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Eine neue Flut
Arkadia ist eine paradiesische Wasserwelt, umkreist von sechs Monden. Schon vor Jahrzehnten siedelten sich Menschen dort an, doch alle 52 Jahre tritt eine Konstellation ein, bei der alle Monde in einer Reihe stehen und eine Springflut auslösen. Die Siedler verhielten sich dabei merkwürdig: einige von ihnen gingen wie willenlose Marionetten ins Wasser, um sich von Haien zerfleischen zu lassen. Wissenschaftler fanden heraus, dass sich die winzigen Meeresbewohner in der Flut zu einer Art kollektiver Intelligenz zusammenschließen, die starke PSI-Impulse aussendet. Die Siedler bekommen es mit der Angst zu tun und wollen Arkadia verlassen, doch die Hetherington-Organisation bietet ihnen Hilfe an: Mittels der Brontomeks, gewaltigen Maschinen, soll Arkadia sicher gemacht werden – doch welchen Preis das erfordert, erfahren die Siedler erst, als es schon fast zu spät ist …
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Seitenzahl: 472
MICHAEL CONEY
BRONTOMEK!
Roman
Arkadia ist eine paradiesische Wasserwelt, umkreist von sechs Monden. Schon vor Jahrzehnten siedelten sich Menschen dort an, doch alle 52 Jahre tritt eine Konstellation ein, bei der alle Monde in einer Reihe stehen und eine Springflut auslösen. Die Siedler verhielten sich dabei merkwürdig: einige von ihnen gingen wie willenlose Marionetten ins Wasser, um sich von Haien zerfleischen zu lassen. Wissenschaftler fanden heraus, dass sich die winzigen Meeresbewohner in der Flut zu einer Art kollektiver Intelligenz zusammenschließen, die starke PSI-Impulse aussendet. Die Siedler bekommen es mit der Angst zu tun und wollen Arkadia verlassen, doch die Hetherington-Organisation bietet ihnen Hilfe an: Mittels der Brontomeks, gewaltigen Maschinen, soll Arkadia sicher gemacht werden – doch welchen Preis das erfordert, erfahren die Siedler erst, als es schon fast zu spät ist …
Titel der Originalausgabe
BRONTOMEK!
Aus dem Englischen von Hans Maeter
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 1976 by Michael Coney
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Der Strand war ein langer Halbmond aus Sand, der in der Sonne so hell schimmerte, dass ich meine Sonnenbrille wieder aufsetzen musste. Eine große Anzahl von Menschen stand dort – und alle, ohne Ausnahme, blickten auf die See hinaus. Das Wasser war flach, kleine Wellen rollten von weit her langsam zum Ufer. Hinter der Linie der Brecher sah ich Bewegung, schwarze Flossen, die hin und her zogen.
Ein Mädchen stand in der Nähe, ein großes, sonnengebräuntes Mädchen, das so aussah, als ob es hier zu Hause wäre und mir sicher einiges erklären könnte. Ich blickte sie eine Weile an und versuchte, Mut zu sammeln. Sie war hübsch, auf eine sonnengebräunte Art; ihr Haar von der Sonne gebleicht, und ich sah einen weißen Streifen über dem Oberteil ihres Bikinis, dessen durchsichtiges Material sie so weit heruntergezogen hatte, wie sie es wagte. Meine Füße machten nicht das geringste Geräusch im Sand, also räusperte ich mich, als ich zu ihr trat, doch sie blickte mich noch immer nicht an.
»Was ist los?«, fragte ich. »Ist da draußen jemand in Schwierigkeiten?«
Sie antwortete nicht. Sie stand reglos, als ob sie auf etwas lauschte. Ich konnte ihrem Gesichtsausdruck nichts entnehmen.
Ich wandte mich um und blickte zur Stadt zurück. Häuser starrten mich mit leeren Fenstern an; eine Handvoll Menschen suchten sich ihren Weg zwischen geparkten Hovercars, um sich der anschwellenden Menge am Strand anzuschließen. Etwas näher, wo ein langer, schmaler Sandstein aus dem Boden wuchs, der sich fast bis zum Ufer erstreckte, stand ein Mann und streckte beide Arme in die Luft. Er sagte irgendetwas, ich konnte die Worte nicht verstehen, kannte jedoch den beschwörenden Tonfall, der von Wanderpredigern und Hausierern mit Quacksalbermedizin verwandt wird.
Ich hatte mich noch nie so allein gefühlt …
Zwei Stunden früher hatte ich versucht, aus der Stadt zu gelangen. Ich war die Straße nach Premier City entlanggefahren und nach einer Weile durch eine Straßensperre aufgehalten worden.
Ein uniformierter Soldat hatte den Kopf durch das offene Fenster meines gemieteten Hovercars gesteckt und gesagt: »Sieh zu, dass du so schnell wie möglich wieder dahin zurückfährst, wo du hergekommen bist.«
»Was ist denn los?«, fragte ich. »In Oldhaven konnte ich von keinem Menschen eine klare Antwort bekommen.«
»Wenn du es nicht weißt, habe ich erst recht keine Ahnung.«
In der Nähe lehnten mehrere Soldaten an ihrem Fahrzeug und grinsten. Im Inneren des Hovercars wurde es heiß. Schweiß brach irgendwo hinter meinen Ohren aus und rann unter mein Hemd. Ich wollte so rasch wie möglich weiterfahren, doch ich wollte auch reden. Und ich wollte nicht nach Oldhaven zurück, wo die Zombies waren.
»Hört mal, warum könnt ihr mich nicht durchlassen? Ich bin erst vor ein paar Stunden hier durchgekommen, und da war noch keine Sperre.«
Ein zweiter Soldat schlenderte heran und mahlte auf einem Kaugummi herum. Er stützte sich auf das Wagendach, steckte den Kopf durchs Fenster und sagte mit eklig starkem Pfefferminzaroma: »Niemand aus Oldhaven darf hier mehr durch – das ist unser Befehl. Wenn du die Straße von Premier City entlanggefahren bist, musst du doch die Flüchtlingslager gesehen haben, Jesus! Sie haben nichts zu essen, keine Toiletten, und nicht genug Wasser. Bleib in Oldhaven, bis diese Sache vorbei ist, okay?« Seine Stimme war nicht unfreundlich.
»Und wie lange wird das dauern?«
»Das kann ich auch nur raten.«
»Mein Gott, ich bin erst heute auf diesem gottverdammten Planeten gelandet.«
»Hast du dein Immunol?«
Ich fingerte die Flasche mit den kleinen, weißen Tabletten heraus. »Sie haben mich in Premier City damit versorgt.«
»Na, dann kann dir ja nichts passieren. Wenn du in Oldhaven keine Kämpfe gesehen hast, bedeutet es, dass alles in Ordnung ist. Vielleicht ist die ganze Sache schon vorbei. Ich weiß es nicht. Und jetzt tu mir den Gefallen und fahr zurück. Sonst müsste ich dich leider ein wenig ansengen«, setzte er bedauernd hinzu und fingerte sein Lasergewehr.
Ich nahm eine Pille und startete den Motor.
»Man hätte dir in Premier City Bescheid sagen sollen«, sagte er. »Aber vielleicht hast du nicht gefragt. Du bist auf dem Raumhafen gelandet, hast dir einen Wagen geliehen und bist einfach losgefahren, wie? Schade. Schade, dass niemand es für nötig gehalten hat, dir etwas von dem Problem zu berichten, das wir gerade auf Arkadia haben. Wenn du mich fragst«, fuhr er fort, »glaube ich, dass die Leute in Premier City sich schämen. Sie schämen sich, dass etwas passiert ist mit dem sie nicht fertig werden. Pech gehabt. Also, wie gesagt, verschwinde, Mann.«
Lächelnd schob er den Sicherungsflügel seiner Waffe nach vorn. Ich hörte nur ein leises Summen, als ein Blitz unsichtbaren, heißen Lichts an meiner Nase vorbei und aus dem anderen Fenster zuckte.
Also fuhr ich nach Oldhaven zurück.
Ich überprüfte noch einmal die Adresse auf dem Interspace Telex, das ich von der Erde mitgebracht hatte, und stellte fest, dass ich beim ersten Mal Recht gehabt hatte. Also fuhr ich wieder nach Nr. 1678 Second Avenue, parkte das Fahrzeug und klingelte – dann hämmerte ich gegen die Tür. Ich machte genug Krach, um die ganze Straße aus der Siesta zu wecken, doch es meldete sich niemand. Beckenbauer war nicht zu Hause. Mein einziger Kontakt auf diesem Planeten war nicht erreichbar.
Dann hörte ich hinter mir ein Geräusch, ein konzentriertes Schlurfen, wie von vielen Füßen. Ich fuhr herum, und mein Herz raste. In der Stille hatte der Laut mich erschreckt. Eine Reihe von Tieren zog die Straße entlang, auf den Strand zu. Sie hatten Ähnlichkeit mit den Kühen der Erde: eckig, mit hervorstehenden Knochen, doch die weißen Clownsgesichter wirkten eher wie die von Ziegen. Sie torkelten von einer Seite zur anderen, während sie mit pendelnden Eutern die Straße entlanggingen. Das Leittier blieb stehend, als es mich entdeckte, und die anderen schlossen dicht auf. Ihre Ordnung kam für einen Augenblick durcheinander, als sie mich unsicher anblickten.
Ich wurde etwas nervös angesichts ihrer Überzahl. Ich erkannte die Tiere nach Bildern, die ich gesehen hatte, als Arkühe, doch war ich mir nicht sicher über ihr Temperament. Sie sahen zwar recht harmlos aus – aber ich hatte das unheimliche Gefühl, als ob sie von der Stadt Besitz ergriffen hätten. Schließlich schienen sie zu tun, was sie wollten. Es war kein Mensch da, der sie in ihre Ställe zurücktreiben konnte.
Dann begannen sie, ohne mich aus den Augen zu lassen, sich an mir vorbeizudrücken. Sie hatten genauso viel Angst wie ich.
Ich stieg wieder in den Wagen und fuhr zum Strand zurück; wohin hätte ich sonst gehen sollen. Ich sah keine weiteren Tiere auf den verlassenen Straßen, und auch keine Menschen.
Inzwischen war die Menge am Strand zu einer riesigen Menschenmasse angewachsen. Die meisten standen dicht beim Wasser, aber andere hatten sich auf den Sand gesetzt und blickten zwischen den Beinen der Stehenden hindurch auf die See hinaus. Ich entdeckte ein kleines Mädchen in meiner Nähe; sie war etwa neun Jahre alt und schien wacher zu sein als die meisten anderen hier. Sie saß allein und schaufelte mit den Händen Sand zu ordentlichen kleinen Haufen.
Ich kniete mich neben sie. »Wie heißt du?«, fragte ich.
Sie blickte mich an. Ihre Augen waren fast ohne Ausdruck.
Ich erinnerte mich an etwas. Ich zog die kleine Flasche aus meiner Tasche und bot ihr eine Immunol-Tablette an.
Sie schüttelte energisch den Kopf.
»Nur eine«, drängte ich. »Oder sag mir deinen Namen!«, setzte ich hinzu, um ihr eine Alternative zu geben.
»Wendy.«
»Wo sind deine Eltern?«
Sie deutete den Strand entlang.
»Warum sind alle Menschen hier, Wendy?«
»Deswegen.«
»Wegen was?«
»Das Geben.«
»Was?«
Plötzlich sah mir das Mädchen direkt in die Augen. »Lass mich in Ruhe, du dummer Bastard! Du bist keiner von uns. Du darfst nicht dabeisein.« Ihre kleinen Finger gruben enge, tiefe Zickzacklinien in den Sand und zerstörten die Haufen. »Verschwinde aus Oldhaven! Geh zurück zur Erde, wo du hingehörst! Baue deine Boote irgendwo anders! Wir brauchen dich hier nicht, Kevin Moncrieff!«
Eine der Nebenwirkungen des Immunols ist eine euphorische Taubheit der Sinne. Ich lächelte Wendy an und stand auf, und unterdrückte die Furcht, die sich durch die Wirkung der Droge ihren Weg nach oben bahnen wollte.
Eine Reihe von Arkühen trottete zwischen den Menschen durch den Sand, in dem ihre breiten Hufe tiefe Abdrücke hinterließen. Sie erreichten das flache Wasser und trotteten ohne Pause weiter, als ihre Hufe einsanken und Wasser ihre schlanken Beine umspülte. Das Leittier blickte mich an, als es an mir vorbeiging, und ein Ausdruck des Wiedererkennens trat in die ziegenartigen Augen.
»Woher kennst du meinen Namen?«, fragte ich Wendy.
»Du kennst ihn – also kenne auch ich ihn. Und jetzt geh zu deinem Wagen zurück!«
Ich machte ein paar Schritte rückwärts, als sie mich anstarrte. Die Immunol-Tabletten waren noch immer in meiner Hand; ich fummelte nach einer, so wie ein Mann in einem kritischen Augenblick nach einer Zigarette fummeln mag. Doch ich nahm keine. Irgendwie schien es, als ob meine Hand die kleine, weiße Pille nicht zum Munde führen wollte. Ich verschloss die Flasche und steckte sie in die Tasche zurück.
Wendy lächelte mich jetzt an; mit dem offenen Lächeln eines Kindes, hinter dem jedoch etwas anderes lag. »Vielleicht solltest du doch bleiben, Kev«, sagte sie.
Und ich dachte: das ist vielleicht eine gute Idee … Vielleicht war dies gar kein so schlechter Ort. Die Sonne schien zwar ziemlich warm, doch wehte eine angenehm kühle Brise von der See her. Menschen wateten in den kleinen Uferwellen; etwas weiter entfernt, auf einer oberhalb des Strandes gelegenen Wiese, sah ich Arkühe grasen. Ich fragte mich, warum sie nicht hier unten bei uns waren. Die anderen Arkühe waren jetzt ein gutes Stück in der See, bis zum Hals im Wasser; wahrscheinlich schwammen sie. Ich sah, wie ihre Köpfe hin und herfuhren, und dass kleine Fontänen aufspritzten, als sie zu den Fischen hinab sanken, sich dem Ozean Arkadias gaben …
Wendy war aufgestanden und umfasste meine Hand mit ihren kleinen, sanften Fingern.
»Komm, Kev!«, sagte sie.
Ich zögerte.
»Es ist Zeit«, sagte sie. »Wenn du jetzt nicht kommst, wirst du zurückgelassen.«
Sie hatte Recht. Alle Menschen waren jetzt im Wasser, schritten stetig voran, die Augen auf den Horizont gerichtet. Alle. Es war unrecht von mir, zurückbleiben zu wollen. Ich ließ mich von der Menge mitziehen, und das Wasser füllte meine Schuhe, kroch eisig die Waden hinauf.
Ein Zelot rechts von mir schrie irgendein Gebet; ein Teil meines Bewusstseins wünschte, er würde den Mund halten. Ich brauchte Zeit zum Denken. Ich schien mich hier in etwas hineinziehen zu lassen, das ich nicht verstand.
»Du brauchst es auch nicht zu verstehen«, sagte Wendy, die durch die kleinen Wellen hüpfte und an meiner Hand zerrte, »du brauchst nur zu geben! Gib!«
Andere nahmen den Ruf auf. »Gib … gib … gib!« Es wurde zu einer Beschwörungsformel, monoton und hypnotisch, im Rhythmus mit dem Pulsieren der Wellen, die jetzt meinen Unterleib erreichten, herabfielen, wieder höher stiegen, gegen meinen Brustkorb plätscherten.
Weiter voraus ertönte ein Schrei.
Eine Frau schlug wild mit den Armen um sich, wirbelte dunkelroten Schaum auf, während sie gegen ein schwarzes Ding ankämpfte, das sich an ihrer rechten Brust festgebissen hatte. Ein Mann watete auf sie zu – und versank um sich schlagend im Wasser.
»Was, zum Teufel, geht hier vor?«, schrie jemand. »Was tun wir überhaupt hier?« Ein untersetzter Mann in einer dunklen, durchnässten Jacke wandte sich mir zu, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht vor Angst verzerrt. »Mein Gott!«, schrie er und schlug das Wasser mit den Händen, um rascher vorwärtszukommen. Er taumelte und blieb stehen, und ein Ausdruck namenlosen Entsetzens trat auf sein Gesicht, als er mit seinen Füßen zerrte und trat, um sie von etwas zu befreien, das sie festhielt. Das Wasser um ihn herum färbte sich rot, und er schrie unaufhörlich in einer so hohen Tonlage, dass es fast wie Pfeifen klang, während er mit hocherhobenen Armen umherhüpfte und um sich stieß, wie ein Mann, der einem springenden Hund auszuweichen versucht.
Wendy hörte auf mich voranzuziehen und begann zu weinen.
Überall um uns herum brachen sichelförmige Flossen durch die Wasseroberfläche, und Menschen versanken, schreiend und um sich schlagend. Ich lief mit schwerfälligen, taumeligen Schritten, während ich versuchte, aus dem Wasser zu kommen und den Strand zu erreichen. Einmal versank mein Fuß in einem Loch, und ich stürzte, und ich schwöre, dass ich unter Wasser geschrien habe, bevor ich wieder auf den Beinen war und mich weiterkämpfte, bis ich endlich trockenen Sand unter den Füßen spürte und zusammenbrach.
Es dauerte eine lange Zeit, bevor ich den Kopf heben und über meine Schulter auf das Meer zurückblicken konnte.
Es war jetzt wieder ruhig dort …
Eines Abends saß ich mit einem Mädchen auf der Hafenmauer; in dem Durcheinander und dem Zusammenbruch der Ordnung in der Sub-Kolonie gab es viele solche Zufallsbeziehungen, bevor die Menschen wieder in ihr normales Leben zurückgefunden hatten.
»Seit fünfzig Jahren haben sie gewusst, dass dies geschehen wird«, sagte sie, »aber niemand hat irgendwelche Vorkehrungen getroffen. Diese Bastarde …« Alle sechs Monde Arkadias standen am Himmel, und die Nacht war fast so hell wie der Tag, als wir eine formlose Gestalt mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser treiben sahen. Viele der Wohneinheiten hinter uns waren ausgebrannte Ruinen; der scharfe Geruch erloschener Brände mischte sich mit dem Gestank des Todes.
Der Hafen war klein, kompakt und rechteckig, mit einer schmalen Zufahrt. Leuchtende Linien bedeckten das Wasser an einigen Stellen entlang den Hafenmauern, wie die Schleimspuren von Schnecken bei Sonnenaufgang. Billionen von Planktontierchen riefen dieses Leuchten hervor, eine unzählbare Masse winziger Lebewesen, denen die Gehirne das Leben geschenkt hatten, und die nun ihren Weg aus dem Hafen ins offene Meer suchten. Das Mädchen blickte auf die leuchtenden Bahnen, während sie sich allmählich von den Mauern lösten und an der Hafeneinfahrt konzentrierten.
»Die Gehirne sind noch immer da«, sagte sie. »Spürst du sie?«
»Jetzt nicht.« Ich nahm eine Immunol-Tablette und bot auch ihr eine an.
»Die Schwarzfische haben sie beschützt, während sie gebaren«, sagte sie langsam und ignorierte die kleine Flasche mit den Tabletten, »und zum Dank dafür haben sie den Schwarzfischen Futter gegeben. Ein fairer Handel, soweit es sie betraf. Aber warum haben sie auch uns mit hineingezogen? Wir wollten ihnen doch nichts Böses.«
»Vielleicht haben sie das nicht gewusst.«
Ich blickte auf eine Lichtbahn, die wie eine in unheimlichem Licht glühende Schneise wirkte. Dann schob sich eine Wolke vor den Mond Daleth, und das Wasser wallte in konzentrischen Ringen auf, und das Ding dümpelte dort, und glühte im matten Licht …
Es trieb weniger als zehn Meter von uns entfernt, eine glühende Kugel, kaum größer als ein menschlicher Kopf. Wir starrten es an, fasziniert, entsetzt, angewidert; ein Gestank von faulendem Fisch wehte herüber zu uns. Das Ding drehte sich langsam um die eigene Achse, dann schnellte es sich in die Luft und landete wieder im aufspritzenden Wasser – drei Meter näher.
»Was, zum Teufel …« Das Mädchen sprang auf.
Dann sahen wir die Rückenflossen der Schwarzfische, die das Ding umkreisten, und es dann hin und her stießen, als sie mit ihren scharfen Zähnen Fetzen aus dem sterbenden Fleisch rissen und es geräuschvoll verschlangen …
Und überall entlang der Hafenmole stiegen weitere Gehirne empor und trieben auf dem Wasser, und das Glühen erlosch, als sie starben, nachdem sie ihre Aufgabe für die nächsten zweiundfünfzig Jahre erfüllt hatten.
Der Scotch Whisky Arkadias ist gut, um eine beschauliche Stimmung hervorzurufen, doch eine lausige Sache für Kreativität.
Ich bin von Swindons Wohneinheit nicht direkt nach Hause gegangen, sondern habe einen Spaziergang entlang dem Weg gemacht, welcher dem nördlichen Höhenzug folgt, und immer, wenn ich irgendwo zwischen den Bäumen etwas aufblitzen sah, blieb ich stehen und blickte den Berghang hinab zum Wasser. In dieser Nacht standen vier Monde am Himmel, und ihre Reflexionen waren überall, tanzten in den schnelleren Strömungen, wirbelten in den Rückstaus, beobachteten mich mit silbernen Augen aus den stillen Wassern kleiner Buchten.
Genau wie die Monde reflektierte auch ich, sah meine Kindheit, die Mädchen, die ich gekannt hatte, erinnerte mich an die Jobs, die ich verloren hatte, erlebte noch einmal die Frustration, die mich dazu gebracht hatte, vor zwei Jahren nach Arkadia auszuwandern; die anfänglichen Schrecken des Relais-Effekts, und mein relativer Erfolg seit jener Zeit.
Ich blieb wieder stehen, an einer Stelle, wo das steile Ufer vor langen Jahren eingestürzt und eine Masse von Sand und Steinen in die schmale Bucht geglitten war, die der ›Ankerteich‹ genannt wurde. Es war ein geheimnisvoller und romantischer Ort, und ich wünschte, ich hätte ein Mädchen bei mir gehabt, um es zu küssen. Das Mondlicht glitzerte auf einer Metalltafel, die in einen Felsen eingelassen war.
ZUR ERINNERUNG AN
REVEREND EMMANUEL LIONEL BLOOD
POLIZEIOFFIZIER WILLIAM CLARKE
ERIC PHIPPS
ALAN PHIPPS
ALFRED BLACKSTONE
›SIE STARBEN, DAMIT WIR GERETTET WERDEN.‹{1}
Ich ging weiter, noch immer reflektierend, noch immer nicht kreativ denkend.
Jane Swindon hatte gesagt: »Ein Mann sollte spätestens mit zweiunddreißig heiraten, Kevin. Oder vielleicht schon mit zweiundzwanzig. Unverheiratete Männer wirken irgendwie unsauber – Anwesende natürlich ausgeschlossen.«
Und Professor Mark Swindon hatte gesagt: »Ich meine, sieh dir doch zum Beispiel diesen Will Jackson an. Unheimlich geradezu. Eine Frau kann nicht ihre Wäsche zum Trocknen aufhängen, wenn dieser Kerl sich irgendwo im Umkreis von fünf Kilometern aufhält. Und Vernon Thrale – ein Volkstanz-Fan. Letzte Woche habe ich ihn in einem Kittel auf der Straße gesehen! Und du solltest auch etwas selbstkritischer sein, Kev. Gestern habe ich dich gesehen, wie du auf der Straße mit Lucy Sung gesprochen hast. Die ist doch höchstens fünf Jahre alt!«
Und so war das alte Thema wieder einmal hervorgezerrt worden, hatte seine periodische halb-ernste Kommentierung erfahren, und würde wieder vergessen werden – bis zum nächsten Mal …
Schließlich wandte ich mich um und machte mich auf den Heimweg. Natürlich fühle ich mich manchmal einsam. Tut das nicht jeder, selbst ein verheirateter Mensch? Und wenn ein Mann sein Geschäft aufbauen muss, wenn er versucht, es einigermaßen heil durch eine wirtschaftliche Rezession zu bringen, und wenn er außerdem in einer Gemeinde lebt, die von den jüngeren Leuten verlassen wird, sobald sie alt genug dazu sind – gibt es nicht viele Möglichkeiten zur Liebe.
Leute wie die Swindons können gelegentlich zu einer Plage werden. Sicher in ihrem eigenen, gemeinsamen Glück verspüren sie den Drang, den man sonst eher bei Jehovahs Zeugen und Junkies findet, nämlich alle anderen Menschen zu ihrer Denk- und Lebensart zu konvertieren.
Die Menschenmenge auf dem Hafenkai stand schweigend. Ich sah, dass Kinder unruhig wurden; ihre Eltern riefen sie geistesabwesend zur Ordnung, ohne den Blick von der Stelle zu wenden, wo das Silberband des Wassers hinter einer Reihe dichtstehender, dunkler Bäume verschwand. Neben mir standen Mitglieder des Regatta-Komitees. Sie waren verständlicherweise nervös. Mehr als fünfhundert Menschen hatten an diesem Frühlingstag die Fahrt nach Riverside unternommen, fünfhundert Kolonisten, die den Problemen, welche unsere Welt bedrängten, für eine Weile zu entkommen suchten.
Diese Menschen wollten unterhalten werden. Sie erwarteten, unterhalten zu werden. Und es gibt kaum Menschen, die ungemütlicher werden können, als solche, die man unerwartet ihrer Unterhaltung beraubt. Geht doch einmal am Abend in den Riverside Social Club und nehmt Chill Kaa sein Bier weg, wenn ihr mir nicht glaubt.
Mortimore Barker stand ein paar Schritte von mir entfernt, eine riesenhafte Gestalt in einem bunt karierten Hemd, die Hose von einem breiten Lederriemen gehalten.
»Wo, zum Teufel, bleiben sie denn?«, fragte ich.
Der Werbeagent lächelte breit. »Reg dich nicht auf, mein Junge! Die warten nur auf ein bisschen Sonne. Ah … jetzt geht es los!«
Die Sonne trat hinter einer Wolke hervor und blendete uns, Worrals zwitscherten in den Zweigen der Bäume, winzige Mewlers glänzten über dem Wasser, als sie mit schwirrenden Flügeln auf der Stelle verhielten und Plankton von der Oberfläche pickten. Aus der Ferne hörten wir das pulsierende Zischen von startenden Skitterbugs.
Sie rasten um die Landzunge in Sicht, neun von ihnen in einer Linie, kleine, kuppelförmige Boote, die auf Dampfkissen auf uns zurasten. Ich spürte einen gewissen Stolz. Ich hatte diese Boote gebaut. Sie zogen Wasserskiläufer, Mädchen in fließenden weißen Roben, deren Wasserski weiße Gischtspuren hinterließen.
Auf dem Rücken jedes dieser Mädchen war ein goldfarbener Drachen befestigt. Als sie etwa zweihundert Meter von uns entfernt waren, erhoben sich die Mädchen vom Wasser, die Sonnenstrahlen ließen die goldfarbene Bespannung der Drachen aufblitzen, und der Wind presste die hauchdünnen, feuchten Roben fest an ihre Körper. Ich hob mein Fernglas – ließ es jedoch sofort wieder sinken, da ich keinen Augenblick den Eindruck des Gesamtbildes versäumen wollte.
Ich warf Mortimore Barker einen raschen Blick zu. Er lächelte, stolz auf den Überraschungseffekt dieses Auftritts. Die Menge machte »Ah!« und »Oh!« Ich fragte mich, warum Menschenmassen Spektakel und bunte Farben viel mehr genießen als Individuen. Vielleicht ist das etwas Positives. Vielleicht gefällt uns die Vorstellung, dass auch alle anderen ihren Spaß haben.
Neben Barker stand Ralph Streng. Sein Lächeln war zynisch.
Fünfzig Meter vor dem Strand drosselten die Skitterbugs ihre Fahrt; die Dampfkissen lösten sich auf, und die Fahrzeuge sanken auf das Wasser. Jetzt starrten alle die Mädchen an, die ihre Zugseile losgelassen hatten und über das Wasser hinwegsegelten wie Engel. Rechts und links von uns bildeten die dichten, dunklen Baumreihen auf den Hügeln, die die Flussmündung einfassten, einen Rahmen für die vor dem Himmel schwebenden Mädchen.
Ich hörte jemand leise auflachen. Es klang wie Streng.
Das Unglaubliche war, dass alle diese Mädchen gleich aussahen, von identischer Schönheit, mit den gleichen blonden Locken, mit kleinem lächelnden Mund, und – ich schwöre es – den gleichen Grübchen in den Wangen. Als sie über uns hinwegschwebten, stockte mir der Atem.
Und dann …
Dann lösten sie ihre Roben, ließen sie ins Wasser fallen – und darunter trugen sie nichts. Die Reihe schwenkte nach links ab, beschrieb einen Bogen über dem Wasser und kam dann direkt auf uns zu, neun nackte Mädchen, die an goldenen Drachenflügeln hingen, mit identischen, prallen Brüsten, geschmeidigen Schenkeln und golden schimmernden Haaren.
Und auf dem nackten Bauch jedes dieser Mädchen war mit roter Farbe ein einzelner Buchstabe gemalt worden.
Die Reihe der Buchstaben lautete
R-I-V-E-R-S-I-D-E
Die Menge johlte vor Begeisterung.
Dann flogen die Mädchen wieder einen Bogen, verloren dabei an Höhe, und ich hörte den Wind in den Gurten pfeifen, als sie dicht über unsere Köpfe hinwegsegelten, und auf die Flussmündung hinaus, wo sie leicht und elegant, wie ein Schwarm goldener Schwäne, auf das Wasser aufsetzten. Sie wateten zu dem etwa zweihundert Meter entfernt liegenden Ufer, wo sich die Flussmündung verengt und eine Brücke über das Wasser führt.
Ich trat zu Barker. »Glänzend, Mort«, sagte ich. Dabei starrte ich noch immer zu den Mädchen hinüber. Sie hatten ihre Drachenflügel abgestreift; mehrere Männer traten auf sie zu, legten ihnen Capes um die Schultern und führten sie zu einem großen, geschlossenen Lastwagen. An der Seitenwand des Fahrzeugs befand sich eine Inschrift, die mich an die Beschriftung von Zirkuswagen erinnerte, wie ich sie auf der Erde gesehen hatte. Ich hob mein Fernglas vor die Augen und las: HETHERINGTON ENTERPRISES. »Wo hast du die aufgetrieben?«, fragte ich.
»Über eine Agentur.«
»Kommen sie heute Abend zum Tanz?«
Er räusperte sich verlegen. »Ah – nein. Kontakt mit dem Publikum ist ihnen verboten. Sie fahren nach dieser Vorstellung sofort nach Premier City zurück.«
Der Name Hetherington und der Anblick der Mädchen, die in den Wagen gedrängt wurden, verdarb mir diesen Tag gründlich. »Wie dressierte Zirkustiere, Mort?«
Er zwinkerte verwirrt, dann wandte er sich ab, um die Gratulationen – und die wenigen empörten Bemerkungen – des Regatta-Komitees entgegenzunehmen.
Paul Blake bat mich, mir sein Skitterbug anzusehen. Ich kniete mich neben das Fahrzeug und griff in die Inspektionsklappe, hinter der der einfache Antrieb lag. Ich stellte fest, dass das Kabel, das vom thermostatischen Dämpfer zum Mini-Reaktor führte, eingezwickt worden war.
»Ich verliere an Höhe bei voller Kraft«, beschwerte er sich. Er fummelte nervös mit seinen Händen. Er war für das zweite Rennen aufgestellt worden. Um uns herum schäumte das Wasser auf, als die anderen Fahrzeuge startklar gemacht wurden.
»Hast du an dem Kabel herumgefummelt?«, fragte ich.
Er wich meinem Blick aus. Ich sah zwei Füße neben meinem Gesicht auftauchen, große Füße in schweren, teuren Schuhen. Ich hob den Kopf und blickte in das massige Gesicht von Ezra Blake, Pauls Vater.
»Ich habe für das Boot gutes Geld gezahlt, Moncrieff«, sagte er zu laut. »Und du hast mir ein Jahr Garantie darauf gegeben. Das gottverdammte Ding ist seit dem Tag, an dem ich es gekauft habe, ständig in Reparatur gewesen.«
»Beruhige dich, Dad«, murmelte Paul nervös.
»Hör zu, Paul! Dieser Kerl nennt sich Bootsbauer. Vor zwei Jahren ist er hier angekommen, ohne einen Pfennig in der Tasche, und jetzt geht es ihm verdammt gut – weil er durch uns Geld verdient. Also können wir verlangen, dass er eine anständige Ware liefert. Oder? Was hast du dazu zu sagen, Moncrieff?«
Einige Menschen waren auf uns aufmerksam geworden. Es scheint mein Los zu sein, ständig mit diesen Blake-Typen zusammenzustoßen, und immer in Gegenwart von Publikum. Vor einiger Zeit hätte ich vielleicht nachgegeben, doch inzwischen hatte ich mir innerhalb der Gemeinde einen gewissen Ruf erworben – was in der rauen Atmosphäre einer Kolonie auf einem jungfräulichen Planeten gar nicht leicht war – und dachte nicht daran, ihn mir durch einen Kerl wie diesen Blake ruinieren zu lassen.
»Das Boot verliert Lift, weil dein Sohn an dem Dämpfer des Mini-Reaktors herumgefummelt hat, Blake«, sagte ich so laut, dass alle Umstehenden es hören konnten. »Ich sage jedem meiner Kunden ausdrücklich, dass sie nichts am Antrieb verändern sollen, aber dein Sohn hielt es für richtig, diese Warnung zu ignorieren. Ich werde sie jetzt in deiner Gegenwart wiederholen: wenn er versucht, mehr als die zulässige Kraft aus dem Antrieb zu holen, indem er ihn frisiert, bringt er sich selbst in Lebensgefahr, und auch alle Menschen in seiner Nähe.« Blake starrte an mir vorbei; sein Sohn trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Er tat mir irgendwie leid. »Ich werde dir sagen, was wir tun. Ich bringe das Ding gleich in Ordnung und ziehe ein neues Kabel ein. Gratis. Und, Paul, du kommst morgen zu mir, dann werde ich dir zeigen, was man tun kann, um mehr aus dem Antrieb herauszuholen. In Ordnung?«
»Danke«, sagte Paul. Sein Vater stapfte schweigend davon auf der Suche nach einem anderen, den er auf die Hörner nehmen konnte. Paul blieb da und half mir, das neue Kabel einzuziehen. Er ist ein großer, gutaussehender junge, der die Mädchen richtig zu nehmen weiß; allein seine Gegenwart lässt mich an all die Gelegenheiten denken, die ich verpasst habe, als ich in seinem Alter war. Er verpasst keine, vermute ich, und das ist gut so.
Es ist eine eigenartige Tatsache, dass eine kleine Kolonie wie Riverside – wo ich kühne und freiheitlich denkende Abenteurer vorzufinden erwartet hatte – innerhalb von drei Generationen so parochial und engstirnig werden kann.
»Widerlich!«, hörte ich eine tiefe Frauenstimme dröhnen, wie um meine Schlussfolgerung zu bestätigen. Ich blickte auf und sah Mrs. Earnshaw, Mitglied des Komitees und Stütze der Gesellschaft von Riverside, die sich Mortimore Barker vorgenommen hatte. »Ich hatte nie geglaubt, dass der Tag kommen würde, wo man nackte Flittchen vorführen muss, um Touristen nach Riverside zu bringen. Das ist nicht nur beschämend für unsere Kolonie, sondern auch erniedrigend für die Mädchen. Ich fühle mich als Frau beleidigt!«
Barker ist nicht der Typ, der sich auf die Defensive beschränkt. »Sprich du mir nicht von Erniedrigung, Bernardine«, sagte er laut und vernehmlich. »Wenn du Neu-China gesehen hast, wo die Menschen wie Ochsen auf den Feldern arbeiten, weil ihre Religion den Gebrauch von Maschinen verbietet, kannst du von Erniedrigung reden. Wenn du Utopia besucht hast, wo sie Frauen aus einem Modell klonen, das ausgewählt wurde, weil es sowohl Menschen wie Aliens gefällt, dann begreifst du – vielleicht – was sexuelle Ausbeutung ist. Aber bis dahin …« – er winkte mit seiner breiten Hand, wandte sich ab und ließ die vor Erregung stammelnde Mrs. Earnshaw stehen – »… quatsch mir nicht von Erniedrigung!«
Kurz darauf stand ich mit den anderen Mitgliedern des Komitees auf der improvisierten Plattform und wartete auf den Start des ersten Rennens. Die anderen waren bereits dort: Mrs. Earnshaw, und sie kochte noch immer; Mark Swindon, der Meeres-Biologe, mit seiner Frau Jane; Ezra Blake, und der Reverend Enrico Batelli. Ich wandte mich an den letzteren. »Was hältst du bis jetzt von der Sache?«
Er blickte nachdenklich auf einige hundert bunter Ballons, die unter Wasser aufgelassen wurden, mächtig anschwollen, als sie zur Oberfläche emporstiegen und sich dann in die Luft erhoben. »Sehr gut, würde ich sagen«, murmelte er.
Ich bedrängte ihn weiter. »Diese Mädchen haben mich ein wenig durcheinander gebracht. Ich dachte, sie sollten Engel darstellen, doch dann …«
Er grinste. »Ich bin schon oft von Menschen kritisiert worden, weil ich ihnen nicht sagen kann, dass ich fest an die Gottesvorstellung glaube. Aber dies kann ich dir sagen: ich glaube nicht an Engel. Ich habe neun hübsche, sexy Mädchen gesehen, und es war ein herzerfrischender Anblick. Und ich kann nichts Schlimmes daran sehen.«
»Völlig deiner Meinung, Enrico«, sagte Mark Swindon.
Jane Swindon schloss sich dieser Meinung nicht an; das hätte ich nicht gedacht, aber sie ist eine Frau, bei der man selten etwas voraussehen kann: klein und zäh und sehr hübsch, sogar amüsant – und längst nicht so in Vorurteilen befangen wie die meisten. Riverside wäre ein viel angenehmerer Ort, wenn es mehr Kolonisten wie sie und ihren Mann gäbe. »Sie haben mich ein wenig geängstigt«, sagte sie. »Ich meine, dass sie Mark gefallen, stand zu erwarten; er ist und bleibt eben ein schmutziger Gammler. Aber mich hat erschreckt, dass sie völlig identisch wirkten. Irgendwie unheimlich.«
Irgendetwas zerrte am hinteren Teil meines Gehirns. Ich musste an die Bemerkung denken, die Mortimore Barker vor ein paar Minuten über Utopia gemacht hatte. »… Utopia, wo sie die Frauen aus einem Modell klonen …«
Dann löschte überraschtes Murmeln die beunruhigenden Gedanken aus meinem Gehirn. Ein riesiges, grell dekoriertes Floß war aus einer kleinen, versteckten Bucht in die Flussmündung getrieben, dicht vor die Startlinie, wo jetzt die Skitterbugs Aufstellung nahmen. Es war keins der offiziellen Flöße, auf denen die Geschichte von Riverside dargestellt wurde, und die von den ›Nachkommen der Pioniere‹ angefertigt worden waren; die lagen alle viel weiter flussabwärts. Nein, dieses Floß war ein Hochstapler!
»Bringt das gottverdammte Ding fort!«, hörte ich Mrs. Earnshaw brüllen.
Der Wind wehte flussabwärts, und das seltsame Floß drehte sich langsam um die eigene Achse. Es war etwa zehn Meter lang und drei Meter breit und schien unbemannt zu sein.
»Das ist einer meiner Leichter!«, rief Swindon.
In Bug und Heck waren provisorische Masten errichtet worden, und zwischen ihnen hing ein schlaffes Transparent mit den Worten
HÄNDE WEG VON ARKADIA
»Das ist von den ›Freunden der Freiheit‹ oder wie sich dieser Verein nennt«, sagte jemand. Das Floß trieb zwischen die Skitterbugs und drehte sich langsam um sich selbst.
GO HOME, HETHERINGTON stand auf der anderen Seite des Transparents.
Mehrere Skitterbugs drängten sich um das Floß und begannen es flussaufwärts zu drängen. Plötzlich hörte man das Dröhnen einer Explosion, und die oberen Seitenwände des Leichters fielen rauchend ins Wasser. Die Skitterbugs stoben auseinander. In der Mitte des Leichters erhob sich ein großer Scheiterhaufen. Flammen leckten bereits über die Scheite, und Sekunden später brannte der ganze Leichter.
Auf dem Scheiterhaufen befand sich die Nachbildung eines Mannes, eines fetten, krötenartigen Mannes, der in einem Rollstuhl saß. Vor unseren Blicken kippte der Rollstuhl um, die Figur rutschte vorwärts und wurde von den Flammen eingeschlossen.
Ein großer Teil der Menge applaudierte laut …
Ein Kanonenschuss dröhnte, und das erste Rennen war gestartet.
Sechs Skitterbugs rasten auf ihren Luftkissen reitend über das Wasser. Bei der Biegung des Flusses fuhren fünf von ihnen einen weiten Bogen und folgten der Fahrrinne, die hier unter überhängenden Bäumen verlief – während der sechste die Ecke schnitt und ein Stück über feuchten Schlamm raste, den die auslaufende Flut hier bloßgelegt hatte. Eine ockerfarbene Schlammwolke wirbelte auf. Als die anderen fünf Skitterbugs die Flussbiegung umrundet hatten und hinter dem Ufer außer Sicht kamen, war es klar, dass das sechste Fahrzeug einen leichten Vorsprung gewonnen hatte.
Jemand berührte meinen Arm. Dr. Ralph Streng stand neben mir.
Streng gehört zu der Sorte von Männern, die jede Gruppe dominieren, der Sorte von Männern, die von anderen nicht unterbrochen werden. Er ist mittelgroß und kräftig, hat ein wettergegerbtes Gesicht und eine dichte, silbergraue Mähne. Er ist ein sehr eindrucksvoller und fast furchteinflößender Mann, der Typ, der Vorsitzender von Komitees wird. Eine Frau – nicht die Ehefrau – hing an seinem Arm. Er ignorierte sie und blickte mich mit seinen scharfen, blauen Augen prüfend an.
»Hast du gesehen, wie der junge Blake die Kurve geschnitten hat?«
»Ja. Das ist für eine kurze Strecke ziemlich gefahrlos«, antwortete ich. »Unter dem Boot ist noch genügend überhitzter Dampf gestaut, um es bei dieser Geschwindigkeit zehn Meter weit zu tragen. Also kann es auf seiner Dampfreserve über den Schlamm reiten und füllt wieder auf, sobald es wieder Wasser unter sich hat. Natürlich saugen die Düsen eine gewisse Menge Schlamm ein, aber der sollte rasch hinausgeschwemmt werden, sobald das Boot wieder über Wasser ist.«
»Also empfiehlst du, die Kurve zu schneiden?«
Streng hatte mich in der Falle. Er war für das nächste Rennen aufgestellt.
»Empfehlen … na ja. Es gibt natürlich gewisse Risiken … Du musst schon die nötige Geschwindigkeit haben …«
»Zum Teufel, Moncrieff. Warum blöken die Menschen ständig über Gefahren? Ich würde kein Rennen fahren, wenn es nicht gefährlich wäre.«
Kurz darauf kamen die Skitterbugs zurück und rasten auf die Ziellinie zu; das rot-weiße Boot von Paul Blake hatte einen erheblichen Vorsprung. Er schnitt wieder die Kurve über das schlammige Ufer und durchfuhr die Ziellinie mehrere Sekunden vor einem Verfolger. Er fuhr einen weiten Bogen vor dem Kai und machte sein Skitterbug an einem Floß fest. Eine Gruppe junger Mädchen stießen schrille Begeisterungsschreie aus. Er kletterte heraus und ging zur Plattform, sein Gesicht war klatschnass von der Gischt. Sein Vater trat auf ihn zu und gratulierte ihm; der Zwischenfall mit dem Kabel war vorläufig vergessen.
Ich sah, dass Jane Swindon neben mir stand. »Amüsierst du dich?«, fragte ich.
»Nicht sehr …« Sie blickte zu Paul Blake hinüber. Er hatte seinen Helm abgenommen und sprach mit einem Mädchen. Sein Vater unterhielt sich mit Kli a’Po, dem Nicht-Menschen unserer Kolonie, über das Rennen. Ich habe mich inzwischen an den Anblick von Kli gewöhnt, doch als ich in Riverside eingetroffen war, fand ich ihn mehr als beunruhigend. Komischerweise störte mich an ihm am meisten, dass er Kleidung trug. Wenn er nackt gewesen wäre, hätte ich ihn leichter akzeptieren können, so wie man einen Affen oder ein Worral akzeptiert. Doch der Anblick von Textilien über seiner Reptilhaut rief den Eindruck einer Maskerade hervor, des Verkehrten, wie eine Schimpansen-Tea-Party. Ich konnte ihn einfach nicht ernst nehmen. Und ich erkannte, was für eine völlig natürliche Angelegenheit die Rassenvorurteile waren, die in den schlechten alten Zeiten auf der Erde geherrscht hatten. Gesellschaftsfeindlich, unerträglich nach jedem ethischen Kodex – doch völlig natürlich.
»Die Regatta scheint dich nicht sehr zu beeindrucken«, sagte ich zu Jane.
Sie blickte auf die Skitterbugs, die inzwischen am Floß festgemacht waren: die Teilnehmer des nächsten Rennens machten ihre Fahrzeuge startklar. Streng saß ruhig im Cockpit seines grünen Bug, und seine silberne Mähne wehte in der Brise. »Vielleicht werde ich alt«, sagte die hübsche, dunkelhaarige Frau neben mir leise. »Oder vielleicht hat mich Morts Show mit den blonden Engeln verschreckt. Aber ich frage mich, welchen Sinn das Ganze hat. Diese Männer versuchen, alle anderen zu schlagen, deshalb sitzen sie ausschließlich in ihren Booten. Aber warum sind wir hier und sehen ihnen dabei zu?«
»Weil es aufregend ist, mein Gott!«
»Nur weil die Möglichkeit besteht, dass einer dabei umkommt. Deshalb sind neunzig Prozent dieser Menschen hier.«
»Es ist eine Show, das ist alles. Genau wie die Volkstänze.«
Ich deutete auf eine mit Seilen abgetrennte Fläche zwischen dem Kai und dem Lagerhaus der Fischer, wo die ›Nachkommen der Pioniere‹ hartnäckig mit stampfenden Füßen und flatternden Taschentüchern zum Klang von Vernon Thrales Fiedel herumhüpften.
»Denen sieht keiner zu«, bemerkte Jane, immer noch mit gedämpfter Stimme.
Die Plattform erhob sich etwa zwei Meter über den Kai; links und rechts von uns hörte man das erregte Murmeln der Menge. Hinter dem Lagerhaus und hinter uns stieg die Straße den steilen Hang eines Hügels hinauf und führte zwischen kuppelförmigen Wohneinheiten zu den rechteckigen Gebäuden des Social Clubs und Mark Swindons Meeres-Forschungsstation vor dem mit dichtem Wald bestandenen Horizont. Die gesamte Bevölkerung der Kolonie – zur Zeit etwa sechshundert – und eine gleich große Zahl von Besuchern warteten gespannt auf den Beginn des zweiten Rennens.
Ich hoffte nicht, weil sie wollten, dass jemand stürbe.
»Ich denke, sie haben ihr Vergnügen, weil sie sich mit den Konkurrenten identifizieren, Jane.«
»Spürst du denn nicht auch einen Hauch von Verzweiflung? Als ob die Menschen dächten: alles ist faul an dieser Welt, also ist alles egal. Kommen dir die Rennen nicht auch … härter vor als sonst? Sei ehrlich, Kev!«
»Nur bei Paul. Er ist eben ein bisschen wild.«
»Er will unbedingt siegen. Genau wie Ralph Streng …«
Ich blickte auf, als der Kanonenschuss dröhnte und grauer Qualm aus dem Rohr drang und die nächste Gruppe von Konkurrenten in einer Wolke von Gischt und kondensierendem Dampf die Flussmündung entlangraste …
Etwas abseits von allen anderen, auf dem hinteren Teil des Kais, wo Gras und Unkraut einer dichten Vegetation wichen, stand ein Fremder. Er sah nicht wie ein Tourist aus. Er trug einen dunklen Regenmantel, und obwohl ein Fernglas um seinen Hals hing, hielt er beide Hände seit dem Zeitpunkt, als ich ihn bemerkt hatte, in den Taschen. Er hatte ein scharfes Profil; die Wangen waren leicht eingesunken, die Nase vorspringend und gekrümmt wie ein Raubvogelschnabel, das Haar dünn und weiß. Er wirkte wie ein kahlköpfiger Adler, dem man gesagt hatte, er müsse eine Abmagerungsdiät einhalten. Ich schätzte ihn auf ungefähr fünfundvierzig Jahre.
Es war eine plötzliche Bewegung, durch die ich auf ihn aufmerksam wurde. Als die Skitterbugs an ihm vorbeirasten, hob er sein Fernglas vor die Augen und verfolgte die Boote, bis sie jenseits der Flussbiegung verschwanden. Daran war nichts Besonderes: Dutzende anderer Menschen taten das Gleiche. Es war die gespannte Konzentration dieses Mannes, die mir auffiel, eine Konzentration, wie sie der Raubvogel zeigt, dem er ähnelte.
Das übliche Gemurmel klang auf, als die Boote hinter der Flussbiegung verschwunden waren.
»Streng hat nicht die Abkürzung über das Ufer genommen«, sagte Mark Swindon.
»Er wird es tun, wenn es sich als notwendig erweisen sollte«, erwiderte Jane.
Etwas später kamen die Boote zurück, Streng in Führung, und wieder kürzte er nicht ab, sondern fuhr die Kurve aus und erreichte die Ziellinie mit einem guten Vorsprung.
So gingen die Rennen weiter, und ich fühlte, wie die Spannung der Zuschauer sich steigerte, bis alle Ausscheidungsrennen gelaufen waren und der Endlauf der Sieger unmittelbar bevorstand. Ich sah, dass die Nachrichtenleute ihre Aphrohales auspackten und die Kameras einschalteten; und, wie ein kleines Kind, zog ich meinen Miniaturempfänger aus der Tasche und sah mich selbst, wie ich auf den kleinen Bildschirm blickte, um mich herum mehrere wichtig aussehende Männer.
Ich fragte mich, ob die Leute von der Hetherington-Organisation die Sendung in Premier City verfolgten, und ob sie mich gesehen hatten. Ich fragte mich, ob sie mich wiedererkennen würden, wenn ich ihnen morgen vorgestellt wurde. Ich fragte mich, warum ich mir so wichtig vorkam, nur weil ich mich auf dem winzigen Bildschirm gesehen hatte.
»Der Entschluss, bei Trivialitäten erfolgreich zu sein, ist oft ein Hinweis auf eine Reihe von zurückliegenden Misserfolgen, und zwar ernsthaften Misserfolgen«, sagte jemand in didaktischem Tonfall. Ich wandte mich um und sah einen dunkelhaarigen jungen Mann, der mit einem ernsthaft wirkenden Mädchen sprach, das eine Brille trug. »Ich habe einmal ein Schild gesehen«, fuhr er fort. »Es trug die Inschrift: ›Im Brandfalle den Feuerlöscher aus seiner Halterung nehmen und umdrehen, den Strahl auf den unteren Teil der Flammen richten. Falls das Feuer zu groß ist, um es löschen zu können …‹ Der Rest war ausgestrichen, und jemand hatte dazugesetzt: ›Musst du dir ein kleineres Feuer machen.‹«
Das Mädchen lachte. »Ja, Phil. Und ich hätte sogar Angst, in diesen kleinen Bugs Rennen zu fahren.«
»Das ist nicht wirklich gefährlich«, sagte der junge Mann.
Sechs Skitterbugs hatten sich an der Startlinie aufgereiht. Ihre kleinen Hilfspumpen tuckerten leise und sorgten für eine ausreichende Wasserzufuhr, bis sie sich vorwärtsbewegten und der Ramm-Effekt einsetzte. Paul Blake war unter den Teilnehmern des Endlaufs, und Bill Yong. Al Sung trat an die Startlinie, winkte jemand zu. Streng saß ruhig und entspannt in seinem Bug und blickte auf die Mündung der Startkanone. Wahrscheinlich glaubte er, einen Sekundenbruchteil schneller starten zu können, wenn er auf das Mündungsfeuer reagierte anstatt auf den Knall. Chukalek, der Koch des Social Club, hatte es überraschenderweise geschafft, in den Endlauf zu kommen und saß jetzt nervös an den Hebeln fummelnd in seinem Boot. Alicia Desjardins, die letzte der Finalisten, saß mit gesenktem Kopf im Cockpit ihres Bug und schien die Instrumente zu überprüfen – aber vielleicht betete sie.