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Dieses E-Book entspricht 200 Taschenbuchseiten ... Jane ist die bestbezahlte Prostituierte im "Violett Blue Light" und bei den Freiern sehr gefragt. Nacht für Nacht erfüllt sie die exklusiven Wünsche der Männer. Der skrupellose Zuhälter Brazil will das Bordell übernehmen und Jane zu seiner persönlichen Sklavin machen. Als Brazil versucht, sich an ihr zu vergreifen, kann der geheimnisvolle und attraktive Lion ihn in letzter Sekunde stoppen. Jane fühlt sich stark zu Lion hingezogen, auch wenn sie spürt, dass dieser ein gefährliches, vielleicht sogar tödliches Geheimnis hütet. Doch kann sie die Wahrheit um ihn und sich selbst wirklich akzeptieren? Ein erotisches Geheimnis, so schwarz wie die Nacht und so rot wie Blut? Diese Ausgabe ist vollständig, unzensiert und enthält keine gekürzten erotischen Szenen.
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Seitenzahl: 275
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Impressum:
Blutroter Schmerz und finstere Lust | Erotischer SM-Vampir-Roman
von Angelique Corse
Schon von Kindesbeinen an galt Angeliques größte Leidenschaft dem Schreiben. 2015 begann sie, unter verschiedenen Pseudonymen vielseitige Werke zu veröffentlichen. Mit „Sünde in Schwarz“ legt sie ihr Debüt im Erotik-Genre vor.Was für sie den Reiz an SM-Erotika ausmacht? „Der Kontrollverlust und die absolute Hingabe. Außerdem das Verruchte, Verbotene.“
Lektorat: A. K. Frank
Originalausgabe
© 2020 by blue panther books, Hamburg
All rights reserved
Cover: Ironika @ shutterstock.com
Umschlaggestaltung: MT Design
ISBN 9783966412001
www.blue-panther-books.de
Prolog
Der kalte Wind pfiff durch die Straßen und ein paar achtlos weggeworfene Zeitungen wehten ihm entgegen. Langsam hob er den Kopf und schaute zum Nachthimmel empor. Der bleiche Mond warf sein Licht auf ihn hernieder und ließ das schulterlange, schwarze Haar leicht silbern glänzen. Dabei würde es niemals seine Farbe verlieren, weder jetzt noch in fünfzig Jahren, ebenso wenig würde sich nur eine einzige Falte in seinem Gesicht zeigen. Gedankenverloren strich er sich eine Strähne zur Seite, eine menschliche Geste, die er sich bewahrt hatte. Nur war diese ein Zeichen von Nervosität.
Er atmete tief ein und sah zu, wie seine eigenen Rauchschwaden zum Himmel emporstiegen. Auch diese Geste war schon lange nicht mehr notwendig, dennoch tat er es manchmal, wenn ihm der Sinn danach stand. Heute jedoch konzentrierten seine geschärften Sinne sich jedoch einzig und allein auf eine bestimmte Person, was in einer Großstadt wie Berlin gar nicht einfach war. Im Gegenteil, plötzlich erschien ihm alles zehnmal intensiver als sonst. Gerüche, die Menschen nicht einmal wahrnahmen, reizten seine Nase und ließen ihn das Gesicht verziehen. Auch die laute Musik, welche einige Halbstarke ohne Kopfhörer auf dem Bürgersteig konsumierten, schürte seinen Zorn. Am liebsten würde er ihre Smartphones in ihre Einzelteile zerschlagen.
Da. Abrupt blieb er stehen und hob den Kopf. Eine schwere Note teuren Parfums fesselte seine Aufmerksamkeit; das Ziel war erreicht. Durch die, für ein solches Etablissement recht großen Fenster, gewahrte er IHRE schmale Silhouette. Sein Herz machte einen Sprung. Jenes Gefühl war ungewohnt, denn es hatte sehr lange geschwiegen. Die langen, blauschwarzen Haare, die über ihre Schultern fielen, ähnelten einem Gewässer bei Nacht. Zum Glück hatte sie es nicht abgeschnitten, wie viele Frauen es heutzutage bevorzugten. Wieder stieß er die Luft aus und für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als würde sein Atem Eisblumen an die verstaubte Scheibe malen. Jenes hätte etwas Künstlerisches, wäre jedoch sehr auffällig. Und es würde das Objekt seiner Begierde möglicherweise verschrecken.
Lüstern glitt sein Blick ihren Oberkörper hinab und stoppte erst am Ansatz des Beckens. Das schwarz-silberne Korsett brachte ihre schlanken Formen optimal zur Geltung und hob den straffen Busen noch ein wenig an. Seine Eckzähne pulsierten wie lebendig und brachen aus ihrer Deckung hervor. Zwar boten seine vollen Lippen einen zusätzlichen Schutz, doch bei genauem Hinsehen erkannte man sein Geheimnis.
Wie automatisch legte der Vampir die Hand auf sein Herz. Jene Geste mochte seltsam wirken, doch das war ihm egal. Es schien beinahe, als würde es mit neuem Leben durchflutet werden, obgleich er wusste, dass es unmöglich sein konnte. Die Nacht bildete seinen geschützten Lebensraum und jenes ließ sich nicht mehr ändern.
Ein missbilligendes Knurren, das einem Raubtier gleichkam, verließ seinen Mund, als er die gierigen Blicke der Männer auf ihren Körper wahrnahm. Einige von ihnen waren seriös und legten trotz des Ambientes Wert auf Höflichkeit und Pflege, selbst wenn sie die dunkle Seite der Liebe bevorzugten. Andere wiederum waren ungepflegt und trugen einen penetranten Schweißgeruch an sich, der ihn verächtlich die Nase rümpfen ließ. Jene suchten den harten Fick, das schnelle Vergnügen ohne Rücksicht auf die Frau. Oft schauten diese sie dabei nicht einmal an. Wieso auch? Für diese Sorte Männer war die Frau lediglich ein Stück Fleisch, das einzig und allein dazu diente, ihre zum Teil perversen Gelüste zu befriedigen. Andere vertraten die Meinung, dass sie schließlich Geld dafür bezahlt hätten.
Trotzdem gibt es dir nicht das Recht, eine Frau wie Dreck zu behandeln, schleuderte er ihnen gedanklich voller Verachtung entgegen.
Bei der Vorstellung, dass einer der Männer SIE auf eine solche Art und Weise berühren oder gar benutzen würde, zog sich alles in ihm zusammen. Aber der Vampir zwang sich zur Geduld. Über fünfhundert Jahre hatte er auf jenen Augenblick gewartet und mehr als einmal gezweifelt, dass jener überhaupt kommen würde.
Zwei Dinge standen für ihn jedoch unwiderruflich fest. Erstens, diese junge Frau mit den langen, fließenden Haaren gehörte ihm und niemand anders als er würde sie unterwerfen. Und zweitens, er hatte sie schon einmal durch seine eigene Naivität verloren und Selbiges würde sich nicht wiederholen.
Der Vampir gönnte sich einen weiteren Atemzug, bevor er in der Dunkelheit verschwand. Ihr Parfum folgte ihm jedoch bis nach Hause.
Kapitel 1
»Wieder eine schlaflose Nacht«, seufzte Jane und dämpfte ihre Stimme, obwohl sich außer ihr niemand in der Wohnung befand.
Langsam verließ sie das Bett, trat an das Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Auch ohne Spiegel wusste Jane, dass ihre langen, schwarzen Haare wirr in alle Richtungen abstanden. So verhielt es sich immer, wenn sie unruhig schlief, wobei sie niemals ihren bläulichen Schimmer verloren. Jane warf sie nach hinten. Zum Glück hatte sie noch niemand so gesehen, zumindest nicht in letzter Zeit.
Nachdenklich blickte Jane zum silbrig-weiß glänzenden Mond, welcher heute in seiner ganzen Pracht herniederstrahlte. Ihm gelang es sogar, das bedrückende Schwarz der Nacht vorübergehend in ein melancholisches Blau zu tauchen. Zahllose Sterne gaben ihm dabei zusätzliche Kraft. Leicht lächelnd stützte Jane sich auf der Fensterbank auf und hielt sich mit der anderen an dem dunklen Rahmen fest. Das hauchdünne nudefarbene Nachthemd reichte gerade mal bis zu den Knien und umschmeichelte zärtlich ihre schmale Taille, welche viele Leute als perfekt bezeichneten. Nicht zu dünn und nicht zu kräftig, genau das, was sich ein Großteil der Männer oder auch Frauen wünschte.
Sie leckte sich über die Lippen. Die beste Hure von Violett Blue Light zu sein, schien stets wie ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite verlieh es ihr eine gewisse Sicherheit, welche so manche ihrer Kolleginnen nicht hatte, andererseits implizierte diese Platzierung durchaus zweimal so viele Buchungen pro Abend und Nacht als üblich. Jenes hatte zur Folge, dass kaum Zeit blieb, die Freier in Augenschein zu nehmen, wie es sonst ihre Vorgehensweise war. Jane biss sich auf die Lippen. Seitdem dem Erreichen ihrer Volljährigkeit arbeitete sie bereits im Rotlichtmilieu, länger als die meisten ihrer Kolleginnen. Ferner, und das konnten nur wenige von sich behaupten, hatte sie die Jahre gemeistert, ohne depressiv oder von Suchtmitteln wie Alkohol oder gar Drogen beherrscht zu werden. Natürlich trank sie während der Arbeit das eine oder andere Glas, jedoch nie im Übermaß.
Immer wieder wurde Jane heiß und kalt, wenn sie an die zahlreichen, größtenteils sehr jungen Frauen dachte, welche nach und nach an der Härte des Milieus zerbrochen waren. Entweder erlagen sie ihren Süchten oder nahmen sich das Leben. Nur einem Bruchteil von ihnen gelang der Ausstieg, denn da gab es einige Leute, die das nicht gerne sahen. Jane strich über die hohen Wangenknochen. Sie wusste selbst um ihr Glück, in einem einigermaßen seriösen Bordell Violett Blue Light untergekommen zu sein. Zwar geschahen auch hier manchmal illegale Dinge wie kleine Drogengeschäfte oder auch Geldwäsche, jedoch verstand es die Puff-Mutter stets geschickt, die Tat und ihre Täter von den Frauen fernzuhalten. Und Jane zweifelte keine Minute daran, dass sie ihre Angestellten mit der Waffe und ihrem Leben verteidigen würde.
Jane stützte den Kopf auf und ihre Gedanken kehrten zu den vielen gescheiterten Existenzen zurück, welche das Rotlicht-Milieu als letzten Ausweg sahen. Obwohl, das stimmte nicht ganz. Viele Mädchen, insbesondere jene, die gerade eben volljährig geworden waren, kamen mit einer sehr romantisierten Vorstellung hierher, dass ein reicher Freier sich ernsthaft in sie verlieben, anschließend heiraten und bis an ihr Lebensende gut versorgen würde. Eine Vorstellung, bei der Jane ein verbittertes Lachen nur mühsam unterdrücken konnte. Für diese Sorte Frau empfand sie nur wenig Mitleid, hoffte jedoch andererseits, ihnen das falsche Weltbild so schnell wie möglich wieder auszutreiben, bevor es zu spät war. Bei einigen gelang es ihr, zumal Jane auch im Kreise ihrer Freier durch Empathie und Mitgefühl bekannt war, doch manchmal funktionierte es eben nicht und immer dann, wenn sie die Mädchen nach und nach zu einem Schatten ihres Selbst verschwinden ließ, bedauerte Jane diese Entwicklung aus ganzem Herzen, wenngleich es nicht ihre Schuld war.
Die andere Sorte von Frauen, welche im Violett Blue Light oder in einem anderen Bordell landeten, verdienten ihr Mitgefühl umso mehr. Denn diese waren entweder in großer finanzieller Not und die Ausweglosigkeit zwang sie zu diesem letzten, belastenden Schritt oder schlimmer noch, sie wurden aus dem Ausland mit falschen Versprechungen hierhergelockt und anschließend einfach verkauft. Ohne Deutschkenntnisse gab es kaum eine Chance, sich dagegen zu wehren.
Obwohl ihre Puffmutter sich vehement und nicht selten lautstark gegen solche Ankäufe sträubte, bekam Jane dies von anderen Bordellbetreibern sehr deutlich mit. Tägliche Misshandlungen, Demütigungen und manchmal sogar Vergewaltigungen waren normal und wurden von den Umstehenden geduldet. Was Jane überhaupt nicht verstehen konnte. Natürlich, die Freier bezahlten für die sexuellen Dienste, aber deshalb hatte doch niemand das Recht, ihnen Gewalt anzutun. Oder doch? In den Augen der Männer war es offensichtlich so. Es schien, als würden sie das Tier, welches im Alltag verborgen in ihnen schlummerte, am Abend in den schützenden Mauern des Bordells herauslassen. Jane bezweifelte, dass die Familien der Männer etwas davon mitbekamen oder auch nur ansatzweise davon wussten. Einerseits ein Glücksfall, denn so mussten die Kinder nicht darunter leiden, andererseits waren die Huren gezwungen, es auszubaden und mit den anschließenden Verletzungen zu leben. Und jene waren oftmals nicht nur körperlicher Natur. Es war ein Wunder, dass ihr eine solche Erfahrung bis jetzt erspart geblieben war und sie hoffte inbrünstig, dass es noch eine Weile so bleiben würde.
Zum Glück war Puffmutter Sarah nicht nur eine resolute Geschäftsfrau, sie verabscheute sexuelle Gewalt bis aufs Blut und scheute sich nicht, die Polizei zu informieren, wenn sie dergleichen mitbekam. Dreimal hatte Jane schon die Konsequenzen gesehen, die Täter hatten sich wie Berserker gesträubt und lauthals Drohungen ausgestoßen, was die Beamten zum Glück wenig beeindruckt hatte. Im Gegenteil, je lauter Zuhälter und Freier ihre Abneigung kundtaten, desto schneller lagen sie auf dem Boden und trugen Handschellen. Jane war es schwergefallen, ein schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken, zumal ihre Sorge den betroffenen Frauen gegolten hatte. Wie ein Häuflein Elend standen diese daneben und wurden in der Regel von jemandem gestützt. Soweit Jane wusste, wurden sie danach unverzüglich psychologisch betreut, eine gute Maßnahme, doch konnte sie wirklich alle Wunden heilen?
Die junge Prostituierte bezweifelte dies, war ihre eigene Erfahrung mit sogenannten Therapeuten eher negativ. Ein Schauer lief über ihren Rücken, als die Erinnerung daran zurückkehrte. Dabei lag es fünfzehn Jahre zurück und eigentlich hatte sie geglaubt, die Wunden seien mehr oder weniger verheilt. Schließlich hatte sie alles getan, um ihnen keinen Einfluss mehr auf die Gegenwart einzuräumen. Kontaktabbruch zu den Eltern inklusive.
Mit leicht bedrücktem Gesichtsausdruck wanderte ihr Blick vom Fenster zum Kleiderschrank. Ein einfaches Möbelstück ohne viel Zierde und doch voller Bedeutung. Denn damit oder vielmehr durch den Inhalt hatte das ganze Unglück seinen Anfang genommen. Warum genau, konnte sie heute nicht mehr sagen. Von ihrem zehnten Lebensjahr an hatte Jane begonnen, sich mehr und mehr für die weiblichen Dinge des Lebens zu interessieren. Angefangen mit Schminke und Parfums, wobei sie sich nicht nur von Filmstars, sondern auch von Drag-Queens inspirieren ließ. Letztere erschienen ihr oft übermenschlich schön und dementsprechend faszinierend. Da sie die Vorzüge des Internets besser kannte als ihre Eltern, schaffte sie es sogar, mit zweien von ihnen in Kontakt zu treten. Die Erinnerung an jene Gespräche zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Obwohl Jane zu dem Zeitpunkt noch ein halbes Kind gewesen war, hatten ihre Gegenüber sie stets ernstgenommen.
»Wir wollen mit Respekt behandelt werden. Also bringen wir ihn auch anderen entgegen, gleichgültig wie alt sie sein mögen.«
In solchen Augenblicken hatte Jane das Gefühl gehabt, die Schwelle zum Erwachsenwerden langsam, aber sicher zu erreichen. Etwas, das ihr im Elternhaus stets fehlte. Selbst als sie zwölf Jahre alt war, ließen ihr Vater und ihre Mutter nur wenig Privatsphäre zu. Jane musste immer ihre Zimmertür offenstehen haben, damit sie jeden einzelnen Schritt beobachten und bei, aus ihrer Sicht, Notwendigkeit kommentieren konnten. Das führte öfters zu Streitereien, zumal ihr Vater am Ende dafür sorgte, dass der Kontakt zu den Drag-Queens abbrach, was Jane auch Monate später noch sehr traurig stimmte. Sie hatte die beiden homosexuellen Männer sehr gemocht und sich bei ihnen verstanden gefühlt, doch es war sinnlos, mit ihren Eltern darüber zu reden. Sie verabscheuten solche abartigen Minderheiten, unabhängig davon, wie deren Leben sonst aussah.
Als Jane auf das sechzehnte Lebensjahr zuging und ihr Körper seine Entwicklung beinahe abgeschlossen hatte, kam sie eines Tages zu der Erkenntnis, dass ihre bisherige Unterwäsche aus Slip und BH zu farblos und schlicht war. Sofort machte Jane sich im Internet auf die Suche und stieß bald auf das, was sie suchte. Hautenge Korsagen mit vorgefertigten Körbchen mit viel Spitze, dazu passten am besten Slips oder noch besser Tangas aus hauchdünnem Stoff. Die schockierten Blicke ihrer Eltern zeichneten sich deutlich vor Janes geistigem Auge ab. Pikiert, schockiert, angewidert, als hätte sie ein Verbrechen begangen. Zugegeben, es war ungewöhnlich, dass ein Mädchen in ihrem Alter solche Unterwäsche trug, aber letztlich war es nur Kleidung und außerdem trug sie diese nur für sich selbst und nicht für jemand anderen.
Und heute sind sie meine Arbeitskleidung, so seltsam das auch klingen mag.
Ein grimmiges, melancholisches Lächeln umspielte ihren Mund, als Jane zum Schrank ging und einige Kleidungsstücke in Augenschein nahm. Selbstverständlich kannte sie ihren Fundus in- und auswendig, trotzdem schien es, als hätte jede einzelne Kombination eine ganz eigene Geschichte. Was bei genauerer Betrachtung sogar stimmte. Da waren die knappen Höschen oder Bodys im dezent glitzernden Wetlook, die sie vorwiegend für den Tanz an der Stange benutzte. Ihre Aufgabe war es schließlich nicht nur, den Männern sexuelle Freuden zu schenken, sondern auch, diese heißzumachen, um ihren Kolleginnen später das Arbeiten zu erleichtern. Dann gab es die klassische Spitzenwäsche in verschiedenen Farbzusammenstellungen, bestehend aus BH und farblich passendem Slip oder Tanga. Obwohl Jane es nicht nachvollziehen konnte, bevorzugten manche ihrer Kunden den Tanga. Sie selbst tat das mit einem dezenten Schulterzucken ab und erfüllte ihnen kommentarlos ihre Wünsche, rekelte sich anzüglich in den meist roten Laken oder zog sich langsam zur Musik aus. Ihr Ruf hatte sich durch jene privaten Strips noch weiterverbreitet und sie dorthin gebracht, wo sie heute war.
Für den Bruchteil einer Sekunde zuckten ihre Finger zurück. Daran hatte Jane gar nicht mehr gedacht. Ein Gefühl von kleinen Flammen schoss durch die empfindlichen Nerven. Es war also tatsächlich noch da, sie hatte es nicht weggeworfen. Gänsehaut legte sich über ihre Arme und Jane begann zu frösteln, was nicht an der Kälte lag. Warum war es hier? Siebzehn Jahren waren vergangen, seitdem sie es das letzte Mal getragen hatte. Sicherlich würde es ihr nicht mehr passen. Oder doch? Einen Wimpernschlag lang erwachte die Neugier zum Leben, wurde jedoch von einem starken Juckreiz abgelöst. Nein, sie wollte es nicht mehr tragen, weder jetzt noch in der Zukunft.
Trotz jener Gedanken holte Jane das Kleidungsstück wie in Zeitlupe aus der hintersten Ecke des Schrankes hervor und betrachtete es. Ein hautenges Ledertop, dessen vorgefertigte Körbchen mit Stacheln verziert waren. Obwohl es sehr lange dort gelegen hatte, schien das Material keinen Schaden genommen zu haben, lediglich einige leichte Risse, welche die Echtheit des Leders unterstrichen.
Versonnen drückte Jane es an ihre Brust. Durch das dünne Nachthemd hindurch spürte sie die Härte des anderen Stoffes. Trotz ihrer Traurigkeit konnte Jane ein wohliges Zittern nicht unterdrücken. Oh ja, sie hatte Lack und Leder geliebt und tat es bis zum gewissen Grade heute noch. Obwohl jenes Unglück damit begonnen und schließlich unaufhaltsam seinen Lauf genommen hatte.
Laut dröhnte »Meister der verbotenen Träume« von Seelenkrank aus den Boxen. Jane fühlte sich sofort wie zu Hause und ein Lächeln legte sich auf ihren schwarzgeschminkten Mund. Akribisch genau hielt sie nach ihrer besten Freundin Cassy Ausschau, was in dem Pulk aus überwiegend schwarzen Gestalten nicht einfach war. Faszination lag in Janes Blick, als sie die zum Teil in Samt und Satin mit Spitze oder im typischen Old School Look gekleideten Menschen sah und musterte nicht ohne Stolz ihr eigenes Kleid. Jenes bestand aus Chiffon mit Spinnennetz-Applikationen verziert und war nur teilweise blickdicht. Außerdem strich es bei jeder Bewegung lockend über ihre Haut, weswegen Janes Wangen einen zartrötlichen Schimmer aufwiesen.
»Hierher, du Blindfisch.« Nur knapp unterdrückte sie ein Lachen. Solche vorlauten Sprüche konnte nur einzig und allein ihre beste Freundin sagen.
Keine zwei Sekunden später erblickte Jane Cassy in einer Sitzecke, wie sie mit einem Typen flirtete. Ihre feuerroten Haare, die ihr bis fast in die Kniekehlen reichten, reflektierten die Spotlights, ebenso wie ihre leicht gebräunte Haut. Wie viele Rothaarige durfte auch Cassy es beim Sonnenstudio-Besuch nicht übertreiben, wenn sie danach keinem Krebs ähneln wollte. Eine Regel, an die sie sich zähneknirschend hielt und dennoch nicht mit ihren Reizen sparte. Den jungen Mann zu ihren Füßen beachtete Jane erst einmal nicht, sondern küsste stattdessen ihre Freundin auf die Wangen. Lediglich aus den Augenwinkeln sah sie, wie er leicht zu sabbern begann. Typisch Mann. Auch Cassy hatte es bemerkt und kicherte anzüglich.
»Wollen wir dem Kerl eine Show zeigen, die es in sich hat?«, flüsterte sie und knabberte dabei leicht an Janes Ohrläppchen. »Ich glaube, er ist zumindest teilweise notgeil. Wir haben uns keine fünf Minuten unterhalten, da wollte er schon mein Sklave sein.«
Innerlich verdrehte Jane die Augen. Solche Eigenschaften schätzte sie bei Männern überhaupt nicht. Wenn sie ihr Gegenüber so super fanden wie sie behaupteten, so waren einige Stunden des Kennenlernens bestimmt nicht zu viel. Oder doch? Jane wusste, dass viele sie aufgrund dieser Einstellung hinter vorgehaltener Hand als altmodisch bezeichneten. Doch entsprach das tatsächlich der Wahrheit? Waren einige freundliche Worte des Kennenlernens oder eine Einladung auf einen Drink so aus der Mode gekommen?
Doch bevor sie protestieren oder etwas sagen konnte, presste Cassy schon den Mund auf ihren und obwohl Jane sich leicht überfahren fühlte, machte sie mit. Sanft strichen ihre Finger über das Kinn ihrer Freundin, während diese sanft ihre Lippen teilte und die Zunge zum Tanz aufforderte. Wie durch eine Schallmauer aus Watte hörte Jane den Unbekannten stöhnen, aber es störte sie nicht. Cassys Zärtlichkeiten waren sehr angenehm und wenn er sich unbedingt daran aufgeilen wollte, dann sollte er. Solange keine Sexshow gewünscht wurde…
Selbiges hatte Cassy wohl nicht vor, im Gegenteil, nach einigen Sekunden löste sie sich von Jane, fuhr mit einem Finger ihren Hals entlang und grinste den Typen selbstgefällig an.
»So Schätzchen, du hast jetzt genug gesehen. Wir haben jetzt woanders unseren Spaß.« Bei diesen Worten zwinkerte sie Jane verschwörerisch zu, ohne dass diese wusste, wovon die Rede war.
Die betretenen Blicke des Mannes ignorierend verzogen sie sich in eine stille Ecke und Cassy organisierte ihnen einen Sekt.
»Was hast du damit gemeint?«, fragte Jane, als sie den ersten Schluck getrunken hatte.
»Was meinst du?«, lautete Cassys Gegenfrage, während sie versuchte, ein unschuldiges Gesicht zu machen.
Jane wusste nicht, ob sie lachen oder erbost sein sollte. »Als du sagst, wir würden uns jetzt woanders amüsieren. Hattest du etwas Bestimmtes im Sinn und versuche gar nicht erst, es abzustreiten. Ich kenne dich dafür zu lange.«
Lachend hob Cassy die Hände. »Schon gut, schon gut. Du hast mich ertappt. Ich sage es. Heute gibt es hier im Klub eine besondere Premiere: eine Live SM-Show unter Einbezug des Publikums. Das heißt, der Meister kommt nicht mit seiner eigenen Sklavin, sondern wählt gezielt jemanden aus dem Publikum aus. Eine sehr gute Gelegenheit, sein erstes SM-Erlebnis zu haben. Denn dieser Meister ist ein absoluter Profi mit viel Feingefühl und Erfahrung.«
Ein Schauer lief über Janes Rücken und wie in Trance studierte sie Cassys Gesicht. War es Zufall, dass ihre Freundin ausgerechnet sie darauf ansprach? Inbrünstig hoffte sie, dass es so sein würde. Denn Jane hatte sich alle Mühe gegeben, ihre verborgene Sehnsucht vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Dabei hatte sie schon seit geraumer Zeit fantastische Träume von Schmerz, Lust, Unterwerfung und manchmal sogar Blut. Gerade wegen letzterem hatte sie es vermieden, irgendjemandem davon zu erzählen. Nicht auszudenken, wie ihre Eltern reagieren würden! Sie wussten ja nicht mal, dass sie heute nicht nur bei Cassy zum Übernachten war, sondern dass sie einen, man mochte sagen, zwielichtigen Klub besuchten. Außerdem kamen sie schon nicht mit ihrer Kleidungswahl zurecht. Doch bevor Jane noch etwas sagen konnte, veränderte sich die Musik, wurde leiser und elektronischer. Sie schauderte und warf einen starren Blick zu der kleinen Bühne, die ein wenig abseits der Tanzfläche stand.
Auf ihr stand ein unauffälliges Andreaskreuz, daneben lagen verschiedene Spielzeuge. Innerlich raufte Jane sich die Haare, dass sie nicht eher darauf geachtet hatte. Normalerweise entging ihr kein Detail von dem, was um sie herum passierte. Aber in diesem Fall schienen ihre Augen blind gewesen zu sein. Ihre Hände zitterten, als sie die Peitsche erblickte. Wie mochte es sein, so etwas auf der Haut zu spüren? Eilig schob sie diesen Gedanken zur Seite, diese Art von Lust war nicht ihres. Oder doch? Ein Räuspern hinter ihr riss Jane aus ihren Gedanken und ein flüchtiger Blick zu Cassy verriet, dass diese ihren inneren Zwiespalt sehr wohl bemerkt hatte.
»Wenn du damit fertig bist, die Spielzeuge anzustarren, sollten wir uns vielleicht noch etwas zu trinken holen. Die Show fängt gleich an.«
Jane versteifte sich kaum merklich, wenn die Show gleich anfing, hatte sie soeben die letzte Chance verpasst, der Situation auszuweichen. Doch wollte sie das überhaupt? Die Antwort auf diese Frage lautete ganz klar Nein. Obwohl ihre Gefühle deutlich in Aufruhr waren, siegte am Ende doch die Neugier. Zu ihrem Verdruss kam Cassy wenige Sekunden später mit zwei Gläsern zurück und grinste süffisant.
Jane wusste sofort, sie hatte verloren, es gab kein Entkommen mehr. Auch weil im nächsten Augenblick der Meister die Bühne betrat. Ein junger Mann vielleicht Mitte zwanzig mit langen, welligen Haaren.
»Himmel, er ist attraktiver als manche Frau«, schoss es Jane durch den Kopf. Von dem schlanken Körper, der von einem Latex Anzug nachgezeichnet wurde, mal ganz zu schweigen.
Seine Augen wirkten unnahbar, doch sie erkannte jenen Funken in ihnen und auch, dass er jeden aus dem Publikum forschend beäugte. Als ihre Blicke sich trafen, glitt dieser nicht über sie hinweg, sondern blieb hängen. Janes Herz rutschte einige Etagen tiefer. Das konnte nicht sein. Meinte er wirklich? Wie in Trance sah sie, wie der Meister elegant von der Bühne sprang, durchs Publikum ging und schließlich vor ihr stehen blieb. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, das etwas in ihr zu berühren schien. »Wollen Sie mir auf den Pfad schwarzer Lust folgen und ihn genießen?«, fragte er. Dank der Musik klang seine Stimme tiefer als normal.
Zumindest vermutete Jane es. Gleichzeitig überlief sie es kalt. Ihre Seele schien sich in zwei Hälften zu spalten. Einerseits die Neugierde und zweifellos auch Verlangen, denn der Typ gefiel ihr, andererseits die Skepsis. Lust durch Schmerz? Das klang absurd und dennoch verhieß die Tiefe seiner braunen Augen, dass es möglich war. Zögernd reichte sie ihm die Hand und ließ sich unter dem Raunen sowie vereinzelten Pfiffen der Zuschauer auf die Bühne führen.
»Zieh dein Kleid aus«, befahl der Meister sanft. Jane gehorchte und ein Gefühl des Ausgeliefertseins erwachte in ihr. »Jetzt stell dich an das Kreuz.«
Sie fuhr zusammen, als die metallischen Schließen um ihre Handgelenke zuschnappten. War das Ganze vielleicht doch ein Fehler? Aber sie brauchte ihr Gegenüber nur anzuschauen, um zu wissen, dass es kein Zurück mehr gab.
»Du hast eine wunderschöne Haut, so zart und makellos. Wie geschaffen zum Striemen.« Während er sprach, fuhren seine spitzen Nägel darüber.
Jane schloss die Augen. Wie winzige Nadelstiche fühlte sich die Berührung an, schmerzhaft, aber nicht übertrieben. Entgegen ihrer Erwartung genoss sie es.
»Deine Unterwäsche stört.« Diesmal war seine Stimme ein wenig strenger und seine Hand wanderte in ihre Haare, um sie nahe an sich zu ziehen. Überrascht keuchte Jane auf. »Am liebsten würde ich sie zerschneiden, doch sie sehen sehr teuer aus. Daher will ich davon absehen. Außerdem hast du Glück, der BH lässt sich von vorne öffnen.«
Jane riss die Augen auf. Das meinte er nicht ernst. Die Unterwäsche zerschneiden! Zwar wusste sie, dass es so etwas gab, aber erleben ging ihr zu weit. Außerdem hatte der Meister recht, ihre Unterwäsche war tatsächlich sehr teuer und nicht selten fraß diese ihr gesamtes Taschengeld.
»Und dein Tanga wird mit Schnüren gehalten.« Er schmunzelte. »Das ist süß und perfekt für unsere Spiele.«
Jane schauderte, als die Kleidungsstücke wie Blütenblätter hinabglitten und sie entblößt vor der, zum Glück, ruhigen Menge stand. Was für Spiele meinte er? Alles in ihr schrie nach Flucht, aber das war nicht mehr möglich.
»Hab keine Angst.« Entgegen ihrer Erwartung verwickelte der Meister sie in einen leidenschaftlichen Kuss, der sie leise stöhnen ließ. Sein Parfum aus Patschulie und Lavendel raubte ihr den Atem, ebenso wie der Minzgeschmack seiner Lippen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, versuchte sie sich so weit, wie es ging, an ihn zu schmiegen.
Der Unbekannte lachte und holte eine kleine Peitsche hervor. Ein Hauch von Angst erwachte in Jane. Damit wollte er sie schlagen? Doch es passierte nicht. Stattdessen ließ er die dünnen Lederriemen lockend über ihren Oberkörper gleiten. Wie ein gefährliches Tier umspielten sie ihre Brüste und Jane musste nicht lange überlegen, um zu wissen, dass er auch anders konnte. Dennoch begann sie zu stöhnen und ihr wurde mit jeder Sekunde heißer.
Klatsch. Ein wenig erschrocken starrte sie ihr Gegenüber an. Dieser erste Schlag kam nicht unerwartet und dennoch spürte sie die widersprüchlichen Gefühle. Ihre Beine fingen außerdem an zu zucken.
»Na, so etwas«, sprach der Meister und wandte sich an das Publikum. »Erst war meine Sklavin unentschlossen und jetzt genießt sie in vollen Zügen.« Er legte seine Hände um ihren Hals und drückte zu. Überraschenderweise reagierte Jane richtig und entspannte sich.
Erneut schoss die Peitsche auf ihren Oberkörper hernieder, diesmal härter. Zuerst versuchte sie reflexartig auszuweichen, während ihr Blut immer mehr zu kochen begann. Auch zwischen ihren Beinen bildete sich langsam aber sicher eine Flüssigkeit, die nur eins bedeutete: Lust. Auch dem Meister blieb es nicht verborgen.
»Am liebsten würde ich jetzt Klemmen an deine geschwollenen Schamlippen legen«, hauchte er verrucht und Jane schauerte. Würde sie einen solchen Schmerz ertragen können? »Sie sind so schön, das kannst du dir nicht vorstellen. Aber ich werde heute gnädig sein, schließlich ist es dein erstes Mal, habe ich recht?«
Kaum merklich nickte sie und im gleichen Moment verschwand die Peitsche von ihrem Oberkörper. Jane schrie auf und wand sich wie ein Aal, während ihre Geilheit noch weiterwuchs. Geschickt gab der Meister ihr einige Schläge zwischen die Beine, zuerst auf den Venushügel, dann auf die deutlich vergrößerte Klit. Eins… Zwei… Jane verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit, ebenso dafür, wie viele Schläge es waren. Ihren Fesseln zum Trotz bäumte ihr Körper sich auf, als der Höhepunkt über sie hinwegrollte.
Kapitel 2
Der kühle Nachtwind strich über seinen Kopf und sorgte dafür, dass die Nackenhaare sich aufstellten. Ein Umstand, der ihn leicht lächeln ließ. Offensichtlich hatte sein Körper trotz der langen Zeit noch nicht alle menschlichen Reaktionen vergessen. Dabei machte ihm die Kälte wenig aus, er spürte sie nicht einmal wirklich. Theoretisch hätte er seine Kleidung ablegen und nackt durch die Straßen laufen können, wenn das nicht zu auffällig gewesen wäre.
Lion unterdrückte ein Kichern und schaute stattdessen zu den sehr vornehmen Häuserfassaden empor. Sie waren zwar teilweise restauriert, aber trotzdem noch sehr gut erhalten. Dafür liebte er diese Stadt, wenngleich diese seine Sinne Nacht für Nacht durch den Fleischwolf drehte. Die unzähligen Menschen, über dreieinhalb Millionen, mit ihren Autos und dem vermeintlich normalen Lärmpegel, die zahlreichen Lichter, von denen mindestens die Hälfte überflüssig war. Außerdem ihre Gedanken, von denen er einige hören konnte. Einer war absurder als der andere und das, obwohl seine Fähigkeit zur Abschirmung sehr gut entwickelt war. Aber von Zeit zu Zeit gelang es einigen Strömen trotzdem, zu ihm durchzudringen und was Lion dabei vernahm, war an Lächerlichkeit kaum mehr zu überbieten.
Das Licht einer Straßenlaterne blendete seine grün-schwarzen Augen, dennoch blieb er einige Minuten stehen und genoss den wärmenden Schein. Elektrizität. Ohne Zweifel eine der wichtigsten und nützlichsten Erfindungen der Menschheit. Es wurde im einundzwanzigsten Jahrhundert sehr viel Missbrauch damit getrieben und seiner Meinung nach schossen besonders die Wirtschaftszweige deutlich über das Ziel hinaus. Früher war es der Mensch, welcher die Technik beherrschte, heute hatte diese Konstellation sich ins Gegenteil verkehrt. Oft, wenn er durch die Straßen ging, sah er die Leute regelrecht an ihren Smartphones kleben. Zwar wusste auch er diesen Luxus durchaus zu schätzen, insbesondere wenn es um seinen Beruf oder potenzielle Opfer ging, aber diesen Fanatismus unterstützte Lion nicht. Schließlich hatte er nicht vergessen, wie es früher war.
Warum er trotzdem in dieser Millionenhauptstadt blieb, konnte er selbst nicht genau beantworten. Vielleicht war es das pulsierende Leben mit all seinen Geschmacksrichtungen und den zahllosen Möglichkeiten. Dann natürlich auch die Anonymität. Er war genau wie alle anderen Einwohner ordnungsgemäß gemeldet und besaß eine offizielle Anschrift, trotzdem war es für jemanden wie ihn relativ einfach, im Pulk der Massen unterzutauchen und nicht mehr gesehen zu werden.
Lion lachte spöttisch über sich selbst und strich die Haare zur Seite. Das geißelnde Licht begann allmählich zu schmerzen, dennoch wandte er den Blick nicht ab. So gerne, wie er Schmerzen zufügte, so sehr genoss er sie manchmal. Auch wenn das pervers klingen mochte. Lion kannte beileibe nicht nur die helle Seite dieser Stadt. Im Gegenteil, er hatte die Wunden des Dritten Reiches besser als manche der älteren Zeitzeugen erlebt. Der einzige Unterschied war gewesen, dass er dabei nicht um sein Leben hatte fürchten müssen, sondern daneben stehen konnte wie eine leblose, unbeteiligte Statue. Wenn einer der Amerikaner ihm unerwünscht zu nahe gekommen wäre, hätte er es im nächsten Moment bitter bereut. Es war kein Problem, die Gedanken eines psychisch angeschlagenen, vom Krieg erschöpften Menschen zu beeinflussen. Da gab es einige, bei denen mehr Mühe nötig war und er hatte es problemlos geschafft. Trotzdem waren der Bombenhagel, die Feuer und die zerstörten Häuser alles andere als angenehm gewesen. Mit den Opfern hatte er zeitweise sogar Mitleid gehabt, war jedoch außerstande gewesen, ihnen zu helfen.
»Wann hörst du endlich auf, dich selbst zu belügen?«, schalt Lion sich selbst und vermied knapp, sich mit seinen eigenen Fangzähnen zu beißen.
Es waren allesamt nur vorgeschobene Gründe, warum er, trotz seiner nicht geringen Abneigung, seit über zweihundert Jahren in Berlin lebte und keinen Versuch unternommen hatte, von dort wegzugehen. Viele seiner Artgenossen, von denen es mehr gab, als die Menschen vermuteten, hatten im Laufe der Zeit einen Kompromiss gefunden und gingen nur noch zum Jagen in die Stadt. Ansonsten lebten sie ihre friedliche Stille in Mausoleen oder verfallenden Häusern. Eine richtige Wohnung wie er selbst besaßen die wenigsten von ihnen, was schon zu dem einen oder anderen seltsamen Blick geführt hatte. Aber einen der Alten wagte niemand zu kritisieren oder gar anzugreifen. Es war in der Wohnung mitunter nicht einfach, vor allem, wenn es darum ging, sich vor dem Tageslicht zu schützen. Unwillkürlich musste Lion grinsen. Ja, absolut dichte Vorhänge und Ähnliches waren nicht so einfach zu bekommen, aber es war möglich.
Nein. Der eigentliche Grund, wieso er an diesem Ort verweilte, war ein ganz anderer und noch schwerer zu benennen. Es war ein seltsames Gefühl, welches in seinem Innern brodelte und sich nicht benennen, geschweige denn erklären ließ. Wie lange es schon in seiner schwarzen Seele weilte, wusste Lion nicht genau. Vielleicht fünfzig oder sogar schon hundert Jahre. Zeit hatte für ihn stets eine untergeordnete Bedeutung, da sie in seinen Augen endlos war. Zuerst hatte er sogar geglaubt, jenes Empfinden käme von außerhalb oder von einem menschlichen Dritten. Haargenau wie ein Profiler auf der Arbeit scannte Lion daraufhin die Gedanken seiner Umgebung, fand jedoch die Ursache nicht in einem Menschen und auch nicht in einem Tier. Von Letzteren konnte er sowieso nur bestimmte, sehr extreme Emotionen wie etwa Angst oder große Freude wahrnehmen. Bei Menschen verhielt es sich anders, aber auch dort war der Anstoß nicht zu finden.
Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis Lion klar wurde, dass er selbst der Ursprung jenes sonderbaren Gefühls war. Obwohl es ihn in seiner Existenz kaum beeinträchtigte, zögerte er nicht lange und ging der Sache auf den Grund. Dass eine gewöhnliche Sterbliche ihn dermaßen aus dem Konzept brachte, schloss Lion kategorisch aus. Zwar hegte er durch seine besondere Wahrnehmung eine gewisse Zuneigung zu jedem Lebewesen, aber jene schlug niemals ins Extreme. Ein Wesen wie er kannte Trauer und Verlust wahrscheinlich besser als die Menschen, aber selbst in einem solchen Fall war sein Empfinden anders. Der Vampir seufzte und verließ den lichten Kreis der Laterne. Die Nacht war noch jung, dennoch verrieten ihm seine erbarmungslos pulsierenden Eckzähne, dass es Zeit für eine Jagd war.