Der Wald der Augen - Logan Kenison - E-Book

Der Wald der Augen E-Book

Logan Kenison

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Beschreibung

Sie hatten die Wahl zwischen der Giftspritze oder Flucht durch das Dimensionstor. Denn sie hatten einen Mann getötet, und die Todeszelle war ihnen sicher. Sie entschieden sich für das Dimensionstor. Doch auf der anderen Seite erwartete sie –- der Wald der Augen.

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Seitenzahl: 138

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Logan Kenison

DER WALD DER AUGEN

Ein Spaceroman.

Das Buch

Sie hatten die Wahl zwischen der Giftspritze oder Flucht durch das Dimensionstor. Denn sie hatten einen Mann getötet, und die Todeszelle war ihnen sicher. Sie entschieden sich für das Dimensionstor. Doch auf der anderen Seite erwartete sie – der Wald der Augen.

Der Autor

Logan Kenison ist Autor von Western-, Abenteuer- und Spaceromanen. Neben seinen Western, die er mit Leidenschaft verfasst, schreibt er seit 2018 die Reihe Spacewestern.

Anmerkung

Dieser Roman erschien in veränderter Form in der Serie »Star Gate – Das Original« von Hary Production. Hier liegt er in neuer Überarbeitung als abgeschlossener Einzelroman vor.

Inhalt

Impressum

Der Wald der Augen

Weitere Titel von Logan Kenison

Impressum

Copyright © 01/2009 und 05/2013

by Frederick S. List

Copyright dieser Ausgabe:

10/2021 by Logan Kenison

[email protected]

Abdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlags oder Autors.

Cover-Art: Jan Wiebershausen, 2012

Logan Kenison

DER WALD DER AUGEN

Prolog

Hast du ein Land gesehen, erdbraun und saftig, weich und von allerlei Buschwerk und Gräsern gekräuselt, wie Sektschaum; so wohlriechend, dass du dich am liebsten kopfüber hineingestürzt hättest? Dass du eintauchen wolltest in seine sanften Wellen? Dass du das Gefühl hattest, du müsstest dich in ihm begraben lassen, damit dich niemals mehr jemand von dort wegholen kann?

Ich habe solch ein Land gesehen.

Ich habe es betreten und in Besitz genommen.

Habe ein Haus gebaut und Gärten angelegt.

Habe Tiere gezüchtet und Samen ausgesät, habe geerntet und geschlachtet, Wein gekeltert und Feste gefeiert.

Dort, im saftigen Boden, habe ich meine Frau und meinen Sohn begraben.

Ort: Planet Erde, Konzerngelände iTRONIC Ltd.

Die Alarmsirene schickte einen durchdringenden Ton in die Halle, der in den Ohren schmerzte.

Vielleicht war der Mord entdeckt worden.

Vielleicht war einer der niedergeschlagenen Wächter zu sich gekommen.

Jedenfalls hatten sie nur noch Sekunden, bis die Sicherheitskräfte den Raum stürmen würden.

Deckenstrahler schickten weißes Licht in die Halle, in deren Wände die Rettungskapseln eingelassen waren. Der Mann und die Frau standen am Spezialcomputer und blickten sich an. Sie versteckten ihre Todesangst voreinander. Jede Sekunde konnten die Wachen erscheinen und auf sie zu schießen beginnen.

Ihr Plan war saumäßig schiefgegangen. Jetzt war alles aus.

Noch vor einer Dreiviertelstunde hatten sie im Aufenthaltsraum gemeinsam Kaffee getrunken und den Plan ein letztes Mal besprochen. Wie Kollegen hatten sie gewirkt, oder gar wie ein Liebespaar. Keinesfalls jedoch wie die Spione und Saboteure, die sie waren.

Karen Moward versuchte zu lächeln, doch es wurde nur eine gequälte Grimasse daraus. Vor nicht einmal fünfzehn Minuten hatte sie einen Mann getötet, und nun toste ein Sturm von hunderten unbekannter Gefühle in ihr – Gefühle, mit denen sie nicht gerechnet und die sie nie gekannt hatte; von denen sie nicht einmal wusste, dass sie ihrer überhaupt fähig war.

Hinzu kam, dass es für ihre Flucht nur noch einen einzigen Weg gab: Den durch das Dimensionstor. Und das bedeutete: Sie mussten die Erde verlassen und konnten nie wieder zurückkehren.

Doch wenn sie den Weg nicht antraten, würde das Wachpersonal sie in wenigen Sekunden verhaften, nämlich sofort nachdem sie die verriegelten Tore gesprengt hatten und in den Raum gestürmt waren.

Ihr »perfekter Plan« hatte sich als Blindgänger erwiesen. Karen fluchte leise in sich hinein.

Wie fühlte man sich, wenn man sein bisheriges Leben hinter sich ließ? Ihre Mutter wohnte in Hamtramck, eine Autostunde von Detroit entfernt. Samstags hatte sie sie immer besucht und den Nachmittag mit ihr verbracht. Morgen war Samstag, und es trieb ihr einen Kloß in die Kehle, als sie sich ausmalte, wie ihre Mutter vergebens auf sie warten würde. Sie hatte nicht einmal die Zeit, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, so überstürzt erfolgte ihre Flucht.

Auf einmal spürte wie eine große Leere in sich und war plötzlich taub gegen alle Empfindungen. Für ein paar Minuten funktionierte sie nur noch mechanisch, betätigte die Schalter und Hebel und Tasten und tat, was getan werden musste, während das Summen der Maschine anschwoll und langsam das Heulen der Alarmsirene zu übertönen begann.

Sie wusste nicht, ob es das Richtige war, was sie tat.

Doch sie wusste, dass es der einzige Weg war, der ihnen noch blieb.

Sie machte sich nichts vor. Wenn sie blieb, konnte sie gleich eine Zyanidkapsel schlucken; dann waren die Folgen immer noch weniger dramatisch, als wenn sie Owen Rattlers Leuten in die Hände fiel.

Owen Rattler war der Leiter all dessen, was iTRONICS Ltd. an Sicherheit zu bieten hatte. In zahllosen Meetings waren Prozesse definiert worden, denen sich der gesamte Konzern unterwerfen hatte müssen. Zum Wohle des Unternehmens. Zur Sicherheit vor Anschlägen und Spionage.

Jeder, der ein und aus ging, wurde durchleuchtet. Scanner durchdrangen jedes Kleidungsstück. Röntgengeräte durchleuchteten die inneren Organe. Denn wie leicht hätte man etwas verschlucken und so nach draußen schmuggeln können.

Während über zweitausend Mitarbeiter diese Maßnahmen erdulden mussten – die Alternative wäre gewesen, sich in die lange Schlange der Arbeitslosen einzureihen –, war es zwei Technikern gelungen, alle Sicherheitsmaßnahmen zu unterlaufen und die Schalt- und Baupläne für das Dimensionstor auf einen Datenstick zu speichern.

Natürlich war ihr Eindringen entdeckt worden, das war unausweichlich gewesen – doch viel zu spät. Sie hatten die Dateien bereits an den Account ihres Kontaktmanns außerhalb verschickt, und der Auftraggeber der beiden Sonntagsagenten – wahrscheinlich die Konkurrenzfirma EU-Electronics – war inzwischen im Besitz sämtlicher Pläne.

Karen konnte sich lebhaft vorstellen, wie Owen Rattler in seinem Büro umherlief und alle Flüche der Welt über sie und ihren Partner herabrief.

Doch das brachte sie nicht zum Lächeln. Nicht diesmal, wo sie selbst im Visier seiner Tiraden stand.

Der Sicherheitsmanager hatte den schlimmsten Ruf aller bei iTRONICS beschäftigten Mitarbeiter. Er war nicht nur ein Befürworter brutalster Methoden, sondern ließ sie auch gnadenlos anwenden. Nicht wenige ihrer Kollegen waren in die Bleiminen auf dem Jupitermond Io geschickt worden, wo sie unter schlimmsten Bedingungen schuften mussten, ohne Aussicht, jemals wieder von dort wegzukommen.

Dass zwei geldgierige Amateure alle Sicherheitsmaßnahmen unterlaufen und in die Heiligen Hallen des Konzerns hatten vordringen können, würde Owen Rattler dazu bewegen, sämtliche Sicherheitsvorkehrungen neu festsetzen zu lassen. Von nun war würde es nie wieder so »leicht« sein, sich den Plänen und dem Dimensionstor selbst zu nähern. Wahrscheinlich würde er die Anzahl der Wachen umgehend verdoppeln, sodass ab morgen nun nicht mehr zwei, sondern vier ausgebildete Wacheinheiten jede Tür und jedes Terminal sichern würden.

Mit zwei Wachhabenden waren Karen und ihr Partner Scott Shafter fertiggeworden. Der Tod von Sicherheitschef Swank war dabei mehr oder weniger ein bedauerlicher Unfall gewesen. Der Mann war einfach im falschen Moment aufgetaucht, als nämlich bei Karen die Nerven blank lagen. Sie und Shafter waren Sekunden zuvor von zwei Wachen angegriffen worden und hatten sie mit Müh und Not niedergekämpft, als unvermittelt Swank aufgetaucht war. Der Sicherheitschef hatte auf dem Absatz kehrt gemacht. Karen wusste: Er würde den Raum verlassen, die Tür verriegeln und Großalarm auslösen.

Das hatte sie verhindern wollen. Aus der Hüfte hatte sie geschossen und gleich einen Volltreffer gelandet. Der Schuss traf Swank in die Wirbelsäule, und er war mit einem lauten Gurgeln zu Boden geschlagen, wo er seinen Geist nach minutenlangem Röcheln ausgehaucht hatte.

Verdammt! Karen durfte nicht daran denken, wie der Mann sich in seinen letzten Sekunden gequält hatte. Das würde sie sicher für den Rest ihres Lebens in Albträumen verfolgen.

Weiteres Unbehagen verursachte ihr die nahezu unbekannte Technologie des Dimensionstors, dem sie und Scott in wenigen Sekunden ihr Leben würden anvertrauen müssen.

Nicht nur Karen, auch Scott hatte kaum eine Ahnung davon. Außer einigen allgemeinen theoretischen Grundlagen wussten sie so gut wie nichts über die Wirkungsweise des Tors. Seit mehreren Minuten versuchte Scott, die Kombination einer Dimension zu finden, zu der sie fliehen konnten. Millimeter um Millimeter verschob er die Justierung, aber bei jedem Versuch leuchtete die rote Lampe auf:

INSUFFICIENT ENTRY

INSUFFICIENT ENTRY

Sie fanden einfach keine korrespondierende Dimension.

Eine neue Einstellung –

– und plötzlich leuchtete es in der Mitte der Halle auf, grell und weiß. Etwas wie das Rauschen eines Sturms setzte ein und zerrte an ihrer Kleidung, an ihrem Haar. Mit einem fauchenden Geräusch öffnete sich das Dimensionstor und manifestierte sich in einer wabernden, schillernden Oberfläche.

Wie es aussah, blieb es stabil.

Doch für wie lange?

»Schnell jetzt!«, rief Scott und lief los.

Karen rannte hinter ihm her, doch dann sah sie, wie er zögerte.

Die Anzeige der Energiebänke sank bedrohlich rasch. In wenigen Sekunden würde das Tor kollabieren, das ahnte Karen instinktiv.

Und dann traf sie die Entscheidung. Sie sprangen mitten in das unablässige Fluoreszieren hinein.

Sie hatte erwartet, dass es sich anfühlte, als spränge sie in einen Swimming Pool: Nass und kalt und erfrischend.

Nichts desgleichen war der Fall.

Es schwindelte sie leicht, und sie hatte das Gefühl, in Schwerelosigkeit zu schweben. Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie würgte an dem Caffe Latte, den sie zuvor mit Scott in der Cafeteria getrunken hatte.

Beim Sprung hatte sie automatisch die Augen geschlossen, doch nun, neugierig und erschrocken zugleich, öffnete sie sie wieder. Um sie herum wirbelten Farben: Violett, rot, blau, weiß, schwarz. Etwas wie ein heißer Wind blies ihr ins Gesicht, und sie schmeckte einen trockenen Geruch, der ihr den Atem nahm. Sie selbst schleuderte wohl ebenso durch die Passage, wie die Farben um sie herumwirbelten. Sie fand kein unten und kein oben, keinen »festen Punkt im All«.

Und dann spukte die Röhre sie aus. Sie glitt heraus, durchbrach die Oberfläche. Sie spürte für einen Sekundenbruchteil die Spannung der Oberfläche, die sie zurückhalten wollte. Doch ihre Geschwindigkeit war zu groß.

Sie fiel heraus und krachte auf einen mit Laub und Moos bedeckten Waldboden.

*

Ort: Konzerngelände iTRONICS Ltd.

Der Rollrammsporn – eine mannshohe Konstruktion aus gehärtetem Stahl – krachte gegen die vierflügelige Metalltür, und mit einem lauten Knall brachen die Schließzungen des Doppelschlosses aus ihren Arretierungen. Zwei der vier Türflügel sprangen auf. Die zehn schwarzuniformierten Sicherheitsleute stürmten mit angeschlagenen Schnellfeuerpistolen in den Raum und sicherten innerhalb einer Sekunde nach allen Richtungen – wie sie es in zahllosen Übungen gelernt hatten.

Leroy Walker, Einsatzleiter der Einheit 31, brummte verdrießlich. Er und seine Männer waren zu spät gekommen – vielleicht nur um Sekunden. Der Vogel war ausgeflogen. Die Lichter im oberen Teil der Konsolenanzeige schillerten wie immer, doch die Energiebänke waren restlos geleert. Dass ein Transfer stattgefunden hatte, konnte er förmlich riechen.

»Sie sind bestimmt durch das Tor«, murmelte er.

»Lassen Sie mich mal sehen!«

Der mit einem weißen Kittel bekleidete Mann mit dem buschigem Haarkranz und den dicken, selbsthaftenden Sichtkorrekturlinsen drängte sich durch die Sicherheitskräfte und trat an den IRM-Spezialcomputer.

Walker schob sich neben ihn.

»Wenn das Rattler erfährt …«, raunte er dem Wissenschaftler zu.

»Von mir erfährt er nichts«, versicherte der Mann im weißen Kittel, ohne den Kopf zu heben. »Das machen Sie mal schön selbst mit ihm aus, Mr Walker. Ich bin nur hier, um die Anlage zu checken.«

Walker sah auf die Konsole des Spezialcomputers hinab, wo die Finger des Wissenschaftlers über die Tastatur glitten.

»Doktor?«

»Ja?«

»Kann man anhand der Koordinaten herausfinden, wohin sie geflüchtet sind?«

»Natürlich. Ich werde die Einstellung untersuchen und notieren sowie die Bänke durch Energie aus der Hauptleitung wieder aufladen lassen. In wenigen Minuten ist das Tor wieder einsatzbereit. Dann können Sie und Ihre Leute ihnen folgen.«

Ein grimmiger Zug legte sich um Walkers Mund.

»Das ist gut, Doktor. Sehr gut. Bitte, beeilen Sie sich.«

*

Ort: Unbekannt

Scott Shafter hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden, und unwillkürlich bereitete ihm dieser Gedanke Freude.

Dies hier war eine völlig fremde Welt: Ein schwarzer Waldrand, violette Bäume, blaues Gestrüpp, blaues Moos und schwarzes Laub. Es war nicht die Erde, die sie kannten, und das war das Wichtigste.

Spontan frohlockte er. Sie hatten es geschafft! Ihm und Karen war es gelungen, eine fremde Dimension anzuwählen und zu ihr hinüberzustürzen.

Damit waren sie in Sicherheit.

Sie hatten den Auftrag erfüllt und die Pläne an ihren Kontaktmann LaBerge in Detroit übermittelt, waren selbst davongekommen. Dass Security Chief Swank getötet worden war, war nicht in ihren Absichten gelegen, aber nun, da es passiert war, konnte man auch nichts mehr daran ändern. Scott nahm die Sache bei weitem nicht so tragisch wie Karen.

Er hatte es ihrem Gesicht, ihren Augen angesehen, dass sie sich ein Gewissen machte. Ein Schnappschuss, der auch noch ins Ziel gegangen war … niemals hatte sie geglaubt, dass sie Swank mit diesem Schuss stoppen könnte. Und nun musste sie damit leben, ihn getötet zu haben.

Scott atmete tief durch und sog die würzige Luft des Waldes ein.

Es roch nach Moos und Moder; einerseits vertraute, andererseits doch fremde Gerüche.

Eine hügelige Landschaft wellte sich vom Waldrand in die Ferne. Das Erdreich dort war feucht und fruchtbar, wovon allerlei farbenprächtiger Bewuchs zeugte. Weißes Gebüsch wechselte sich mit lavendelfarbenem, und dunkle Stämme mit schwerer Blätterlast ragten in den Himmel und warfen wohltuende Schatten. Über dem sich dehnenden Land lag ein seltsamer weißer Belag, gerade so, als wäre es mit einer Zuckerschicht überzogen.

Scott trat aus dem Waldschatten, spannte die Arme aus und hielt mit geschlossenen Augen den Kopf in die Sonnenstrahlen. Er spürte die Wärme auf seiner Haut – die Wärme einer unbekannten Sonne.

»Ich werde dich Oceane nennen!«, rief er feierlich aus. Er wandte sich um und entdecke Karen neben sich: »Ich werde den Planeten Oceane nennen. Meine Schwester hieß Oceane. Wusstest du das?«

»Du hast nie über sie gesprochen«, sagte Karen. Da seine Augen noch vom gelben Sonnenlicht geblendet waren, sah er sie nur als schattenhaften Umriss. Gerade trat sie aus dem Wald, zögernd, als wäre ihr die neue Welt unangenehm und fürchtete sie sich vor ihr.

»Dies ist kein neuer Planet«, sagte sie, »sondern immer noch die Erde. Nur eine andere Erde, mit anderen Entwicklungen, anderer Geschichte.«

Als sie ihn umarmte, glaubte er, ihre Unsicherheit zu spüren.

»Es ist dennoch … eine fremde Welt«, hauchte sie ihm ins Ohr.

Er roch ihren leichten Schweißgeruch.

»Aber wir sind hier, Karen. Und die iTRONICS-Idioten sind weit weg. Hier kann uns nichts passieren.«

Wenn sie vor ihm stand, war sie einen Kopf kleiner. Seine Arme umschlossen ihren Körper, und er spürte ein leichtes Zittern. Er neigte sich auf ihre Höhe hinab und küsste sie auf den Mund. Seit fünf Jahren waren sie ein Liebespaar; er kannte sie in- und auswendig.

»Hab keine Angst«, flüsterte er.

»Das ist eine fremde Welt«, wiederholte sie.

»Eine sehr schöne und neue fremde Welt. Schau, wie hier alles blüht und sprießt. Wir werden es gut haben – dessen bin ich sicher.«

Sie stand da, noch immer zitternd, und ließ sich von ihm umarmen, klammerte sich mit ihren kleinen Fäusten an sein Hemd. Er spürte, dass er sie nicht überzeugen konnte. Eine Urangst hatte sie befallen. Sie hatte alles, was ihr lieb und teuer war, hinter sich gelassen – ihr gewohntes Leben: Mutter, Freunde, Job, sämtliche Sicherheiten, die sie sich angespart hatte, die Krediteinheiten ihrer Altersversorgung, die Steuernummer.

Jetzt war sie eine Flüchtige, die ihren Kontrakt mit iTRONICS Ltd. gebrochen hatte, und als solche hatte sie keinerlei Rechte mehr. Wenn sie je zurückginge, würde die Todesspritze auf sie warten.

»Ruhig, Schatz. Beruhige dich. Wir sind hier sicher.«

Da drang ein Schluchzen an sein Ohr, und ihm war klar, dass sie sich alles andere als beruhigte.

»Ich habe Angst, Scott!«

»Das brauchst du nicht zu haben, Schatz. Wirklich nicht. Wir werden …«

Da stieß sie ihn mit einer Heftigkeit weg, die ihn erschreckte. Es war weniger der Schmerz ihrer kleinen Hände auf seiner Brust, der ihn den heißen Stich spüren ließ, sondern die Bitterkeit, die ihrer Handlung zugrunde lag. In ihrem Gesicht spiegelte sich ein verzweifelter Zug, der es grau und faltig und die Sommersprossen als störende Flecke erscheinen ließ. Energisch wich sie zwei Schritte zurück und ließ ihn nicht mehr näher an sich heran.

»Du hast nie ein Leben bei iTRONICS gehabt!«, schrie sie. »Bei dir war alles nur Tarnung! Etwas, das du sofort wieder aufgeben wolltest, sobald der Auftrag erledigt war. Bei mir … war das nie so. Ich … ich habe jetzt alles verloren. Alles.« Unvermittelt verfiel sie in ein Schluchzen.

»Karen … Karen, hör mir zu.«

»Nein. Lass mich in Ruhe!«

Sie wich einen weiteren Schritt zurück.

Er versuchte, sie in ruhigem Ton zu überzeugen. »Karen, wir mussten durch das Tor gehen, es gab keine andere Möglichkeit. Sie waren hinter uns her. Ihnen ist inzwischen klar, dass du mit mir unter einer Decke steckst. Du wärest nicht mehr sicher gewesen, glaub mir. Es hat keinen Sinn, einem Leben nachzutrauern, das es nicht mehr gibt. Wir müssen uns mit dem abfinden, was wir jetzt haben. Denk daran, was Rattler mit uns machen würde, wenn er uns in die Finger bekäme.«

»Ich kann dein Geschwätz nicht länger ertragen!«, fauchte sie, wandte sich ruckartig ab und lief weg.

»Aber Karen!«, rief er ihr hinterher. »Wo willst du denn hin?«