seien die Augen eines freundlichen, wenn auch neugierigen Menschen, der nichts Böses plante.
Freiheitsszenen
AM FRÜHEN Abend die Bilder aus der Prager Botschaft. Genscher fährt in einem weißen BMW vor. Auf die Frage, woher er jetzt komme, die Antwort, er komme aus Bonn, wo er wiederum am Morgen aus New York eingetroffen sei. Ob er mit Vertretern der tschechischen Regierung zusammenkommen werde? Mit denen habe er bereits am Flugplatz gesprochen.
Jede Wendung dieser kurz hingestreuten Antworten an die bettelnd fragenden Journalisten strotzt von Diplomatie und dokumentiert das weltweite Strippenziehen. New York, Bonn, die Gespräche der Außenminister – es klingt, als habe der höhere Olymp getagt, um den Irdischen endlich ein paar Wunder zu gönnen.
Jetzt muß Genscher sie nur noch aus der Tasche ziehen, knapp, kurz; keineswegs darf er sich lange aufhalten, um die Geduld all der Tausenden nicht zu strapazieren, die auf seine erlösenden Worte warten. Und er macht es gut, genau richtig. Denn er beginnt mit Grüßen der Bundesregierung und setzt fort mit besonderen Grüßen an die anwesenden Hallenser. Mit zwei einleitenden Sätzen hat er die Spannung aufgebaut, die der nun folgende dritte Satz unbedingt lösen muß: »Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß heute Ihre Ausreise …« – das ist alles, der Satz zielt genau auf jenes Wort, das alle herbeisehnten. Der ausbrechende Jubel bestätigt, daß es auf mehr nicht ankommt.
Woran erinnerte mich das Ambiente dieser großen Szene? Der Auftritt am frühen Abend, kurz vor der hereinbrechenden Dämmerung, unterhalb der gewaltigen Burg des Hradschin …, diese wenigen Sätze vom Balkon eines Rokoko-Palais …, die im weiten Garten der Botschaft in der Dunkelheit wartenden Menschenmassen, deren Erleichterung von spitzen Schreien in Sprechchöre überging … – es war nicht die Szene eines Schauspiels, sondern eine Szene der klassischen Oper, ja, es erinnerte an eine Befreiungsszene der revolutionären Ära des späten achtzehnten Jahrhunderts. Und plötzlich waren auch die hohen Trompetenklänge da, und die Worte des herbeieilenden Pförtners Jaquino, atemlos, gedrängt: »Der Herr Minister kommt an. Sein Gefolge ist schon vor dem Schloßtor.«
Ja, die besondere Stimmung dieses Auftritts hatte etwas von Beethovens »Fidelio«, bis ins Märchenhafte hinein, bis ins rundum utopisch Gedachte, wo der gerade im richtigen Augenblick eintreffende Minister das Schlimmste verhindert und die Scharen der zu Unrecht Gefangenen aus ihren Verliesen hervorkommen, bei Beethoven begleitet von einem der schönsten Befreiungschöre »Heil sei dem Tag, Heil sei der Stunde«, der das Ende der langen »Tyrannenstrenge« hinaussingt.
In diesem ungemilderten Opernglück aber ging es weiter, als die ersten Menschen die Botschaft verließen und sich in die bereitstehenden Busse drängten: erstickt vom Überwältigenden dieser Szene, daß man sich als Zuschauer dieser Momente am liebsten abgewandt hätte. Im letzten Moment aber bekam man noch das kleine Kind auf den Armen der Mutter zu sehen, das im gleißenden Licht der Scheinwerfer ruhig und beinahe sachlich damit beschäftigt war, der Mutter Träne für Träne aus den Augen zu wischen.
Am nächsten Tag ruft mich P. aus den Vereinigten Staaten an; er hat gerade die ersten Bilder von der Ankunft der Flüchtlinge im Westen gesehen: die unter Schock stehenden Menschen, die aus den Zügen taumeln, als hätten sie Hunderte von Erdumrundungen hinter sich; die kleinen Gruppen, die sich unsicher aneinanderklammern, ohne sich auch nur einen einzigen Schritt fortzubewegen; die immer wieder von Tränen und Erschütterungen verzerrten Gesichter, in denen der Schrecken noch nicht von der Freude verdrängt ist. P. geht aber auf diese Szenen nicht ein. Statt dessen spricht er von den Bildern der in den Bahnhof von Hof einlaufenden Züge, aus deren Fenstern sich Hunderte von Armen reckten; und er spricht von den Hunderten, die ihnen vom Bahnsteig aus entgegenwinkten. Diese Szenen, sagt er, überträfen selbst Hollywood: Massenszenen, von einer Wucht, von einer Symbolkraft, wie sie kein Regisseur hinbekomme. Die Bewegungen der ankommenden und der wartenden Massen, diese Choreographie all der winkenden Hände – all das habe etwas traumwandlerisch Selbstverständliches gehabt, wie es auch der besten Inszenierung im Grunde nie gelinge. Das hatte etwas Naives, etwas von naiver Erhabenheit, sagt P. noch und lacht dabei laut, als sei ihm dieser Begriff denn doch nicht ganz geheuer.
Vielleicht fühlte P. sich an etwas Ähnliches erinnert wie ich. Diese Szenen der Befreiung wirken urtümlich und einfach. Gerade dadurch sind sie unseren gefälligen und klug inszenierten Gegenwartsbildern, an die uns der Film längst gewöhnt hat, überlegen. Sie verweisen in Vergangenheiten, in denen Begriffe wie ›Freiheit‹ und ›Gerechtigkeit‹ etwas Emphatisches, Strahlendes hatten. Im Grunde glaubt man sich wahrhaftig um Jahrhunderte zurückversetzt, in Zeiten sogar vor Erfindung solcher Geräte wie Kamera oder Fernsehen. Auch mein »Fidelio«-Vergleich erinnerte solche Wahrnehmungen: einen tiefschwarzen Hintergrund, vor dem sich, durch Blitze erhellt, Bilder von schrecklicher, einfacher Wahrhaftigkeit gestalten.
Man sitzt vor solchen Bildern hilflos, und das Zuschauen hat etwas Peinliches. Was bleibt, ist ein Würgen im Hals, als habe man damit zu kämpfen, eine solche Direktheit zu verdauen.
Worauf ich jetzt neugierig wäre: auf sehr genaue Berichte der Flüchtlinge über ihre ersten Tage und Wochen. Was fällt ihnen auf, was erscheint ihnen fremd, was überfordert sie, wie gehen sie mit diesen Überforderungen um? Neue Farben, Gerüche, Klänge, neue Worte, schon ein Gang in einen Supermarkt wird viele erschrecken. Das gewaltige und gewiß obszön erscheinende Warenangebot, die Unsicherheit, welche Waren die richtigen sind, neue Geschmacksempfindungen, die rasch sich verändernden Umgebungen, das neue Tempo insgesamt, die Hierarchien der Behörden …
All diese Eindrücke müßten notiert werden, konkret und bis in die winzigsten, unscheinbarsten Wahrnehmungen. Nichts wäre faszinierender und anschaulicher als solche Notate und Berichte.
Natürlich plagen die Medien sich ab, den Flüchtlingen Kommentare und Berichte zu entlocken. Aber sie bringen nicht die Geduld und die Genauigkeit auf, um zu solchen Texten vorzudringen, die mir vorschweben. Auf dem Bahnsteig von Hof werden die Flüchtlinge lediglich abgefragt. Die Erschöpfung läßt sie nicht weit kommen, die meisten werden nicht einmal ahnen, welch schwieriger Weg jetzt vor ihnen liegt. Sie treten aus einem verblichenen, gesprungenen, an den Rändern überall rissigen Schwarz-Weiß-Film in die ausgeleuchtete Buntheit eines Videoclips. Jetzt, genau jetzt, beginnen die neuen Geschichten: eine Packung Zigaretten erstehen und dafür (statt einer Mark sechzig) vier Mark bezahlen …
Nein, ich kann mich in keinem Moment in die inneren Welten dieser Flüchtlinge hineinversetzen. Sie kommen schließlich nicht nur aus einem anderen Land, sondern eher noch aus einer anderen Zeit. Sie sind geprägt von Milieus und Umgebungen, die mir völlig fremd sind. Ich kann mir nicht vorstellen, sie zu ›verstehen‹, so, wie ich mir oft vorstelle, Italiener und Franzosen zu ›verstehen‹. Obwohl diese Menschen meine Sprache sprechen, sind sie doch in einem Land aufgewachsen, in dem die Sprache eine ganz andere Bedeutung hatte und ganz anders benutzt wurde als hierzulande. Oberflächlich betrachtet, gebrauchen wir dieselben oder ähnliche Worte; aber wir projizieren diese Worte auf andere Hintergründe, wo sie sich verwandeln und ein starrsinniges Eigenleben führen.
Ich erinnere mich an einen Aufenthalt in der DDR, der jetzt genau fünf Jahre zurückliegt. Freunde hatten uns nach Leipzig eingeladen, zum ersten Mal wollten wir längere Zeit ›drüben‹ bleiben. Ein Ferienaufenthalt, so, wie man früher nach Italien gefahren war.
An den Abenden saßen wir mit unseren Freunden auf einem kleinen Balkon und plauderten. Über Politik wurde nicht gesprochen, wir redeten meist über Literatur oder Musik, etwa über Uwe Johnson, den unsere Freunde gut gekannt hatten. In dieser Leipziger Wohnung, in der wir uns damals aufhielten, hatte Johnson aus seinen frühen Texten vorgelesen, etwa aus »Ingrid Babendererde«.
Vormittags machten wir lange Spaziergänge durch die Stadt. Wir durchstöberten die Antiquariate, wir kauften Musikpartituren klassischer Musik, die besonders preiswert waren. Nachmittags fuhren wir hinaus, zu einem Kiessee in der Nähe, wo gebadet wurde. Mit den Tagen wurden wir immer ruhiger. Wir lasen keine Zeitungen, fernzusehen war verpönt, wir lebten in einer scheinbar zeitlosen, versunkenen Idylle, anspruchslos, einfach und doch auf die wenigen wichtigen Dinge konzentriert.
Später nahmen uns die Freunde mit nach Dresden und in die Sächsische Schweiz. Wir besuchten das Grüne Gewölbe und die berühmte Gemäldegalerie, wir durchwanderten das Elbsandsteingebirge und lernten Orte wie Pappritz, Ulbersdorf oder Lichtenhain kennen. Von den Felsen des Lignichtblicks aus sahen wir in das nahe Böhmen, und die kleinen Birkenwälder drängten sich in die dunstige Diesigkeit ganz so wie auf Bildern Caspar David Friedrichs.
Wenn man es fertiggebracht hatte, die Gegenwart zu vergessen, wenn man sie so wahrnahm, als seien die Lider halb geschlossen, konnte man sich mühelos in die älteste Vergangenheit zurückträumen. Die Landschaften kamen einem vor wie Genrebilder Ludwig Richters, so liegengelassen; die Menschen traten darin nicht in Erscheinung, nur die charakteristischen Elemente wie Fels, Fluß und Pfad. Allmählich fand man sich in einem Terrain wieder, das man mit dem Uraltwort »Deutschland« – früher immer vor sich her geschoben – in Verbindung brachte.
Schließlich wünschte ich mir nichts mehr als eine langsame, tagelange Flußfahrt auf der Elbe; ohne zu zögern, hätte ich eine Fahrt auf dem Comer See dagegen eingetauscht. Ich war so sehr in diese altdeutschen Szenen vernarrt, daß ich mir wie ein Romantiker vorkam, leicht sächselnd, behäbig, aber von irgendwelchen munteren Ideen getrieben, spitzbübisch und einfallsreich.