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Braddock tritt vor ihn. Wie ein Racheengel sieht er aus, angeleuchtet vom flackernden roten Licht des Lagerfeuers, die Waffe noch in der Hand. Er steckt sie ins Holster zurück. "Wer … wer bist du?", murmelt der tödlich Verwundete. "Warum … bist du hinter uns her?" Braddock sagt nichts. Sieht nur auf den Mann hinab. "Wer…?" Ein langer Atemzug entfährt ihm, dann hört seine Brust auf, sich zu heben und zu senken. Er ist tot. "Ich bin Braddock", sagt der nächtliche Besucher. "Wenn das Gesetz versagt, ruft man mich."
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Seitenzahl: 156
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Braddock – Wenn das Gesetz versagt
Westernroman von Logan Kenison
Das Buch
Braddock tritt vor ihn. Wie ein Racheengel sieht er aus, angeleuchtet vom flackernden roten Licht des Lagerfeuers, die Waffe noch in der Hand. Er steckt sie ins Holster zurück.
»Wer … wer bist du?«, murmelt der tödlich Verwundete. »Warum … bist du hinter uns her?«
Braddock sagt nichts. Sieht nur auf den Mann hinab.
»Wer…?«
Ein langer Atemzug entfährt ihm, dann hört seine Brust auf, sich zu heben und zu senken.
Er ist tot.
»Ich bin Braddock«, sagt der nächtliche Besucher. »Wenn das Gesetz versagt, ruft man mich.«
Der Autor
Logan Kenison ist Autor von Western-, Abenteuer- und Spacegeschichten. Neben seinen Western, die er mit Leidenschaft verfasst, schreibt er seit 2018 die Reihe Spacewestern.
Inhalt
Impressum
Braddock – Wenn das Gesetz versagt (Roman)
Weitere Titel von Logan Kenison
05/2019
Copyright dieser Ausgabe: 2020 by Logan Kenison
Lektorat: Carola Lee-Altrichter
Abdruck auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Autors.
Das Cover wurde gestaltet nach Motiven der Episode "Keine Chance für Ed Payson" (Orig.: "Broken Ballad", USA, 1961) der Bonanza-Komplettbox. Im Handel auf DVD erhältlich. Mit freundlicher Genehmigung von www.fernsehjuwelen.de
Braddock – Wenn das Gesetz versagt
Westernroman von Logan Kenison
ALS BRADDOCK ans Lagerfeuer der zwei abgerissenen Gestalten tritt, ist er hellwach.
Er ist nicht nach der neuesten Mode gekleidet, seine Ausstattung hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel, zudem ist sie von dem langen Ritt staubbedeckt, und bestimmt riecht inzwischen alles stark nach Schweiß. Er war diesen Männern den ganzen Nachmittag über gefolgt, hatte gewartet, bis sie weit genug in die Wildnis hinausgeritten waren. Hier sieht sie niemand, hier hört sie niemand. Hier stört sie niemand, hier gibt es keine Zeugen.
Einer der Kerle schreit auf, als er im Feuerschein den Mann sieht, der vor wenigen Sekunden noch nicht dagewesen ist. Der andere, der eben noch an seiner Satteltasche herumgenestelt hat, blickt auf.
Ein Augenblick des Schreckens, ein Augenblick des Erkennens. Dann:
»Ach, du bist es.«
Ja, er ist es. Clay Braddock.
»Ich hab dich in der Stadt gesehen.«
»Yeah«, sagt Braddock. »Ich war dort.«
»Du warst bei der Verhandlung.«
»Sicher.«
»Du hast gehört, was der Richter gesagt hat.«
»Yeah.«
»Komisch, dass du denselben Weg hast wie wir.«
»Hab ich nicht«, sagt Braddock.
»Nun, wir sind hier, und du bist hier. Bist du etwa auf unserer Fährte geritten?«
»Sicher.«
»Dann willst du etwas von uns?«
Der Kerl war nun alarmiert. Er stellt sich hin, seine Rechte schwebt über dem Revolvergriff.
»Sag, willst du etwas von uns?«
Da fällt dem Mann auf, dass Braddock schon von Anfang an so dagestanden hat: Die Rechte in der Nähe des Revolvergriffs. Er wirkt nicht wie ein Mann, der an ein Lagerfeuer tritt, um nach einem Becher Kaffee und einem Schlafplatz zu fragen.
»Hey, Bill«, ruft der Mann seinem Kumpan zu. »Komm mal eben her. Dieser Fellow will etwas von uns.«
Plötzlich liegt eine eigenartige Spannung in der Luft. Auch der zweite Mann begreift, dass etwas vor sich geht, das ziemlich unangenehm werden kann. Er vergisst seine Satteltasche und alles, was er mit ihr hat anstellen wollen, und erhebt sich. Er tritt neben seinen Kumpan, und jetzt funkeln zwei Augenpaare Braddock an.
»Du willst uns also Ärger machen«, stellt der erste fest.
»Nope«, antwortet Braddock.
»Was dann? Warum schleichst du dich an unser Lager ran? Du wirkst nicht wie ein ehrlicher Weidereiter, der um Aufnahme an einem Lagerfeuer bittet.«
»Ich bitte um nichts.«
»Was willst du dann?«
»Ich bin gekommen, um mit euch abzurechnen.«
»Abzurechnen?« Der Mann heult auf wie ein getretener Hund. »Du verdammter Mistbock! Was haben wir dir getan?«
»Du willst es uns geben?«, sagt der andere. »Wir werden’s dir geben, Mister. Hau bloß ab! Wir schießen dich in Grund und Boden.«
»Bei dem dilettantischen Versuch, die Bank zu überfallen, habt ihr die Frau des Hufschmieds erschossen.«
»Unsinn. Das waren wir nicht. Hast du es nicht mitbekommen? In der Verhandlung ist uns das nicht nachgewiesen worden.«
»Das brauchte es nicht. Denn jetzt bin ich ja hier. Ihr werdet gegen mich ziehen. Wenn ihr mich besiegt, könnt ihr eures Weges ziehen.«
Der Mann legt seinem Freund die Hand auf den Arm. »Tu’s nicht!«, raunt er ihm zu, und zu Braddock sagt er:
»Und wenn nicht? Niemand auf der ganzen Welt kann uns zwingen, den Colt gegen dich zu ziehen. Du willst uns zu einem Duell zwingen. Weil das Gesetz uns nicht verurteilt hat, willst du uns erschießen.«
»Es trifft keine Unschuldigen«, sagt Braddock. »Ihr seid zwei dreckige Mörder.«
»Was, wie ich schon sagte, niemals bewiesen wurde.«
»Es braucht keine Beweise mehr. Das ist jetzt eine Sache zwischen euch und mir. Zieht!«
Immer noch hindert der eine seinen Kumpel daran.
»Halt! Lass es. Tu es nicht. – Zuerst, Fremder, möchte ich wissen, warum du das tust. Was hast du mit dieser Frau zu tun? Dieser Frau des Hufschmieds?«
»Nichts.«
»Na also. Ich dachte schon für einen Moment, du wärst ihr Sohn oder ihr Enkel oder sonst irgendwas. Dir kann es doch ganz egal sein, ob die Alte lebt oder nicht. Wir haben keinen Streit miteinander.«
»Irrtum, Freundchen. Mr. Jeremias Swayle hat damit gerechnet, dass das Gericht euch freisprechen würde. Deshalb hat er mich gebeten, der Verhandlung beizuwohnen. Es kam, wie er befürchtet hatte, und jetzt bin ich an der Reihe.«
»Zum Teufel, das kann doch nicht wahr sein. Was glaubst du, wer du bist? Der Rächer der Enterbten?«
»Ich bin nur ein Kerl, der euch zu einem fairen Duell fordert. Dass ihr zu zweit seid, und ich allein, macht die Sache sogar mehr als fair.«
»Wir wollen uns aber nicht schießen!«, heult der eine auf. Angst steht in seinen Augen.
»Ihr wollt nicht? Ihr habt euch jedoch nie gefragt, was Mrs. Swayle gewollt hat. Bestimmt hat sie von euch keine Kugel in die Brust gewollt.«
»Dummes Geschwätz! Es gibt keine Beweise für solch eine Aussage, also waren wir es nicht.«
»Ihr wart es, und ich ziehe euch dafür zur Rechenschaft.«
Der eine verschränkt die Arme vor der Brust.
»So? Na, dann bin ich mal gespannt, wie du das fertigbringen willst. Ich jedenfalls werde nicht gegen dich ziehen, Mister!«
Sein Kamerad hingegen steht verängstigt und unschlüssig da. Er fragt sich, was sein Kumpel vorhat, andererseits, ob er damit Erfolg haben wird. Er traut der Sache nicht so ganz, denn seine Hand schwebt nach wie vor über dem Coltgriff.
Und was nun geschieht, ist so unerwartet, dass niemand damit gerechnet hat.
Clay Braddock zieht – und schießt. Er schießt dem Mann, der mit verschränkten Händen dasteht, in die Brust. Und noch bevor der Mann mit einem Ächzen am Boden aufschlägt, hat Braddock den Colt ins Holster zurückgeschoben.
Sein Kumpan verliert die Angst; Entsetzen macht sich in ihm breit.
»Das war Mord!«, schreit er, und geht bei seinem Freund auf die Knie. »Mord! Du hast ihn getötet. Purer, feiger, gemeiner Mord!«
Braddock sagt nichts. Er steht nur da, wartet, beobachtet. Wartet, bis die Emotionen in dem Outlaw den Siedepunkt erreicht haben. Dieser weiß nun, dass er durch Nichtstun nicht davonkommen wird. Er wird gegen diesen Fremden ziehen müssen, oder dieser wird ihn genauso kaltblütig abknallen wie seinen Freund … wie einen räudigen Hund.
Er springt auf die Beine und reißt die Waffe aus dem Holster.
In diesem Moment bellt schon der Colt des nächtlichen Besuchers wieder auf.
Der Outlaw hat ihn nicht ziehen sehen, so verteufelt schnell ist dieser Mann.
Die Kugel fährt ihm in die Brust, und mit einem Husten lässt er den Colt fallen. Während das Blut aus der Wunde seine Hemdbrust rötet, taumelt er einige Schritte zurück, wendet sich ab. Geht zu seiner Satteltasche. Er kniet vor ihr nieder und beginnt, den Riemen zu lösen. Er murmelt ein paar unverständliche Sätze, dann kippt er wortlos zur Seite.
Braddock tritt vor ihn. Wie ein Racheengel sieht er aus, angeleuchtet vom flackernden roten Licht des Lagerfeuers, die Waffe noch in der Hand. Er steckt sie ins Holster zurück.
»Wer … wer bist du?«, murmelt der tödlich Verwundete. »Warum … bist du hinter uns her?«
Braddock sagt nichts. Sieht nur auf den Mann hinab.
»Wer…?«
Ein langer Atemzug entfährt ihm, dann hört seine Brust auf, sich zu heben und zu senken.
Er ist tot.
»Ich bin Braddock«, sagt der nächtliche Besucher. »Wenn das Gesetz versagt, ruft man mich.«
*
BRADDOCK REITET am Nachmittag des nächsten Tages in Sunnyvale ein. Kaum jemand beachtet ihn. Er war ein paar Tage zuvor hier angekommen, war dann gegangen, wiedergekommen, gegangen … jetzt kommt er wieder. Wen interessiert’s?
Er hat ein Zimmer bei Mrs. Chantal Haillet gemietet, und dort möchte er die Nacht verbringen. In herrlich duftender Bettwäsche, auf weichen Daunenfedern. Doch zuvor hat er noch einiges zu tun.
Er geht zum Mietstall und bringt sein Pferd unter. Er wirft dem Stallburschen, einem 14-jährigen, sommersprossigen Jungen, ein 25-Cent-Stück zu, dann steuert er die Werkstatt des Hufschmieds an.
Jeremias Swayle ist am Amboss tätig. Man hört die klirrenden Hammerschläge bis auf die Straße hinaus. Er ist ein 60-jähriger Mann, sein ganzes Leben lang an harte Arbeit gewöhnt, und so macht es ihm selbst in diesem Alter nichts aus, den Hammer zu schwingen.
Was er nicht gewöhnt ist, das war, dass Ganoven seiner Frau eine Kugel in die Brust jagten. Dieses Erlebnis war fast das Ende von Jeremias Swayle gewesen. Er brach zusammen, als er davon hörte, und hatte sich tagelang betrunken.
Jetzt hat er sich endlich wieder gefangen. Jetzt weiß er, dass das Leben weitergeht, und wie, das liegt allein an ihm. Ein wenig hat es auch damit zu tun, dass der Sheriff die beiden Burschen gefasst hat, die es getan haben. Leider hat Sheriff Gideon Bane nicht genügend Beweise beibringen können, sodass es nicht für eine Verurteilung gereicht hat.
Bane hatte es Jeremias Swayle schon einige Zeit vor der Verhandlung angekündigt, und so hat Swayle Zeit und Gelegenheit gehabt, nach einer anderen Lösung Ausschau zu halten.
Diese andere Lösung hieß Braddock. Swayle war nach Burkeley hinübergeritten und hatte mit Braddock gesprochen, und Braddock hatte sofort gewusst, was zu tun war.
Braddock war nach Sunnyvale gekommen, hat die Verhandlung mitverfolgt, und als der durchreisende Richter, der nur für diesen Anlass in die Stadt gekommen war, den Freispruch aus Mangel an Beweisen verkündet hat, hat Braddock mit seiner Arbeit begonnen.
Vor zwei Tagen war er den frohlockenden Banditen in die Wildnis hinaus gefolgt. Nun ist er zurückgekommen – allein.
Braddock betritt die Hufschmiede. Jeremias Swayle ist ein großer, wuchtiger Mann. Er steht mit dem Rücken zu Braddock. Sein Unterhemd ist schweißgetränkt, immer wieder lässt er den schweren Hammer auf das Metall niederfahren. Doch er hat längst bemerkt, dass jemand eingetreten ist, denn Braddocks Schatten hat für einen Moment den Sonnenschein verdunkelt, der durch die Tür hereinfällt.
Swayle wendet leicht den Kopf, bis er den Besucher aus den Augenwinkeln sieht. Er erkennt ihn an der Statur und an der Kleidung, und hält mit dem Hämmern inne. Das glühende Metall zischt, das Feuer lodert.
Als Swayle sich Braddock voll zuwendet, sieht dieser, dass die muskelbepackten und schweißüberströmten Arme des Schmieds von weißen Härchen bedeckt sind. Das schlohweiße Haar auf seinem mächtigen Schädel weist hohe Geheimratsecken auf. Im Blick der grünen Augen des Manns steht eine einzige Frage.
»Niemand wird je wieder etwas von Lyle Kelly und Bill McAdoo hören«, sagt Braddock.
»Sie haben sie also erledigt. Gut. Sehr gut. Ich schulde Ihnen also noch hundert Dollar. Sie werden sie heute noch bekommen, Mr. Braddock. Geben Sie mir eine Stunde. Ich mache nur schnell das hier fertig, dann gehe ich zur Bank rüber.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Swayle. Sie können mich nachher im Saloon treffen. Ich habe Durst auf ein große, kühles Glas Bier.«
»Ich auch, zum Teufel, ich auch. Wenn man den ganzen Tag in dieser Hitze und sogar noch am Feuer arbeitet, fließt der Schweiß in Strömen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können wir ein oder zwei Bier gemeinsam trinken.«
»Es macht mir nichts aus. Im Gegenteil.«
Braddock wendet sich ab und geht mit raumgreifenden Schritten zum Saloon hinüber, während Jeremias Swayle ihm lange nachblickt. Dann wendet der Schmied sich wieder seinem Metall zu, hält es in die Flammen, damit es formbar wird oder bleibt, und beginnt, es mit heftigen Schlägen zu bearbeiten. Er ist jetzt sehr erleichtert, denn er weiß, dass der Mord an seiner Nancy endlich gerächt ist.
*
CLAY WAR 16, als er die Farm seines Vaters verließ. Er war einer der sechs Söhne, die Burt Braddock gezeugt hatte, hinzu kamen fünf Töchter. Die kleine Farm hatte nie genug für sie alle abgeworfen, und so waren Hunger und bittere Armut stets Wegbegleiter für die Braddock-Kinder gewesen.
Eines Tages hatte Clay es seinen zwei älteren Brüdern nachgetan. Er hatte nachts seine Siebensachen gepackt und war aus dem Fenster gestiegen. Er hatte sich nicht umgesehen und sich nicht verabschiedet. Er hatte einfach dieses Leben hinter sich gelassen. Und er hatte gewusst, dass ihm niemand eine Träne nachweinte. Man war froh, dass man ein hungriges Maul weniger zu stopfen hatte.
Lange war er unterwegs gewesen. Er hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte, wusste nicht, was er machen sollte … er wusste nur, dass er fortgemusst hatte. Der andauernde Hunger hatte ihn innerlich ausgehöhlt und zu einem reißenden Wolf gemacht, und er fürchtete, dass er etwas Dummes oder Schlimmes täte, wenn er sich nicht endlich mal den Bauch so richtig vollschlagen konnte.
Er hatte jede Ranch, jede Stadt, jede Werkstatt, jeden Laden, sogar jede andere Farm abgeklappert, um Arbeit zu finden. Er hatte Holz gespalten, einen mit Steinen übersäten Acker gesäubert und dann Furchen gezogen, er hatte gearbeitet, bis ihm Arme, Knie und Rücken schmerzten, dass er dachte, er würde sich nie wieder davon erholen. Er hätte auch gern als Postkutschenbegleiter oder als Deputy gearbeitet, doch niemand hatte ihm eine solche Stelle angeboten. Denn Tatsache war: Er hatte keine Ahnung von Waffen, besaß keine und wusste nicht, wie man mit ihnen umging.
Obwohl er immer noch Phasen bitteren Hungers durchlebte, hatte er sich nun endlich einige Male richtig sattessen können. Dies waren die bislang schönsten Momente seines Lebens gewesen. Und obwohl er versuchte, irgendwo sesshaft zu werden und dauerhaft Arbeit zu finden, hatte er immer wieder auch großes Pech gehabt. Ein Jahr später war er immer noch unterwegs … in eine neue Stadt, auf der Suche nach einer neuen Stelle.
Er ging die Landstraße entlang, und die wenigen Dinge, die er besaß, hingen über seiner Schulter in einem Stoffbeutel an dem Wanderstab, den er in irgendeinem namenlosen Wald vom Boden aufgehoben hatte. Er war guter Dinge, denn er glaubte, in der nächsten Stadt mehr Glück zu haben und endlich eine Stelle zu finden. Denn in der Nähe von Sinyella, so hörte man, war Kupfer gefunden worden, und ein paar Gesellschaften hatten begonnen, Schächte in die Felsen zu treiben, um das Erz abzubauen. Clay war sich sicher, dass er dort Arbeit finden konnte. Längerfristige, gutbezahlte Arbeit.
Als er den Reiter von Süden entgegenkommen sah, dachte er sich nichts. Auf seinen Wanderungen war er immer wieder Reitern begegnet, und niemand hatte sich sonderlich für ihn interessiert. Diesmal war es anders. Diesmal war es sehr viel schlimmer.
Der Reiter verhielt ein gutes Stück vor ihm. Er blieb im Sattel sitzen und sah ihm entgegen. Beobachtete ihn. Clay wurde plötzlich ganz mulmig zumute, denn er spürte, dass der Mann ihn musterte, taxierte. Im Schatten, den die Hutkrempe warf, konnte er das Gesicht des Manns nicht erkennen. Doch das Pferd war bestimmt ein 200-Dollar-Gaul, ein Buckskin mit sandfarbenem Fell, schwarzer Mähne und schwarzem Schweif.
Clay, der vor wenigen Tagen sein 17. Lebensjahr vollendet hatte, brach mit einem Mal kalter Schweiß aus. Am liebsten wäre er einfach stehengeblieben und hätte gewartet, was dieser Mann tat. Am liebsten hätte er sich seitlich in die Büsche geschlagen. Doch nichts von all dem tat er. Er hatte Angst, verlacht und als Feigling tituliert zu werden. Solche Dinge sprachen sich in den Saloons herum, und der Mann würde bestimmt nicht zögern, unter seinen Saufkumpanen eine solche Geschichte zum Besten zu geben.
Und so marschierte Clay weiter, immer weiter, geradewegs hinein in den Verdruss.
Als er nahe genug war, richtete der Reiter sich im Sattel auf und rief ihm entgegen:
»He, Junge! Was bist du denn für ’ne Niete?«
Clay dachte daran, wie sein Leben bisher verlaufen war, und sagte:
»Sie haben recht, Sir. Ich bin eine Niete.«
»Hast du dich schon mal im Spiegel gesehen?«
»Nein, Sir. Nur im Wasser des Tränktrogs spiegelt sich mein Gesicht.«
»Zu mehr reicht’s wohl nicht.«
»Nein, Sir.«
»Was machst du? Wohin willst du?«
Clay hatte zwar keine Ahnung, was das diesen Fremden anging, doch er wollte Ärger vermeiden und antwortete:
»Nach Sinyella, Sir. Ich suche dort Arbeit.«
»Die hast du auch bitter nötig. Deine Schuhe sind ja die letzten Latschen. Deine Hose hat Löcher. Dein Hemd ist so fadenscheinig, dass man die Brustwarzen durchsieht. Und dein Hut … Mann, so einen zerknautschten Deckel habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen.«
Clay wusste, dass der Mann übertrieb, vermutlich um ihn zu ärgern oder zu provozieren. Was bezweckte der Kerl damit? Es war jedoch leider so, dass seine Schuhe und die löchrige Hose, das fadenscheinige Hemd und der zerknautschte Hut seine letzten Erinnerungen an seine Eltern waren, und sie hatten ja selbst nie genug gehabt. Von dem Wenigen, das sie besaßen, hatten sie ihre Kinder eingekleidet, und obwohl Clay sein Elternhaus verlassen hatte und nicht wieder zurückblickte, wusste er, dass sie ihm sehr viel mehr und sehr viel Besseres gegeben hätten – wenn sie es gehabt hätten.
Der Mann beleidigte also nicht Clay, sondern seine Eltern. Er hohnlachte, verschmähte und verspottete die harte Arbeit, die sein Vater und seine Mutter in ihr Leben gesteckt hatten, und die Erfolglosigkeit, die ihnen ein Leben in Armut aufzwang.
Dennoch versuchte Clay, den Zorn im Zaum zu halten. Er wollte nach Sinyella, wollte dort Arbeit finden. Meinetwegen harte Arbeit, sagte er sich, aber ehrliche Arbeit, für die man ehrlich bezahlt wurde. Dann würde alles besser werden. Ein Auskommen – mehr verlangte er doch gar nicht vom Leben. Eine Chance, sich sein eigenes Geld zu verdienen und davon zu leben.
Clay stellte fest, dass er stehengeblieben war. Warum? Warum hatte er nicht längst schon die Beine in die Hand genommen und war an dem Reiter vorbeigehastet?
Er fand keine Erklärung dafür. Der Mann war bestimmt schon über 30, und er trieb seine miesen Spielchen mit ihm – wohl aus Langeweile oder aus Gründen, die Clay nicht durchschaute. Doch warum blieb er stehen und ließ sich dies antun? Nein, er würde jetzt sofort weitergehen, würde nicht länger auf die Beleidigungen hören, die der Mann ihm um die Ohren schlug, und einfach fortlaufen.
Egal, wenn man ihn auslachte.
Egal, wenn man ihn einen Feigling schimpfte.
Schließlich, was hatte er mit diesem Mann zu schaffen? Er war ihm ein völlig Fremder, und er hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Und mit etwas Glück würde er ihn auch nie wiedersehen.