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Space-Dystopie! Zusammenbruch der Zivilisation auf dem Planeten Wormss W4-Benus. Maskierte Bewaffnete machen Jagd auf Mensch und Tier; auf alles, was sich bewegt und nicht schnell genug flüchtet. Was nicht niet- und nagelfest ist, wird gestohlen. Wer sich nicht rechtzeitig versteckt, wird ermordet. Brutale Banden beherrschen das Tagesgeschehen. Bald schon schart sich eine kleine Gruppe wehr- und hilfloser Menschen um einen Mann, auf den sie alle Hoffnungen setzen: Owen Richter, Spacereisender, der das Pech hatte, zur Unzeit hier zu landen. Hat die kleine Gruppe eine Chance, zu überleben? Eine Chance, den Planeten je wieder zu verlassen? Und gibt es in diesen gefährlichen Zeiten noch Raum für Liebe und Wärme?
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Seitenzahl: 196
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Logan Kenison
KASSANDRA
Ein Spacewestern.
Das Buch
Space-Dystopie! Zusammenbruch der Zivilisation auf dem Planeten Wormss W4-Benus. Maskierte Bewaffnete machen Jagd auf Mensch und Tier; auf alles, was sich bewegt und nicht schnell genug flüchtet. Was nicht niet- und nagelfest ist, wird gestohlen. Wer sich nicht rechtzeitig versteckt, wird ermordet. Brutale Banden beherrschen das Tagesgeschehen. Bald schon schart sich eine kleine Gruppe wehr- und hilfloser Menschen um einen Mann, auf den sie alle Hoffnungen setzen: Owen Richter, Spacereisender, der das Pech hatte, zur Unzeit hier zu landen. Hat die kleine Gruppe eine Chance, zu überleben? Eine Chance, den Planeten je wieder zu verlassen? Und gibt es in diesen gefährlichen Zeiten noch Raum für Liebe und Wärme?
Der Autor
Logan Kenison ist Autor von Western-, Abenteuer-, Action- und Spaceromanen. Neben seinen Western, die er mit Leidenschaft verfasst, schreibt er seit 2018 die Reihe Spacewestern.
Inhalt
Impressum
Kassandra
Weitere Titel von Logan Kenison
Impressum
© 11/2021 by Logan Kenison
Lektorat: Carola Lee-Altrichter
Abdruck auch auszugsweise
nur mit Genehmigung des Autors.
Coverart: »The Wait« by Paddy, 2017
https://www.deviantart.com/psk-photo
Dieser Roman ist ein Produkt der Fantasie. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ist unbeabsichtigt und wäre reiner Zufall.
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Logan Kenison
KASSANDRA
Erster Teil
Karen Blacknell konnte durchaus als hübsches Mädchen durchgehen, doch sie »schön« zu nennen, wäre etwas zu weit gegriffen. Sie war schwarzhaarig, schlank bis zur Hagerkeit und wirkte wie eine normale 19-Jährige. Sie besaß ein etwas kantiges Kinn und einen Kirschmund. Ihre Augen waren groß und gletscherblau; es waren Augen, in die ein Junge sich problemlos verlieben konnte. Und wenn ihr das Haar wild ins Gesicht fiel, die Augen aufleuchteten und der Mund verwegen-fordernd nach vorn zuckte, war das vielleicht schon ein Vorgeschmack darauf, welch heiße Liebesnächte ihrem zukünftigen Ehemann bevorstanden.
Die Menschen in der Satyr Street kannten Karen als aufgeschlossenes junges Ding. Sie war stets hilfsbereit (trug Einkäufe, mähte den Rasen, rechte das Laub, fegte den Hof und so weiter), grüßte jeden freundlich und hatte immer ein nettes Wort auf den Lippen.
Karen Blacknell traf das Ereignis, das später als »der Zusammenbruch« bekannt wurde, mit unvermittelter Härte, wie so viele auf dem Planeten Wormss W4-Benus.
Es war kurz vor Mitternacht. Ihr Vater war wie schon häufig zuvor immer noch bei der Arbeit und überließ seine Kinder notgedrungen sich selbst. Ihre Mutter war vor fünf Jahren unter Umständen verstorben, die man Karen nie genau mitgeteilt hatte. Es interessierte sie brennend, was mit ihrer Mutter gewesen war, was zu ihrem Tod geführt hatte – aber sie wagte nicht, ihren Vater danach zu befragen, weil sie (zurecht) vermutete, damit eine schmerzliche Wunde in ihm aufzureißen und ihn unsagbar traurig zu machen. (Alton Blacknell hatte seine Frau zutiefst geliebt und sprach mit niemandem über ihren Tod.)
Karen und ihr Bruder Corey saßen zuhause am Spacerefractor und sahen sich HUNT FOR THE QOSHI TREASURE an, einen interaktiven 4D-Film, in dem die Zuschauer mitagieren und Entscheidungen treffen konnten, als plötzlich, nachdem einige Detonationen von der Innenstadt herübergeklungen waren, der Strom ausfiel, was sie nicht nur in einem pechschwarzen Wohnzimmer zurückließ, sondern auch die gesamte Straße in Finsternis tauchte.
Die Schwärze war so endgültig, dass Karen nahezu sofort in panikartige Zustände verfiel.
Corey hingegen lachte.
»Stromausfall! Keine Sorge, in ein paar Minuten geht alles wieder an.«
Karen, die bereits in heller Aufregung nach Luft geschnappt hatte, beruhigte sich, nachdem sie ihren Bruder so reden hörte.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen nun auch an die Dunkelheit, und sie stellte fest, dass der Nachthimmel doch nicht so schwarz war, wie sie immer geglaubt hatte; vielmehr leuchtete er in einem tiefdunkeln Blau, gegen das sich die schwarzen Silhouetten der Nachbarsdächer und Bäume der Straße abzeichneten.
»Meinst du?«, fragte sie; doch die Angst in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Bestimmt. Da gibt es Spezialisten, die sich darum zu kümmern haben. Bei denen klingeln jetzt die Kommunikatoren, dann fahren sie los. In spätestens einer Viertelstunde geht das Programm weiter. Wetten?«
Karen teilte die Zuversicht ihres Bruders nicht. Sie tastete nach dem Kommunikator, nahm das Bedien-Panel in die Hand, stach auf die Tasten ein.
»Nichts. Auch der Kommunikator ist tot.«
Corey fummelte sein mobiles C-Gerät aus der Hosentasche und begann das Display zu bearbeiten. Seltsam, er bekam keinerlei Verbindung. Obwohl das Display leuchtete – und dabei sein Gesicht gespenstisch violett anstrahlte – blieben alle Versuche, eine wie auch immer geartete Verbindung herzustellen, erfolglos. Brummend steckte er das C-Gerät wieder weg, nur um dann ein »Ach, ist doch egal!« zu fauchen.
Corey war 17 und auf dem besten Weg, ein Mann zu werden. Sein Haar war blond und lockig, und alle, die ihre Mutter noch gekannt hatten, sagten, er käme nach Irene, und schade, dass seine Mutter so früh hatte gehen müssen und dass sie nicht mehr miterlebte, was für ein hübscher junger Mann aus ihrem Sohn geworden war. Cory war immer zutiefst gerührt, wenn er solche Dinge hörte; zum einen waren sie ihm unangenehm, weil sie ihn verlegen machten, zum anderen freute es ihn, dass die Leute seine Mutter offensichtlich gemocht hatten – etwas, das in dieser Welt heute nicht mehr selbstverständlich war.
Er lümmelte sich im Sessel, und Karen hörte, wie er nach den Crackern fischte, einen in den Mund steckte und draufbiss. Das charakteristische Krachen und Knacksen drang zu ihr herüber.
Sie stand auf und trat ans Fenster.
»Es ist alles schwarz«, sagte sie.
»Das ist bei einem Stromausfall meistens so.«
»Das meine ich nicht, Corey. Selbst auf den Hügelketten brennt kein einziges Licht. Nichts. Der Strom ist nicht nur hier ausgefallen, sondern … ich glaube fast, überall auf dem Planeten.«
Corey lachte glucksend. »Weißt du wie groß der Planet ist? Und weißt du, wie viel du davon mit deinen Augen sehen kannst? Noch nicht mal 1 Prozent! Ach was, nicht mal 0,1 Prozent!«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es noch irgendwo Energie geben soll, wo es so tiefschwarz da draußen ist. So war es noch nie, Corey. Noch nie.«
»Lass mal sehen.«
Sie hörte, wie er aufsprang und zu ihr ans Fenster kam. Dann spürte sie ihn neben sich, wie er sie mit einem Rempler vom Fenster wegschubste.
»He, du Idiot!«, rief sie. »Das ist mein Platz.«
»Korrektur: Das war dein Platz. Jetzt ist es meiner. Finde dich damit ab, Bay-bee.«
»Baby? Na warte, ich zeige dir gleich, wer das Baby ist!«
Sie boxte ihn seitlich in die Rippen, und er schrie schmerzerfüllt auf. Ihre Fäuste waren zwar dünn und knochig, doch sie konnten ganz schön weh tun, und sie hatte ihn ungeschützt erwischt.
Dann spürte sie, wie er sich auf sie warf, wie er ihr den Arm um den Hals legte und sie nach hinten zwang. Sie schrie auf, als er mit seinem ganzen Gewicht an ihr hing, sie umkippte und auf dem Boden landete, und plötzlich war er auf ihr und sie rangelten miteinander.
Sie hörten abrupt auf, verharrten mitten in der Bewegung, als sie eine Männerstimme auf der Straße hörten.
Jemand schrie, und das nicht zu knapp.
Sie ließen voneinander ab und eilten zum Fenster zurück.
In der Finsternis konnten sie kaum etwas sehen. Irgendwelche undeutliche Schemen, die sich auf der Straße hin und her bewegten. Dem Geschrei nach zu urteilen, ging es hoch her.
»Wer ist das?«, fragte Karen, und wieder war da diese Angst.
»Wer schon! Das sind ein paar Nachbarn, die kommen aus ihren Häusern, weil sie ihre Lieblingssendungen nicht mehr sehen können.«
»Es sind auch Kinder dabei. Ich höre Kinderstimmen. Warum haben sie die Kinder aus dem Schlaf gerissen?«
»Ja, ich finde auch, die hätten die Kleinen pennen lassen können.«
Irgendwo brummte eine Engine auf, Scheinwerfer gingen an.
Da sahen sie, dass einige der Männer dort draußen bewaffnet waren. Sie trugen Gewehre in der Hand, einige trugen Faustfeuerwaffen in Gurten bei sich.
»W-was haben die vor?«, fragte Karen.
»Tief durchatmen, Schwesterlein«, sagte Corey. »Die tun uns nichts. Das sind unsere Nachbarn, wir kennen sie seit zwei Jahren, seit wir hier eingezogen sind, und sie kennen uns. Ich denke, sie bilden eine Art Miliz oder Bürgerwehr, um Verbrecher abzuschrecken. Jetzt, wo es so dunkel ist, kann man leicht auf die Idee kommen, irgendwo einzusteigen.«
»Bei uns auch?«
»Ach was, bei uns doch nicht. Wir haben nichts Wertvolles, was einen Einbruch lohnen würde.«
»Und der Spacerefractor? Der kostet doch bestimmt 4000 Qubits.«
»Na, den Idioten möchte ich sehen, der das Ding rausschleppt. Nach zehn Schritten hängt ihm die Zunge am Boden.«
»Du nimmst alles auf die leichte Schulter, Corey. Aber ich habe Angst.«
»Das solltest du schön bleibenlassen – Baby.«
Diesmal reagierte Karen nicht auf das Wort. Corey fragte sich, was seine Schwester so beschäftigte. Es war dunkel, und draußen liefen ein paar Leute auf der Straße herum – na und? Was machte ihr nur so zu schaffen?
Der Schwebegleiter, dessen Engine angelassen worden war, heulte jetzt auf. Einer der Nachbarn, Mister Goulart, hatte sich im Scheinwerferstrahl aufgebaut und schrie dem Mann auf dem Fahrersitz etwas zu. Dabei hatte er sein Gewehr gehoben und zielte durch die Frontscheibe ins Wageninnere.
Corey konnte nicht verstehen, was die Männer einander zubrüllten, aber langsam wurde auch ihm mulmig bei der Sache. Was konnte einen solchen Streit auslösen, dass seine Nachbarn glaubten, mit Waffen aufeinander losgehen zu müssen?
»Ich denke, wir sollten besser verschwinden, Karen«, sagte er ungewöhnlich ernst. Sofort war seine Schwester wieder am Rand einer Panik.
»Aber wohin sollen wir denn gehen?
»Keine Ahnung. Erst mal weg von hier. Durch die Hintertür raus, damit wir denen da nicht in die Quere kommen.«
Er konnte rein gar nichts sehen, was innerhalb der Wohnung vor sich ging, doch an den Geräuschen, die Karen machte, hörte er, dass sie seinen Vorschlag angenommen hatte. Sie bewegte sich durchs Zimmer, direkt in Richtung Hintertür, und Corey folgte ihr.
Fast hatte er Karen erreicht, als er einen Schuss hörte. Dann noch einen. Und noch einen.
Corey versteifte. Eine ungekannte Macht trieb ihn, zum Fenster zurückzukehren und nachzusehen … wer da geschossen hatte, auf wen geschossen wurde, warum geschossen wurde, und was damit angerichtet wurde.
Schon wollte er sich in Bewegung setzen, da spürte er Karens Arme um seinen Hals und fand sich in einer lächerlichen Imitation von Schwitzkasten wieder.
»Bleib hier«, sagte sie dicht an seinem Ohr, so dicht, dass er ihren warmen Atem spüren konnte. »Bleib hier, Corey!«
In ihm überschlugen sich die Gedanken. Er könnte Karen leicht abschütteln. Er war schließlich 17, fast schon ein Mann. Er war stärker als sie, das wusste er (und das wusste sie), und er hätte sich problemlos aus ihrem Griff befreien und zum Fenster rübergehen können. Doch wollte er wirklich sehen, was es dort zu sehen gab?
Den Schüssen war Geschrei gefolgt.
Ein Aufschrei aus vielen Mündern, noch mehr Streit, der heftige Schrei eines Verletzten, das Wimmern eines Sterbenden … wollte er wirklich sehen, was dort vor sich ging? Wollte er … Blut sehen?
Nein. Corey traf seine Entscheidung. Er setzte sich in Bewegung und ging weiter Richtung Hintertür, und er spürte, wie Karen ihren Griff lockerte, wie sie ihn schließlich ganz losließ.
»Das brauchen wir nicht auch noch«, sagte sie in seine Richtung. »Lass uns verschwinden.«
»Aber wohin?«, fragte er mit weichgewordenen Knien. Das Abenteuer, das die plötzliche Dunkelheit versprochen hatte, war ihm plötzlich mehr als suspekt. Da hatte jemand bestimmt nicht in die Luft geschossen. Es ist auf einen Menschen geschossen worden – und das bedeutete, dass jemand verletzt worden war. Und das bedeutete, dass jemand sterben konnte. Und das bedeutete, dass das alles beileibe kein Spaß mehr war.
Es war Ernst. Bitterer Ernst.
Und mit einer solchen ernsten Situation umzugehen, das traute sich Corey dann doch nicht zu. Und so war er ganz froh, als Karen sagte:
»Zu Dad. Wir gehen zu Dad in die Firma. Er ist dort. Wir gehen zu ihm. Er wird wissen, was zu tun ist.«
Und ganz leise öffnete sie die Hintertür und huschte hinaus.
Corey folgte ihr lautlos.
*
Sie versuchten, abseits der üblichen Straßen einen Weg ins Industriegebiet zu finden, doch das war schwieriger als gedacht. Es war noch keine Stunde her, seit die Nacht pechschwarz geworden war, als sie schon erste Zusammenrottungen auf den Straßen beobachteten. Bewaffnete Patrouillen hatten Barrikaden errichtet und hielten jeden an, der an ihnen vorbei wollte. Befragten die Leute. Ließen sie passieren – oder verwehrten ihnen den Durchgang.
Karen und Corey wussten nicht, was diese Bewaffneten von den Passanten wollten, doch sie dachten, es wäre besser, nicht den selbsternannten Milizen in die Hände zu fallen; sich ihnen auf Gedeih und Verderb auszuliefern. So hielten sie sich hinter Hausecken, Vorsprüngen, Müllkübeln, parkenden Fahrzeugen, Mauern, Büschen und anderem verborgen. Jeden Vorsprung nutzten sie als Sichtschutz, jeden Kellerabgang als Schlupfloch.
Irgendjemand hatte ein paar Fackeln angesteckt und erhellte damit den Teilabschnitt einer Straße. Karen und Corey bemühten sich, außerhalb des Lichtscheins daran vorbei zu schleichen.
Immer wieder drangen Schüsse durch die Nacht. Jemand schrie.
Karen zuckte bei diesen Geräuschen zusammen. Corey legte seine Hand auf ihre Schulter und versuchte ihr gut zuzureden – mit schwindendem Erfolg.
Sie waren gerade ein paar Stufen in die Tiefe gesprungen und kauerten im Schatten einer Tiefbauwohnung, als oben auf der Straße ein Luftkissenfahrzeug mit zusätzlich angebrachtem Schweinwerferbalken einbog. Plötzlich war alles taghell erleuchtet, und Karen und Corey sahen, dass auf dem Hovercraft eine ganze Anzahl Männer saß, die sich mit einer Hand irgendwo festklammerten, in der anderen Hand ein Gewehr oder eine Maschinenpistole hielten. Die Gesichter dieser Männer machten ihnen Angst. Sie schienen sich wie die neuen Herren von Wormss zu fühlen, strotzten vor Stolz, Machtgier, auch Niedertracht.
Auf einen Hund, der dem Wagen in den Weg lief, wurde kurzerhand geschossen. Der Hund konnte sich gerade noch jaulend hinter eine Hausmauer retten.
Zwei ältere Personen, augenscheinlich ein Ehepaar, gerieten in den Kegel des Scheinwerfers. Sofort sprangen vier, fünf Männer ab und trieben sie vor den Wagen. Dieser hielt an, und ein bärtiger Typ Mitte 40 in einem weinroten Mantel stieg aus. Er schien der Anführer dieses Trupps zu sein, denn man brachte das Ehepaar vor ihn, und alle hörten auf seine Befehle.
Karen und Corey konnten nicht hören, was gesprochen wurde, doch es konnte nichts Gutes sein; die grauhaarige Frau schrie plötzlich auf und schlug die Hände vor den Mund. Der Anführer deutete auf die beiden älteren Leute, und jemand zog den Abzug seiner Maschinenpistole durch.
An Ort und Stelle wurden sie niedergemäht.
Danach stiegen die Bewaffneten auf das Fahrzeug, der Anführer nahm seinen Platz wieder ein, das Hovercraft fuhr weiter.
Corey spürte, wie seine Schwester vor Angst zitterte. Er legte seinen Arm um sie in der Hoffnung, dass die Berührung sie tröstete.
»Wir müssen weiter, Karen. Komm, wir müssen weiter. Wir müssen zu Dad!«
Er hoffte, dass die Erwähnung ihres Vaters sie beruhigte.
Sie schlichen ein paar Meter geduckt und lautlos unterhalb der Straße entlang, er voraus, sie hinterher, bis der Absatz endete, dann stiegen sie eine abschüssige Grasfläche hinauf. Das Fahrzeug mit dem Scheinwerferbalken war verschwunden und hatte die Straße in tiefer Finsternis zurückgelassen.
Karen zwang sich, nicht an die beiden Toten zu denken, sie hinter ihnen lagen.
Sie fragte sich, ob es richtig war, einfach so fortzuschleichen. Sollte sie nicht besser umkehren und zu ihnen zurückgehen, um nach ihnen zu sehen? Doch wenn sie tot waren, gab es nichts, was sie für die beiden noch tun könnte.
Und wenn sie nicht tot sind?, hämmerte es in ihrem Kopf. Wenn sie noch leben? Wenn sie nur schwerverletzt sind? Wenn sie daliegen, stöhnen und auf Hilfe hoffen? Auf irgendjemanden, der ihnen hilft, der einen Arzt ruft und …
Der Gedanke machte sie ganz irr, und sie zwang ihn gewaltsam in eine andere Richtung. Dort vorne … irgendwo in der Dunkelheit … lag das Industriegebiet. Dort war das Bürogebäude, in dem ihr Vater arbeitete. Darauf musste sie sich konzentrieren.
Denn selbst, wenn die alten Leute noch lebten, wenn man durch Hinzuziehen eines Arztes sie noch retten konnte, selbst dann war Karen nicht in der Lage, ihnen zu helfen, denn sie kannte keinen Doktor, noch hatte sie die Möglichkeit, einen zu rufen. Und selbst medizinische Hilfe in irgendeiner Form leisten konnte sie auch nicht.
Nein, es hatte keinen Sinn. Sie musste sie einfach vergessen – so schlimm es sich auch anhörte.
Denk’ lieber an deinen Dad!, rief sie sich in Gedanken zu. Wir müssen zu Dad, müssen sein Büro erreichen!
Obwohl sie sich kaum besser fühlte, schlich sie weiter. Immer weiter, immer hinter Corey her, der die Führung übernommen hatte. Hin und wieder schaute er sich um – das hieß, er versuchte es –, um sich zu vergewissern, dass seine Schwester noch hinter ihm war. Immer wieder legte er kleine Pausen ein, bis sie keuchend zu ihm aufgeschlossen hatte.
Er ist nett, dachte sie. Er lässt mich nicht allein zurück. Er hat viel mehr Kraft als ich, und dies ist eine Situation, in der wir beide es merken. Doch er lässt mich nicht allein zurück.
Und plötzlich war da ein Gefühl der Dankbarkeit, das Karen durchströmte.
Dieses neue Gefühl gab ihr die Kraft, eine ganze Zeit lang gut durchzuhalten. Cory hatte die Führung übernommen, und Karen hechelte hinter ihm her. In der Dunkelheit war es schwer, die Orientierung zu behalten, doch irgendwie schien Corey es zu schaffen, selbst in den ihnen unbekannten Teilen der Stadt immer weiter in Richtung Industriegebiet vorzurücken.
Jetzt knallte es wieder. Eine ganze Salve von Schüssen gingen rechts von ihnen hoch. Schwenkende Lichter (Taschenlampen?), und rennende Schatten, die sich gegen Wände abzeichneten.
In einer dieser Schussfolgen sahen sie einen dieser Schatten sterben. Er schrie auf, sie hörten ganz deutlich seinen Schrei, der Schatten wuchs in die Höhe, versteifte sich, dann kippte er um.
Es bestand kein Zweifel: Obwohl sie nur einen Schatten gesehen hatten, war da gerade ein Mensch gestorben.
Wieder ein Mensch …
Was taten die Menschen einander an?
Sie rannten noch schneller, denn das flackernde und jetzt wieder erloschene Licht hatte ihnen den Weg gezeichnet. Dann stürzte Corey über ein paar Mauertrümmer, die dort nicht liegen sollten, und Karen stürzte prompt auf ihn drauf.
Die Mauertrümmer waren rau und scharfkantig und spitz, und sie rissen sich eine ganze Reihe blutiger Schrammen an Ober- und Unterarmen und an den Schienbeinen. Vor Schmerz schrien sie auf.
Eine Weile lang blieben sie liegen und stöhnten, wälzten sich auf den Rücken und drückten sich die schmerzenden Stellen, und hofften dabei, dass ihre Schreie von niemandem gehört worden waren; zumindest nicht von Leuten, die Gewehre in den Händen hielten.
Dann klang der Schmerz ab, und ein angenehmeres Gefühl rollte durch ihre Körper. Sie rappelten sich wieder auf die Beine.
»Gleich haben wir’s geschafft«, ächzte Corey und verbiss den letzten Schmerz, der ihm zusetzte. »Ich habe dort drüben ein freies Feld gesehen. Dort ist niemand. Niemand hat Interesse daran. Wenn wir es bis dorthin schaffen, Karen, sind wir fürs Erste in Sicherheit.«
»M-meinst du wirklich?«
»Sicher. Immer mir nach, Schwesterlein.«
Corey übernahm wieder die Führung, und Karen war ihm dankbar dafür. Es tat gut, einen Bruder zu haben, der wusste, was in einer solchen Situation zu tun war.
Nach wenigen Minuten erreichten sie das »Feld«, und es stellte sich heraus, dass es sich um ein brachliegendes Baugrundstück handelte, auf dem vor vielen Jahren einmal ein Hochhaus gestanden hatte. Vor einiger Zeit war es abgerissen worden, und die Stelle wurde sich selbst überlassen. Sie war lehmig und wellig, und auf ihr wucherte der Wildwuchs. Hohe Gräser, stachelige Wisteln und scharfkantiger Rohfarn hatten das Gelände annektiert, das nun darauf wartete, irgendwann erneut bebaut zu werden.
Sie verließen die von Menschen gemachten Wege und betraten das Baugrundstück. In der Schwärze waren sie nicht zu sehen, nur das Rascheln des Grases war zu hören.
Corey schätzte, dass sie ungefähr die Mitte des Grundstücks erreicht hatten, und ließ sich auf die Erde fallen.
»Komm, setz’ dich zu mir. Hier können wir ein bisschen verschnaufen.«
Er hörte und spürte, wie Karen sich an seinen Sitzplatz herantastete. Selbst die in der Ferne hin und wieder erfolgenden Detonationen von Granaten oder Sprengkörpern erhellten nicht so viel von ihrer Umgebung, dass etwas zu sehen gewesen wäre.
Schließlich hatte sie einen geeigneten Platz gefunden und setzte sich. Als die Anspannung von ihr Abfiel, überkam sie eine große Traurigkeit. Hoffnungslosigkeit. Verzweiflung.
Bisher waren sie immer irgendwie auf Trapp gehalten worden, hatten immer irgendetwas getan. Jetzt, wo sie ruhig dasaßen und ihre schmerzenden Lungen sich beruhigten, hatten sie Zeit, über das hinter ihnen Liegende nachzudenken. Doch das war keine gute Idee. Denn noch hatten sie ihr Ziel nicht erreicht. Hier waren sie im Moment in Sicherheit, aber hier konnten sie nicht bleiben.
Und doch brach es nun aus Karen heraus. Sie schluchzte, und Tränenbäche liefen ihr über die Wangen. Sie hyperventilierte und rang nach Luft.
Corey rückte näher, setzte sich direkt neben sie, sodass ihre Körper sich berührten und sie die Wärme des jeweils anderen spürten. Er legte den Arm um ihre Schulter.
»Hör zu, Karen. Alles wird wieder gut. Bald werden wir bei Dad sein, dann wird alles gut. Er kann uns bestimmt erklären, was hier los ist, und er kennt eine Lösung. Wir müssen nur durchhalten. Verstehst du? Durchhalten.«
Sie nickte unter Tränen.
Das, was er sagte, tat zwar gut, aber es gelang ihr nicht, die Betroffenheit aufgrund von Worten abzuschütteln. Sie hatte innerhalb einer Stunde mehr Gewalttat und Tod gesehen, als in ihrem ganzen vorherigen Leben.
»Ich sah, wie Mister Goulart sein Gewehr auf den Fahrer gerichtet hat. Die Schüsse … bestimmt hat er ihn erschossen. Es war gut, dass wir nicht hingesehen haben, Corey. Es war gut. Der Fahrer war Mr. Sharp. Mr. Goulart arbeitet bei der Post, und Mr. Sharp ist Lehrer an der Guttenberg School. Ich fasse es nicht, Corey, das sind ganz normale Menschen, die wir seit Jahren kennen, neben denen wir seit Jahren leben – und nun bringen sie sich gegenseitig um!«
»Sie sind verrückt geworden«, sagte Corey. »Anders kann ich mir das nicht erklären.«
»Meinst du, da ist etwas im Trinken? Im Essen? Im Wasser?«
Corey zuckte mit den Schultern. Dann merkte er, dass sie es in der Dunkelheit nicht sehen konnte, und sagte:
»Keine Ahnung. Aber falls ja, dann hätte es uns doch auch erwischen müssen. Ich spüre jedenfalls nichts.«
»Ich auch nicht«, räumte Karen ein, »außer einer riesengroßen Angst.«
»Die habe ich auch«, gestand Corey, »aber wir müssen trotzdem weitermachen, Karen. Ich möchte zu Dad, und dann wird alles besser. Davon bin ich überzeugt.«
»Findest du in der Dunkelheit sein Büro überhaupt?«
»Na hör mal! Du sprichst mit Mister In-between!«
Sie lachten beide.
»Ja, du bist zwischen Tür und Angel, zwischen Fisch und Fleisch, zwischen normal und verrückt.«
»Ich bin der Puffer zwischen diesen Verrückten und dir!«, sagte Corey nachdrücklich. »Geht’s wieder?«
»Ja«, sagte Karen, und Corey spürte, wie sie ihn kurz umarmte und drückte. »Ich bin froh, dass ich dich habe, Brüderchen! Was täte ich nur ohne dich.«
»Na siehst du. Und jetzt lass uns weitergehen, sonst sind wir morgen früh noch nicht da.«
*
Sie erreichten das Bürogebäude in der Pelican Lane erst nach Tagesanbruch, denn die ganze Nacht über war es stockdunkel geblieben und Corey hatte sich tatsächlich das ein oder andere Mal verirrt. Doch im Morgengrauen, als die Nebel durch die Straßen waberten und alles – Gebäude, Wege, Bäume, Gärten, Sitzbänke, Schwebelaternen – eine gräuliche Färbung angenommen hatte, erreichten sie endlich das Industriegebiet.
Ihre aufkommende Freude wurde bald durch deutliche Spuren von Gewalt gedämpft. Hier und da waren Granaten explodiert. Schwarze Stellen auf dem Teer und an Betonwänden sprachen eine deutliche Sprache. Gleiter und Schweber lagen umgekippt auf dem Dach; Glasscheiben waren in kleinen Krümeln herausgebrochen. In einigen Häusern waren Einschusslöcher zu entdecken; dort waren Mauerputz oder auch Betonfragmente abgeplatzt. Scheiben waren in blinder Wut eingeschlagen worden.