Erinnerungen an Pallahaxi - Michael Coney - E-Book

Erinnerungen an Pallahaxi E-Book

Michael Coney

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Beschreibung

Dann kamen die Lorin.

Viele Generationen nach Drove, dem Helden aus „Der Sommer geht“, erlebt Hardy, wie seine Welt, der Planet der Stilk, erneut vor einem langen Winter steht. Die Gesellschaft dort hat sich verändert, vor allem in Bezug auf die Lorin, und auch menschliche Siedler sind angekommen und schürfen schon seit einigen Hundert Jahren nach Bodenschätzen. Hardy und sein Volk versuchen, sich auf den Winter vorzubereiten, von dem niemand weiß, wie lange er dauern wird. Im langen Sommer haben die Stilk vergessen, wie man sich vor der Kälte schützt, und auch die Menschen werden immer verzweifelter …

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MICHAEL CONEY

ERINNERUNGENANPALLAHAXI

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Das Buch

Viele Generationen nach Drove, dem Helden aus »Der Sommer geht«, erlebt Hardy, wie seine Welt, der Planet der Stilk, erneut vor einem langen Winter steht. Die Gesellschaft dort hat sich verändert, vor allem in Bezug auf die Lorin, und auch menschliche Siedler sind angekommen und schürfen schon seit einigen Hundert Jahren nach Bodenschätzen. Hardy und sein Volk versuchen, sich auf den Winter vorzubereiten, von dem niemand weiß, wie lange er dauern wird. Im langen Sommer haben die Stilk vergessen, wie man sich vor der Kälte schützt, und auch die Menschen werden immer verzweifelter …

Der Autor

Michael Coney wurde 1932 in Birmingham geboren und besuchte die King Edward’s School. Er wurde zunächst Buchhalter, übte dann eine Reihe unterschiedlicher Berufe aus: Unter anderem betrieb er ein Pub in Devon, später leitete er ein Hotel auf der Karibikinsel Antigua. Anfang der Siebzigerjahre siedelte er mit seiner Familie nach Kanada über und wurde Feuerwächter der Columbia Forestry Commission. Seit 1966 schrieb er Science Fiction, mit seinen grandiosen Schilderungen außerirdischer Welten wurde er schnell zu einem der zentralen Autoren der Siebziger und Achtziger. Die beiden »Pallahaxi«-Romane gelten als seine bedeutendsten Werke. Michael Coney starb 2005 an Krebs.

www.diezukunft.de

Titel der englischen Originalausgabe:

I REMEMBER PALLAHAXI

Deutsche Übersetzung von Bernhard Kempen

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 2007 by The Estate of Michael Coney

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-17550-4

1  PROLOG

AN MEINEM SIEBZEHNTEN GEBURTSTAG wäre ich fast ertrunken. Das mag einem Menschen wie Ihnen ziemlich unbedeutend vorkommen. Wahrscheinlich denken Sie: Was kümmert mich ein Stilk mehr oder weniger? Aber für mich war es eine große Sache, fast so groß wie eine zweite, die an jenem Sommertag geschah.

Diese zweite Sache war, dass ich Noss Talis begegnete.

Und das mit dem Fast-Ertrinken? Das ist so passiert.

Das Wasser im Flussdelta lag ruhig und träge da, und die kleinen weißen Hütten von Noss schimmerten wie ein breites menschliches Grinsen entlang der Küste, und ich sang im dunstigen Sonnenlicht. Eine sanfte Brise blähte das Segel meines Skimmers, während ich flussaufwärts glitt. Im Mündungsgebiet des Yam gibt es jede Menge faszinierende Flussarme, und ich hatte große Lust, sie zu erkunden.

Die Grume war im Anzug.

Die Meeresströmung, die unsere Welt umkreist, hatte Tag für Tag dichteres Wasser vom Großen Flachmeer hergebracht, und inzwischen waren alle Boote mit tiefem Rumpf in langen Reihen aufs Ufer gezogen worden. Die Fischer hatten schwerere Gewichte an ihren Netzen und Tauen angebracht und stießen mit flachkieligen Booten in See, die wie größere Versionen meines Skimmers aussahen. Heute bestand ihr Fang aus Fischen einer anderen Art, die am Meeresgrund lebte und durch das dichtere Wasser nach oben getrieben worden war. Die Grume ist eine ganz besondere Jahreszeit.

Später würden die wilden Grume-Reiter kommen, die mit kräftigen Flossen über die Oberfläche hüpften und der Grume auf ihrem Weg rund um den Ozean der Welt folgten. Diese Raubtiere stürzten sich auf alles, was an der Oberfläche strandete. Sie griffen sogar Zumen an, die bestimmt zwanzigmal größer als sie selbst waren.

Die Grume-Reiter machten mir große Angst. Wahrscheinlich war es etwas, das einem meiner Vorfahren zugestoßen war, denn das ist die Ursache für viele unserer Ängste. Irgendwann würde ich in meinen Erinnerungen graben und es beim Sternenträumen finden und meinen Frieden damit schließen. Wir nennen so etwas einen Erinnerungsblitz, dieses ungewollte Auftauchen eines generationenalten Erlebnisses.

»Pass auf!«

Ich war in Gedanken versunken und hörte den Ruf nur mit halbem Ohr.

»Pass auf, wo du hinfährst!«

Ein Mädchen in einem tiefkieligen Ruderboot nicht weit vom felsigen Ufer unter den Hütten winkte und rief aufgeregt. Diese Flundern scheinen zu glauben, dass ihnen das Meer rund um Noss gehört, dachte ich. Wahrscheinlich haben sie irgendeinen privaten Besitzanspruch auf diese kleine Bucht. Sie soll zum Rax gehen! Ich segle, wo ich will!

Aber die Tatsache, dass sie ohne Schwierigkeiten in einem tiefkieligen Boot saß, hätte mich stutzig machen sollen. Während der Grume bekamen solche Boote zu viel Auftrieb und waren nicht mehr stabil.

Mein Skimmer wurde unerwartet deutlich schneller.

Es war ein ziemlich unangenehmer Moment. Der Wind hatte sich nicht gedreht, aber das Boot schoss los wie ein aufgeschreckter Lox. Wasser plätscherte laut unter dem stumpfen Bug. Aber Grume plätschert nicht, sie schwappt und fließt träge. Es war unheimlich.

Dann wurde das Boot plötzlich wieder langsamer, als hätte es sich im Netz eines Fischers verfangen. Ich verlor das Gleichgewicht und rutschte nach vorn. Das Boot hielt an und sank tiefer ins Wasser. Viel tiefer.

Es versank, um genau zu sein.

Der Stoff, aus dem Alpträume gemacht sind. Ich sprang auf, und das kleine Boot schaukelte heftig. Das Segel halste, legte sich um mich und machte mich blind. Ich spürte, wie kaltes Wasser an meinen Beinen hinaufkroch. Kaltes, kaltes Wasser. Unendlich kaltes Wasser, das aus den Klauen des toten Planeten Rax gedrückt wurde.

Menschen, die auf einer warmen Welt geboren wurden, verstehen unsere Angst vor der Kälte nicht. Aber ich sage Ihnen, dass diese Angst sehr real ist und sich auf uralten Erinnerungen gründet, vom Aberglauben ganz zu schweigen.

Ich hörte mich selbst, wie ich voller Furcht erstickt in der Umhüllung des Segels schrie. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an die eisige Hand von Rax, der nun mit widerlichen Fingern meine Genitalien ertastete. Ich konnte mich nicht rühren, weil ich mich hoffnungslos im Segel verheddert hatte. Außerdem war ich ein Bewohner des Binnenlandes, so dass ich nicht schwimmen konnte.

Wenn Sie die Sache logisch betrachten, gelangen Sie vielleicht zu dem Schluss, dass meine Geschichte an dieser Stelle enden dürfte.

»Um Phus willen, hör mit dem furchtbaren Geschrei auf und komm endlich unter dem Segel hervor!«

Es war die Stimme eines Engels, auch wenn ich das erst viel später erkannte. Zu diesem Zeitpunkt wäre mir jede Stimme willkommen gewesen.

»Ich kann mich nicht bewegen!«, rief ich zurück. Ich war gefangen. Ich war dem Tod geweiht. Dabei war ich erst siebzehn. Ein tragischer Verlust für die ganze Welt.

Das Wasser kroch verstohlen an meiner Brust herauf. Der Skimmer, der nun vollständig untergetaucht war, glitt unter mir weg. Ich kippte auf die Seite. Etwas versetzte mir einen brutalen Stoß in die Rippen. Eine Hand zog das Segel von meinem Gesicht zurück, und zwei ernste Augen blickten in meine.

»Das ist ja richtig peinlich! Vielleicht schauen Leute zu«, sagte sie. »Ich habe dich gerettet. Murmele oder stottere Worte der Dankbarkeit, wenn du unbedingt was äußern musst. Aber hör endlich mit dem Geschrei auf.«

Ich lag halb innnerhalb, halb außerhalb ihres kleinen tiefkieligen Ruderbootes. Ich befand mich immer noch in der Umklammerung des Segels, und der Mast des Skimmers lag auf meinem Brustkorb. Allmählich kam ich wieder zur Vernunft. Schließlich ist die eisige Macht des toten Planeten Rax nur Aberglaube, der von religiösen Spinnern wie meinem Onkel Borst in der Welt verbreitet wird. Die gute Sonne Phu schien mir ins Gesicht, und alles war wieder warm. Insbesondere die braunen Augen meiner Retterin. Braune Augen sind eine viel bewunderte Seltenheit in unserem Volk. Angeblich sind sie ein Segen, der uns an die legendäre Braunauge erinnern soll, die unser Volk vor langer Zeit gemeinsam mit ihrem Geliebten Druv auf recht ungewöhnliche Weise vor dem Bösen bewahrt haben soll. Jedenfalls hörte ich irgendwann mit dem Geschrei auf und war in der Lage, meine Umgebung bewusster als zuvor wahrzunehmen, vor allem die wunderschönen Augen meiner Retterin.

»Danke«, murmelte ich. Vielleicht stotterte ich auch ein wenig.

»Keine Ursache. Hör zu, wenn du einfach nach vorn kriechst, müsstest du dich von all dem Zeug befreien können. Ich halte den Mast fest, damit wir dein Boot nicht verlieren.«

Später saßen wir auf den Felsen und ließen uns von Phu trocknen. Wir hatten den Skimmer auf den Strand gezogen, wo er ordentlich neben dem Ruderboot lag. Eine Lücke im Blätterdach der hohen Meertrinker-Bäume ließ die Sonne hindurchscheinen. Ein paar Gezeitentümpel glitzerten in der Nähe, und wir hielten unsere Füße davon fern – mehr dazu später. Neben einem stand ein langbeiniger Luht und beäugte den Tümpel misstrauisch, wozu er guten Grund hatte. Menschen kennen unsere Welt überhaupt nicht. Ständig muss man Ihnen alles Mögliche erklären.

»Ich wette, du bist aus dem Binnenland«, sagte meine Retterin, die ich durch den Dunstschleier meiner Scham kaum erkennen konnte. »Ein Wühler. Trotzdem solltest du eigentlich wissen, dass man während der Grume nicht mit einem Skimmer flussaufwärts segeln sollte. Mal an das viele Süßwasser gedacht, das der Fluss mitbringt? Eben noch ist alles gut auf dem dichten Zeug, und im nächsten Moment macht es Wusch!« Mit einer kleinen Hand machte sie die Bewegung des Untertauchens. »Skimmer haben nicht genug Freibord, um auf normalem Wasser schwimmen zu können.«

»Ja, ja«, brummte ich und blickte über das Flussdelta, auf den blassblauen Himmel, auf alles andere. Ich hörte sie kichern.

»Aber eins muss ich schon sagen«, fuhr sie fort. »Ich habe noch nie gesehen, wie jemand so schnell untergegangen ist. Eigentlich hattest du kaum eine Chance.«

»Hm.«

»Wie heißt du?«

»Äh … Hardy. Yam Hardy.«

»Du bist aus Yam?« Sie war überrascht. Bis zu meinem Dorf ist es eine halbe Tagesreise mit dem Motorwagen und eine ganze auf dem Rücken eines Lox. »Bist du … jemand Wichtiges? Ich meine«, sagte sie mit einem entwaffnenden Grinsen, »ich bilde mir gerne ein, dass ich der Zivilisation einen großen Dienst erwiesen habe, als ich dich vor dem nassen Grab bewahrte.«

»Mein Vater ist Yam Bruno.« Ich versuchte, nicht allzu viel Stolz in meiner Stimme mitschwingen zu lassen.

»Bruno? Der Bruder eures Hauptmanns?« Sie schien wirklich beeindruckt zu sein. »Er hält sich zur Zeit hier in Noss auf, nicht wahr? Ich habe den Yam-Motorwagen gesehen.«

»Er ist gekommen, um mit den Noss-Hauptleuten zu verhandeln.«

»Worum geht es?«

»Ach, Lebensmittel, Handelsgüter, solche Dinge. Planungen. Alles auf höchster Ebene. Das würde dich gar nicht interessieren.«

»Du meinst, viel mehr weißt du auch nicht darüber.«

Ein Wechsel des Gesprächsthemas war dringend angebracht. Ich schien schon wieder in die Defensive geraten zu sein, als wäre die Rettungsaktion nicht bereits demütigend genug gewesen. Und wer war dieses Mädchen eigentlich? Während ich allmählich meine Fassung wiedergewann, kam mir zu Bewusstsein, dass sie ungefähr in meinem Alter und erstaunlich hübsch war, mit warmen braunen Augen, Grübchen in den vollen Wangen und einem Lächeln, das heller als Phu strahlte.

Allerdings war ich in einem Alter, in dem man leicht zu beeindrucken ist. Außerdem sind Männer und Frauen auf unserer Welt nicht häufig zusammen. Ich war es nicht gewohnt, einer solchen Schönheit so nahe zu sein. Das finden Sie vermutlich seltsam. »Du hast mir noch gar nicht deinen Namen verraten«, sagte ich.

Sie zögerte. »Talis«, sagte sie dann, »Noss Talis.« Schnell sprach sie weiter. »Ich weiß, dass es ein ungewöhnlicher Name ist, aber der Grund ist das hier.« Sie griff in den Halsausschnitt ihres Kleides – das aus teurem Menschenstoff geschneidert schien – und zog an einer dünnen Schnur einen Talisman hervor. Einen Kristall. Irgendein glitzerndes Ding. Ich wusste nicht viel über Edelsteine.

Ich wusste nur, dass ich in diesem Moment einen unglaublich starken Erinnerungsblitz hatte.

Ich starrte auf den Kristall und dann in ihr Gesicht, in diese unglaublich braunen Augen, und es kam mir vor, als würde ich in die tiefste Vergangenheit blicken, bis zum Anfang aller Generationen. Viele lange Jahre, unzählige Leute, die diese kleine Erinnerung weitergegeben hatten. Sie musste sehr kostbar und bedeutungsvoll sein.

Der Kristall und das hübsche Mädchen …

»Oh«, sagte sie leise und starrte mich an.

»Was?«

»Ach nichts.«

Nun war sie es, die nachdenklich über das Flussdelta blickte. Meertrinker reckten sich groß und kühl am gegenüberliegenden Ufer in die Höhe. Das Meer lag flach hinter der Landspitze zu unserer Linken, und eine Million helle Vögel schwärmten und schrien und pflückten gestrandete Fische von der Oberfläche. Die Skimmer von Noss durchpflügten das Wasser mit ihren Netzen und holten die Ernte der Grume ein – über die mein Vater in diesem Moment verhandelte, weil unsere Getreideernte in Yam recht dürftig ausgefallen war.

Und ich saß mit einem Flunder-Mädchen auf den Felsen.

Es wurde Zeit für eine Einschätzung meiner Situation. Flundern – die Bewohner der Küste – haben eigenartige Angewohnheiten und Füße mit Schwimmhäuten. Sie beten Wellen und Seeungeheuer und ähnliche Dinge an, hatte ich gehört. Sie unterscheiden sich so sehr von uns Landbewohnern, dass manche Leute glauben, sie wären eine eigene Spezies, obwohl bei diversen diskreditierenden Gelegenheiten das Gegenteil bewiesen worden war. Ihre Männer fingen Fische, und ihre Frauen verarbeiteten sie auf unterschiedliche Art und Weise. Primitive Lebensverhältnisse. Keine Notwendigkeit, für die Zukunft zu planen. Ihr Leben wird von der jährlichen Grume geprägt, nicht von ihren persönlichen Wünschen. Es heißt, dass zu dieser Jahreszeit sogar ihr Blut dicker fließt. Mister McNeil, der Botschafter der Menschen auf unserer Welt, bezeichnet sie als Sammler und Jäger.

Wir aus dem Binnenland dagegen sind von einem ganz anderen Schlag.

Auch unsere Männer jagen. Aber es ist Intelligenz nötig, um die komplizierten Wanderrouten an Land zu verstehen, und großes Geschick, um die Beute zu erlegen. Und unsere Frauen bauen Feldfrüchte an, was sehr viel Planung erfordert. Mister McNeil sagte mir, dass die Menschen davon mächtig beeindruckt waren, als sie vor acht Generationen zum ersten Mal zu uns kamen.

Kurz gesagt: Wir sind viel zivilisierter als die Flundern.

Zumindest glaubte ich das bis zu meinem siebzehnten Geburtstag. Verzeihen Sie mir, aber so wurde es mir beigebracht.

Und es ärgerte mich, dass die Flundern uns Landbewohner als Wühler bezeichneten.

Ich musterte die weibliche Flunder hochmütig. »Ich muss jetzt gehen. Mein Vater wird sich Sorgen machen, wo ich abgeblieben bin. Ich denke, dass er die Verhandlungen inzwischen abgeschlossen hat.« Verspätet wurde mir bewusst, dass ich immer noch vor einem ungelösten Problem stand. »Würdest du mir mit meinem Skimmer helfen?«

»Was? Oh, natürlich.« Sie erwachte aus ihrer Trance, und gemeinsam hievten wir den Skimmer das steile Ufer hinauf. Ich zog, und Talis schob, wobei ihr herzförmiges Gesicht unter der Anstrengung rosa wurde. Schließlich kamen wir unter den Bäumen hervor und traten auf die Straße, die neben dem Fluss verlief und bis nach Yam und noch weiter führte. Sobald wir auf der Straße waren, kamen wir leichter voran, und schließlich trugen wir das Boot, jeder auf einer Seite.

»Das ist seltsam«, sagte Talis.

»Was?«

»Es kommt Wasser raus. Sieh mal.«

Eine kleine Pfütze hatte sich auf der staubigen Straße gesammelt. Ich sah, wie weitere träge Grumetropfen hineinfielen. Wir drehten das Boot um …

Skimmer sind anders als tiefkielige Boote sehr einfach konstruiert. Im Grunde sind es längliche Kisten mit flachem Boden und quer angebrachten Sitzen. Unter den Sitzen verläuft die Sicherheitsplanke, die etwa eine Handbreit vom Boden entfernt ist, um die Füße des Skippers vor einem direkten Kontakt mit dem kalten Bootsrumpf zu bewahren – und vor dem Unbehagen oder gar der Angst, die ein solcher Kontakt auslösen könnte.

»Da ist ein Loch«, sagte Talis.

Es war rund und etwa zwei Finger im Durchmesser. Ich fröstelte vor Entsetzen. »Ich wäre sowieso untergegangen, selbst wenn ich nicht in dünnes Wasser geraten wäre.«

»Anscheinend hast du einen Felsen gerammt.«

»Nein, habe ich nicht.«

»Dann hat jemand versucht, dich umzubringen.« Talis betrachtete mich mit großen runden Augen. »Jemand hat sich im Dunkel der Nacht zu deinem Boot geschlichen und ein Loch hineingebohrt. Wahrscheinlich hat er eine Maske getragen. Was für ein Spaß! Ein unbekannter Feind will dich töten. Du scheinst viel bedeutender zu sein, als du glaubst. Vielleicht hast du zufällig eine schmutzige politische Verschwörung belauscht.« Ihre unschuldige Miene verschwand. »Oder vielleicht hast du doch nur einen Felsen gerammt.«

»Ich habe keinen Felsen gerammt, Phu nochmal! Davon hätte ich doch etwas bemerkt! Nein, das Loch wurde gemacht. Entweder, bevor ich losgefahren bin, oder es ist hier in Noss geschehen. Das Boot lag längere Zeit auf dem Motorwagen, nachdem wir hier eingetroffen sind.«

Plötzlich wurde sie wieder ernst. »Niemand aus Noss würde ein Boot beschädigen. Wir leben vom Meer, und wir wissen, wie schlimm es ist, ein Leck zu haben.«

»Aber ihr könnt schwimmen.«

»Aber nicht lange. Die Kälte setzt uns genauso zu wie euch Wühlern … äh … Landbewohnern. Bei uns dauert es nur ein wenig länger, das ist alles. Wir haben sogar noch mehr Angst vor dem Meer als ihr, weil wir da draußen immer wieder Leute verlieren. Also lernen wir schwimmen. Niemand in Noss würde je auf die Idee kommen, ein Loch in dein Boot zu bohren.« Ihr Tonfall war tadelnd.

Vielleicht hatte sie Recht. Ich wusste es nicht. Niedergeschlagen betrachtete ich das Boot. Plötzlich war es nicht mehr wie neu. Es war verletzt worden. Vielleicht musste ich es zur Reparatur in Noss zurücklassen, weil es bei uns in Yam keine Bootsbauer gibt. Bevor wir losgefahren waren, hatte ich mit meinem Skimmer geprahlt. Jeder hatte ihn auf dem Motorwagen gesehen, als Vater und ich aufgebrochen waren. Jetzt kam ich mit einem durchlöcherten und entweihten Boot zurückgekrochen. Die Leute würden über mich lachen. Mein gelegentlicher Freund Kaunter – der insgeheim neidisch auf mein Boot war – wäre entzückt. Und mein blöder Vetter Drücker würde dumme Fragen stellen und mir sein geistloses Mitgefühl zum Ausdruck bringen. Und alle wären fest davon überzeugt, dass ich aufgrund absoluter Unfähigkeit gegen einen Felsen gefahren war.

Aber der unbekannte Feind …

Gab es wirklich einen unbekannten Feind?

Bestimmt nicht. In jenen unschuldigen Tagen bildete ich mir gerne ein, mir würde allgemeine Bewunderung und Respekt entgegengebracht. Sogar Verehrung.

Wir gingen weiter und trugen gemeinsam das Boot. Bald kamen wir an einer Ansammlung von Frauenhütten vorbei: an der Hügelböschung aufgehäufte Steine mit breiten Meerblättern als Dach. Tratten huschten zwischen Bergen von Abfall umher. Ein schroffer Kontrast zu Yams ordentlichem Frauendorf. Eine Frau stand gegen einen Türrahmen gelehnt und hielt ein Baby in den Armen.

»Bäh, Wühlerjunge!«, rief sie. »Geh Dreck kratzen!«

Talis’ Kopf fuhr herum. »Geh zum Rax, Maddi!«, rief sie zurück. Dann wandte sie sich mir zu. »Tut mir leid«, sagte sie in normalem Tonfall. »Maddi hat eine große Klappe.«

»Außerdem sind es unsere Frauen, die auf den Feldern arbeiten, nicht die Männer«, erwiderte ich gekränkt. »Nicht dass daran irgendetwas falsch wäre.«

Ich bemerkte ein schelmisches Grinsen um Talis’ Mundwinkel. »Du musst schon zugeben, dass es etwas seltsam ist, sein Leben damit zu verbringen, im Dreck herumzuwühlen. Aber das kann ich eigentlich gar nicht beurteilen. Ich bin einfach nur froh, dass ich als Küstenbewohnerin geboren wurde.«

Eine erstaunliche Feststellung. Ich musterte sie aus dem Augenwinkel, während wir den Skimmer trugen. Von durchschnittlicher Größe, nicht mager, aber auch nicht pummelig. Für ein Mädchen ziemlich kräftig gebaut, mit robusten Schultern und Beinen. Und für ihr Alter mit hübschen kleinen Brüsten. Als mein prüfender Blick schon in Bewunderung überging, fiel mir auf, dass sie unnatürlich sauber war, so sehr, dass sie fast leuchtete, ganz anders als bei guten Binnenlandfrauen, in deren Haut sich der Schmutz des ehrenhaften Ackerbaus festgesetzt hatte. Wahrscheinlich – sagte ich mir – stank sie nach Fisch.

Ich wusste es nicht, weil die ganze Umgebung nach Fisch stank. Ein rumpelnder Loxkarren kam vorbei und tropfte unter einer Ladung Glubse für die Trockengestelle am Hügel hinter den Frauenhütten. Talis winkte dem Mann zu, der den Lox führte. Er nickte zurück. Ein Lorin schlurfte neben ihm her, eine pelzige Hand auf den Nacken des Lox gelegt. Lox arbeiten viel besser, wenn sie von Lorin begleitet werden. Ich warf Talis einen weiteren verstohlenen Blick zu. Bei Phu, sie war wirklich hinreißend.

Dann wurde die angenehme Stille durch einen wütenden Ausruf gestört.

»Talis! Was, zum verfrorenen Henker, fällt dir ein?«

»Rax!«, fluchte Talis. »Das ist Mutter.«

Eine groß gewachsene Frau kam auf uns zu. Langes braunes Haar rahmte einen zornigen Gesichtsausdruck ein, und sie war in die Haut irgendeines Meeressäugers gekleidet, die so glatt war, dass sie nackt wirkte. Neben ihr trottete jemand her, der jung genug war, um ihr Sohn sein zu können. Er war untersetzt und stämmig und hatte ein breites, rosafarbenes Gesicht und gelbes Haar. Eine ungewöhnliche Paarung, aber schließlich hatte ich es hier mit Leuten aus Noss zu tun.

»Ich helfe ihm nur mit seinem Boot«, sagte Talis beruhigend. »Das ist Yam Hardy, Mutter.«

Talis’ Mutter ging längsseits wie ein stolzer Frachtsegler, der sich in den Wind dreht. Murmelnd redete sie in gepresstem und wütendem Tonfall auf ihre Tochter ein. Ich schnappte nur ein paar Worte auf. »… werde nicht zulassen, dass du in aller Öffentlichkeit herummarschierst … ein verfrorener Wühler … Rücksicht auf unsere Stellung nehmen … sollen die Leute denken …« und so weiter.

Talis sah sie lediglich mit eingeschnappter Miene an und fügte an passenden Stellen ein »Ja, ja« ein. Ich stand verärgert daneben. Diese widerwärtige Noss-Frau schien zu glauben, dass ihre Tochter irgendwie besser war als ich, als jemand aus dem Binnenland!

»Soll ich dir die Fresse einschlagen?«, fragte mich der junge Kerl, der sich für einen Mann der Tat zu halten schien.

»Versuch es.«

»Wenn ich dich noch einmal mit Talis erwische, werde ich es tun!«

»Nein, ich meinte, versuch es hier und jetzt.«

»Bei Phu, das werde ich tun!«

Aber er zögerte immer noch, so dass ich sarkastisch erwiderte: »Ich bin nicht so gut mit den Sitten der Noss vertraut. Bist du irgendwie der Besitzer von Talis?«

»Mein Name ist Knuff«, erklärte er, als müsste mir das etwas sagen. »Der Sohn von Wandauge. Vergiss das nie, Wühlerjunge.«

Der Sohn des Hauptmanns von Noss. Kein Wunder, dass er ein arroganter Grunzer war. Jetzt bemerkte ich, dass eins seiner Augen leicht milchig getrübt war. Knuff hatte die legendäre Behinderung seiner Männerlinie geerbt.

Inzwischen hatten Talis und ihre Mutter die einseitige Unterhaltung beendet. Die ältere Frau wandte sich mir zu. »Wenn es dir nichts ausmacht, dein Boot selber zu tragen, junger Mann, würde ich jetzt …«

»Ach, Hardy! Da bist du ja.« Es war Vater, Phu sei Dank. Er war groß, und die Bewegung seiner schlaksigen Gliedmaßen erinnerte mich jedes Mal an einen Lorin. Auch seine ganze Art. Langsam, gelassen und liebenswert. Er sprach die widerwärtige Frau an. »Also hast du meinen Sohn bereits kennengelernt, Lonessa.«

Lonessa! Die Drachendame von Noss! Und Talis war die Tochter dieser berüchtigten Hauptfrau? Armes Mädchen. Wir stellten den Skimmer ab, und ich ging zu der kleinen Gruppe hinüber. Während Lonessa und Vater sich eine Zeit lang verbal streichelten, sah Talis mich an.

»Tut mir leid«, flüsterte sie. »Mutter ist eine arrogante Zicke. Aber eigentlich ist sie ganz in Ordnung. Und Knuff ist ein Rüpel. Man kann nicht alles haben.«

Unterdessen hatte sich Noss Lonessa mit einem strahlenden Lächeln zu mir umgedreht. Ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie die von Talis. Das empfand ich als Frevel.

»Das ist also dein Sohn, Bruno?« Ihr Benehmen hatte sich schlagartig gebessert. »Ich hätte es ahnen müssen. Er hat deine Gesichtszüge. Ein sehr netter junger Mann.«

Vater grinste mich auf jene falsche Art an, wie es Väter tun, wenn Fremde anwesend sind. »Noss Lonessa, Noss Wandauge und ich hatten eine sehr erfolgreiche Besprechung, Hardy.« Als würde es mich auch nur ansatzweise interessieren. Wandauge ist übrigens nicht nur halb blind, sondern geht am Stock, weil er irgendwann beim Fischen einen Unfall hatte. Das ist nur ein Beispiel für die Eigenarten der Küstenbewohner. Wandauge ist Hauptmann, obwohl er ein Krüppel ist. Wenn unser Hauptmann, mein Onkel Borst – Vaters Bruder – verkrüppelt wäre, könnte er nicht mehr die Jagd anführen. Dann würde man seinen Sohn Drücker zum neuen Hauptmann ernennen. Wovor uns Phu bewahre, weil Drücker ein Trottel ist.

Und falls Drücker von einem Stampfer zerfleischt werden sollte, was vermutlich irgendwann geschehen wird, wäre Vater der nächste Hauptmann. Und dann wäre in Yam alles viel besser.

Und ich wäre der nächste Kandidat für das Amt.

Mein Traum von künftigem Ruhm wurde durch die Notwendigkeit unterbrochen, Lonessa zuhören zu müssen, die sich erdreistete, auf mich einzureden. »Dein Vater und ich geben am Beratungstisch ein gutes Team ab, Hardy. Wir beide wissen, wie wir kriegen, was wir haben wollen. Ich glaube, Yam kann beruhigt dem nächsten Winter entgegensehen. Ich finde, in diesen schwierigen Zeiten müssen wir zusammenarbeiten, nicht wahr?«

Nun ja … es waren schwierige Zeiten, daran bestand kein Zweifel. Die Ernte in Yam war sogar noch spärlicher ausgefallen als im Vorjahr, und es gab immer weniger Wild. Aber wenn ich zwischen den Zeilen las … Hieß das, Lonessa und Vater hatten sich gegen den armen alten Wandauge verbündet? Und wenn ich mir ansah, wie nah sie neben ihm stand und wie sie ihn anlächelte, könnte man meinen … Nein, davor schreckte meine Einbildungskraft zurück. Mein lieber alter Vater würde sich niemals auf eine sexuelle Affäre mit einer Küstenbewohnerin einlassen. Das wäre, als würde man mit einem großen, zappelnden Fisch ins Bett gehen!

Andererseits sah auch Vater ziemlich beeindruckend im prächtigen weißen Umhang aus, den er immer trug, wenn er im Namen von Yam Verhandlungen führte. Lenz, meine Mutter, hatte das Stück aus Häuten seltener Albino-Lox für ihn geschneidert. Weder in Yam noch in Noss gab es einen zweiten solchen Umhang.

»Es war ein kalter Frühling«, sagte ich artig.

»Vergangene Nacht hatte ich einen Sternentraum«, tönte Lonessa eindrucksvoll, womit sie meinte, dass sie in den Erinnerungen ihrer Vorfahren gestöbert hatte, »und ich kann dir versichern, junger Mann, dass es der kälteste Frühling war, den Noss je erlebt hat.«

Ich erschauderte unwillkürlich, als das Bild des toten Planeten Rax wieder vor meinem geistigen Auge erschien. Scheußlich, wenn eine Zivilisation auf Aberglaube gegründet ist.

Als wir gerade gehen wollten, hielt der Flegel Knuff meinen Arm fest. »Ich stehe zu dem, was ich über Talis gesagt habe, verfrorener Kerl«, murmelte er. »Und ich sage dir noch etwas. Wenn ich hier Hauptmann bin, wird Yam nicht mehr auf unsere Freundlichkeit hoffen können, das kannst du mir glauben. Wenn es nach mir geht, könnt ihr dort alle zusammen verhungern!«

Es war eine lange Heimfahrt. Das Rathaus von Noss lag genau zwischen den Dörfern der Männer und der Frauen, was eine vernünftige Anordnung war. Das bedeutete, dass ich unterwegs nichts vom Männerdorf zu sehen bekam, was bedauerlich war. Ein Männerdorf an der Küste hat etwas Faszinierendes – obwohl ich vor Leuten aus Yam niemals zugeben würde, was ich empfand. Die zwei Bootstypen, die Skimmer und die Tiefkiele, die Netze überall auf dem steinernen Kai, die wirbelnden Wolken aus Grummern, die versuchten, Fische zu stehlen, der harte Akzent der Fischer und die seltsamen Worte, die sie für ganz normale Dinge benutzten, all das war für mich wirklich sehr exotisch.

Anders als das Frauendorf, an dem wir jetzt vorbeifuhren, sehr langsam, weil überall Kinder waren, die herumrannten und schrien und den Motorwagen einholen wollten. Frauen standen in den Türen und beobachteten uns. Auch ein paar Lorin saßen herum. Sie sind ausgezeichnete Kinderhüter, wenn eine Mutter vorübergehend nicht da ist. Der Anblick eines fahrenden Motorwagens war ein besonderes Ereignis, weil es bedeutete, dass eine wichtige Persönlichkeit unterwegs war. Ein älterer Junge starrte mich an. Er schien schon fast fünf zu sein und stand demnach kurz davor, ins Männerdorf umzuziehen. Ich bemühte mich, angemessen bedeutungsvoll zu wirken, prüfte die Wasseranzeige und blickte mit kritisch zusammengekniffenen Augen zum rauchenden Auspuff hinauf. Der Motorwagen schnaufte weiter, mit dem Skimmer auf der Ladefläche. Vater hatte den Schaden mit Gelassenheit hingenommen, möge Phu ihm gnädig sein.

»Ich denke, ein paar Scheite mehr könnten nicht schaden, Hardy«, sagte er gut gelaunt. Er war sehr gesprächig. Entweder war er damit zufrieden, wie die Geschäfte gelaufen waren, oder er war immer noch erfüllt von der Aufmerksamkeit, die Noss Lonessa ihm hatte zuteilwerden lassen. Ich zog die Klappe der Brennkammer auf. Ja, das Feuer könnte etwas Nachschub gebrauchen. Ich warf einige Stücke Treibholz hinein, das ich zuvor am Strand aufgesammelt hatte.

Ein interessantes Monstrum, der Motorwagen. Er lässt sich mit Holz befeuern, was leicht zu beschaffen, aber sperrig ist. Auf langen Reisen, wenn der Platz knapp bemessen ist, kann man ihn auch mit Destill betreiben, das durch Düsen in die Brennkammer eingespritzt wird. Destill ist schwer herzustellen, aber an Bord beansprucht es weniger Platz als Feuerholz, weil es sich in Kanistern oder sogar in Häuten transportieren lässt. Ob mit Holz oder Destill, es geht in jedem Fall darum, den Kessel zu erhitzen und Dampf zu produzieren, der einen Zylinder von der Größe eines Eimers antreibt, der wiederum die Räder in Bewegung setzt.

Vater ist zweifellos der beste Motorwagenfahrer von Yam. Es gibt nie Probleme, wenn Vater das Ruder übernimmt. Onkel Borst ist ein ganz anderer Fall. Ich kann mich an mehrere Gelegenheiten erinnern, als der Motorwagen spät nachts ins Dorf gerollt kam, gezogen von zwei Lox, Onkel Borst gedemütigt und zitternd am Lenker sitzend, weil ihm irgendwo in der Wildnis das Destill ausgegangen war.

Man braucht etwas mehr als kundige Vorfahren und gute Sternenträume, um mit einem Motorwagen umgehen zu können. Es hat wenig mit Genetik zu tun, ob man den richtigen Dreh raushat oder nicht.

Aber wahrscheinlich können Sie mir gar nicht mehr folgen. Ich vergesse ständig, dass Menschen Dinge lernen müssen. Wir Stilk nicht. Das Wissen liegt bereits in unserem genetischen Gedächtnis – natürlich nur, wenn einer unserer Vorfahren dieses Wissen besaß. Der Trick besteht darin, es zu finden. Durch Sternenträumen. Für Sie als Mensch muss es sehr schwierig sein, sich mit jeder Generation von neuem Wissen anzueignen, ähnlich wie wir jeden Morgen das Feuer des Motorwagens neu entfachen müssen. Kein Wunder, dass Sie Bücher, Magnetbänder und Disketten und ähnliche Sachen brauchen.

Viel später sagte Vater beiläufig: »Hübsches Kind, diese Talis.«

Mit seinem lässigen Tonfall konnte er mir nichts vormachen. Die Bemerkung war mit Bedeutung überfrachtet. Die unglaubliche Schönheit von Talis konnte ihm nicht entgangen sein, ob sie nun Schwimmhäute hatte oder nicht. Außerdem hatte sie Schuhe getragen.

Wir Stilks neigen dazu, längeren Gedankengängen zu folgen. Doch ein solcher Weg kann bei uns bis zu den Erinnerungen vieler Vorfahren führen. Und ich wusste, was Vater zu seiner Bemerkung veranlasst hatte.

Es war der Anblick von Mister McNeils Residenz am Hügel, mit dem Garten voller exotisch bunter Blumen.

Ein großes rundes, von Menschen gebautes Ding, wie ein Schirmfisch, ganz anders als die Formen normaler Häuser. Es schimmerte silbrig-rot im Licht der untergehenden Sonne Phu. Und wie ein Parasit klebte seitlich daran die baufällige Hütte des Nirgendwo-Mannes.

Dieser kleine Skandal hatte sich nicht zu meinen Lebzeiten ereignet. Aber Großvater – Yam Ernest, der vor einigen Jahren einen Messerstich in den Rücken bekommen hatte – konnte sich aus seiner Jugendzeit noch gut daran erinnern. Und ich bin mit diesen Erinnerungen vertraut, bis hin zu dem Moment, als Großvater und seine Frau an einem Sommertag gemeinsam hinter den Lox-Ställen lagen und Vater zeugten. Danach hätte Großvater sonstwelche Verbrechen begehen können, von denen ich nichts wusste. Deshalb streben wir danach, so spät wie möglich Kinder zu bekommen, um zu gewährleisten, dass möglichst viel von unseren Erinnerungen weitergegeben wird. Sie wundern sich, dass ich Ihre Sprache so gut beherrsche? Das liegt daran, dass ich alles weiß, was meine Vorfahren im Laufe der Generationen an menschlichem Vokabular gelernt haben. Wichtiges Wissen darf nicht in Vergessenheit geraten.

Das Problem ist nur, dass auch schmachvolles Wissen nicht in Vergessenheit gerät.

Als Großvater zwanzig war, nahm er einen Freund auf eine Spritztour mit dem Yam-Motorwagen mit. Er war der nächste Anwärter auf den Posten des Hauptmanns, so dass er sich so etwas erlauben konnte. Ich habe diese Ereignisse beim Sternenträumen miterlebt, und sie stehen mir genauso klar vor Augen, als wären es Erinnerungen aus erster Hand. Die Straße nach Noss, hell und staubig. Hinter dem Männerdorf die schmale Spur, die durch Meertrinker hinaufführt, am heiligen Wald aus Anemonen- und Tassenbäumen entlang, bis hinauf zur Hügelkuppe. Das entsetzte Kreischen eines Grummers, der von einem Baum gefangen wurde. Die freie Fläche auf der Hügelkuppe, über die der Wind weht. Die dicke Grume des Meeres mit fernen Vögeln wie Schneeflocken. Die felsige Küstenlinie, die sich bis Pallahaxi hinzieht, der uralten heiligen Stadt, die wie ein Dreckklumpen am Horizont zu erkennen ist.

Und mein junger Großvater und sein Freund Hotsch, die entspannt in der Sonne plaudern.

Und bald leichte Langeweile und die Verlockung.

Wir alle haben schon einmal Destill probiert. Die ganz normale Neugier. Zuerst brennt es im Mund, doch später fühlt man sich immer besser. Noch später fühlt man sich ziemlich elend, aber wer schaut schon so weit in die Zukunft? Für uns Stilk ist die Vergangenheit viel wichtiger. Großvater hebt schmunzelnd einen Kanister mit Destill aus dem Motorwagen. Ich kann ihn spüren, als würde ich ihn in diesem Moment in der Hand halten, aus Metall und rot lackiert, von Menschen gemacht, schwer vom Inhalt, der drinnen herumschwappt. Großvater schraubt den Deckel ab und nimmt einen Schluck, um den Kanister dann an Hotsch weiterzureichen. In Großvaters Erinnerungen spüre ich die Scham über das, was danach geschehen ist. Er gab sich selbst die Schuld. Ich sehe es pragmatischer und gebe Hotsch die Schuld.

Es überrascht mich, dass Großvater diese Ereignisse nicht mit einem Geas belegt hat, unserem Tabu für Erinnerungen, in denen niemand herumstöbern soll …

Zwei Noss-Mädchen trafen keuchend auf der Hügelkuppe ein und betrachteten den Motorwagen voller Ehrfurcht. Zweifellos dachten sie, dass diese beiden jungen Männer von großer Bedeutung sein mussten, wenn sie mit einem solchen Gefährt unterwegs waren. Es waren hübsche Mädchen, die Spaß liebten und auch für einen Schluck Destill zu haben waren.

Wenig später lagen vier betrunkene junge Leute neben dem Motorwagen, lachend und schmutzige Fischerlieder singend.

Danach werden Großvaters Erinnerungen verschwommen, aber er wusste anschließend noch, dass Hotsch und eins der Mädchen sich irgendwohin zurückgezogen hatten. Danach war er schnell nüchtern geworden und erinnerte sich gut daran, wie eine Gruppe von Noss eintraf, Männer und Frauen einschließlich der Hauptfrau. Und er erinnerte sich an das Geschrei und die schweren Vorwürfe.

Und später in jenem Jahr kam eine Abordnung von Noss nach Yam, und die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Dörfern wurden abgebrochen.

Das Kind wurde in Noss großgezogen, im Frauendorf, wie es bei uns üblich ist. Weil es ein Junge war, zog er im Alter von fünf Jahren ins Männerdorf um. Normalerweise werden Jungen von ihren Vätern unter die Fittiche genommen, aber dieser Junge hatte keinen Vater in Noss. Auch in Yam nicht, da Hotsch das Dorf verlassen hatte, um in Alika ein neues Leben anzufangen. Also war es ein Waisenkind und eine Absonderlichkeit, das Ergebnis einer Rassenmischung, eine Missgeburt, die nur zufällig wie ein normaler Stilk aussah. Ich wusste nicht, ob er Schwimmhäute an den Füßen hatte oder nicht. Wahrscheinlich sowohl als auch. Da niemand die Verantwortung für ihn übernahm, wurde er im Dorf zu einem Problem, und als er erwachsen geworden war, ließ er sich überhaupt nicht mehr bändigen.

Fairerweise müssen wir berücksichtigen, dass sein gesamtes genetisches Wissen von männlichen Vorfahren aus Yam stammte. Diese Erinnerungen sind geschlechtsspezifisch. Er war einfach fehl am Platze und versuchte sich in einer Fischerkultur zurechtzufinden, die für ihn keine Bedeutung hatte. Nach mehreren unangenehmen Zwischenfällen warf man ihn raus.

Er verschwand für eine Weile. Manche Leute sagten, er wäre nach Pallahaxi gegangen und hätte dort viel gebetet. Dann sah man ihn eines Tages auf der Küstenstraße, und kurz danach hieß es, er hätte in der Nähe der Residenz des Menschenbotschafters Holz gehackt. Bald hatte er an der silbernen Wand einen Anbau für sich zusammengezimmert. Ein angemessener Wohnort, da er auf halbem Wege zwischen Yam und Noss liegt. Die Leute warteten darauf, dass der Botschafter ihn zum Rax schickte, aber dazu kam es nie. Jahre vergingen, die Botschafter wechselten, Mister McNeil traf ein, aber der Nirgendwo-Mann war immer noch da.

Und all das hatte meinen Vater veranlasst, zu mir zu sagen: »Hübsches Kind, diese Talis.«

Die Bemerkung war doppeldeutig gemeint. Erstens: Talis ist genauso wie du, Hardy, viel zu jung, um die verschwitzten Freuden der Sexualität genießen zu können. Und zweitens: Du solltest die Finger von ihr lassen, du verfrorener kleiner Drecksack, weil sie eine Flunder und demzufolge eine verbotene Frucht ist.

Also sagte ich: »Hm.«

Es folgte ein bedeutungsvolles Schweigen zwischen Vater und Sohn. Ich wusste genau, dass er weiter über das Thema Rassenmischung nachdachte. Angesichts der Schönheit von Talis hätte es mir nichts ausgemacht, selber darüber nachzugrübeln, aber es musste ein neues Thema her, bevor Vater trübsinnig wurde.

»Ist es wirklich so schlimm mit der Ernte und so, Vater?«

»Wie? Oh ja. Ich habe gestern mit Wanda gesprochen, und sie meinte, wir müssten in diesem Jahr mit einem Rückgang von etwa einem Viertel gegenüber dem Vorjahr rechnen.«

Yam Wanda ist unsere Hauptfrau und eine absolute Nervensäge. Aber selbst wenn man ihre Neigung zur Angstmacherei berücksichtigte, war die Lage offensichtlich ernst. Man musste sich nur die Felder des Dorfes ansehen. Der Winter war lang gewesen, der Frühling war spät gekommen, der Sommer war kühl, und das Getreide war nur halb so hoch gewachsen wie sonst.

»Und das vergangene Jahr war schlimmer als das Jahr davor«, sagte ich düster und zeigte angemessene Besorgnis für unsere Gesellschaft. Mir war aufgefallen, dass in letzter Zeit viele Leute ihre Zeit mit Gebeten im Tempel von Yam verschwendeten, was immer ein gutes Barometer für die allgemeine Stimmung war.

Wenig später bekamen wir Hunger und hielten an, um eine Tasse Stuva-Tee zu trinken, wozu wir heißes Wasser aus dem Kessel des Motorwagens benutzten. Vater holte einen Beutel mit geräuchertem Fisch, zweifellos ein Geschenk von der vernarrten Lonessa, und wir kauten darauf herum. Dunkelheit und Kälte waren im Anmarsch, was uns große Angst eingeflößt hätte, wenn wir mit einem Lox oder zu Fuß unterwegs gewesen wären. Aber wir beendeten unsere Mahlzeit, bestiegen wieder den Motorwagen und genossen die angenehme Wärme darin, und Vater öffnete die Drossel. Der Auspuff gab sein beruhigendes rhythmisches Schnaufen von sich, und wir rumpelten im schwachen Schein der Fahrlichter dahin.

»Sie ist eine nette alte Dame, diese Lonessa«, sagte ich beiläufig, nachdem ich genügend Zeit gehabt hatte, mir den exakten Wortlaut meiner Bemerkung zu überlegen.

Ich wusste, dass Vater mir einen zutiefst misstrauischen Blick zuwarf, weil in diesem Moment die Klappe der Brennkammer offen stand, aber ich glaube, er konnte mein Gesicht nicht so deutlich sehen wie ich seins.

Dann gluckste er amüsiert. »Du bist ein frecher verfrorener Bengel, Hardy«, sagte er. »Eines Tages wird dich das in große Schwierigkeiten bringen.«

Auch ich lachte, und bald kamen wir an kleinen Gruppen von Leuten vorbei, die sich am Stadtrand von Yam um die öffentlichen Radiatoren versammelt hatten und plauderten. Wir fuhren winkend weiter, bogen mit dem Motorwagen auf den Hof von Onkel Borst ein, löschten das Feuer zu einem schmorenden Haufen und schnauften mit dem letzten Dampf im Kessel in den überdachten Schuppen.

So endete mein siebzehnter Geburtstag.

»Und was ist nun wirklich mit dem Boot passiert, Hardy?«, fragte Kaunter.

»Ja, was ist nun wirklich mit dem Boot passiert«, wiederholte der Flegel Drücker.

Ich war ihnen zwei Tage lang aus dem Weg gegangen, und am dritten Tag war ich die Straße nach Totney ein Stück entlanggegangen, um dann auf einen schmaleren Weg abzubiegen, der zu einem von Bäumen gesäumten Teich führte. Das war mein Lieblingsplatz, wenn ich allein sein wollte. Der Teich ist fast kreisrund und durchmisst weniger als zehn Schritt. Ein guter Ort zum Sternenträumen. Jeder von uns hat einen solchen Platz. Ich machte es mir unter einem Gelbballbaum bequem und zog meine Pfeife und einen Beutel mit Hatsch hervor. Die Sonne schien hell, aber meine Stelle lag im Schatten, und Summfliegen schwirrten herum, die geschickt den schnappenden Fransenblumen auswichen. Ein Schneetaucher stieß fast senkrecht in den Teich und kam unversehrt mit einem kleinen Fisch im Schnabel wieder hoch. In diesem Binnensee gab es keine Eisteufel.

Ich stopfte und entzündete meine Pfeife. Es war Zeit zum Sternenträumen.

Zuerst tauchte ich in Vaters Erinnerungen ein. Vater unterscheidet sich von den meisten anderen, weil er diese ungesunde Beziehung zu meiner Mutter Yam Lenz hat.

ENDE DER LESEPROBE