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Die Farm der Rannaghans steht vor dem Aus. Jay und sein Vater blicken dem völligen Ruin entgegen. Vielleicht noch schlimmer ist, dass sie das Land, in dem sie ihre Mutter und Ehefrau begraben haben, verlassen müssen und nie wieder zurückkehren dürfen. Als sich die Chance auf einen großen Geldbetrag bietet, greift Bill Rannaghan zu. Er drückt seinem Sohn die Spencer-Rifle in die Hand und sagt: "Reite zu unserem Nachbarn hinüber und töte diesen Mann, Jay!"
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Seitenzahl: 154
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Töte diesen Mann, Jay!
Westernroman
von Logan Kenison
Das Buch
Die Farm der Rannaghans steht vor dem Aus. Jay und sein Vater blicken dem völligen Ruin entgegen. Vielleicht noch schlimmer ist, dass sie das Land, in dem sie ihre Mutter und Ehefrau begraben haben, verlassen müssen und nie wieder zurückkehren dürfen. Als sich die Chance auf einen großen Geldbetrag bietet, greift Bill Rannaghan zu. Er drückt seinem Sohn die Spencer-Rifle in die Hand und sagt: »Reite zu unserem Nachbarn hinüber und töte diesen Mann, Jay!«
Der Autor
Logan Kenison (vormals Joe Tyler) ist Autor von Western-, Abenteuer- und Spacegeschichten. Neben seinen Western, die er mit Leidenschaft verfasst, schreibt er seit 2018 die Reihe Spacewestern.
Inhalt
Impressum
Töte diesen Mann, Jay! (Roman)
Weitere Titel von Logan Kenison
09/2018
Copyright dieser Ausgabe: 2020 by Logan Kenison
Lektorat: Carola Lee-Altrichter
Abdruck auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Autors.
Das Cover wurde gestaltet nach Motiven der Episode "Der Zaun des Hasses" (Orig.: "The Fence", USA, 1969) der Bonanza-Komplettbox. Im Handel auf DVD erhältlich. Mit freundlicher Genehmigung von www.fernsehjuwelen.de
Töte diesen Mann, Jay!
Westernroman
von Logan Kenison
JAY RANNAGHAN liegt nach einem harten Arbeitstag in seiner kleinen Kammer im Stroh, und obwohl er völlig erschöpft ist, kann er nicht einschlafen. Seine Gedanken kreisen unaufhörlich und lassen ihn einfach nicht zur Ruhe kommen.
Sein Vater sitzt noch drüben in der Stube, wo sie gemeinsam vor einer Stunde ein kärgliches Abendmahl eingenommen haben. Der alte Herr raucht an seiner stinkenden Maiskolbenpfeife, und bestimmt grübelt er – wie Jay – darüber nach, wie es weitergehen soll. Die Schuldenlast, die sich über der kleinen Farm angehäuft hat, ist in schwindelnde Höhen gestiegen; in Höhen, die Jay und sein Vater niemals werden erwirtschaften, niemals werden abbezahlen können. Dies raubt nicht nur dem Vater, sondern auch dem Sohn den Schlaf.
Dabei waren sie vor etwas mehr als vier Jahren so zuversichtlich gewesen, als sie ins Land gekommen sind und die Parzelle abgesteckt haben. Sie haben gejubelt, als sie die Eintragung beim Katasteramt im weit entfernten Rochester haben vornehmen lassen, und anschließend sind sie einen trinken gegangen. Damals hat der alte Bill Rannaghan Jay das erste Mal in einen Saloon mitgenommen; und damals hat seine Mutter noch gelebt.
Wenn Jay an seine Mutter denkt – und er muss häufig an sie denken, denn er hat sie sehr geliebt –, muss er unwillkürlich seufzen. Sie war eine wundervolle Frau gewesen, und die beste Mutter, die er sich vorstellen kann. Sie hat immer ein offenes Ohr für seine Belange gehabt, hat sich stets um alles gekümmert, was zu erledigen war, sodass »ihre beiden Männer« sich voll um die Arbeit und die Farm haben kümmern können.
Dann jener unsägliche Abend, als Jays Mutter sich zum Abendessen hinsetzte und sich nicht mehr erheben konnte. Der Vater hat sie später zum Bett hinübergetragen. Sie war so schwach gewesen, dass sie nicht einmal die Arme mehr heben konnte.
In jener Nacht war sie gestorben. Hatte einfach die Augen zugemacht, ausgeatmet – und war gegangen.
Jay weiß bis heute nicht, woran seine Mutter gestorben ist. Er möchte es sehr gern wissen, aber er traut sich nicht, seinen Vater danach zu fragen.
Als sein Pa ihn in den Red Horn Saloon mitgenommen hatte, da war seine Ma noch am Leben gewesen. Als die beiden ihr später davon erzählt haben, und davon, dass Bill dem Jungen das erste Bier bezahlt hat, hat sie geschimpft. Jay war doch erst 11 gewesen! Bill Rannaghan hat nur gelacht und abgewunken. Irgendwann muss ein Kerl die »wahren Dinge des Lebens« kennenlernen, »die einen Mann ausmachen«, hat er gesagt, und Jay hat sich schon groß und stark gefühlt, eben wie ein richtiger Mann, weil sein Vater ihm dieses Bier bezahlt hat.
Er hat seither kein zweites getrunken, ist nicht zum Säufer geworden, wie seine Ma ihm prophezeit hat. Nein, in Wahrheit hat er die Farm seither kaum mehr verlassen, denn von nun an haben er und sein Vater auf den Feldern geackert wie Gäule. Sie haben die Flächen eingeebnet, sie von Steinen (großen und kleinen), von Gestrüpp und Bäumen und Wurzeln befreit, haben kleine Steinmauern an den Grenzen errichtet, haben Furchen gezogen und Samen gestreut.
In den vier Jahren haben sie vier Ernten eingefahren – aber, ach, was für Ernten das waren! Sie hatten mit allerlei Problemen zu kämpfen gehabt; Mit Problemen, die auf Anhieb nicht absehbar gewesen waren.
Im ersten Jahr war der Sommer lang und heiß und das Wasser knapp gewesen. Sie hatten quasi hilflos zusehen müssen, wie die Hälfte des Korns verdorrt war. Sie hatten alles Mögliche (und sogar Unmögliche) versucht, das kostbare Nass herbeizuschaffen, um die Pflanzungen zu wässern. Wenigstens einen Teil hatten sie retten können. Doch der Ertrag war natürlich nur die Hälfte dessen, was sie gebraucht hätten, um im nächsten Jahr gesund zu starten.
Über den Winter hatten sie Wasserreservoire angelegt und Leitungen gezimmert, die über gewisse Strecken hinweg Wasser herantransportierten, falls es nochmals nötig werden sollte. Doch in diesem Jahr bestand das Problem darin, dass ein Schimmelpilz die Pflanzungen befiel. Sie bemühten sich täglich, alle erkrankten Stellen zu säubern, doch das Ende vom Lied war, dass sie wieder nur eine Teilernte einbringen und verkaufen konnten.
Im darauffolgenden Winter sprach sein Vater zum ersten Mal von Aufgeben und Fortziehen. Jay war entsetzt. Er war inzwischen dreizehn und hatte keine Ahnung gehabt, dass es so schlimm um sie stand. Doch dann war seine Mutter gestorben, und sie hatten sie in dieser Erde begraben müssen. Da versprach sein Vater ihm, es noch einmal zu versuchen, weil sie Jays Mutter nicht allein hier zurücklassen wollten.
Im nächsten Frühjahr zeichnete sich eine gute Ernte ab. Die Felder standen voll im Wuchs, das Getreide glänzte im Sonnenlicht. Nichts schien jetzt mehr die so dringend benötigte gute Ernte verhindern zu können. Jay stand vor dem Farmhaus im Hof und pumpte gerade Wasser in den Tränktrog, als sich der Himmel verdunkelte.
Er stand mit geöffnetem Mund da, war nicht fähig, sich zu regen. Er sah zu, wie der riesige Heuschreckenschwarm über das Land herfiel, und ihre dritte Ernte zerstörte. Es war schlichtweg unmöglich gewesen, irgendetwas zu unternehmen. Die winzigen Tiere mit ihren unermüdlichen Fressmäulern waren einfach überall. Er konnte Eintausend totschlagen, denen rückte eine Million nach.
Erneut standen Jay und sein Vater vor den Scherben, Trümmern, Ruinen … wie immer man es nennen wollte … ihrer Zukunft.
»Dieser Boden ist verflucht!«, schrie Jay in seinem Zorn.
Doch sein Vater redete ihm gut zu, mit einer Überzeugungskraft, von der Jay nicht wusste, woher sein Vater sie nahm. »Nein, Junge. Dass hier ein guter Ertrag erwirtschaftet werden kann, hast du schon daran gesehen, dass zwei Jahre lang alles gut gewachsen und gediehen ist. Nur haben wir eben zwei Mal verdammtes Pech gehabt. Junge, wir haben ein gutes Stück Land, und wir haben es hinbekommen, dass wir keinen Wassermangel mehr haben werden. Wir werden dieses Stück Land nicht aufgeben. Nicht dieses Jahr!«
»Pa, ich kann nicht verstehen …«
»Warum sich alles gegen uns verschworen hat? Ich auch nicht. Manchmal hat man eben einfach Pech. Aber ich habe noch eine Idee.«
»Und die wäre?«
»Wir bauen Roggen an, Roggen!«
»Roggen, Pa? Was soll das bringen?«
»Wir haben genug Wasser. Wir haben einen Ofen und einen Boiler. Wir brennen aus dem Roggen Whisky! Den können wir mit sehr viel mehr Gewinn verkaufen als das Korn. Junge, damit kommen wir aus den Schulden heraus. Glaub mir, noch hat der alte Bill Rannaghan nicht sein ganzes Pulver verschossen.«
»Ja, Pa.«
Jay hörte seinem Vater zu, der ihm seinen Plan erklärte, und seine Begeisterung wuchs.
Doch der Rückschlag in diesem Jahr kam aus der Stadt. Diese Stadt hieß Custer und lag 15 Meilen nordöstlich ihrer kleinen Heimstätte. Dort residierte und amtierte der Bankier David Hughes. Hughes ließ Bill Rannaghan Anfang Juni, nach der Aussaat, als der Roggen also längst im Boden steckte, mitteilen, dass eine Rückzahlung der Kredite nötig wäre, wenn das ganze Schuldengebilde nicht über ihm einstürzen und die Bank die Farm übernehmen solle.
Bill Rannaghan zog seinen besten Anzug an und fuhr mit dem Pritschenwagen in die Stadt. Er sprach eine Stunde lang mit Mr. Hughes – und kam grübelnd und brütend auf die Farm zurück. Er lenkte den Wagen in den Hof und ließ ihn dort stehen, wo Jay ihn fand, zum Schuppen rüber lenkte und das Pferd ausspannte. Als er ins Haus trat, merkte er sofort, dass sein Vater getrunken hatte. Er roch das Bier und den Whisky.
»So schlimm, Pa?«, fragte er.
»Yeah, Sohn, so schlimm.« In den Augen von Bill Rannaghan standen Tränen. »Wir werden die Farm verlieren. Hughes will eine sofortige Tilgung zumindest eines Teils unserer Schulden, oder er lässt uns enteignen.«
»Enteignen? Was bedeutet das?«
»Dass er den Sheriff und seine Deputys auf uns hetzt, und sie uns von hier fortjagen.«
»Aber das Haus …? Die Felder …? Und Mutters Grabstätte! Und der Roggen ist im Boden. Er wächst. Wir werden es dieses Jahr schaffen, Pa. Ich habe den ganzen Tag Unkraut herausgerissen. Der Roggen wächst! Dieses Jahr werden wir die volle Ernte einfahren, und wenn wir daraus Whisky brennen, wie du gesagt hast …«
»Hughes will uns nicht so lange Zeit geben, Junge. In der Stadt ticken die Uhren anders. Dort sitzen die Leute in feinen Anzügen in ihren Büros und denken an Zinsen und Gewinne. Wir … wir denken ans Überleben. Diese Menschen aber denken daran, wie sie aus etwas Geld viel Geld machen können. Und wie sie aus viel Geld noch mehr Geld machen können. Und dafür sind ihnen kleine Farmer, Handwerker und Arbeiter wie wir gerade recht. Und wenn wir einmal ein paar Jahre lang Pech haben, dann jagen sie uns davon und nehmen unser Land und unsere Häuserund verkaufen sie. Und das bringt ihnen dann den Gewinn, den sie so dringend brauchen. Ach, was sag’ ich – ›brauchen‹? Nein, sie brauchen den Gewinn nicht. Aber sie wollen ihn trotzdem machen. Diese Welt, Junge, besteht nicht aus Nächstenliebe. Jeder muss sehen, wo er bleibt und wie er zu etwas kommt. Und uns erwischt es eben jetzt.«
»Gibt es denn keine andere Möglichkeit, Pa? Wir …«
»Nein, Junge. Wir sind fertig.«
»Wenn wir die Zahlungen noch ein paar Monate hinausschieben könnten … ein oder zwei Monate … bis der Roggen reif ist und wir den Whisky …«
Sein Pa schüttelte den Kopf.
»David Hughes will das Geld bis Ende des Monats, Junge. Das sind noch zweieinhalb Wochen. Wenn wir nicht bezahlen können, kommt der Sheriff. Sie werden uns, wenn nötig, mit Waffengewalt von hier verjagen. Wir haben keine Chance, Jay, denn mit dem Gesetz können wir uns nicht anlegen. Besser, du gehst in deine Kammer und packst schon mal deine Sachen. Viele Dinge sind es ja nicht, die du mitnehmen kannst.«
»Nein, Pa! Ich werde kämpfen! Ich möchte Ma nicht so allein hier zurücklassen.«
»Das schmerzt mich auch, das darfst du mir glauben. Aber wir haben einfach keine Möglichkeit, an so viel Geld zu kommen. Nicht in so kurzer Zeit. Geh jetzt in dein Zimmer, Jay. Ruh dich aus. Morgen werden wir uns überlegen, was wir tun können. Vielleicht packen wir alles zusammen und laden es auf den Wagen. Und dann zünden wir das Haus an und fackeln das Feld ab. Yeah, wenn wir schon gehen müssen, dann lassen wir nichts zurück, woran ein anderer sich eine goldene Nase verdienen kann.«
So war das gewesen, am Abend. Nun ist es Nacht, und Jay liegt seit einer Stunde auf seinem Stroh und findet keinen Schlaf. Er grübelt ebenso über die Zukunft nach, wie sein alter Herr wenige Schritte weiter in der Stube drüben. Draußen hat sich die Nacht auf das kleine Holzhaus gesenkt. Hin und wieder ertönt ein Blöken von den Ziegen oder der kreischende Schrei eines Nachtvogels.
Zu all der Sorge spürt Jay einen tiefsitzenden Schmerz in seiner Brust. Ein Schmerz, all dies, was ihm lieb und auch irgendwie zu einer Heimat geworden ist, verlassen zu müssen. Am liebsten möchte er hinauslaufen und kämpfen, die Fäuste schwingen, mit dem Gewehr schießen – aber gegen wen? Gegen was?
Der wahre Kampf findet auf einer ganz anderen Ebene statt; auf einer Ebene, die man nicht greifen kann, die man nicht attackieren und auch nicht besiegen kann.
Die Versäumnisse der vergangenen Jahre, das heißt die entgangenen Gewinne, können sie heute nicht mehr wettmachen. Sie stehen vor den Scherben ihrer Existenz und können nichts dagegen unternehmen.
Nichts.
Zum wiederholten Mal flucht Jay in das Stroh, das ihm als Kopfkissen dient. Wenn es doch nur einen Ausweg gäbe. Irgendeinen verfluchten Ausweg. Er ist bereit, alles dafür zu tun. Wenn sie doch nur noch eine Chance bekämen. Eine einzige Chance noch. Sie würden es schaffen, das weiß er. Wenn man ihnen nur jetzt den Hahn nicht zudreht.
Doch dieser David Hughes scheint ein ganz harter Mister zu sein. Einer, der über Leichen geht. Einer, den Wohl und Wehe seiner Mitmenschen nicht interessieren.
Irgendwann im Dämmer, während sein Unterbewusstsein schon halb in einen Traum abgedriftet ist, hört Jay das Rattern einer kleinen Kutsche. Es muss ein Einspänner sein, denn der Hufschlag hört sich an wie von einem einzigen Pferd. Die Räder knirschen über Sand und Steinchen und kommen vor dem Farmhaus zum Stehen. Ein Quietschen und Knarren zeigt an, dass jemand vom Bock steigt.
Jay hört, wie sein Vater sich ächzend erhebt und zur Tür geht. Und er hört, wie jemand auf die Planken tritt, die vor dem Eingang liegen, weil Ma nicht gewollt hat, dass »die Männer den ganzen Dreck ins Haus tragen«.
Jemand unterhält sich mit seinem Vater, es ist die Stimme eines Mannes. Grüße werden gewechselt, dann beginnt eine gedämpfte Unterhaltung, deren Inhalt Jay nicht verstehen kann.
Jay weiß nun, dass er nicht mehr schlafen kann. Wer ist da in der Dunkelheit der Nacht gekommen? Was will der Mann zu einer solchen späten Stunde von seinem Vater?
Ist es etwa David Hughes, der sie jetzt schon von ihrer Farm fortjagen will?
Oder ist es der Sheriff, der … nein, der Sheriff wäre auf seinem Pferd gekommen, nicht mit einem Einspänner.
Jay überlegt, wer in der Stadt einen Einspänner fährt.
Den Saloonbesitzer, den Richter, den Doc und noch ein paar andere hat er schon mit einem Einspänner herumfahren sehen. Und auch David Hughes, den Bankchef selbst. Warum ist eine dieser Personen zu ihnen herausgefahren? Dazu noch in der Dunkelheit?
Jay erhebt sich, geht zur Tür und legt die Hand auf den hölzernen Riegel, der sie verschlossen hält. Wenn er die Bewegung ganz langsam durchführt, kann niemand hören, dass er die Tür einen Spalt öffnet.
Er möchte unbedingt erfahren, was da gesprochen wird.
Hat es mit ihrer Situation zu tun?
Noch nie, seit er sich erinnern kann, ist jemand zu dieser nachtschlafenden Zeit zu ihnen herausgefahren gekommen.
Ist etwa in der Stadt etwas passiert?
Jay ist bis in die Haarspitzen gespannt. Er lauscht. Doch die Unterhaltung wird nun so leise geführt, dass er nichts verstehen kann.
Er überlegt, ob er hinausschleichen und dort draußen lauschen soll. Doch gerade, als er das Gewicht auf ein Bein verlagert, um einen vorsichtigen Schritt hinaus zu machen, knarrt eine Bodendiele, und die Unterhaltung bricht völlig ab.
Jay ist bestürzt. Damit hat er nicht gerechnet. Er hat sich anschleichen wollen, stattdessen ist ihm solch ein dummer Fehler unterlaufen. Sein Vater und der nächtliche Besucher sind nun zweifellos auf ihn aufmerksam geworden.
Er starrt zu Boden, sieht im hereinfallenden Mondlicht seine löchrigen Socken und die vor Dreck starrenden Füße, die schmutzumrandeten Zehennägel. Zum Teufel, das hätte nicht passieren dürfen! Jetzt ist es zu spät. Jetzt werden sie nicht mehr weiterreden, oder wenn, dann noch leiser, sodass er gar keine Chance mehr hat etwas aufzuschnappen.
Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zu warten.
Und er wartet mit pochendem Herzen.
Er weiß nicht, was er seinem Vater sagen, und wie er ihm gegenübertreten soll. Wird er Vorhaltungen bekommen, weil er gelauscht hat?
Jay flucht in sich hinein. Er hält sich für ein Greenhorn, das in die offensichtlichste aller Fallen getappt ist.
Also wirft er sich wieder aufs Stroh und starrt zur dunklen Decke hinauf.
Draußen ist die Unterhaltung wiederaufgenommen worden, erwartungsgemäß leiser als zuvor, und Jay hört durch die Wände nur ein dumpfes Raunen und Brummen.
Nach einiger Zeit bricht es ab. Es erklingen Schritte, dann wieder das Quietschen und Knarren, als der Besucher in den Sitz seines Buggys steigt. Und zuletzt hört Jay das Knallen einer Pferdepeitsche, und wie das Tier sich in Bewegung setzt. Räder knirschen über Sand und Kies, der Einspänner fährt davon.
Jay hält es auf seinem Lager nicht länger aus. Er springt auf und läuft in die Stube.
Sein Vater steht im Türrahmen und hält sich mit beiden Händen links und rechts fest, blickt dem davonfahrenden Wagen nach. Jay hört, wie er schwer atmet.
»Wer war das, Pa?«, fragt er. »Was wollte der Mann?«
Sein Vater dreht sich zu ihm um, und Jay erschrickt.
Obwohl Bill Rannaghan erst Mitte 40 ist, sieht er ausgezehrt und zehn bis fünfzehn Jahre älter aus. Sein Gesicht ist faltig, die Haut schlaff. Auf der Stirn und am Hals haben sich tiefe Falten gebildet. Jetzt sind all diese Altersanzeichen noch stärker ausgeprägt, und es scheint, als wäre er um noch ein paar Jahre gealtert. Und sein Blick ist so ernst, dass Jay glaubt, ihr beider Tod stehe unmittelbar bevor.
»Was ist los, Pa?«, drängt Jay atemlos.
Er ist fünfzehn und weiß, dass er noch nicht erwachsen ist, kein gleichwertiger Gesprächspartner für seinen Vater. Dennoch möchte er wissen, was sich hier gerade abgespielt hat, denn er hat das Gefühl, dass auch sein Leben davon betroffen ist.
Sein Vater starrt ihn viele Sekunden lang an und schnauft schwer durch die Nasenlöcher. Jay möchte platzen vor Neugier. Dann, ganz langsam, steigt ein Grinsen in die Züge des Mannes.
»Junge, wir schaffen es!«, verkündet Bill Rannaghan froh. Und er atmet befreit auf, als er dies sagt. »Wir werden es schaffen. Du wirst niemals erraten, wer das war – außer du hast dich an uns herangeschlichen und gelauscht!«
»Das hab ich nicht, Pa. Ich schwör’s!«, sagt Jay schnell und heftig, um alle möglichen Verdächtigungen von vorneherein von sich zu weisen. Sein Vater geht nicht näher darauf ein, sondern sagt:
»Rate! Wer war der Mann?«
»Ich … ich hab keine Ahnung.«
»Rate!«, donnerte Bill Rannaghans Stimme.
»Pa … ich hab keine …«
»Es war Emmett Gross«, fällt sein Vater ihm ins Wort.
Emmett Gross? Emmett Gross? Jay stutzt. Er kennt keinen Emmett Gross.
Gerade will er dies seinem Vater mitteilen, als dieser auch schon zu einer Erklärung ansetzt:
»Emmett Gross ist einer der Clerks, die in David Hughes’ Bank arbeiten. Junge, uns ist soeben eine Riesenchance zuteil geworden. Wie einem, der unterm Apfelbaum sitzt, und dem ein prächtiger, reifer, süßer Apfel genau in den Schoß fällt.«