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»Ein intellektueller Genuss.« DeutschlandRadio Kultur Patchwork, Homo-Ehe, In-vitro-Fertilisation – was die einen als Untergang des Abendlandes bezeichnen, ist für andere eine Öffnung unserer Konzepte von Liebe, Beziehung und Familie. Christina von Braun, eine der renommiertesten Kulturwissenschaftlerinnen des Landes, blickt weit in die Geschichte zurück, um zu erklären, wie sich unsere Vorstellungen von Verwandtschaft entwickelten. Ihr neues Grundlagenwerk wird unseren Blick auf die Gegenwart verändern. „Blut ist ein ganz besonderer Saft“, sagt Mephisto zu Faust, den er den Pakt mit seinem Blut unterschreiben lässt. Für die Kultur des Westens sind „Blutsbande“ auch die Basis von Verwandtschaft. Das gilt nicht für alle Kulturen. Christina von Braun zeigt in ihrem neuen Standardwerk, auf welchen Vorstellungen die Idee der Blutsverwandtschaft beruht und wie sich diese Vorstellungen im Zeitalter von Genetik und Reproduktionsmedizin verändern. Einerseits verfestigt sich die Idee einer langen Kette von Blutsverwandten. Auf der anderen Seite treten aber auch soziale und kulturelle Definitionen von Verwandtschaft in den Vordergrund: Vertrauen in und Verantwortung für einander ersetzen die Blutsbande. Christina von Brauns Kulturgeschichte der Verwandtschaft ist so materialreich wie erhellend.
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Seitenzahl: 957
Christina von Braun, geboren 1944 in Rom, drehte etwa 50 Filmdokumentationen und verfasste zahlreiche Bücher und Aufsätze zu kulturgeschichtlichen Themen. 1994 Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2012 Gründungsleiterin und heute Senior Research Fellow des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Veröffentlichungen u. a.: »Stille Post. Eine andere Familiengeschichte«, 2007. Bei Aufbau erschien zuletzt »Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte« (NDR –Sachbuchbestenliste). 2013 erhielt Christina von Braun den Sigmund-Freud-Kulturpreis.
»Ein intellektueller Genuss.« DeutschlandRadio Kultur
Patchwork, Homo-Ehe, In-vitro-Fertilisation – was die einen als Untergang des Abendlandes bezeichnen, ist für andere eine Öffnung unserer Konzepte von Liebe, Beziehung und Familie. Christina von Braun, eine der renommiertesten Kulturwissenschaftlerinnen des Landes, blickt weit in die Geschichte zurück, um zu erklären, wie sich unsere Vorstellungen von Verwandtschaft entwickelten. Ihr neues Grundlagenwerk wird unseren Blick auf die Gegenwart verändern.
»Blut ist ein ganz besonderer Saft«, sagt Mephisto zu Faust, den er den Pakt mit seinem Blut unterschreiben lässt. Für die Kultur des Westens sind »Blutsbande« auch die Basis von Verwandtschaft. Das gilt nicht für alle Kulturen. Christina von Braun zeigt in ihrem neuen Standardwerk, auf welchen Vorstellungen die Idee der Blutsverwandtschaft beruht und wie sich diese Vorstellungen im Zeitalter von Genetik und Reproduktionsmedizin verändern. Einerseits verfestigt sich die Idee einer langen Kette von Blutsverwandten. Auf der anderen Seite treten aber auch soziale und kulturelle Definitionen von Verwandtschaft in den Vordergrund: Vertrauen in und Verantwortung für einander ersetzen die Blutsbande. Christina von Brauns Kulturgeschichte der Verwandtschaft ist so materialreich wie erhellend.
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Christina von Braun
Blutsbande
Verwandtschaft als Kulturgeschichte
Inhaltsübersicht
Über Christina von Braun
Informationen zum Buch
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Einführung: Der Untergang des Abendlandes?
Blut und Klassenzugehörigkeit
Geschlecht und Gender
Gender und Wissenschaft
Blutsverwandtschaft: Rote Tinte
Vaterschaft
Das kulturelle Unbewusste
Danksagungen
1. Kapitel: Verwandtschaft als Sprache
1. Verwandtschaftsformen
2. Blutsverwandtschaft als Instrument der Kolonisierung
3. Patrilinearität in schriftlosen Kulturen
4. Mischformen: das Beispiel Adoption
5. Individuum und Gemeinschaft in den beiden Verwandtschaftsmodellen
6. Familiäre Allianzen
7. Ethnologie und Anthropologie als Spiegel historischer Veränderungen
8. Verwandtschaft als Sprache
2. Kapitel: Verwandtschaft als Text
1. Kurze Geschichte der Schrift
2. Alphabet und Monotheismus
3. Alphabet und Sprache
4. Sekundäre Oralität
5. Alphabet und Geschlecht
6. Das Zeichensystem Geld: eine besondere Fortpflanzungsart
7. Griechenland: Die geistige Vaterschaft wird leiblich
8. Die Theorie schafft soziale Fakten
9. Römische Genealogie
3. Kapitel: Jüdische Matrilinearität – Christliche Patrilinearität. Die Blutslinien der Theologen
1. Patrilinearität und Matrilinearität allgemein
2. Judentum und Hellenismus
3. Der Wechsel zur Matrilinearität im Judentum
4. Die Beschneidung
5. Judentum und Christentum: Aneignungen, Abgrenzungen
6. Das christliche Ideal der Enthaltsamkeit
7. Über die Jungfräulichkeit zu geistigen Abstammungslinien
8. Unterschiedliche Blutslinien – unterschiedliches Blut
4. Kapitel: Rote Tinte
1. Christliche Verwandtschaftsverhältnisse
2. Rote Tinte – Blaues Blut
3. Die Reinheit des Blutes
4. Die Geschlechter und das Geschlecht
5. Eine weibliche Genealogie der Fürsorge
6. Bäuerliche und bürgerliche Erbschaftslinien
7. Geistige Vaterschaft: von der Kirche zur Wissenschaft
8. Die Universität – das weltliche Seminar
9. Von der geistigen Blutslinie zur Zucht
5. Kapitel: Das Kapital fließt in den Adern
Zusammenfassung der bisherigen Entwicklung
1. Mitgift und Morgengabe
2. Der Einfluss der Geldwirtschaft auf Sozial- und Familienstrukturen
3. Europäische Verwandtschaft im Säkularisierungsprozess
4. Gefühlte Verwandtschaft
5. Die Verweiblichung der Verwandtschaftsverhältnisse
6. Literatur und Verwandtschaft
7. Die Verwandtschaftsentwicklung in den nicht-vermögenden Schichten
8. Gefühltes Blut
9. Das Beispiel zwei großer Finanzdynastien: die Barings und die Rothschilds
10. Das Geld ersetzt die Endogamie
6. Kapitel: Kollektive Blutsverwandtschaft
1. Die Folgen der Aufklärung
2. Die Geburt der ›Generation‹
3. Nationalität als Verwandtschaftsdefinition
4. Der Einfluss der Medien auf die Entstehung des Gemeinschaftsgefühls
5. Die Blutsgemeinschaft der ›Rasse‹
6. Rassistischer Antisemitismus
7. Die Genetik als neue Gestalt der Blutslinie
8. Geld und Genealogie
9. Das Geld steckt in den Genen
10. Das Kapital des roten Bluts
11. Das Buch des Lebens: Das Beispiel Island
12. Die Genetik korrigiert ›falsche Blutslinien‹
7. Kapitel: Die Entstehung des modernen Judentums
1. Jüdische Reaktionen auf die Aufklärung
2. Die Entstehung eines modernen kulturellen Judentums
3. Israel und Diaspora
4. Von der Matrilinearität zur Bilinearität im Judentum
5. Neue Formen jüdischer Zugehörigkeit
8. Kapitel: Reproduktionstechniken und Geschlechterrollen
Einführung
1. Neue soziale Verwandtschaftsmodelle
2. Der Wandel der Vaterrolle
3. Zwei Naturen
4. Der Konflikt zwischen den zwei Naturen
5. Die neue Verwandtschaft von Natur und Kultur
6. Gleichgeschlechtliche Beziehungen als Paradigma des Wandels
7. Mater incerta
8. Die Mutter im Zeitalter ihrer technischen Multiplizierbarkeit
9. Reproduktionsmedizin und die Erneuerung des Vaters
10. ›Trans-Parenting‹ – der biologische Wandel von Elternschaft
Résumé: Das Ende der Blutsbande?
Anmerkungen
Fußnoten
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Impressum
Im Frühjahr 2013 fand in Paris eine große Demo zugunsten der Homo-Ehe statt. Auf mehreren Transparenten war zu lesen: Jésus avait deux pères et une mère porteuse (Jesus hatte zwei Väter und eine Tragemutter). Mit dieser Parole fassten die Demonstranten eine Erkenntnis zusammen, die auch dieses Buch begleitet: Die biologische Revolution, die heute neue Formen von Vaterschaft und Mutterschaft ermöglicht, war als Phantasie schon lange vorher angelegt: in den Lehren der Katholischen Kirche, die heute die Realisierung dieser Phantasien bekämpft.
Am 21.Mai 2013 erschoss sich Dominique Venner vor dem Hochaltar der Kathedrale Notre-Dame de Paris. Zuvor hatte er einige Briefe auf den Altar gelegt und auf seinem Blog verkündet, dass nun endlich »Taten den Worten folgen« müssen. Venner – bekannt als rechtsextremer französischer Intellektueller – bezeichnete sich selbst als ›meditativen Historiker‹. Er hatte mehrere Bücher publiziert; seine großen Vorbilder waren Schriftsteller wie Henry de Montherlant, Drieu de la Rochelle und Yukio Mishima: Den dreien ist gemeinsam, dass sie ihrem Leben selber ein Ende setzten, oft in der Manier des Märtyrers, der für seine Ehre stirbt. Gleich nach dem Suizid Venners kündigte sein Verleger das neue – posthum erscheinende – Buch des Schriftstellers an. Titel: ›Ein Samurai des Okzidents‹. Venner hinterließ eine Art testamentarisches Radiogespräch, in dem er sagte: »Ich liebe das Leben und erwarte nichts darüber hinaus, wohl aber hoffe ich auf die Perpetuierung meiner Rasse und meines Geistes.« Zu Venners Feindbildern gehörte Angst vor Überfremdung wie auch das gerade von der französischen Nationalversammlung erlassene Gesetz zur Legitimierung der Homosexuellen-Ehe. »Ich erhebe mich gegen die Vergiftung der Seele und das wuchernde Begehren von Einzelnen, das unsere Identitätsverankerung und vor allem die Familie zerstört.«1
Am 2.März 2014 hielt die preisgekrönte Schriftstellerin und Literaturkritikerin Sibylle Lewitscharoff einen Vortrag im Staatsschauspiel Dresden, in dem sie keinen Suizid, wohl aber den Untergang des Abendlandes ankündigte. Das hatte bereits Oswald Spengler in seinem bekannten Werk von 1918 getan, dem wohl letzten großen Hohelied auf die männliche Herrschaft. »Der Mann macht Geschichte, das Weib ist Geschichte«,2 lautete sein Credo. Diesem Prinzip, so Spenglers Befürchtung, werde das Aufkommen einer neuen »Fellachen-Unkultur« ein Ende setzen. Auch Lewitscharoff geht es um den Verlust einer Gesellschaft, die nach männlichem Ideal gestaltet ist. In ihrer Polemik gegen lesbische Paare, die »sich ein Kind besorgen«, indem ein anonymer oder befreundeter Mann »herangezogen wird, um sein Sperma abzuliefern«, wettert sie gegen die »Selbstermächtigung der Frauen«, für die es zweifellos »am schönsten« wäre, »man könnte den Samen selbst auch noch künstlich erzeugen und mit einem im Voraus definierbaren Bündel an erwünschten Merkmalen ausstatten«. (Die Elternschaft männlicher homosexueller Paare thematisiert sie seltsamerweise gar nicht.) Und sie attackiert die Praxis der Reproduktionsmedizin überhaupt: Diese sei »vom Teufel ersonnen«; die Kinder, die auf »solch abartigen Wegen« entstehen, werden von ihr als »Halbwesen« und »nicht ganz echt« bezeichnet: »zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb Weißnichtwas«.3 Dabei übersieht sie freilich, dass ein Gutteil der modernen Reproduktionsmedizin wie die säkulare Umsetzung christlicher Dogmen daherkommt: besonders deutlich zu erkennen an der Jungfrauengeburt, bei der dank der In-vitro-Fertilisation aus einer christlichen Lehre praktizierte Medizin wurde – eine Erbschaft, die sich einige Teilnehmer der großen Pariser Demo von 2013 für die Zulassung der Homo-Ehe nicht entgehen ließen: Sie trugen ein Transparent mit der Aufschrift: »Jésus avait deux pères et une mère porteuse«. (s. Abb. S. 8.)
Die polemischen Aussagen von Lewitscharoff, der Suizid von Venner wie auch generell die hoch emotional geführten Debatten um Homo-Ehe, Reproduktionstechniken, Adoption von Kindern durch schwule oder lesbische Paare verdeutlichen, dass sich die westliche Gesellschaft in einer Umstrukturierung befindet, bei der es um vieles gleichzeitig geht: die Neudefinition von Geschlechterrollen, veränderte Familienkonstellationen und Eingriffe in die Biologie. Die Kritiker des Wandels bezeichnen den Körper gerne als unveränderbar und leiten davon ein ›natürliches‹ Sexualverhalten und eine ›normale‹ Art der Fortpflanzung ab. Indem sie sich dabei auf christliche Werte berufen, offenbaren sie aber zugleich, dass es sich bei dieser ›Natur‹ um kulturelle Normen handelt. Die Berufung auf das Christentum geschieht explizit bei Lewitscharoff (sie spricht von einer »Rückbindung an den christlichen Vorstellungskreis, was Leben und Tod, Sünde und mögliche Vergebung angeht«4) und implizit bei Venner: durch seinen Suizid in einem der größten Gotteshäuser der christlichen Welt sowie durch die in seinem »Testament« vorgebrachte Forderung nach der Abwehr von Einflüssen aus fremden Kulturen. Für Venner und Lewitscharoff ist die ›Natur‹ der Geschlechter identisch mit christlichen Werten.
Das Gleiche sagen freilich auch Juden und Moslems, obwohl sich deren Geschlechterordnungen beträchtlich von der der Christen unterscheiden. Aus der Sicht der Religionen scheint dies eine der Funktionen der symbolischen Geschlechterordnung zu sein: Die Rollen von Mann und Frau sollen das Verhältnis von Gott und Mensch, so wie es die jeweilige Religion definiert, widerspiegeln.5 Würden sich die symbolischen Geschlechterordnungen von den biologischen Gegebenheiten des männlichen und weiblichen Körpers ableiten, könnten sie sich schwerlich von einem Kulturkreis zum nächsten unterscheiden. Religionen dachten nie in Kategorien von Physiologie. (Die Wissenschaft der Biologie wurde überhaupt erst im 18.Jahrhundert erfunden.) Ihr Anliegen war die Etablierung einer bestimmten Kultur. Nachträglich wurden die religiös bestimmten Geschlechterordnungen zu ›natürlichen‹ erklärt.
Damit stellt sich freilich die Frage: Wie erklärt es sich, dass eine alte »göttliche« oder »natürliche« Ordnung der Geschlechter innerhalb weniger Jahrzehnte ihre Plausibilität einbüßen konnte? Dieser Verlust der Glaubwürdigkeit gilt für alle drei Religionen – und der beste Beweis dafür ist der fanatische Trotz, mit dem die jeweiligen Fundamentalismen daran festzuhalten versuchen.6 Die Umwälzung vollzog sich mit einer mentalitätsgeschichtlich einmaligen Geschwindigkeit. Noch um 1900 wurde bezweifelt, dass Frauen zu politischer Entscheidung, akademischer Bildung und ökonomischer Selbstständigkeit fähig seien – begründet wurde das mit ihrer anatomischen Ausstattung.7 Nun sind sie in allen Berufen, auf allen politischen Entscheidungsebenen vertreten und gewinnen Nobelpreise für ihre Forschung. Wäre die Natur für die bis dahin bestehende Definition der Geschlechterrollen verantwortlich, so müsste sich innerhalb von weniger als hundert Jahren eine radikale Mutation des weiblichen Körpers vollzogen haben. Auch die Kürze der Zeit, in der dieser Wandel stattfand, zeigt, dass es sich bei den angeblich ›natürlichen‹ Normen nie um Natur, sondern immer nur um Kultur gehandelt haben kann – anders wäre der Wandel nicht möglich gewesen.
Was es mit dieser ›Natur‹ auf sich hat, erkennt man, wenn man sich die Geschichte sozialer Kategorien anschaut. In früheren historischen Epochen hießen die Begründungen für soziale Hierarchien nicht Natur, sondern Blut. Mit diesem Begriff verteidigte der Adel seine Ansprüche auf Privilegien in der Feudalgesellschaft. Nach der Entmachtung der Aristokratie erfüllte das Kapital eine ähnliche Funktion, aber auch hier wurden Kapital und Blut in eins gesetzt. »Ab dieser Periode gehörte in allen begüterten Schichten Europas die endogame Eheschließung zur neuen Konfiguration von Verwandtschaft. Allianzen, die vorher als inzestuös betrachtet worden waren – etwa die Ehelichung der Schwester der verstorbenen Ehefrau oder einer Nichte – oder auch solche, die schlicht verboten waren, wie die Heirat von Cousins ersten bis dritten Grades, wurden nun völlig akzeptabel und bildeten einen Teil der Heiratsstrategien adliger, bürgerlicher und bäuerlicher Familien.«8 Diese wachsende Endogamie, auf die der Sozialhistoriker David Sabean bei einer mikrohistorischen Studie der Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse in der süddeutschen Stadt Neckarshausen gestoßen war,9 hing mit ökonomischen Veränderungen zusammen. »Zum gesunden Sozialkörper gehörte, dass Kapital und Blut durch dieselben Adern floss.«10
Mittlerweile berufen sich nur noch die Traditionalisten auf das Blut. Die Neuerer sprechen lieber von den Genen. So etwa Donald Trump, der während seines Wahlkampfs 2016 nicht müde wurde zu betonen, dass er »an die Gene glaubt« und dass er seinen Erfolg als Geschäftsmann und Politiker seinen »angeborenen guten Genen« (manchmal auch seinen »winning genes« oder seinem »German blood«) verdankt.11
All diesen Begriffen – Natur, Blut, Gene – ist eines gemeinsam: Sie dienen dazu, die Unveränderbarkeit sozialer Kategorien zu sichern und denen, die ›oben‹ angekommen sind, die Gewissheit zu geben, dass niemand an ihrem Stand rütteln kann. Nach der Aristokratie der Feudalzeit und den Industrie-Eliten des 19.Jahrhunderts sind wir nun, im 21.Jahrhundert, bei der neuesten dieser ›Eliten‹ angekommen: den Eliten des Finanzkapitalismus. Trumps Aufstieg ist dafür symptomatisch, sein Kabinett der Milliardäre ebenso – und seine Berufung auf die »Gene« stellt nur die neue Gestalt des alten Liedes dar: die Naturalisierung ökonomischer oder kulturell produzierter Verhältnisse.
Dennoch ist es unbestreitbar, dass sich derzeit auf der Ebene von biologischem Geschlecht wie von Gender (der sozialen Konstruktion von Geschlecht) eine tiefgehende Umwälzung vollzieht. Diese Änderung brachte überhaupt erst die Erkenntnis, dass die ›Natur‹ schon immer die Verkleidung der Kultur war. Eben das erklärt die hohe Emotionalität, mit der über den Wandel der Geschlechterordnung debattiert wird. Wenn sich sogenannte Naturgesetze als Glaubenssätze erweisen, so rührt dies an existentielle Bedingungen, die nicht nur das Geschlecht des Einzelnen, sondern auch andere Kategorien angehen und die Gemeinschaft überhaupt in Frage stellen. Hierin liegt die Gemeinsamkeit von Homophobie, Antifeminismus, Antisemitismus, Rassismus und Xenophobie: Alle haben einen ›Fremdkörper‹ im Visier, der einerseits gehasst, andererseits aber auch zur Vergewisserung der eigenen Normen gebraucht wird.
Zugleich stellt sich die Frage: Warum haben eigentlich alle an diese ›Natur‹ geglaubt? Und wie haben es Religion und Kultur geschafft, als Natur daherzukommen? Wie kam es, dass gerade auf dem Gebiet der Geschlechterordnung theologische Dogmen und philosophische Richtlinien als gegeben und unveränderlich angesehen wurden? Und womit erklärt sich die Verabschiedung dieser Normen? Für den aktuellen Wandel der Geschlechterrollen werden gern Feminismus und Gender Studies verantwortlich gemacht. So heißt es in einem Pressekommentar, Gender sei der »am schnellsten wachsende Wissenschaftszweig Deutschlands«, eine »Antiwissenschaft«, die auf einem »unbeweisbaren Glauben, der nicht in Zweifel gezogen werden darf«, beruhe.12 Dass nicht nur die Wissenschaft, sondern der ganze Staat auf dem Spiel steht, zeigten die Stellungnahmen von hundert französischen Parlamentsabgeordneten der konservativen Partei UMP im Jahr 2011. Sie protestierten gegen eine Neuerung in den Schulbüchern, in denen die sexuelle Identität nicht nur biologisch, sondern auch sozio-kulturell erklärt wird. Es handle sich um eine »unwissenschaftliche These«, schrieben sie.13 Die Initiative der französischen Politiker erhielt Rückendeckung vom französischen Berater des Vatikans für Familienfragen, der in Gender eine »totalitäre Ideologie« sah, »die repressiver und schädlicher als der Marxismus ist«.14 In den Anti-Gender-Kanon stimmte schließlich auch Papst Franziskus ein, als er der Gender-Theorie vorwarf, einen »Weltkrieg zur Zerstörung der Ehe« zu führen.15
Für das, was Oswald Spengler mit seinem Titel über den Untergang des Abendlandes im Visier hatte, werden heute die Gender Studies verantwortlich gemacht. So unterstellt die katholische Publizistin Gabriele Kuby den Gender Studies, nicht nur die »überlieferten Wertsysteme aller Kulturen und Religionen zu zerschlagen«, sondern sogar die Weltherrschaft anzutreten. »Was einst der ›dialektische Materialismus‹ an den Hochschulen der DDR war, das ist heute die Gender-Ideologie an den Ausbildungsstätten des akademischen Nachwuchses, welche sich darauf vorbereiten, die Führungspositionen in dieser Gesellschaft zu übernehmen.«16 Ihr Buch Die globale sexuelle Revolution. Zerstörung der Freiheit im Namen der Freiheit wird von der Katholischen Kirche vertrieben und wurde zu hunderten von Exemplaren an Politiker versandt. Für Kuby ist Gender ein »neuer Totalitarismus«, der »insbesondere gegen Christen gerichtet« sei.17 Mit der Berufung auf das Christentum hebt freilich auch sie die kulturelle Dimension der alten Geschlechterordnung hervor.
Inzwischen wird der Anti-Genderismus in die Parteiprogramme geschrieben, vor allem in die der populistischen Parteien Europas und rechter Bewegungen in den USA.18 Das hindert einige Liberale und Aufgeklärte nicht, die Gender Studies für den Aufstieg der Populisten verantwortlich zu machen. »Wer als Scheinselbstständiger zwölf Stunden am Tag Amazon-Pakete ausfährt, wer das Geld für die Klassenfahrten seiner Kinder nicht aufbringen kann, auch wer ein gutes Einkommen hat, aber von Abstiegsängsten geplagt wird, empfindet die Emanzipationsideale der gut ausgebildeten, linksliberalen Eliten schnell als Kriegserklärung von oben.«19 Dagegen lässt sich fragen: Wer leidet eigentlich an Kinderarmut? Es sind vor allem die Kinder alleinerziehender Mütter. Wer wird von Abstiegsängsten geplagt, wenn nicht die vielen Frauen, die von einem befristeten Vertrag zum nächsten um ihre existenzielle Grundlage fürchten müssen? Von wenig anderen politischen Bewegungen werden solche Fragen sozialer Ungerechtigkeit deutlicher formuliert als von Feministinnen und den Gender Studies – aus dem einfachen Grund, dass hier die Betroffenheit am größten ist.
1942 hatte der Ökonom Joseph Schumpeter den Feminismus als »eine ihrem ganzen Wesen nach kapitalistische Erscheinung« beschrieben.20 Andere halten ihn für ein Produkt des Sozialismus. Man kann es sich also aussuchen, ob man den Wandel der Geschlechterordnung als »widernatürlich« oder als »unwissenschaftlich«, als »Verschwörung der Frauen« oder als Folge von Sozialismus und/oder Kapitalismus verstehen soll. Dabei ist es leicht zu sehen, dass die Gender Studies niemals einen solchen gesellschaftlichen Wandel hätten herbeiführen können, wie er sich derzeit vollzieht. Ihre Entstehung verdanken die Gender Studies vielmehr der Notwendigkeit, die raschen und tiefgreifenden gesellschaftlichen Änderungen der letzten hundert Jahre (nicht nur auf dem Gebiet der Geschlechterordnung) zu entziffern, deren mentalitäts-, natur- und geisteswissenschaftliche Hintergründe zu verstehen. Das heißt, die Gender Studies sind ein Gebiet der wissenschaftlichen Reflexion (was mit Anti-Wissenschaft wenig zu tun hat), und es ist aufschlussreich, welche akademischen Gebiete sich für diese Reflexion geöffnet haben und welche sich ihr entziehen.
Die als ›Leitwissenschaften‹ entmachteten geisteswissenschaftlichen Fächer haben zumeist die Frage von Gender integriert, während sich die Naturwissenschaften nur sehr vorsichtig auf Gender Studies und Selbstreflexion einlassen. Das Gesetz, das hinter diesen akademischen Verhaltensmustern steht, lässt sich relativ einfach umreißen: Je sicherer eine Wissenschaft sich ist, dass sie über den Schlüssel zur ›Wahrheit‹ verfügt, desto geringer ist ihre Bereitschaft, die Allgemeingültigkeit ihrer eigenen Paradigmen in einen kulturellen oder historischen Kontext zu stellen. Je mehr sie jedoch die Erfahrung machen muss, dass es noch andere Möglichkeiten gibt, die Wahrheit zu denken und zu beschreiben, desto selbstreflexiver wird sie. Diesen Erkenntnisprozess musste die Theologie schon seit dem Beginn der Neuzeit durchlaufen und nach ihr die Geschichte und die Philosophie (die freilich noch immer den Abstieg dadurch aufzuhalten versuchen, dass sie Gender ausschließen oder zu einem Nebengleis ihres Faches erklären). Sogar die Medizin hat es mittlerweile erwischt: Sie sah sich genötigt, die sozialen und kulturellen Einflüsse auf Krankheitsbilder, die bis dahin als geschlechterneutral galten (Herz-und Kreislauferkrankungen zum Beispiel), in Rechnung zu ziehen.21
Im Moment tut sich ein Teil der Naturwissenschaften noch schwer mit einem selbstreflexiven Blick – und so ist es kein Zufall, dass einige der schärfsten Attacken gegen Gender aus dieser Ecke kommen: Die Genderforschung beachte nicht die ›Fakten der Natur‹. Das ist umso paradoxer als gerade die Biologie am meisten zur Verwandlung des Körpers und dessen ›biologische Realitäten‹ beigetragen hat: mit der Entwicklung von Genetik und Reproduktionsmedizin. Da die Manipulationen der Reproduktionsmedizin vor allem den geschlechtlichen Körper betreffen, erstaunt es nicht, dass deren Auswirkungen auch in der Geschlechterforschung diskutiert werden. Die Theologen haben den Geist der Menschen umgeformt, aber die Biologen haben durch die Reproduktionsmedizin in die Physiologie des Menschen eingegriffen. Damit haben sie auch die Wandelbarkeit des Körpers unter Beweis gestellt. Sie selbst schufen jene flexiblen geschlechtlichen Identitäten, für die heute die Gender Studies verantwortlich gemacht werden. (Auch Lewitscharoffs Polemik erweckt den Eindruck, Lesben hätten die Fertilitätstechniken erfunden!) Die Geschlechterforschung theoretisiert nur die tiefgehenden Änderungen; sie ist Symptom, nicht Ursache des Wandels.
Der Mangel an Selbstreflexion gilt auch für das Gebiet der Wirtschaftswissenschaften. Es gab durchaus Epochen, in denen dieses Fach über die eigenen Entstehungs- und Forschungsbedingungen nachgedacht hat – der schon erwähnte Joseph Schumpeter ist dafür ein Beispiel. Aber in den aktuellen Diskursen ist für diesen kulturellen Blick auf die Ökonomie nur wenig Raum. Am resistentesten ist der Sektor der Finanzwissenschaft, was zweifellos mit seiner derzeitigen Vormacht über die ökonomischen Verhältnisse zusammenhängt. Diese Dominanz beruht auf der Tatsache, dass die Finanzwirtschaft ausschließlich mit Zeichen handelt und damit über die Fähigkeit zu verfügen scheint, aus ›dem Nichts‹ Realien zu erschaffen: eine quasi-theologische Macht, was vom Vorstandsvorsitzenden der US-Investmentbank Goldman Sachs, Lloyd Blankfein, mit dem Satz quittiert wurde, dass die Finanzinstitute »das Werk Gottes vollbringen«.22 Während andere Bereiche der Ökonomie und Politik inzwischen die Notwendigkeit einer nachhaltigen Ökonomie und Ökologie einsehen, ist der Finanzsektor, der einst die Speerspitze ökonomischer Innovation war, heute zu einem Blockierer des Umdenkens geworden. Die Folgen bestehen weniger in der Verurteilung von Gender (zu nebensächlich, da dieser Sektor so gut wie ›frauenrein‹ ist) als in der Verleugnung des Klimawandels, der Befürwortung der Kernenergie und der Spekulation mit Grundnahrungsmitteln.23 Auch Immobilien und industrielle Produkte sind mittlerweile nur noch ›Anhängsel‹ der Geldzeichen. Diese Dominanz der Zeichenhaftigkeit hat, wie noch zu zeigen sein wird, viel mit den Geschlechterrollen zu tun.
Geschlechterordnung und Verwandtschaftsverhältnisse sind mit einander verflochten. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass beide zeitgleich eine tiefe Veränderung durchlaufen. So wie die biologische Bedingtheit von Geschlecht in Frage gestellt wird, verliert auch die Selbstverständlichkeit, mit der Verwandtschaft als leibliche Kategorie gedacht wird, an Plausibilität. Die Idee von Verwandtschaft als Blutsbande führt weit zurück, gewinnt aber erst mit dem Monotheismus eine zentrale Bedeutung. Die allmähliche Entwicklung dieser Idee wie auch die Kritik daran in der Moderne ist das leitende Thema dieses Buchs. Heute ist Verwandtschaft genauso flexibel geworden wie die Geschlechterordnung. Das hindert nicht, dass Blutsbande weiterhin als ›Realität‹ erlebt werden und oft hoch emotional besetzt sind.
Wie die ›Natur‹ der Geschlechter hat auch die ›Natur‹ der Familie eine Geschichte: Sie war zunächst ein kulturelles Paradigma, das dann jedoch eine solche Wirkmacht entfaltete, dass sie schließlich über die Vorstellungen von ›natürlichen‹ oder ›normalen‹ Verwandtschaftsbeziehungen bestimmte. Den meisten modernen Menschen der westlichen Welt ist nicht bewusst, dass Blutsbande nur eine von vielen möglichen und weltweit existierenden Definitionen von Verwandtschaft sind. Wie beim Geschlecht war einer der Auslöser für die neue westliche Flexibilität der Verwandtschaftsbeziehungen die Neuerungen auf dem Gebiet von Zeugung und Reproduktion. Auch das erklärt die aktuellen Gefühlsaufwallungen: Bei den Debatten um Homo-Ehe und Reproduktionsmedizin steht nicht nur die Geschlechterordnung, sondern auch das Konzept der Blutsverwandtschaft, auf dem ein über die Jahrhunderte gewachsenes Verständnis von Herkunft und Verknüpfung mit anderen Menschen beruht, auf dem Prüfstand.
In diesem Buch werden einige Thesen zur Entstehung des abendländischen Konzepts von Blutsverwandtschaft formuliert. »Blut ist ein ganz besonderer Saft«, sagt Mephisto zu Faust, den er den Pakt mit seinem Blut unterschreiben lässt. Was das Besondere an diesem Saft ist, sagt Goethe nicht, aber es erschließt sich aus der Handlung: Das Blut soll das, was mit Tinte geschrieben ist, authentifizieren. Es soll aus den geschriebenen Worten ›echte‹, d.h. leibliche Wirklichkeit machen. Michel Foucault hat vom Blut gesagt, es sei eine »Realität mit symbolischen Funktionen«.24 Blut gehört zu den wenigen Stoffen, die sowohl Signifikat als auch Signifikant sind: die materiell existieren und zugleich eine hohe metaphorische Bedeutung haben. Das ist das Besondere an diesem Saft. Blut ist eine Realität, und es steht für existenzielle Realitäten, die mit Begriffen wie Körper, Leben, Tod, Gewalt oder Geburt umschrieben werden. Wir wissen nicht, was Tod oder Leben eigentlich sind, doch wenn wir versuchen sie zu umschreiben, landen wir schnell beim Begriff des Blutes. Er hat so etwas sympathisch Handfestes, während sich Geburt oder Tod unserer Beschreibungsmacht entziehen.
Der Antike war das intime Verhältnis von Schrift und Blut durchaus bewusst. Die Autoren der Bibel nannten den ersten Menschen Adam, was sich vom hebräischen Wort »dam« (Blut) ableitet. Zugleich heißt es in der Bibel, dass Gott diesen Adam durch das Wort erschaffen hat. Dies ist das Paradox, um das es hier geht: auf der einen Seite die Realitätsmacht des (geschriebenen) Wortes, auf der anderen Seite die Realitätsmacht des Blutes. Das Paradox löst sich, sobald man sich vergegenwärtigt, dass Worte, ob sie nun gesagt oder geschrieben werden, der Anbindung an die physische Wirklichkeit bedürfen. Diese Funktion erfüllt das Blut. Die abendländische Vorstellung von Blutsverwandtschaft beruht auf eben dieser Verbindung: Das Blut der Blutsverwandtschaft ist die Camouflage einer Idee, die ihre eigene Abstraktheit vergessen machen möchte, damit sich die Idee in der Welt verankern kann.
In den aktuellen Debatten über Körper, Geschlecht, Kultur und ethnische Konflikte spielt der Begriff der ›Identität‹ (von latein. idem, gleich, übereinstimmend) eine wichtige Rolle.1* Der Begriff verweist auf statische, unveränderbare Persönlichkeitsmerkmale. Eine Identität in diesem Sinne gibt es aber nur auf einem Dokument: einem Pass oder Personalausweis, einem Meldeschein oder einer Steuererklärung, die bestimmte Koordinaten des Einzelnen festhalten, etwa Geburtsjahr, Geschlecht, Nationalität, Wohnsitz etc. Eine »identitäre Politik« impliziert also das Festhalten an Fakten, denen Unveränderbarkeit unterstellt wird, die es aber in Wirklichkeit nur auf dem Papier (oder im Rechner) gibt. Das heißt, die unveränderbare Identität wird auf eine Instanz verlagert, die sich außerhalb des menschlichen Körpers befindet und dessen wechselhafte Seinsbedingungen nur unvollständig oder gar nicht wiedergeben kann. Die Macht dieser Instanz ist das geschriebene Wort, das Unvergänglichkeit garantiert und dem Zyklus von Leben und Tod entzogen ist. Um diese Macht der Zeichen geht es auch bei der Blutsverwandtschaft: ein Konzept »identitärer Politik«, die ihre Macht der Tinte verdankt.
Geld ist ebenfalls ein Schriftsystem, und auch ihm verleiht das Blut Realitätsmacht. Je höher der Abstraktionsgrad des Geldes – nach den Münzen kamen Wechsel, Schecks, dann das Papier- und schließlich das elektronische Geld – je mehr also das Geld zum reinen Zeichen mutierte, desto häufiger findet sich in ökonomischen und politischen Texten die Analogie von Blut und Geld. So etwa Thomas Hobbes in seinem Leviathan von 1651, wo er die Zirkulation des Geldes mit dem Blutkreislauf im menschlichen Körper verglich. Das Geld wandere »innerhalb des Staates von Mensch zu Mensch« und »ernähre« auf seinem Umlauf jeden Teil, den es berührt: »Insofern ist diese Verarbeitung gewissermaßen der Blutkreislauf des Staates.«25
Bedenkt man nun, welche Rolle die Blutsverwandtschaft bei Testament und Erbschaft spielt, dann erkennt man schon einen roten Faden, der dieses Buch durchzieht: Nicht das Blut konstituiert die Verwandtschaftsverhältnisse, sondern die abstrakten Zeichen von Geld und Schrift konstruieren Blutslinien, um in den Körpern zirkulieren zu können. Da die westlichen Blutsbande letztlich auf einem Netz von Texten und Zeichen beruhen, verwende ich für sie den Begriff der ›Roten Tinte‹.
Bei der Konstruktion der westlichen Blutsverwandtschaft spielt der Vater eine wichtige Rolle: nicht trotz, sondern wegen der Unsicherheit der Vaterschaft. Weil Vaterschaft (bis vor sehr kurzer Zeit) nur über Gesetz und Erbschaftslinien zu definieren war, ist ›der Vater‹ die ideale symbolische Form und damit auch Inkarnation von Schrift und Geld. Das wird besonders deutlich, wenn man patrilineare mit matrilinearer Blutsverwandtschaft vergleicht. Bei der matrilinearen Blutsverwandtschaft entfällt die Unsicherheit der Vaterschaft, denn relevant ist nur die mütterliche Linie; und die ist nachweisbar. Die väterliche Linie dagegen ist auf eine symbolische Form angewiesen. Umso mehr liegt ihr an den Blutsbanden. Sie verleihen der Vaterlinie den Anschein eben jener nachweisbaren Leiblichkeit, die sie eigentlich entbehrt.
Mit der modernen Reproduktionsmedizin verliert sich sowohl die Unsicherheit der Vaterschaft als auch die Sicherheit der Mutterschaft. Davor liegen freilich zwei lange Entwicklungsgeschichten: auf der einen Seite die griechisch-römisch-christliche Patrilinearität, auf der anderen die jüdische Matrilinearität, die nach der zweiten Zerstörung des Tempels im Jahr 70 d.Z. und dem Beginn der Diaspora allmählich bestimmend wurde für die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde. Sowohl Judentum als auch Christentum hatten großen Anteil an der Entwicklung der Idee der Blutsverwandtschaft. Generell dienten Ideen des Blutes immer wieder der gegenseitigen Abgrenzung zwischen den beiden Religionen – und die unterschiedlichen Konzepte der Blutsverwandtschaft bildeten einen Teil dieser Abgrenzungsstrategien.
Wer aber Religion sagt, sagt auch Schrift. Alle großen Weltreligionen basieren auf Heiligen Schriften. Dies gilt in besonderem Maße für die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die der Koran nicht durch Zufall als ›Religionen des Buches‹ bezeichnet. So versteht es sich von selbst, dass auch der Faktor Schriftreligion – der wirkmächtigste Beschleuniger der Ideenwelt – für die Betrachtung der Blutsverwandtschaft unerlässlich ist.
Bei der Arbeit an diesem Buch war die psychoanalytische Denkweise hilfreich. Allerdings funktioniert der Umgang mit kulturhistorischen Themen notwendigerweise anders als der psychoanalytische, der das Individuum fokussiert. Zwar verhält sich ein ›Kollektivkörper‹ manchmal ähnlich wie ein Individuum, und nicht durch Zufall wird er oft in Analogie zum individuellen Körper definiert.26 Aber es gibt prägnante Unterschiede: Die Psyche des Kollektivkörpers ist auf Rituale, Gesetzmäßigkeiten und andere Regeln der Gemeinschaftsbildung angewiesen. (Heute werden viele Regeln und Rituale von sozialen Medien wie Facebook ersetzt, was noch einmal zusätzliche Fragen aufwirft.) Das Individuum dagegen ist veränderbarer, passt sich neuen Bedingungen in einer Weise an, zu der eine Gemeinschaft nur sehr langsam fähig ist. Auf der anderen Seite ist aber auch das gesellschaftliche Unbewusste nicht statisch; es wandelt sich, lädt neue Dinge auf, verwirft andere, die es nicht mehr braucht – aber potentiell immer wieder abrufen kann.
Die Psychoanalyse geht skeptisch mit dem kollektiven Unbewussten um; die Geschichtswissenschaft zweifelt an den unbewussten Strömungen der Geschichte. Dennoch gibt es auf beiden Gebieten viele, denen diese gegenseitige Abgrenzung fragwürdig erscheint. Das zeigten Studien wie die von George Mosse zu Nationalismus und Sexualität,27 Ute Freverts Untersuchungen über die politische Wirkmacht von Emotionen,28 Dagmar Herzogs Forschungen zur Sexualität im Dritten Reich und in der frühen Bundesrepublik29 oder Claudia Bruns’ Untersuchungen der »Männerbünde« im späten Kaiserreich.30 Sonst aber tauchen Kategorien wie Religion oder Eros in der Geschichtswissenschaft erst dann auf, wenn soziologische, machtpolitische, ökonomische oder andere berechenbare Erklärungsmuster nicht mehr genügen. Dabei ist es breiter Konsens – auch in der Geschichtswissenschaft –, dass alle (noch so faktenbasierten) historischen Erzählungen Konstruktionen sind, die von der jeweiligen Blickrichtung bestimmt werden. Jedes Zeitalter und jede Forschung nimmt eine Auswahl von dem vor, was erinnert, was gesagt und was vergessen wird. Wenn sich ›die Geschichte‹ selbst auch nicht objektiv darstellen lässt, so ist es doch möglich, einige der Deutungsmuster zu beschreiben, auf denen das jeweilige Narrativ beruht. So sind heute auch Mythen für die Geschichtswissenschaft kein Tabu mehr. Der französische Historiker Julien d’Huy zum Beispiel untersucht mit computergestützten Verfahren die historischen Verschiebungen mythischer Erzählungen und liest daran Wanderungsbewegungen und evolutionäre Entwicklungen ab.31
Auch die Psychoanalyse verschließt nicht mehr die Augen vor den Einflüssen kollektiver Prozesse auf die Psyche des Einzelnen. Davon zeugen die Arbeiten von Julia Kristeva,32 Jessica Benjamin33 und andere Forschungen.34 Das kollektive Unbewusste lässt sich nicht auf die Couch legen. Doch ohne die Einsicht in die kollektiven Wirkmächte entgehen der Therapie notwendigerweise Faktoren, die Einfluss haben auf das Leben und Leiden der Menschen. Die Geschichte der Hysterie ist ein beredtes Beispiel für diese Macht kollektiver Prozesse auf die Psyche und die Somatisierungen des Einzelnen. Es war bei meinen Arbeiten über die historisch wechselnden Erklärungsmuster für hysterische Symptome, dass ich zum ersten Mal auf die Wirkmacht der Schrift gestoßen bin.35 Die Schrift, bei der sich die gesprochene Sprache des individuellen Körpers mit der geschriebenen Sprache der Gemeinschaft verbindet, ist wichtiges Bindeglied zwischen der individuellen und der kollektiven Geschichte. Dasselbe gilt für das Geld, mit dem ich mich später beschäftigt habe. Beide – Geld wie Schrift – hatten intensiven Einfluss auf die Entwicklung von Geschlechterbildern und Verwandtschaftsverhältnissen.
In den meisten meiner Forschungen – ob es sich um die Geschichte der Hysterie, das historisch wandelbare Gesicht des Antijudaismus, die Entstehung von kulturell geprägten Krankheitsbildern wie Syphilis und Anorexie oder die Geschichte des Geldes ging – wurde die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen kollektiven und individuellen Prozessen zu einem wichtigen Thema. Dabei erwiesen sich die Kommunikationsformen – gesprochene Sprache, zirkulierende Gaben, schriftliche Botschaften oder Geld – immer als das strukturierende Element dieser Wechselbeziehung. Sie prägen auch heute die Art, wie Menschen interagieren und als Gemeinschaftskörper zusammengehalten werden. Ich selbst hätte ohne meine theoretischen und praktischen Erfahrungen mit der Psychoanalyse vermutlich nie begonnen, so viel über Schrift und Geld nachzudenken. Andersherum öffnete mir die historische Beschäftigung mit den Zeichensystemen aber auch den Blick auf das Wechselverhältnis von Ideenwelt, Körper und Geschlecht.
Im vorliegenden Buch geht es um die Idee der Blutsverwandtschaft, deren Hintergründe ich in der Entstehung und dem Wandel von Schriftsystemen, religiösen Überzeugungen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen nachzuzeichnen versuche. Dabei drängte sich immer mehr die Erkenntnis auf, dass die revolutionären Neuerungen der Reproduktionsmedizin (einschließlich der von ihnen bewirkte Wandel von Geschlechter- und Verwandtschaftsordnung) weniger einen Bruch mit der Vergangenheit als deren konsequente Fortsetzung darstellen. Angesichts der Debatten, die die Ausweitung des Begriffs der Ehe auf homosexuelle Partnerschaften in Deutschland auslöste, mag dies überraschen. Die Mehrheit der Gegner dieser Neuerungen ist sich offenbar nicht bewusst, dass die Ehe schon immer eine kulturelle, mithin auch wandlungsfähige Einrichtung war. Allein die Scheidung, bis heute von der katholischen Kirche bekämpft, aber für den säkularen Staat verbrieftes Recht, beweist, dass die Ehe eine Einrichtung ist, die immer schon historischen Veränderungen unterlag. Dass diese kulturelle Bedingtheit auch für eine scheinbar so ›konkrete‹ Angelegenheit wie die Blutsverwandtschaft gilt, soll in diesem Buch gezeigt werden.
Im 1.Kapitel beschreibe ich an einigen Beispielen die unterschiedlichen Definitionen von Verwandtschaft, die weltweit existieren. Im 2.Kapitel geht es um die Schrift als Religionsstifter und das Geld als Reproduktionstechnik. Im Zentrum des 3.Kapitels stehen das Verhältnis von biblischem Judentum und Hellenismus, die Entwicklung der jüdischen Matrilinearität mit dem Beginn der Diaspora sowie die Spaltung zwischen rabbinischem Judentum und frühem Christentum. Im 4.Kapitel wird die Herausbildung der männlichen Blutslinie in der christlichen Gesellschaftsordnung behandelt. Das 5.Kapitel thematisiert den Wandel der Familienordnung in der Neuzeit, das Aufkommen neuer emotionaler Familienbande, die einerseits die Blutsverwandtschaft stärkten, andererseits aber auch schon neue Denkmuster jenseits der Blutsbande eröffneten. Bei diesem Wandel erwies sich das liquide Kapital als bestimmender Faktor. Im 6.Kapitel geht es um kollektive Vorstellungen von Blutsverwandtschaft, die sich in der wachsenden Bedeutung von Nation und Rasse im 19.Jahrhundert niederschlagen, wie auch um neuere Gemeinschaftsdefinitionen, die durch die Genetik ermöglicht wurden. Im 7.Kapitel wird der Wandel jüdischer Identität in der Moderne beschrieben: die zunehmende Hinterfragung des alleinbestimmenden Prinzips der Matrilinearität, das Verhältnis von Israel und jüdischer Diaspora. Im 8.Kapitel geht es schließlich um die Veränderungen, die sich durch die moderne Reproduktionsmedizin sowohl für das biologische und soziale Geschlecht als auch für die Blutsverwandtschaft ergeben. Das 9.Kapitel umfasst einige Schlussfolgerungen, die sich aus diesem langen historischen Bogen ergeben.
Beim Verfassen dieses Buchs greife ich auf viele Forschungen unterschiedlicher Gebiete zurück: Ethnologie und Anthropologie – darunter die Arbeiten von Marshall Sahlins, Marilyn Strathern, David Schneider, Karl Polanyi, Mary Weismantel, Sandra Bamford, James Leach (um unter den vielen nur einige Namen zu nennen) – boten mir wichtige Einblicke in westliche wie nicht-westliche Vorstellungen von Verwandtschaft. Der Geschichtswissenschaft – vertreten etwa durch David W.Sabean, Simon Teuscher, Jack Goody, David Landes, Anita Guerreau-Jalabert, Christine Klapisch-Zuber – schulde ich viele Erkenntnisse zur Entwicklung in Europa. Ihren mikrohistorischen Studien konnte ich einige konkrete Beispiele entnehmen. Hinzu kamen religionswissenschaftliche Werke wie die von David Biale, Shaye J.D.Cohen oder Daniel Boyarin. Schließlich gab es, last not least, die kenntnisreichen Untersuchungen zu den Auswirkungen moderner Reproduktionstechniken, so etwa die von Sarah Franklin, Janet Carsten, Andreas Bernard und vielen mehr. Wenn auch in all diesen Studien der Grundgedanke, den ich hier verfolge – die Rolle der Schrift für die Geschichte der Blutsverwandtschaft – nicht formuliert wird, so bietet ihr reiches Material doch viele Beispiele zur Stützung dieser These. Darüber hinaus gibt es viele nicht zitierte Werke, die für dieses Buch von grundlegender Bedeutung sind. Sie reichen von Michel Foucaults Schriften bis zu frühen feministischen Theorien zur Reproduktionsmedizin und dem Verhältnis von Natur und Kultur wie etwa die von Anne Fausto-Sterling.36 Oft zitiert man ihre Werke nicht ausdrücklich und steht dennoch unbestreitbar auf den Schultern dieser Pioniere.
Auf einigen Gebieten, vor allem was Schrift, Geld und die vielschichtige Symbolik des Blutes betrifft, konnte ich auf eigene Vorarbeiten zurückgreifen und diese weiter entwickeln. Ähnliches gilt für Gender und jüdische Traditionen, die sich als Perspektiven durch das ganze Buch ziehen. Auch hier gibt es eigene Vorarbeiten, neue kamen hinzu. Mein besonderer Dank gilt Inge Stephan und Adina Stern, die beide das Manuskript in rohem Zustand gelesen haben und mir wertvolle Hinweise und Anregungen gaben. Großer Dank gilt auch Gabriele Dietze, die das Buch einem genauen inhaltlichen Lektorat unterwarf und dabei auf so manche Unklarheiten und Widersprüche hinwies und es so um wichtige Einsichten ergänzte. Last not least geht auch mein Dank an Franziska Günther und den Aufbau Verlag, die mich mit einem mal wieder umfangreichen Werk unterstützt haben.
Eine Postkarte von 1905 anlässlich des ersten Esperanto-Weltkongresses. Die Erfinder dieser Kunstsprache sahen darin die Basis für eine große Weltfamilie. Wenige Jahrzehnte später kam der Ethnologe Claude Lévi-Strauss zu der Erkenntnis, dass Verwandtschaft tatsächlich »wie eine Sprache« funktioniert. Allerdings ist die Grammatik dieser ›Sprache‹ so tief im sozialen Unbewussten verankert, dass sie selten ausbuchstabiert wird. Erst beim Aufeinanderstoßen unterschiedlicher Kulturen wird erkennbar, dass es viele Möglichkeiten gibt, ›Verwandtschaft‹ zu denken. Esperanto entstand ausgerechnet in dem historischen Moment, als die Welt diese Vielfalt zu verstehen begann.
Man ist gewohnt, unter Verwandtschaft Blutsverwandtschaft zu verstehen. Das ist jedoch ein Spezifikum der westlichen Gesellschaft. Die Mehrheit der Menschen auf der Welt geht nicht davon aus, dass sich Verwandtschaft durch Blutsbande konstituiert. Sie wird nach ganz anderen Merkmalen definiert: gemeinsames Wohnen, die Nahrung teilen, sich von demselben Boden ernähren, zusammen arbeiten, miteinander leiden, Erinnerungen teilen, für einander Verantwortung übernehmen. Es hängt von der jeweiligen »kulturellen Logik von Verwandtschaft« ab.1 Bei den Ilongot der Philippinen zum Beispiel heißt es, dass die, die eine gemeinsame Migrations- und Kooperationsgeschichte haben, »einen Körper teilen«.2 Im Amazonasgebiet werden Menschen zu Verwandten, sobald sie dieselben Feinde haben. Solche Auffassungen, so Marshall Sahlins, lehren uns, dass »Verwandtschaft, wie sie sich von Geburt bis zum Tod und sogar jenseits davon konstituiert, ausschließlich Kultur, reine Kultur ist«.3
Die Tatsache, dass sich mehrere Menschen von ein und demselben Boden ernähren, gehört zu den meist verbreiteten Verwandtschaftsdefinitionen. Sie führt etwa dazu, »dass die Kinder zweier Brüder genauso eng verwandt sind wie diese« – aber dies nicht etwa, weil ihre Väter gemeinsame Eltern haben, »sondern weil sie von ein und demselben Boden ernährt wurden«.4 Beim Stamm der Ku Waru bedeutet der Begriff kopong sowohl Sperma des Vaters als auch Milch der Mutter, und er gilt auch als eine der Substanzen von Süßkartoffeln und Schwein. »In der westlichen Ideologie werden ›echte‹ Geschwister einzig durch pränatale Einflüsse determiniert: Die leibliche Existenz jedes Geschwisters beginnt mit dem Ereignis der Konzeption, also mit der Tatsache, dass die genetische Substanz von denselben Individuen beigesteuert wurde.« Bei den Ku Waru dagegen ist die genetische Substanz nachgeordnet. »Vielmehr erscheint kopong in jeder Phase des Prozesses als eine ernährende Substanz, ob diese nun direkt dem Garten entnommen, durch die Geschlechtsorgane des Mannes, die Brust einer Frau kanalisiert oder im Fleisch des Schweines bewahrt und konsumiert wird. Im Gegensatz zur westlichen Sichtweise gibt es hier keinen essentiellen Unterschied zwischen pränatalen und postnatalen Einflüssen.«5 Die Bedeutung der gemeinsamen Nahrung für die Konstitution von Verwandtschaft beinhaltet auch, dass »die Kinder oder Enkel von Immigranten vollkommen integriert sind; sie werden zu den Verwandten der Einheimischen«.6 Dass Sahlins hier den politisch hoch besetzten Begriff der »Integration« verwendet, hebt hervor, wie fremd dem Westen eine solche Integrationspolitik geworden ist: Wie die Debatten um die syrischen Flüchtlinge im Jahr 2016 zeigten, geht es in den modernen Staaten öfter um Ausschluss als um Einschluss – und diese Vorstellung eines hermetischen Kollektivkörpers ist eng verbunden mit dem Konzept der Blutsverwandtschaft.
Die Nahrung verbindet nicht nur die Lebenden untereinander, sondern diese auch mit den Verstorbenen. Auf den Pentecost Inseln des südlichen Pazifik, so Margaret Jolly, »verschmelzen die Bewohner mit dem Land«. Aber sie sind nicht die Eigentümer des Bodens, ebenso wenig wie sie »Eigentümer« ihrer Kinder sind. Das Land ist vielmehr »Teil der menschlichen Substanz«.7 Die Iban von Kalimantan in Südostasien verleihen dem Boden sogar eine generationenübergreifende Bedeutung: Da die menschlichen Überreste der Verstorbenen den Boden »ernähren«, ist der Reis, so der Anthropologe Clifford Sather, für sie »die Transsubstantion unserer Ahnen«.8 Die Verwendung des Begriffs ›Transsubstantiation‹, der für die christliche Welt theologisch besetzt ist, hat hier eine ganz andere Bedeutung. In der christlichen Transsubstantiationslehre verwandelt sich das Zeichen (Hostie und Wein) beim Heiligen Abendmahl in das reale Fleisch und Blut Christi – ein Stoff, von dem sich der gläubige Christ ernährt, um an der Unsterblichkeit Gottes teilzuhaben. Es handelt sich um eine »geistige Nahrung«, die zu einer physiologischen wird, um ihren Zweck als Speise erfüllen zu können. Bei den Iban dagegen haben die Nachfahren durch die Nahrung Anteil am Geist der Ahnen – und damit an einer Form von Unsterblichkeit, die von der Generationenkette vorgegeben ist.
Heute, wo durch eine weltweite Migration unterschiedliche Kulturen aufeinanderstoßen, werden sich die Industrieländer damit vertraut machen müssen, dass die Bezeichnungen ›Vater‹, ›Mutter‹, ›Bruder‹ oder ›Schwester‹ nicht notwendigerweise in der DNA ihre Entsprechungen finden. Diese Begriffe können sich genauso gut auf eine Verwandtschaft beziehen, in der den Sozialbeziehungen mehr Bedeutung beigemessen wird als dem Blut.
Die von Ethnologie und Anthropologie2* erforschte Vielfalt der Verwandtschaftsdefinitionen zeigt nicht nur, dass es neben dem Konzept der Blutsbande noch viele andere Vorstellungen von Verwandtschaft gibt; sie zeigt auch, dass das Blut, da wo es überhaupt eine Rolle spielt, nicht zwingend biologisch begriffen wird. Bei der von Janet Carsten untersuchten Bevölkerung von Malaysia zum Beispiel erwerben Menschen dasselbe »Blut«, weil sie in demselben Haus leben und auf demselben Herd kochen. »Ein Fötus, so heißt es, besteht aus dem Blut der Mutter und dem Samen des Vaters. Doch nach der Geburt wird das Blut des Kindes zunehmend von der Nahrung geformt, die auf dem heimischen Herd zubereitet wird.« Das schließt auch alle ein, die nicht blutsverwandt sind. »In dem Maße, in dem Menschen zusammenleben und ihre Mahlzeiten teilen, findet eine Angleichung ihres Blutes statt. […] Das Zusammenleben in einem Haus und die gemeinsamen Mahlzeiten machen sie zu Verwandten, auch wenn die, die unter einem Dach wohnen, nicht durch sexuelle Prokreation verbunden sind.«9
Ein anderes Beispiel sind die von Sharon Elaine Hutchinson untersuchten Nuer des Südsudan, wo das Blut von zentraler – mythischer wie weltlicher – Bedeutung ist. Dort entwickelten sich unter dem Einfluss der sozialen und politischen Umwälzungen unterschiedliche Parameter für die Bewertung von Verwandtschaftsbeziehungen: Sie reichen von Blut über Vieh bis zu Geld, Papier und Waffen. Ein Kind wird in den ersten Monaten seines Lebens als »Blut« bezeichnet, und ebenso werden auch Nahrungsmittel mit Blut gleichgesetzt und Blut wiederum mit Milch und Samen verglichen. Der Ernährungswert einer Substanz wird in Einheiten von Blut gemessen, wobei Milch den höchsten Wert hat. Diese »Blutsverwandtschaft« entsteht also durch das Teilen von Nahrung; die gemeinsam verzehrte Speise macht zwei Männer zu »Blutsbrüdern«, die zur gegenseitigen Verteidigung verpflichtet sind. Auch ist es ihnen verboten, nahe Verwandte des anderen Mannes zu heiraten: Es ist also die Speise, die das Inzesttabu etabliert. Blut wird hier als Recheneinheit gedacht, und auch Vieh (von dem man sich ernährt) gilt »als symbolischer Träger für menschliches Blut«.10
Das ist etwas ganz anderes als der Wertmesser Vieh der griechischen und römischen Antike. Dieser wurde abgelöst vom Geld, was sich in der Ableitung pecunia (Geld) von pecus (Vieh) zeigt und in unserem Begriff des »Pekuniären« erhielt.11 Auch bei den Griechen konnte das Vieh mit Menschenleben verrechnet werden (beim Freikauf von Sklaven zum Beispiel). Doch die von den Nuern praktizierte Gleichsetzung von Vieh und Menschenblut bewegt sich auf einer anderen Ebene: Vieh ist nicht ein neutraler Wertmesser, sondern substituiert menschliches Leben. »Stirbt ein Nuer ohne einen Erben, ist seine Familie verpflichtet, Vieh zu sammeln und ihn mit einer ›Geisterfrau‹ zu verheiraten, die ihm Kinder schenkt. Ebenso kann eine unfruchtbare Frau zu einem ›sozialen‹ Mann werden und sich (mit der Währung Vieh) eine Frau ›kaufen‹, die ihr Kinder schenkt.«12
In manchen Kulturen wird Vieh auch geopfert, um die menschliche Fortpflanzung zu sichern. In dieses ›Tauschgeschäft‹ (Opferriten sind Tauschgeschäfte mit den Gottheiten) werden in der neueren Zeit auch Papier, Geld und Gewehre einbezogen. Während das Geld als steril gilt,3* bestenfalls geeignet für einen transitorischen Handel, gilt Papier als gleichwertig mit Blut und Vieh. Es scheint ausgestattet mit übermächtigen Kräften. Das hängt einerseits mit der Erfahrung einer übergeordneten Macht des Staates zusammen, die sich in schriftlichen Erlassen ausdrückt, entspricht andererseits aber auch dem Wunsch nach Bildung: Papier symbolisiert Wissen; Schulen und andere Bildungsmöglichkeiten sind rar und begehrt. Die Symbolik von Gedrucktem als Repräsentation des Staates ist ein Import aus der westlichen Kultur. Die Gewehre wiederum repräsentieren männliche Potenz. Deshalb werden sie nicht nur im Kampf gegen Feinde eingesetzt, sondern dienen auch dem Brautkauf, anstelle von Vieh. Über lange Zeit betrachtete die westliche Anthropologie schriftlose Kulturen als statisch und ahistorisch. Aber die von den Nuern praktizierte Vermischung von Tradiertem und Importiertem zeigt, wie sehr sich vorschriftliches und historisches Denken der Schriftgesellschaften verbinden und gemischte Formen von Beziehungsgeflechten hervorbringen.
Blut rangiert in seiner Bedeutung zumeist hinter anderen Substanzen; dafür bietet das von Barbara Bodenhorn untersuchte Beispiel der Iñupiat Nordalaskas ein gutes Beispiel.13 Für diese Kultur entstehen bleibende Verwandtschaftsbeziehungen nicht durch Biologie; viel wichtiger sind frei gewählte Bindungen, die durch Namensgebung, Adoption oder durch die Wahl des Ehepartners geschaffen werden. Die Verwerfung fest vorgegebener Verbindungen impliziert, dass Verwandtschaftsverhältnisse permanent neu ausgehandelt oder bestätigt werden müssen.
Während in den westlichen Gesellschaften Sexualität und Blutsverwandtschaft traditionell eng miteinander verwoben sind, spielt dieser Zusammenhang in den Kulturen mit sozialen Definitionen von Verwandtschaft eine untergeordnete Rolle. Die beiden Gebiete gehören unterschiedlichen Sphären an, können aber beide zur Etablierung von Verwandtschaft führen. »In bestimmten Inuit-Gruppen sind Menschen, die an demselben Tag geboren wurden, miteinander verwandt, und als ›Brüder‹ gelten sogar die, deren Eltern einmal – in früherer Zeit – eine sexuelle Beziehung miteinander hatten, auch wenn keiner der beiden ›Brüder‹ aus dieser hervorging.«14
Sahlins warnt davor, in den kulturellen und sozialen Definitionen von Verwandtschaft nur eine Metapher oder Allegorie für die ›echten‹, vom Blut bestimmten Verwandtschaftsverhältnisse zu sehen, wie es die frühen Anthropologen taten. »Der entscheidende Trugschluss an dem Argument, dass biologische Beziehungen die ›primären‹ Verwandtschaftsverhältnisse definieren, aus denen sich dann die sekundären ableiten, besteht darin, die Eltern des Kindes aus ihrem sozialen Kontext herauszulösen und ihnen zu unterstellen, dass sie abstrakte Wesen sind, ohne eine andere Identität als die genitale, und dass sie aus ihren körperlichen Substanzen ein ebenso abstraktes Kind produzieren.« In Wirklichkeit konstituieren sich die Eltern aus einem Netzwerk von Verbindungen, und diese sind in allen Substanzen enthalten, die sie an ihre Kinder weitergeben. »Dort wo sie relevant werden, sind Blut, Milch, Samen, Knochen, Fleisch, Geist oder was auch immer zur Prokreation beitrug, nicht nur physiologische Erscheinungen, sondern bedeutungsgeladene soziale Erbschaften, die das Kind in einem weit gefächerten und spezifisch strukturierten Feld von Verwandtschaftsbeziehungen situieren.«15
Eben deshalb kommt den Speisen eine kulturelle Bedeutung zu, die weit über die der reinen Ernährung hinausgeht: Die ernährte Person ist nicht nur Empfänger, sondern sie legt auch Zeugnis für die Wirksamkeit der Beziehung zur ernährenden Person ab. »Verzehr ist keine einfache Sache des Selbsterhalts, sondern die Anerkennung und Überwachung von Beziehungen.«16 Bei Völkern des Amazonas entsteht die Verwandtschaft von Vater und Sohn durch das Prinzip der Ernährung. Das geschieht zunächst durch die Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft und dann durch die väterliche Fütterung des Neugeborenen. Die Verbindung entsteht »eher durch ›Fürsorge‹ als durch den Transfer körperlicher Substanzen«.174*
In einigen Kulturen des Amazonas wird das erwartete Kind erst dadurch zu einem menschlichen Wesen, dass verschiedene Mitglieder der Gemeinschaft zu seiner »Beschaffenheit« beitragen: »Von den einen kommt der Name oder sukzessive Namen, von anderen diese oder jene Substanz wie Blut oder Knochen, von wieder anderen das Aussehen der zweiten, ornamentalen Haut und von noch anderen die Fähigkeit zu sehen, zu verstehen, zu sprechen oder auch die Eignung zur heldischen Tat.« Das bedeutet nicht, dass der Clan den Fötus konstruiert, und auch nicht, dass er »als Teil eines Mechanismus oder als Mikrokosmos eines allesumfassenden Systems« gedacht wird. Vielmehr ist der Körper »ein Palimpsest der kollektiven Existenz«.18 An der eigentlichen Zeugung haben die Menschen nur geringes Interesse, und auch der Samen wird eher als Ernährung des Fötus in der Gebärmutter denn als Beigabe zur Zeugung gesehen. Er »ist semiotisch, eher Nahrung als generative Substanz«.19 Geboren, so Anne Taylor, wird man »in einem sozialen Territorium, und in diesem Raum knüpft jeder seine eigenen Verwandtschaftsbeziehungen«.20
Solche Vorstellungen von Verwandtschaft sind vollkommen konträr zu denen der westlichen Gesellschaft. Während letztere die Emotionen, die mit Verwandtschaftsbeziehungen oft einhergehen, mit dem gemeinsamen Blut erklärt, gilt für die Amazonier »affinity« (Gefühlsnähe) als »natürlich«, die Blutsverwandtschaft dagegen als »künstlich«.21 In beiden Fällen ist Verwandtschaft ähnlich emotional besetzt – aber diese Empfindungen sind eben die Folge der jeweiligen Verwandtschaftsdefinition. So wie jede Kultur die eigene Geschlechterordnung für göttlich gewollt oder naturgegeben hält, wird auch den eigenen Verwandtschaftsverhältnissen eine universelle Gültigkeit beigemessen. »Im Gegensatz zu unserer eingeborenen Weisheit und einer anthropologischen Wissenschaft, die ihr zu lange verpflichtet blieb, sind Verwandtschaftskategorien nicht Repräsentationen oder metaphorische Verlängerungen von Geburtsverhältnissen; falls überhaupt, ist die Geburt eine Metapher für Verwandtschaftsverhältnisse.«22
Die Betonung sozialer oder kultureller Verwandtschaftsdefinitionen führt in vielen Gesellschaften dazu, dass Blutsverwandtschaft ignoriert oder postnatalen sozialen Beziehungen angepasst wird.23 So kommt es beim Volk der Vezo auf Madagaskar, das Rita Astuti erforscht hat, zur ausdrücklichen Vermeidung aller Hinweise auf leibliche Verwandtschaft. Europäer achten beim Betrachten eines Neugeborenen zunächst auf dessen Ähnlichkeit mit den Eltern. Ganz anders in Madagaskar. »Vezo-Eltern finden es seltsam, dass die Geburtseltern exklusive Ansprüche auf ihre Kinder haben sollen, und Bemerkungen über die Ähnlichkeit zwischen den Erzeugern und ihren Kindern würden in eben diesem Sinne interpretiert.« Stattdessen soll Elternschaft »sozialisiert« werden, indem die »leiblichen Verbindungen des Kindes weit über die zu den Eltern erweitert werden«. Es werden alle möglichen Anstrengungen unternommen, die Verbindungen zwischen den leiblichen Familienmitgliedern verschwinden zu lassen. Die Kinder werden ermutigt, jede Küche als ihr Zuhause zu betrachten. Sie werden »trainiert, keinen Unterschied zwischen den Geburts- und anderen Eltern, zwischen leiblichen und sozialen Geschwistern zu machen. Genau dieser Effekt wird hergestellt, wenn die Menschen über die Ähnlichkeit zwischen den Babys und ihren Geburtseltern hinwegsehen und es vorziehen, die Zusammengehörigkeit anderswo zu entdecken.«
Dennoch, so Astuti, seien Vezo- und euro-amerikanische Verwandtschaftsdefinitionen durchaus vergleichbar: Beide betonen die Ähnlichkeit von leiblichen Verwandten, nur geschieht dies im einen Fall mit positiver, im anderen mit negativer Absicht. »Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als ob die Verwandtschaftsdefinitionen der Vezo den Unterschied zwischen den ›Fakten der Biologie‹ und den ›Fakten der Gesellschaft‹, zwischen physischer und sozialer Identität, zwischen Organismus und Person transzendieren. Aber diese Sicht ist irreführend, denn sie übersieht die bewussten Anstrengungen der Menschen, den leiblichen Bindungen entgegenzuwirken, die Abstammungslinien zu verdunkeln und die Unterschiede zwischen Geburt und Fürsorge zu mindern, um eine Gemeinschaft zu errichten, in der Kinder durch ein viel weiteres Netzwerk von Beziehungen generiert, versorgt und geformt werden, als es die Fakten der Biologie bieten.«24
Auch in der europäisch-amerikanischen Gesellschaft gab es immer wieder Versuche, neue Formen von Gemeinschaft zu generieren, deren Kern nicht auf leiblicher Verwandtschaft, sondern auf dem Gedanken der sozialen Gemeinschaft beruht. Manche von ihnen, wie etwa die Hutteriten oder die Amish, deren Zusammenhalt auf einem religiös begründeten Regelwerk basiert, hielten sich über lange Zeit – allerdings zum Preis einer strengen Abschottung gegen die Außenwelt. Die Kibbuzim der frühen zionistischen Bewegung bieten ein weniger exklusives Beispiel. Bruno Bettelheim hat sie untersucht. Sein Buch The Children of the Dream erschien in den 1960er Jahren und wurde als neues pädagogisches Vorbild rezipiert.25 Das Modell war jedoch von relativ kurzer Lebensdauer (etwa 40 Jahre). Heute hat die Marktwirtschaft in fast allen Kibbuzim die Prinzipien von Gemeinschaftseigentum und gemeinschaftlicher Kindererziehung verdrängt: Wie in fast allen urbanen Gegenden des Westens lebt jede Familie auf ihrem umzäunten Grundstück und betrachtet Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen als öffentliche Versorgungseinrichtung.
Die Probleme solcher Versuche können als Indiz für die Macht der Blutsverwandtschaft über das soziale und psychische Leben gelesen werden. Aber es lässt sich auch anders deuten: Mit den Industriegesellschaften, in denen die Scheidung zugelassen wurde, entstanden auch neue soziale Verwandtschaftsmodelle, die die Möglichkeit boten, sich ohne Abgrenzung gegen die Außenwelt der Dominanz der Blutsverwandtschaft zu entziehen. Zu ihnen gehörte zunächst die Patchworkfamilie, die sich im Verlauf des 20.Jahrhunderts zu einem akzeptierten Modell entwickelte. Anfang des 21.Jahrhunderts kam die gleichgeschlechtliche Ehe dazu, die heute durch die homosexuelle Elternschaft ergänzt wird. In beiden Fällen kommt es zu einer Vermischung von leiblichen und sozialen Kindern und zu einer Elternschaft, die nicht zwingend leibliche Kinder voraussetzt. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Patchworkfamilie heute gelebt wird, indiziert, dass sich die westliche Gesellschaft auf einen Kompromiss zwischen dem Konzept der Blutsverwandtschaft und dem Konzept der Familie als Beziehungsgeflecht zubewegt.
Für die moderne anthropologische Verwandtschaftsforschung gilt, so Sahlins, dass sich jede Verwandtschaft, die durch Geburt oder Fortpflanzung etabliert wird, »auch postnatal oder perfomativ durch kulturelle Handlungen herstellen lässt. Alles, was genealogisch konstruiert wird, kann auch sozial etabliert werden: Das gilt quer durch viele Gesellschaften und nicht selten innerhalb ein und derselben Gesellschaft. […] In der Tat werden konstruierte Formen sogenannter biologischer Verwandtschaft oft sogar den letzteren vorgezogen, so wie brüderliche Vereinigungen ›enger‹ und solidarischer sein können als die durch Geburt.«26 Es bedurfte allerdings einer gewissen Zeit, bevor sich westliche Gesellschaften zu dieser Erkenntnis durchrangen. Zunächst versuchten sie, ihre Konzepte von Blutsverwandtschaft anderen Kulturen aufzuzwingen.
Das zeigte sich besonders deutlich in den Kolonialgebieten, wo das das Aufeinanderstoßen unterschiedlicher Definitionen von Verwandtschaft zu tiefen Eingriffen in das Regelwerk führte, nach dem die einheimische Bevölkerung vorher gelebt hatte. Die Anthropologin J.Teresa Holmes beschreibt die Umwälzung, die sich etwa durch die britische Kolonisierung Kenias für dortige Verwandtschaftsverhältnisse vollzog. Bis zur Ankunft der Briten wurden Verwandtschaftsverhältnisse mit dem Begriff des »Hauses« umschrieben, der sowohl den konkreten Ort als auch die Gemeinschaft bezeichnete.5* Die Kolonisatoren führten eine andere Definition ein, die auf dem in Europa üblichen männlichen Stammbaum beruhte. Den britischen Offizieren war diese Art der Herkunft vertraut, sie hielten sie für universell und übersahen so, dass das Erbrecht der Kolonisierten eigentlich über die weibliche Linie verlief, durch die sich »Ansprüche auf Land und auf eine Identität als Eigentümer von Grund und Boden« konstituierten. An die Stelle dieser Verwandtschaftslinien setzten die Kolonisatoren »genealogische Tabellen, in denen die Herkunftslinien der Clans und deren männliche Repräsentanten portraitiert wurden; letztere wurden als die Clan-Chiefs bezeichnet.«27 Durch solche »Pedigree-Urkunden«, so hofften die Kolonisatoren, »würden aus wilden Tieren ›Personen‹ und aus primitiven Völkern ›Gesellschaften‹«.28 Landbesitzansprüche, die nicht schriftlich fixiert waren (das galt für die traditionelle Linie) wurden nun als illegitime Forderungen und als »›land grabbing‹ [Landraub] durch ›temporäre Kultivatoren‹« definiert. Von diesen Konflikten profitierten wiederum die Kolonisatoren.
Einerseits ist die Kategorie pedigree dem Gedanken der Tierzucht entnommen, andererseits beruht sie aber auch auf der modernen Vorstellung von Personenidentifikation: Der Einzelne konstituiert sich erst durch die schriftlichen oder graphischen Dokumente, die seine Existenz verifizieren. Diesen virtuellen Beweisen wird durch die Verbindung mit Blut wie auch mit Grund und Boden Realitätsmacht verliehen; und andersherum beruhten soziale Autorität und Anspruch auf Land auf schriftlichen Dokumenten. Mit Hilfe dieser Dokumente schufen die Briten »statische und fixierte Kategorien«, laut denen männliche Blutslinien »authentisch« seien, während Verwandtschaft über weibliche Linien als »tribale Fälschung« galt. Das ganze Vorgehen, so die Anthropologin, beruhte auf einer »British anthropological assumption«.29
Diese Formulierung lässt die juristische Formel der assumed paternity (vermutete Vaterschaft) anklingen: Laut dieser beruht jede männliche Blutslinie notwendigerweise auf der Hypothese der ›vermuteten Vaterschaft‹. Aus dieser Hypothese wird soziale Realität, sobald sie sich mit Erblinien und Eigentumsübertragungen verbindet. Das von Teresa Holmes beschriebene Beispiel zeigt nicht nur, dass die westlichen Eingriffe in den Kolonien dazu beitrugen, weibliche durch männliche Linien zu ersetzen, es zeigt auch die bedeutende Rolle, die bei diesem Vorgang der Schrift zukam: Erst die Verschriftung inthronisierte die männliche Blutslinie. Dieser Vorgang stellte in der Sicht der modernen Anthropologie einen unzulässigen Eingriff in die bestehende soziale Ordnung dar, aber für die Kolonisatoren war er so selbstverständlich, dass sie den Eindruck hatten, der »Natur« zu ihren Rechten zu verhelfen.
Der Eingriff in die Sozialordnung erstreckte sich sogar auf die Ursprungsmythen, die die tradierten Verhältnisse legitimierten. Ein Beispiel dafür hat der Historiker Jack Goody festgehalten: Als die Briten um 1900 ihre Herrschaft über Nordghana ausweiteten, zeichneten sie die Mythen der lokalen Bevölkerung auf. Laut diesen Mythen hatte der Ursprungsvater Japka sieben Söhne, die die Herrschaft über je einen Teil des Landes ausübten. Die sieben Söhne entsprachen den sieben Bezirken der Region. Sechzig Jahre später gab es durch Grenzveränderungen und die Auflösung eines Bezirks nur noch fünf Bezirke. Nun hieß es – zum Erstaunen der britischen Behörden – dass Japta fünf Söhne gehabt habe. Die »Geschichtsschreibung« der Briten stimmte nicht mehr mit den Mythen der indigenen Bevölkerung überein. In Wirklichkeit war den Kolonisatoren einfach entgangen, dass orale Kulturen die Vergangenheit aktuellen Situationen anpassen, um diese zu legitimieren. »Im Laufe der Übermittlung, so sehen wir an diesem Beispiel der Genealogien, verändert sich das soziale Element des Erinnerns, ein Prozeß, dem andere Elemente der Kultur, z.B. Mythen und heiliges Wissen im allgemeinen, in ähnlicher Weise unterliegen.«30 Die Schrift, so macht dies Beispiel erneut deutlich, verlangt nach fixen, unveränderbaren Genealogien. Und wie Teresa Holmes’ kenianisches Beispiel zeigt, kann sie diese auch für die Vergangenheit konstruieren.
Patrilinearität ist nicht notwendigerweise ein Produkt der Schrift. Sie existiert auch in vielen schriftlosen Kulturen. Allerdings handelt es sich dann nicht um Blutslinien. Ein Beispiel dafür zitiert die kanadische Anthropologin Sandra Bamford. Das Volk der Kamea in Papua-Neuguinea definiert Verwandtschaftsbeziehungen nicht über die physiologische Fortpflanzung; vielmehr wird das »Eltern-Kind-Verhältnis als körperlos imaginiert«. Dennoch gibt es eine genealogische Linie. Diese ist nominell patrilinear und bestimmt auch über die Ansprüche auf Eigentum. »Land, väterliche Namen und Modi ritueller Kompetenz werden allesamt über Männer weitergegeben, meistens von Vätern zu Söhnen.« Diese »Patrifiliation«, so Bamford, hängt aber nicht mit dem Zeugungsakt zusammen, denn die Verwandtschaftslinie konstituiert sich erst nach der Geburt. Kamea wissen um die Beteiligung des Vaters am Zeugungsakt, doch sie unterscheiden »zwischen dem, was zur physischen Erzeugung eines Menschen beiträgt, und dem, was Menschen über einen zeitlichen Raum als soziale Wesen miteinander verbindet«. Das Wissen um die leibliche Abstammung ist also durchaus präsent, spielt aber eine untergeordnete Rolle.
Zwar sprechen die Kamea von Menschen und Gruppen »ein und desselben Blutes«. Aber diese Formulierung bezieht sich nicht auf eine leibliche Genealogie. »Vielmehr orientiert sie sich an der gemeinsamen Erfahrung, in demselben Mutterleib herangewachsen zu sein.« Dies gilt für alle Kinder einer Frau, egal wer der Vater ist. Die Formulierung wird aber auch für die Kinder ein und desselben Vaters mit unterschiedlichen Müttern verwendet. Sie bezieht sich jedoch nicht auf intergenerationelle Verwandtschaftsverhältnisse: Die Eltern sind nicht »von demselben Blut« wie ihre Kinder.
Obgleich es das Wissen über die Funktion des Samens bei der Reproduktion gibt, spielen körperliche Substanzen bei der Definition von generationenübergreifender Verwandtschaft keine Rolle. Dagegen ist Land ein wichtiger Faktor für die Herstellung einer Generationenkette. Dem Jungen wird erzählt, wer den Boden vor ihm bestellt hat, wer das Haus gebaut hat usw. »Die Kenntnis dieser Geschichte – der eigenen Bindungen zu diesem Ort – ist von entscheidender Bedeutung für den Anspruch auf Land. Nicht die genealogischen Verbindungen werden erinnert, sondern die Geschichte einzelner Männer und ihr Bezug zum Boden.« Bleibt ein Mann ohne Sohn, so kann er einen anderen zum Sohn ernennen und ihm das notwendige Wissen vermitteln. Die genealogische Kette etabliert sich, indem Kenntnisse (etwa der Landwirtschaft) weitergegeben werden. Wer aus dieser ›Wissenskette‹ herausfällt – was zum Beispiel dann geschieht, wenn jemand an die Küste oder zu den nahegelegenen Goldminen geht, um dort gegen Geld zu arbeiten –, verliert auch seine Anrechte. Wenn er zurückkehrt, verfügt er zwar über liquides Vermögen, aber er hat keinen Anspruch auf Land. Damit befindet er sich auch genealogisch im »Niemandsland«.