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Mit dem Bergpfarrer Sebastian Trenker hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Sein größtes Lebenswerk ist die Romanserie, die er geschaffen hat. Seit Jahrzehnten entwickelt er die Romanfigur, die ihm ans Herz gewachsen ist, kontinuierlich weiter. "Der Bergpfarrer" wurde nicht von ungefähr in zwei erfolgreichen TV-Spielfilmen im ZDF zur Hauptsendezeit ausgestrahlt mit jeweils 6 Millionen erreichten Zuschauern. Wundervolle, Familienromane die die Herzen aller höherschlagen lassen. Julia Lanzinger las das Schreiben, das ihr vor zehn Minuten der Briefträger per Übergabeeinschreiben ausgehändigt hatte, zum zweiten Mal durch. Absender war das Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen, genauer gesagt – das Nachlassgericht. Die Buchstaben verwischten vor Julias Augen, in denen plötzlich Tränen standen. Niemals hatte ihre Mutter ihr verraten, wer ihr Vater war. Nun teilte ihr das Nachlassgericht mit, dass es sich um einen Mann namens Anton Gredinger gehandelt hatte, der vor etwas über einer Woche in St. Johann verstorben war. Bei dem Schreiben handelte es sich um eine Vorladung zum Nachlassgericht, das die Erbangelegenheiten Anton Gredingers zu regeln hatte. Lange saß Julia wie erstarrt in ihrer kleinen Küche, Tränen rannen über ihre Wangen, sie war zutiefst aufgewühlt und es gelang ihr nur nach und nach, den Aufruhr ihrer Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Unablässig hämmerte der Name ihres biologischen Vaters durch ihren Verstand. Sie hatte einundzwanzig Jahre alt werden müssen, um zumindest seinen Namen zu erfahren. Ihn persönlich kennenzulernen war ihr versagt. Sie würde nur noch an seinem Grab auf dem Friedhof in St. Johann ein Gebet für ihn sprechen können. Julia war erschüttert. Als sie die Hiobsbotschaft etwas verarbeitet hatte und ihre Tränen getrocknet waren, steckte sie den Brief des Nachlassgerichts in ihre Umhängetasche, verließ ihre Wohnung am Stadtrand von Bad Wörishofen und fuhr zu ihrer Mutter, die im Zentrum des Ortes wohnte. Anna Lanzinger war eine gepflegte Frau von achtunddreißig Jahren, die in dem Kurort eine kleine Gaststätte betrieb. Julia sah ihr ausgesprochen ähnlich. Nachdem Julia an der Wohnungstür geläutet hatte, öffnete Anna, ein erfreutes Lächeln glitt über ihr hübsches Gesicht und sie sagte: »Grüß dich, Julia. Das freut mich aber, dass du mich besuchen kommst. Allerdings hab' ich nicht allzu viel Zeit, denn in einer Stunde öffne ich das Lokal …«
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Seitenzahl: 125
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Julia Lanzinger las das Schreiben, das ihr vor zehn Minuten der Briefträger per Übergabeeinschreiben ausgehändigt hatte, zum zweiten Mal durch. Absender war das Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen, genauer gesagt – das Nachlassgericht.
Die Buchstaben verwischten vor Julias Augen, in denen plötzlich Tränen standen. Niemals hatte ihre Mutter ihr verraten, wer ihr Vater war. Nun teilte ihr das Nachlassgericht mit, dass es sich um einen Mann namens Anton Gredinger gehandelt hatte, der vor etwas über einer Woche in St. Johann verstorben war.
Bei dem Schreiben handelte es sich um eine Vorladung zum Nachlassgericht, das die Erbangelegenheiten Anton Gredingers zu regeln hatte.
Lange saß Julia wie erstarrt in ihrer kleinen Küche, Tränen rannen über ihre Wangen, sie war zutiefst aufgewühlt und es gelang ihr nur nach und nach, den Aufruhr ihrer Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Unablässig hämmerte der Name ihres biologischen Vaters durch ihren Verstand. Gredinger – Anton Gredinger …
Sie hatte einundzwanzig Jahre alt werden müssen, um zumindest seinen Namen zu erfahren. Ihn persönlich kennenzulernen war ihr versagt. Sie würde nur noch an seinem Grab auf dem Friedhof in St. Johann ein Gebet für ihn sprechen können.
Julia war erschüttert.
Als sie die Hiobsbotschaft etwas verarbeitet hatte und ihre Tränen getrocknet waren, steckte sie den Brief des Nachlassgerichts in ihre Umhängetasche, verließ ihre Wohnung am Stadtrand von Bad Wörishofen und fuhr zu ihrer Mutter, die im Zentrum des Ortes wohnte.
Anna Lanzinger war eine gepflegte Frau von achtunddreißig Jahren, die in dem Kurort eine kleine Gaststätte betrieb. Julia sah ihr ausgesprochen ähnlich.
Nachdem Julia an der Wohnungstür geläutet hatte, öffnete Anna, ein erfreutes Lächeln glitt über ihr hübsches Gesicht und sie sagte: »Grüß dich, Julia. Das freut mich aber, dass du mich besuchen kommst. Allerdings hab’ ich nicht allzu viel Zeit, denn in einer Stunde öffne ich das Lokal …« Plötzlich stutzte sie, denn ihr fiel auf, dass Julia bleicher war als sonst und gerötete Augen hatte. »Was ist los? Bist du krank? Eine Sommergrippe vielleicht …«
»Willst du mich nicht in die Wohnung bitten?«, fragte Julia, ohne auf die Fragen ihrer Mutter einzugehen.
»Natürlich, entschuldige.« Anna trat zur Seite, Julia ging an ihr vorbei in die Wohnung, und gleich darauf saßen sich die beiden Frauen im Wohnzimmer gegenüber.
»Du bist so komisch«, murmelte Anna verunsichert. »Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Was ist geschehen?« Anna forschte regelrecht im Gesicht ihrer Tochter, als erwartete sie, darin die Antwort auf ihre Frage zu finden.
Wortlos öffnete Julia ihre Tasche, nahm den Brief heraus und reichte ihn ihrer Mutter. »Lies das, und dann weißt du, was mich beschäftigt.«
Anna nahm das Schreiben, faltete es auseinander und heftete ihren Blick darauf. Ihre Augen flackerten und sie wurde bleich bis in die Lippen.
»Großer Gott«, entrang es sich ihr. »Das – das ist ja …« Der Brief fiel zu Boden, Anna schlug beide Hände vor das Gesicht, ihre Schultern zuckten.
»Warum hast du mir nie von meinem Vater erzählt?«, stieß Julia hervor und fragte sich, was ihre Mutter derart fassungslos machte. War es der Tod des Vaters ihrer Tochter, oder die Tatsache, dass nun das Geheimnis, das sie immer um ihn gemacht hatte, gelüftet war?
Etwas Drängendes, Unduldsames ging von Julia aus. »Ich will jetzt die Wahrheit hören, Mama«, forderte sie mit Nachdruck in der Stimme. »Die reine und ungeschminkte Wahrheit.«
Anna ließ die Hände vom Gesicht sinken. »Ich wollte nie darüber sprechen«, murmelte sie. »Damals, als ich gewissermaßen bei Nacht und Nebel St. Johann verließ, hab’ mir geschworen, den Namen deines Vaters niemals mehr wieder in den Mund zu nehmen.«
Plötzlich verspürte Julia Mitleid, denn sie ahnte, dass diesem Entschluss ihrer Mutter etwas Schlimmes, Enttäuschendes vorausgegangen sein musste. »Mit dem Tod meines Vaters dürfte sich einiges geändert haben, Mama.«
Anna nickte. »Anton hat mich damals sehr enttäuscht. Wir haben uns geliebt. Allerdings war ich erst sechzehn Jahre alt, er war vierundzwanzig. Zunächst haben wir unser Verhältnis geheim gehalten. Antons Eltern waren darauf erpicht, dass ihr einziger Sohn sich mal eine Frau nimmt, die etwas mitbringt in eine Ehe. Die Gredingers waren vermögende Leute, die in St. Johann eine Goldschmiedewerkstatt und einen Juwelierladen betrieben haben.«
»Ich glaub’, ich weiß, wie es weitergegangen ist mit dir und meinem Vater«, sagte Julia. »Du bist schwanger geworden, nicht wahr, und mein Vater musste es seinen Eltern gestehen.«
»Genauso war es.« Anna brach in Tränen aus, als sie von der Erinnerung überwältigt wurde. »Von da an ging ich durch die Hölle. Antons Eltern machten mich überall schlecht. Das ging soweit, dass sie überall erzählten, ich hätte Anton verführt und ihm ein Kind untergejubelt, um mich in seine Familie einzuschleichen.«
»Das ist ja allerhand«, stieß Julia hervor. »Was hat denn mein Vater dazu gesagt? Hat er dich denn nicht verteidigt, ist er den Verleumdungen seiner Eltern nicht entgegengetreten? Hast du nicht eben gesagt, dass ihr euch geliebt habt?«
»Er hat bei mir so geredet, bei seinen Eltern aber wieder ganz anders. Mir hat er erzählt, dass er zu mir stehen und notfalls sogar mit seinen Eltern brechen würde. Seinen Eltern gegenüber aber hat er beteuert, dass meine Schwangerschaft für ihn ein Drama bedeute und er auf keinen Fall vorhabe, mich zu heiraten. – Er war ein Schwächling dein Vater, ein Feigling, der seine Eltern fürchtete. Er hatte keine eigene Meinung.«
»Du hast St. Johann verlassen, weil dir seine Eltern so sehr zugesetzt haben, nicht wahr?«, konstatierte Julia.
»Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen«, murmelte Anna. »Mit vierzehn durfte ich es verlassen, kam nach St. Johann und begann eine hauswirtschaftliche Ausbildung bei Antons Eltern. Alle waren gut zu mir, bis meine Schwangerschaft bekannt wurde. Von da an ging ich im Hause Gredinger durch die Hölle. Einige Leute im Ort, jene, die vor allem deine Großmutter gegen mich aufgehetzt hat, behandelten mich wie eine Aussätzige. Ich ertrug das alles schon bald nicht mehr und habe St. Johann verlassen. Hier, in Bad Wörishofen, hab’ dich zur Welt gebracht und niemandem verraten, wer dein Vater ist. Er hat mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, und ich hab’ ihn dafür gehasst.«
»Aber er ist mein Vater?«, vergewisserte sich Julia.
»Definitiv. Irgendwie hat er herausgefunden, wo wir leben, und Verbindung mit mir aufgenommen. Da warst du schon zwei Jahre alt. Kurz vorher war sein Vater an einem Herzinfarkt verstorben. Ich habe Anton erklärt, dass es für ihn in meinem Leben keinen Platz mehr gibt. Danach hatte er nichts mehr von sich hören lassen.«
Julia hatte den Kopf sinken lassen und starrte versonnen vor sich hin. Nach einer Weile sagte sie: »Dann hat er wohl auch nie einen Cent Unterhalt für mich bezahlt, wie?«
»Ich hab’ dem Jugendamt gegenüber seinen Namen verschwiegen, also konnte er auch nie zur Zahlung verpflichtet werden. Ich wollt’ auch gar nix von ihm, denn es wäre mir von seinen Eltern sowieso nur als Habgier ausgelegt worden. Ich weiß auch gar nicht, ob er bereit gewesen wäre, freiwillig zu zahlen. Ich wollte keinen Ärger, also habe ich dich ohne seine finanzielle Unterstützung aufgezogen.«
»Wenn ich das so höre«, murmelte Julia bedrückt, »dann komme ich zu dem Schluss, dass mein leiblicher Vater nicht allzu viel getaugt hat. Ich frag’ mich, wieso das Nachlassgericht in Garmisch überhaupt von meiner Existenz weiß.«
»Vielleicht hat ihm sein Gewissen keine Ruhe gelassen und er hat dich in seinem Testament bedacht. Das ist die einzige Möglichkeit, die ich mir vorstellen kann. – Er war nicht schlecht, der Anton, nur sehr unsicher und hatte kein Rückgrat. Er ist immer den Weg des geringsten Widerstands gegangen. Nur nirgends anecken! Das war seine Devise.«
»Ich werd’ zu dem Termin nach Garmisch fahren«, stieß Julia entschlossen hervor. »Und dort werde ich versuchen, einigen Dingen auf den Grund zu gehen.«
»Ich weiß nicht, ob das gut ist, Julia«, murmelte ihre Mutter. »Die Zeit vor deiner Geburt war nur von Boshaftigkeiten, Verleumdungen und üblen Nachreden geprägt.« Anna zuckte mit den Schultern. »Aber du bist alt genug, um zu wissen, was du tust. Fahre also nach Garmisch und höre dir an, was man dir beim Nachlassgericht eröffnet. Mich halte bitte heraus, denn die Wunden von damals sind bei mir noch immer nicht völlig verheilt. Ich habe zwar alles aus meiner Erinnerung verdrängt, aber jetzt kommt es wieder hoch.«
Julia trat vor ihre Mutter hin, zog sie aus dem Sessel in die Höhe und umarmte sie. »Versuch’ damit abzuschließen, Mama. Du hast es auch ohne meinen Vater geschafft. Und darauf kannst du stolz sein.«
*
Zum Termin für die Testamentseröffnung hatte sich Julia Urlaub genommen und reiste nach Garmisch-Partenkirchen. Sie wies sich gegenüber dem Beamten aus, der ihr den letzten Willen ihres Vaters eröffnen sollte. Sodann erfuhr sie von Anton Gredingers schriftlicher Verfügung, die er bei einem Notar verfasst hatte, wonach sie, Julia Lanzinger, alleinige Erbin seines gesamten Nachlasses sei. Es handelte sich um ein Haus in St. Johann, um einen Schmuckladen mit Werkstatt sowie einen größeren Geldbetrag. Da Anton Gredinger ledig gewesen war und keine weiteren Kinder hinterließ, gab es auch niemand, der das Testament anfechten konnte.
Julia wusste gar nicht, wie ihr geschah. Sie war sozusagen über Nacht reich geworden.
Nach der Testamentseröffnung telefonierte sie mit ihrer Mutter. Auch Anna war wie vor den Kopf gestoßen. »Hast du das Erbe angenommen?«, fragte sie dann.
»Natürlich. Es hat für mich keinen Grund gegeben, es abzulehnen«, antwortete Julia. »Es war der letzte Wille meines Vaters. Er hat mich in einer kurzen Mitteilung, die Teil des Testaments ist, sogar um Verzeihung dafür gebeten, dass er sich nie um mich gekümmert hat, und auch um Vergebung für sein Versagen, als es drum gegangen ist, zu dir zu stehen.«
Anna seufzte, dann murmelte sie: »Ich hab’ ihm schon lange vergeben. Er konnte eben nicht aus seiner Haut. Und nun, Julia? Wie soll’s nun weitergehen?«
»Ich fahr’ von hier aus nach St. Johann, es ist ja nicht weit. Ich nehme das Erbe an, das ist, denke ich, recht und billig, nachdem mein Erzeuger nie einen Cent Unterhalt für mich gezahlt hat.«
»Ich bin mir nicht sicher, Julia, ob dir dein Vater mit dem Erbe einen Gefallen erwiesen hat. Aber schau dir ruhig alles an, und dann entscheide, wie es weitergehen soll. Du bist von Beruf Großhandelskauffrau und hast von Schmuck und vom Goldschmiedehandwerk nicht die geringste Ahnung. Außerdem ist dein Lebensmittelpunkt in Bad Wörishofen. Du wirst dir was einfallen lassen müssen.« Die Erbschaft ihrer Tochter machte Anna offensichtlich nicht glücklich. Ihr schwante Unerfreuliches.
»Ich will mir erst einmal ein Bild machen, Mama. Fakt ist, dass ich den gesamten Besitz meines Vaters geerbt habe und mir dieses Erbe niemand streitig machen kann. Ich will mich informieren, und dann sehe ich weiter. Ich ruf’ dich wieder an. Tschüss bis dahin. Ich hab’ dich lieb.«
»Du bist mein Leben, Schatz, und das weißt du. Ich hoffe, dass dir das Erbe Glück bringt.«
»Warum redest du so, Mama? Das klingt ja schon fast orakelhaft. Weshalb sollte mir das Erbe kein Glück bringen? Mein Vater hat sich in dem Testament zu mir bekannt. Wo soll das Problem liegen?«
»Ich weiß es auch nicht, Julia. Vielleicht lebt deine …« Anna brach ab, als sträubte sich alles in ihr, den Satz zu Ende zu sprechen. Schließlich aber vollendete sie ihn. »… Großmutter noch. Sie dürfte Mitte siebzig sein. Babette Gredinger ist blasiert, rechthaberisch und unnachgiebig, und wird dich niemals anerkennen, Kind.«
»Ich lass’ das auf mich zukommen, Mama. Wenn sie ein Problem mit mir hat, dann ist das ihr Problem und nicht meins. Ich ruf’ dich an, wenn ich mehr über mein Erbe und die Situation in St. Johann weiß.«
»Ich wünsche dir Glück, Schatz«, sagte Anna voll gemischter Gefühle.
Julia setzte sich in ihr Auto und fuhr los. Eine halbe Stunde später erreichte sie den höchsten Punkt des Passes und konnte in das Wachnertal hineinblicken. Es gab hier einen Parkplatz, den die Einundzwanzigjährige anfuhr.
Der Ausblick ins Tal von hier oben aus war grandios. Es sah aus wie die liebevoll erstellte Landschaft einer Modelleisenbahnanlage. Gebirgszüge und bewaldete Berge säumten das Tal, die drei Gemeinden mit den roten Dächern ihrer Häuser wirkten malerisch wie im Bilderbuch, der Achsteinsee glitzerte wie ein riesiger, flüssig gewordener Smaragd.
Julia war entzückt. Was sie sah, war Idylle pur. Lange stand sie am Rand des Parkplatzes und ließ verträumt den Blick schweifen. In diesem herrlichen Tal waren also ihre Wurzeln. Dieser Gedanke ließ ihr Herz plötzlich höher schlagen. Sie fühlte sich auf besondere Art ergriffen und konnte sich nur schwer von dem Anblick losreißen.
Schließlich aber setzte sie ihren Weg fort, und schon wenige Minuten später fuhr sie zwischen die ersten Häuser von St. Johann. Zu beiden Seiten der Dorfstraße reihten sich die im alpenländischen Stil erbauten Wohn- und Geschäftshäuser aneinander. Gassen und schmale Seitenstraßen führten zwischen sie. Balkone und Fensterbänke waren mit einer üppigen Blumenpracht geschmückt.
Es war früher Nachmittag und auf den Gehsteigen bewegten sich viele Menschen. Die Tische vor dem Café, der Eisdiele und anderen Lokalen waren besetzt. Das wunderte Julia jedoch nicht, denn es war ja Hochsaison, und dass ein paradiesischer Flecken Erde wie das Wachnertal Touristen anzog, war für die junge Frau klar.
Julia hielt am Straßenrand, stieg aus und ging zur Bedienung von einem der Lokale hin. »Entschuldigen Sie bitte«, sprach sie die junge Frau an, »ich suche das Schmuckgeschäft von Anton Gredinger. Können Sie mir den Weg dorthin beschreiben?«
»Fahren S’ dort vorne in die zweite Seitenstraße hinein«, antwortete die Kellnerin und wies in die angegebene Richtung. »Am Ende der Straße finden S’ auf der linken Straßenseite den Laden.«
Julia bedankte sich und fuhr weiter, bog in die Seitenstraße ab und fand an ihrem Ende tatsächlich ein großes Haus, in dessen Erdgeschoss das Schmuckgeschäft untergebracht war.
Julia stieg aus und betrachtete lange das zweistöckige Gebäude. An der Fassade befand sich eine wunderbare Lüftlmalerei, die den Heiligen Florian darstellte. Auch auf diesen hölzernen Balkonen und auf den Fensterbänken blühten Geranien und Petunien um die Wette.
Über der Tür zum Juweliergeschäft war ein großes Schild angebracht. ›Antons Schmuckladen‹, hatte Julias Vater das Geschäft genannt. Darunter stand ›Eigene Goldschmiede‹ sowie ›Inhaber Anton Gredinger‹. Neben der Glastür befand sich ein großes Schaufenster, in dem Ringe, Armbänder, Ketten und Ohrringe ausgestellt waren.
Ein großes Grundstück umgab das Haus. Zur Straße hin war es von einem Zaun eingefasst, der Platz vor dem Schaufenster und dem Ladeneingang war jedoch ausgegrenzt, sodass Kunden freien Zugang hatten. Der Garten war, soweit ihn Julia einsehen konnte, bunt und gepflegt.
Julia gab sich einen Ruck und betrat den Laden. Die Türglocke bimmelte hell und durchdringend. Überall standen gläserne Vitrinen mit Schmuck, und auch unter der Glasplatte der Verkaufstheke waren Ringe und Uhren und weiterer Schmuckstücke ausgestellt.
Aus einer Tür hinter dem Tresen trat ein dunkelhaariger Mann, den Julia auf Mitte zwanzig schätzte. Er war etwa eins achtzig groß und schlank, sein Gesicht war schmal, die braunen Augen blickten die vermeintliche Kundin freundlich an. »Grüaß Sie Gott«, sagte er und lächelte.
»Grüß Gott«, erwiderte Julia den Gruß und fragte sich, wer der Mann wohl war. »Mein Name ist Julia Lanzinger. Anton Gredinger war mein Vater.« Es gab für Julia keinen Grund, damit hinter dem Berg zu halten.