6,99 €
Wettlauf gegen die Zeit
Arkadia ist ein erdähnlicher Planet, aber zu neun Zehnteln von Wasser. Alle 52 Jahre stehen die sechs Monde des Planeten in einer Reihe. Dann werden die Küsten des kleinen Kontinents von einer gewaltigen Springflut heimgesucht - doch das ist noch nicht alles: Bei der letzten Flut geschahen in den Küstenstädten rätselhafte Dinge. Die sonst so friedlichen Kolonisten gerieten aneinander, es gab Mord und Totschlag, nur wenige Siedler überlebten den Aufruhr, und sämtliche Küstenstädte brannten nieder. Die Aufzeichnungen sind spärlich, aber die Wissenschaftler vermuten, dass die Ursache für die plötzliche Aggressivität in einer Besonderheit der arkadischen Ökologie liegen muss. Die nächste Flut steht kurz bevor, die Nervosität wächst, es kommt zu den ersten Aggressionen – aber die Forscher tappen noch immer im Dunkeln, und die Zeit wird knapp …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 321
MICHAEL G. CONEY
FLUT
Roman
Eines Abends, etwa ein arkadisches Jahr vor dem Beginn des Relaiseffektes, besuchten Sheila und ich eine Tanzveranstaltung in der Festhalle von Riverside. Das Haus war voll – eine drängelnde Menge von Menschen, die fest entschlossen waren, sich zu amüsieren, und wild zum unregelmäßigen Rhythmus einer schlechten Band hüpften. Der Conférencier war speziell zu diesem Anlass eingeflogen worden; er war, so sagte man uns, eine Lachbombe – eine echte Kanone, der jede Party in Gang brachte. Schon als ich dies hörte, versuchte ich, eine Ausrede zu finden, um nicht hingehen zu müssen, Sheila jedoch war hartnäckig. Jedermann, so schien es, ging hin; und stillschweigend stand dahinter der Gedanke, dass diese Veranstaltung der Beginn einer neuen Beziehung zwischen der Forschungsstation und den Kolonisten von Riverside war.
Um Mitternacht war die Tanzerei auf ihrem Höhepunkt, die Band ohrenbetäubend, der Trompeter schwankte und blies mit einer Heftigkeit, dass man glaubte, er bekäme gleich einen Herzanfall. Ich saß mit Sheila an einem Seitentisch und trank, während sie wehmütig auf den vollgepackten Tanzboden hinübersah, auf dem gerade ein altmodischer Tanz aus Schottland auf der Erde aufgeführt wurde. Ich kannte diesen Tanz nicht. Der Rhythmus irritierte mich. Die Leute hopsten in kleinen Kreisen herum, und einer nach dem anderen sprang in die Mitte, um dort eine Einzelvorstellung zu geben.
Mein Auge fiel auf einen jungen Mann; mit Interesse beobachtete ich, wie er im Kreis seiner kleinen Gruppe herumstolzierte, sein Gesicht rosa und schweißüberströmt, und wie er diesen Moment großer Freude auskostete, der nur noch dadurch zu überbieten war, dass er selbst ins Kreisinnere trat. Nach zwei Fehlstarts kam seine Chance, und er tänzelte nach vorne mit hocherhobenen Armen, hüpfte und zeigte sich, während er falsetthohe schrille Schreie ausstieß wie ein misshandelter Hund. Schließlich zog er sich mit strahlenden Augen und schweißüberströmt zurück und klatschte rhythmisch in die Hände, während eine hochgewachsene Frau versuchte, diese Possen zu imitieren. Er faszinierte mich, dieser junge Mann. Ich fragte mich, was ihn denn so anstachelte – im normalen Leben war er ein ausgesprochen ernsthafter junger Wissenschaftler in meiner Forschungsstation. Der Tanz ging zu Ende, allgemeiner Applaus der Teilnehmer brach los, der Conférencier nahm wieder das Mikrophon. Es war ein großer, dunkelhaariger Mann mit einem aggressiven Lächeln und hypnotischen Manieren. »Nun, meine Damen und Herren!«, bellte er. Er hielt für eine Sekunde inne, um die Wirkung zu erhöhen, dann brüllte er siegesgewiss: »Jetzt geht's los zur Schlange! Alles auf den Tanzboden!«
Tumultartiges Beifallgetöse. Die Leute begannen sich zu winden. Ich hörte entzückte Schreie wie »Oh, die Schlange!« und dann begann ein Massenexodus von den Tischen zur Tanzfläche. Sie hatten den schottischen Tanz schon vergessen; sie wollten jetzt die Schlange bringen. Die Schlange war das Höchste. Ich spürte, wie Sheila an meiner Hand zupfte, und sah hoch. In ihren Augen schimmerte Vorfreude; sie stand da und nahm es offensichtlich für sicher an, dass ich ebenfalls die Schlange tanzen wollte. Jeder liebte die Schlange …
Resigniert stand ich auf. Gehorsam begann ich mich zu winden, etwas außer Rhythmus. Ich sah mich peinlich berührt um, wie jeder sich wand. Der rosafarbene junge Wissenschaftler war besonders glücklich; ein kompliziertes Manöver hätte ihn fast auf die Knie geworfen.
Ich sagte sarkastisch: »Wenn ihnen die Schlange so gefällt, warum tanzen sie sie nicht den ganzen Abend? Warum sich die Mühe der anderen Tänze machen?«
Sheila starrte mich verständnislos an und wand sich weiter.
Die dunkle See war ganz ruhig, und kleine Wellen schlugen in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne gegen das Schiff. Die Ruderpinne in meiner Hand rührte sich ein wenig, leicht angeschubst von den Wellen, und zitterte zum gedämpften Tuckern des fünfeinhalb PS-Außenbordmotors. Es herrschte schwacher Wind, gerade ein leichter Hauch auf unseren Gesichtern, als Jane und ich in geselligem Schweigen im kleinen Cockpit der Karussell saßen. Über uns schwang schlaff die Spiere zum einschläfernden Schaukeln des Bootes; nachlässig aufgerollte Segel hingen herab. Ich mag die alten Segelboote. Und sie haben noch ihren Platz, trotz allen Fortschritts, wie ja so oft von den Fischern von Riverside angesichts der neuen Luftkissentrawler behauptet wird, die sie sich selbst nicht leisten können. Es dauert viele Generationen, ehe eine neue Kolonie den Lebensstandard der Erde erreicht hat …
Im Süden kroch der letzte der arkadischen Monde auf den Horizont zu. »Da geht Gimel hin«, bemerkte ich. Meine Stimme klang laut in der Abendstille.
Jane sah sich um und blickte nach der kleinen Silberscheibe. »Ist ein merkwürdiges Gefühl«, sagte sie. »Ich bin neunzehn Jahre alt und habe noch keine Nacht ohne Mond erlebt. Ich kann es mir gar nicht vorstellen. Einfach nur ganz schwarz. Ohne etwas da oben.« Ein Drachenkäferchen – ein winziger, glühender Käfer an einem dreieckigen schimmernden Gewebe hängend – segelte am Mast vorbei.
»Es sind ja immer noch die Sterne da«, erinnerte ich sie.
»Das ist nicht das Gleiche. Es hat so etwas … Endgültiges an sich, den letzten Mond untergehen zu sehen. Als ob alles zu Ende wäre.«
Ich lachte. Jane hatte eine Tendenz zu übersteigerter Phantasie. »Denk dran, auf der anderen Seite der Welt stehen alle sechs Monde. Und morgen werden sie über uns stehen. Du siehst sie nur nicht im Tageslicht. Aber wir wissen, dass sie da sind …«
»Du meinst die Gezeiten?«
»Ich denke, wir sind darauf vorbereitet.«
Nichtsdestotrotz war ich besorgt. Die Monde von Arkadia beschreiben unregelmäßige Bahnen: Das Phänomen, das in den nächsten paar Wochen eintreten würde, trat nur alle zweiundfünfzig Jahre auf. Wir konnten nur hoffen, dass alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden waren. Eine weitere Komplikation stellte die Skizzenhaftigkeit aller Aufzeichnungen dar, die die vorherigen Male beschrieben. Ich bin Arkadier der fünften Generation. Der Planet, der zu neunzig Prozent aus Wasser besteht und nur einen einzigen äquatorialen Kontinent besitzt und ein paar verstreute Inseln, wurde von der Erde vor hundertdreißig Jahren kolonisiert. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt und war noch nie Zeuge dieser einzigartigen Konstellation der sechs Monde.
Einige der älteren Mitglieder der Siedlung von Riverside erinnern sich, aber sie sind auf merkwürdige Weise verschwiegen. Alles, was man weiß, ist, dass es unerklärliche Ausschreitungen und Überschwemmungen gegeben hat. Einige der ältesten hatten seltsame Theorien. Sie sprachen von einem Werwolfeffekt – Gott weiß, wer auf die Idee gekommen ist, aber sie entsprang sicherlich der reinen Phantasie. Vor ein paar Wochen hatte ich mich mit Jed Spark im Clubtreff darüber unterhalten. Er ist sechzig Jahre alt, Arkadier der dritten Generation, und er spricht mit einer Autorität, die aus seinem Greisenalter erwächst.
»Es ist einleuchtend«, sagte er. »Wenn du alle sechs Monde nebeneinander reihst, so hat das eine Auswirkung auf das Denken der Leute. Die Gravitation zerrt am Gehirn; sie verdreht es. Ich erinnere mich – ich war damals noch ein Kind –, dass es das letzte Mal ungefähr um die Weihnachtszeit geschah. Meine Leute übergaben mir ein Geschenk, ein großes Paket. Ich sah es an und sah sie an, und plötzlich wusste ich, was in der Verpackung drin war. Als ich sie öffnete, stellte sich meine Annahme als richtig heraus; es war eine altmodische Eisenbahn mit einer roten Lokomotive, die von der Erde importiert worden war. Es muss sie ein Vermögen gekostet haben. Aber das Gefühl, das Ding durch das Geschenkpapier hindurch erkannt zu haben, warf mich ein bisschen aus der Bahn, das kann ich Ihnen sagen.« Er schauderte theatralisch und ließ sich für die geistige Erschöpfung ein Bier ausgeben.
Damals hatte ich gelächelt, aber vor ein paar Wochen kamen vier Männer in der Forschungsstation an. Ich kannte einen von ihnen flüchtig, einen Mann namens Arthur Jenkins; ich hatte ihn bei einem Wissenschaftskongress vor neun Monaten getroffen. Obwohl unsere Gebiete völlig entgegengesetzt sind, hatten wir eine interessante Unterhaltung während eines besonders langweiligen Vortrags. Ich bin Meeresbiologe, und er findet diesen Forschungsbereich faszinierend – ich habe ihn während der letzten zwei Wochen jedoch kaum gesehen. Arthur und seine Männer bilden offensichtlich eine Art Team, und der Gegenstand ihrer Forschungen ist geheim. Eines weiß ich – Arthur ist Psychiater, was vermuten lässt, dass sie uns, die Leute von Riverside, untersuchen und unsere Reaktion auf das Zweiundfünfzig-Jahre-Phänomen. Es erscheint schon ziemlich merkwürdig, dass die Reaktion, wie immer sie sein mag, lediglich bei den Leuten in Küstenbereichen eintritt. Oldhaven, unser nächster großer Hafen, wurde damals bis auf die Grundmauern niedergebrannt; die Leute griffen ihre besten Freunde an, sagt man …
Ich sah zu, wie eine lautstarke Meute Nöler sich um einen Fisch stritt, den einer von ihnen bei einem ihrer typischen, ungeschickten Tauchversuche gefangen hatte. Um sie her schwebten winzige Meuler über die Oberfläche – Seevögel, deren Nahrung aus Plankton besteht, das sie mit ihren winzigen, nadelähnlichen Schnäbeln von der Wasseroberfläche picken.
Ich richtete mein Denken wieder auf die Gegenwart – Jane sagte eben: »Sie behaupten, der Unterschied zwischen Ebbe und Flut könne bis zu fünfundzwanzig Meter betragen.« Bei der normalen Konstellation der arkadischen Monde ist der Tidenhub kaum ein Fünftel davon.
»Das stimmt schon. Wir haben alles ausgearbeitet. Ein paar Leute werden aus ihren Wohneinheiten evakuiert werden müssen auf höheres Gelände, und wir haben Notunterkünfte im Forschungszentrum errichtet und ein paar Leute, die höher wohnen, haben Quartiere bereitgestellt. Sobald die Flut ausläuft, werden wir alle runtergehen und Hand anlegen, um ihre Wohnungen wieder herzurichten. Es ist nur eine Frage der gemeinsamen Anstrengung. Ich glaube, dass alle helfen werden.« Riverside hat etwa fünfhundert Einwohner, von denen etwa ein Fünftel in der Station beschäftigt ist; die Subkolonie ist auf verschiedenen Höhen an den Hängen links und rechts der Flussmündung gelegen. Ich nahm an, dass etwa dreißig Wohneinheiten für eine Periode von mindestens zwei Wochen unbewohnbar sein würden – in der Tat waren schon viele der tiefliegenden Häuser zu jeder normalen Flut fast überschwemmt.
»Und was ist mit den Fischen?«, fragte Jane.
Das war ein größeres Problem. Die Privatkolonisten von Riverside hingen vom Fischfang und von der Landwirtschaft ab.
Eine Zeitlang lag die Fischerei ganz in den Händen einer Flotte von acht kleinen Trawlern; diese stachen noch jeden Tag den drei Kilometer langen Mündungsarm hinab in See und kehrten am Abend bis an die Schandeckel beladen zurück. Doch vor fünf Jahren erschien ich auf der Szene, und die Riverside-Biologie-Forschungsstation wurde errichtet. Unser erstes Projekt war, die Bedingungen für Fischzucht, wie sie auf der Erde betrieben wird, zu untersuchen. Wir müssen mit der Zeit gehen; eine Kolonie darf nicht stagnieren, was die Technik betrifft, trotz ihres Reichtums an natürlichen Nahrungsquellen wie auf Arkadia. Mit einem minimalen Budget und gegen den Widerstand zahlreicher lokaler Opponenten stellte ich die Sache auf die Beine. Heute erstreckten sich sechzehn Gehege westlich der Flussmündung und bedecken ein Gebiet von fast tausend Hektar. Jetzt war ich mit dem größten Problem konfrontiert. Zur Zeit der Ebbe würde die Population zu dicht werden und die Fische verhungern – der arkadische Fatty hat einen hohen Stoffwechsel –, wohingegen sie bei Flut in der Lage sein würden, über die Käfige hinauszuschwimmen und so zu entkommen.
»Wir werden sie bei jeder Flut füttern«, erklärte ich. »Wir fahren mit Schiffen über die Gehege hinweg und streuen Trockenfutter aus. Das sinkt dann auf den Meeresboden. Das wird die Fatties ermutigen, in den Gehegen zu bleiben und sich vom Meeresboden zu ernähren. Selbst wenn die Ebbe kommt und es eng wird, haben sie noch genug zu fressen.«
»Das wird eine Masse Arbeit. Wie werden wir mit sechzehn Gehegen zurechtkommen?«
»Ich habe die Trawler requiriert. Sie liegen an der Mündung vor Anker, vollgeladen mit Trockenfutter, wir werden sie zu den Gehegen fahren und dort das Futter ausstreuen wie Saatgut.«
Jane lachte. »Ich glaube nicht, dass du dich damit bei den Fischern beliebt machen wirst.« Die Fischer dachten – und zu Recht –, dass die Fischzucht sie irgendwann einmal arbeitslos machen wird. Das ist der Hauptgrund für jene unterschwellige Missstimmung zwischen den Kolonisten und der Forschungsstation.
»Sie können die Trawler doch für nichts anderes gebrauchen. Bald wird die Mündung mit jeder Ebbe austrocknen, abgesehen von ein paar Pfützen. Und die Flut wird so stark sein, dass sie ihr Leben riskieren, wenn sie versuchen, in See zu stechen. Ich glaube nicht, dass sie ernsthaft betrübt sind. Und es gibt ihnen die Gelegenheit, sich wieder einmal über die Behörden zu beklagen, was ja doch ihre Lieblingsbeschäftigung ist.«
»Deswegen hast du das ganze Zeug den Pfad hinauf auf die Landzunge geschafft. Du hast das schon vor Monaten geplant.«
»Ich konnte wirklich kein Wort sagen. Glücklicherweise sind die Fischer von Riverside nicht sehr weitsichtig. Wenn sie gewusst hätten, was ich vorhabe, so hätten sie eine Bewilligung beantragt, den Pfad zu verbreitern und zu betonieren, und dann ihre Fische von der Landzunge zur Kolonie geschafft. Dazu ist es jetzt zu spät. Die Straße ist gerade so gut, dass man sie mit einem Traktor mit Anhänger befahren kann. Ich habe über hundertmal hin- und herfahren müssen, um das Futterdepot anzulegen.«
Jane schwieg. Ihr Gesicht schimmerte im Licht der Kabine gedankenverloren, und ich empfand die übliche Wehmut, wenn ich wieder einmal feststellte, wie sehr sie Sheila ähnlich sah …
Wir fuhren nun zwischen den hohen zerklüfteten Landzungen der Mündung; sie wirkten bedrohlich im ungewohnten Dämmerlicht. Die Ebbe wich schnell zurück, und die Karussell bahnte sich langsam ihren Weg durch das schwarze strudelnde Wasser. Vom Bug aus verlief eine V-förmige Welle in hellem phosphoreszierendem Winkel hinaus in die Dunkelheit.
»Das Wasser muss ganz dick sein vom Plankton«, bemerkte ich und gab mir Mühe, mich von jenen unglücklichen Erinnerungen zu lösen. Die Meuler bedeckten die Wasseroberfläche, fraßen wie besessen und stießen pfeifende Schreie aus.
»Ich habe es auch schon bemerkt. Es sieht so aus, als blieben sie im Flussbett, ob bei Ebbe oder bei Flut. Bei Niedrigwasser sieht's im Kanal aus wie Suppe. Es sind Milliarden, die gegen die Ebbe ankämpfen. Heute Abend scheinen es sogar noch mehr zu sein.«
Um das Boot her tauchten andere Wellen auf – blaue, schnell voranziehende Spuren, in denen gelegentlich dreieckige Rückenflossen aufschimmerten. »Und Schwarzfische«, sagte ich. »Sie scheinen sich hier im Flussbett zu sammeln. Ich hoffe, dass sie nicht in die Gehege eindringen.«
Der Schwarzfisch ist das arkadische Äquivalent des terrestrischen Hais. Schlank, schnell und unglaublich wild, erbeuten sie die Fatties und sind der Ruin jedes Fischers, da sie mit ihren nadelscharfen Zähnen die Netze aufreißen und nur Fetzen zurücklassen. Ein Schwarzfisch in einem meiner Gehege könnte die Fatty-Population in ein paar Stunden dezimieren. Sie töten sofort, vergraben ihre Zähne in ihre Beute direkt hinter dem Kopf, dann stürzen sie sich schon auf die nächste. Sie töten blindlings, offensichtlich aus reiner Lust, und machen nur selten eine Pause, um etwas von ihrer Beute zu essen. Die Fischer tragen Gürtel mit einer abstoßenden Lösung, wenn sie auf See sind; die Lösung wirkt nicht immer … Wie ich so hinsah, erhob sich ein Schwarzfisch in einem glitzernden Aufschwung, schnappte einen der schwebenden Meuler und sank wieder unter die Oberfläche zurück. Die letzten schwachen Strahlen von Gimel schimmerten silbern auf der schlammigen Oberfläche, als wir die letzte Meile fuhren, der Motor arbeitete sich durch die schnelle Strömung vorwärts, die Luft war salzig von gestrandetem Plankton und beißend von Benzingeruch. Auf jeder Seite türmten sich schwarz die Berge aus, waren lediglich da und dort von den freundlichen Lichtern der Kolonie erhellt. Ich dachte an die gemütliche Atmosphäre im Clubtreff und an den kühlen Geschmack des Biers.
Ich gab der Ruderpinne etwas Spielraum und folgte dem Kanal. Er führte nach rechts dicht an der steilen felsigen Küste entlang, wo vor Jahrzehnten ein Teil der zerklüfteten Felsen des langen Grats heruntergebrochen und aufs Ufer herabgestürzt war und in einem wirren Haufen herumlag. Die Gezeiten hatten den Stein schon etwas abgeschliffen; nun hing Moos an den Findlingen und etwas weiter unten Seegras. Knorrige Bäume waren mutig zwischen sie gekrochen, bis direkt ans Flussufer, wo sie von sicheren Standorten aus, die auch bei Flut trocken blieben, probeweise die Zehen ins Wasser streckten. Für die kommenden Wochen würden diese Bäume jedoch ihre Stellung bald gefährdet sehen, weil das steigende Wasser selbst die Blätter ihrer Kronen ertränken würde. Innerhalb eines Monats würden sie unwiederbringlich von der salzigen Flut vergiftet sein und später im Jahr würden sie über das Wasser ragen, abgebrochen von ihren Wurzeln und gegen die steilen Ufer geschwemmt, um halb vergraben liegenzubleiben wie …
»Denk nicht an sie, Mark!«
Ich sprang dümmlich auf, erschreckt von Janes plötzlichem Befehl. »Wie …?« Meine unfreiwillige Frage versandete. Ich wusste, woher sie es wusste.
»Du denkst immer an sie. Wann immer wir bei Dunkelheit am Ankerteich vorbeikommen, denkst du an Sheila. Es ist Zeit, dass du an jemand anders denkst. Es gibt so viele hübsche Mädchen in der Kolonie. Hör auf wie ein Einsiedler herumzugehen und geh mal wieder etwas aus, zu Tanzveranstaltungen oder so etwas. Es hat keinen Sinn, deine Abende nur im Clubtreff zu verbringen und die Morgen damit, dich davon zu erholen. Zuerst warst du traurig wegen ihr, aber inzwischen bist du traurig wegen dir. Ich bin auch traurig; schließlich war sie meine Schwester. Aber ich bin darüber hinweg. Es ist allmählich Zeit, dass du auch darüber hinwegkommst.«
Ich starrte sie an. Ich war erstaunt über die Heftigkeit ihres Ausbruchs, der mir von ziemlich schlechtem Geschmack schien. Sie sah grimmig den Fluss hinauf, und das Licht in der Kabine unterstrich den entschlossenen Zug ihres runden Kinns, Sheilas Kinn … Sheilas Haare waren jedoch schulterlang und blond gewesen, wohingegen die von Jane kurz und kupferfarben waren. Und sie waren ganz verschiedene Charaktere, Sheila mit ihrem unbekümmerten Charme kontrastierte scharf mit Janes offenem, manchmal etwas rauem Stil.
»Ich habe sie geliebt«, sagte ich leise und traurig und war mir bewusst, dass ich schauspielerte, dass ich versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, indem ich an ihr Mitgefühl appellierte.
»Dann verlieb dich eben wieder«, gab sie grob zurück, unbeeindruckt. »Du hast ja bewiesen, dass es geht.«
Wir kamen nun an den ersten Wohneinheiten von Riverside vorbei. Ein sauberes Dreieck erleuchteter Fenster wies Mrs. Earnshaws Haus zwischen den Bäumen aus. Sie war vermutlich wieder mit einem ihrer endlosen Bridge-Abende zugange, die sie mit den wohlhabenderen der Privatkolonisten organisierte. Sie selbst war eine wohlhabende Frau, die mit einer Hausdame lebte, und ihre Wohneinheit war ein Eldorado teurer importierter Möbel und Schnickschnacks. Ich hatte sie einmal kennengelernt. Ich fand sie abscheulich mit ihrer bulldoggenartigen Miene und der Stimme eines Nebelhorns; irgendwie erzeugte sie in mir das Gefühl, als hätte ich ihr Ass unsaubererweise übertrumpft. Mit perversem Vergnügen stellte ich fest, dass ihr Haus unterhalb der erwarteten Hochwassermarke lag …
Ich drosselte den Motor und lenkte die Karussell vorsichtig den düsteren Fluss hinauf; es wäre nicht gut, die Fahrrinne zu verfehlen und aufzulaufen. Mit der Ebbe müssten wir bis zum Tagesanbruch warten, ehe wir wieder loskämen. Das würde bedeuten, den Fluss hindurchzuwaten und das Boot sich selbst zu überlassen. Ich konnte mir schon Janes Kommentar vorstellen, wenn sie sich durch den stinkenden, knietiefen Matsch kämpfte …
»In wen sollte ich mich denn wieder verlieben, Jane?«, fragte ich leichthin und spielte das Spiel weiter.
Sie lachte, der peinliche Moment war vorüber. »Jedenfalls nicht in mich. Wenn ich heirate, dann einen Mann und nicht einen liebeskranken Trunkenbold, der nur von der Vergangenheit lebt.«
»Du wirst noch eine alte Jungfer, ehe du den Typ findest, den du willst, Jane. Erinnere dich daran, was die Regierung sagt. Es ist die Pflicht der Kolonisten, Kinder zu bekommen. Gehet hin und mehret euch!«
»Ich werde mich mehren, wenn ich es will, nicht die Regierung. Danke. Ich bin erst neunzehn. Ich habe noch ewig Zeit. Du bist dreißig oder älter – ich war immer der Meinung, dass du für Sheila zu alt warst. Und bei deinem Lebensstil bist du in zehn Jahren steril, wenn die Schwarzfische dich nicht vorher erwischen.«
Nun lachte ich auch. An Jane war irgendetwas Erfrischendes. »Wie kommst du denn mit Phipps voran?«, fragte ich. »Ihr beide scheint euch ja im Club gestern Abend prächtig amüsiert zu haben.«
»Er ist Klasse«, antwortete sie kurz und schauderte in gespielter Ekstase. Dann sprang sie auf die Beine, packte den Bootshaken und ging nach vorne, um das Boot zu vertäuen. »Wir sind da«, rief sie und schwang mit der einen Hand vom Fockstag aus den Haken, während sie mit der anderen übers Wasser griff. »Drossel den Motor, Großvater. Rückwärtsgang! Los doch …«
Ich gehorchte, dann ertönte ein Rasseln, als sie die Kette an Deck zog und vertäute und dabei angeekelt vor sich hin murmelte, als ihre Hände vom öligen Schlick des Flussbetts beschmiert wurden. Wir kletterten ins Beiboot und ruderten zum hölzernen Hafendamm, wo die einzige nackte Lampe an ihrem Pfosten glühte.
Es war spät geworden. Die Flut war fast ganz ausgelaufen, und ich musste das Ruderboot über die letzten Meter fast schieben und hart an den Rudern ziehen, um den Kiel über den schlüpfrigen Schlamm zu bekommen. Wir stiegen aus und machten die Fangleine fest.
»Kommst du noch mit auf einen Drink, Jane?«, fragte ich. Die Lichter der Kolonie erhoben sich vor uns am Hang; hell zeichneten sich die Fenster der Forschungsstation und des Clubtreffs ab. Ich sah Reverend Blood in seiner schwarzen Robe wie einen nächtlichen Raubvogel vorbeiflattern.
»Nein, danke. Ich kann schon alleine einen heben, wenn ich will. Jedenfalls willst du mich gar nicht wegen mir dabeihaben. Du möchtest bloß in der Gesellschaft eines jungen Mädchens gesehen werden. Schmeichelt deinem geschundenen Ego.«
»Stimmt«, gab ich zu. Die Molen waren nass und schlüpfrig; der untere Teil der Straße war schlammbeschmiert von der letzten Flut. Ich fragte mich, wie weit das Wasser in zwei Wochen steigen würde, und hoffte, dass fünfundzwanzig Meter eine großzügige Schätzung waren. Leicht beunruhigt nahm ich Janes Arm und geleitete sie bergauf über die letzte Gezeitenmarke. Wir blieben stehen und sahen auf den Fluss hinab. Er musste mindestens zweieinhalb Meter unter uns liegen.
»Du kannst mich jetzt loslassen, alter Wüstling.« Jane machte sich frei. »Ernsthaft, Mark. Hältst du es für einen guten Einfall, jeden Abend im Clubtreff zu verbringen? Warum gehst du nicht nach Hause, trinkst eine Tasse Kaffee, setzt dich hin und liest oder so etwas.« Im Licht von einem Fenster sah ich ihr Lächeln, als ihr auffiel, wie albern dieser Vorschlag war. »Ich kann ja später mit Alan vorbeikommen, und wir könnten zusammen zu Abend essen.«
»Vielen Dank für die Einladung, Jane«, entgegnete ich sarkastisch, »aber ich habe Besseres zu tun, als für ein junges Liebespaar Anstandswauwau zu spielen.«
»Was für ein Paar? Mach dir bloß keine falschen Vorstellungen über mich und Alan. Das ist eine rein sexuelle Beziehung, das ist alles.« Sie lachte. »Jedenfalls … na, ich sehe dich ja morgen, nehme ich an.« Sie ging schnell weg, die Straße war plötzlich ruhig.
Ich ging bergauf. Nun, da ein Drink in Reichweite war, fiel mir auf, was sich mit so einem Abend verband. Ich werde in dem hellen Clubraum sitzen, sagte ich mir, ein Glas in der Hand, gelegentlich ein Schwätzchen mit Kollegen halten, doch häufiger auf die Unterhaltung der Kolonisten lauschen, gelegentlich eine Bemerkung fallen lassen in der Hoffnung, das Gespräch in die Richtung zu bringen, die in den letzten sechs Monaten jeder peinlich vermieden hatte. Ich würde Frustration empfinden, weil sie nicht darüber sprachen, weil sie glaubten, ich wollte nicht, dass sie darüber redeten …
Sie waren vorsichtig. Sie dachten, es würde mich verletzen, von Sheila zu sprechen. Ohne eine offene allgemeine Diskussion jedoch würde ich niemals in der Lage sein, die Luft zu bereinigen. Ich würde immer mit Mitleid angesehen werden als der Mann, dessen zukünftige Frau drei Tage vor der Hochzeit tot aufgefunden worden war. Ich wollte, dass sie dies vergaßen.
Riverside ist eine kleine Kolonie. Jeder kennt jeden. Die Leute schwatzen, sie erzählen sich Geschichten und spekulieren, und gelegentlich taucht eine überraschende Wahrheit durch einen Fingerzeig in einer zufälligen Unterhaltung auf.
Etwa darüber, wer Sheila ermordet hatte.
Sonntagmittag.
Der Clubtreff war wie immer voll besetzt mit Kolonisten, die vor dem Essen ihren Aperitif tranken, die Luft war dick von Tabakrauch und Gesprächen. Die Innenausstattung ist außergewöhnlich komfortabel – dies verdanken wir John, dem Pächter, der ein Neuankömmling von der Erde ist und erst vor wenigen Jahren hier landete, voller Ideen, wie eine Bar aussehen müsste.
Er steht auf der Gehaltsliste der Forschungsstation und bekommt eine kleine Entlohnung ohne Umsatzbeteiligung, aber dies hat seinen Willen, den Laden in Schwung zu bringen, nicht beeinflusst. Es ist weitgehend Johns Bemühungen zu verdanken, dass die Kolonisten von Riverside genau wie die Leute von der Forschungsstation den Club als ihren Treffpunkt betrachten – was schon wahre Wunder in den Beziehungen bewirkt hat. Im Hinblick darauf habe ich mich niemals Johns häufigen Anträgen für neue Einrichtungen entgegengestellt, und die ursprünglichen klinischen Plastikmöbel (Regierungsausstattung) sind nun alle durch bequeme gepolsterte aus der neuen Fabrik in Oldhaven ersetzt worden.
Seine letzte Bemühung, die den Widerspruch der lokalen Puritaner hervorgerufen hat, war, dass er das ursprüngliche Schild mit der Aufschrift: ALKOHOLAUSSCHANK, ZUTRITT VERBOTEN FÜR JUGENDLICHE UNTER VIERZEHN JAHREN. MUSIK UND TANZ VERBOTEN durch ein Schild mit der Abbildung eines Trawlers von Riverside und der Aufschrift: WILLKOMMEN IM CLUBTREFF VON RIVERSIDE ersetzt hat. Er ist ein beliebter Wirt und versteht sich gut mit dem einzigen Gesetzesvertreter, dem ehrgeizlosen Officer Clarke.
Ich schlug meinen Weg zur Bar ein, bestellte ein Bier, trank in tiefen Zügen und lehnte meinen Rücken gegen die Theke, sodass ich den Raum übersah. Die meisten Stammgäste waren anwesend, wobei sich die Angestellten der Station mit den Kolonisten auf zufriedenstellende Weise mischten. Ich war überrascht, Arthur Jenkins, den Psychiater, mit einem seiner Teammitglieder, Don MacCabe, zu sehen, einem rotköpfigen Mann mit besonderem Akzent, der erst kürzlich von der Erde gekommen war. Sie saßen mit dem Rücken zum Fenster und unterhielten sich; hinter ihnen türmten sich die Dächer der Kolonie auf, die steil zur Wasseroberfläche hin abfielen. Wir hatten nun Flut, und das Wasser musste gut drei Meter über Normal stehen; die untere Kolonie machte einen verlassenen Eindruck. Weiter unten ragten ein paar Dächer über die Wasseroberfläche wie gekenterte Boote. Ich nahm an, dass Arthur und Don uns beobachteten und darauf warteten, dass wir einen Rappel bekamen. Was mich betraf, so vergeudeten sie ihre Zeit. Ich hatte einen leichten Kater; mir fehlte die Energie, um durchzudrehen.
Ich strich herum wie ein schlechtgelaunter Hund, als jemand mir auf die Schulter klopfte und eine Begrüßung ins Ohr grölte. Es war Paul Blake, zwanzig, alleinstehend, überheblich und an diesem Morgen völlig unerträglich. Ich schnaubte und drehte mich weg.
»Fühlen sich wohl nicht besonders gut, Professor Swindon?« John Talbot lehnte sich über die Bar und murmelte mir mitfühlend ins Ohr.
»Ziemlich mies«, gab ich zu.
»War 'ne schwere Schlacht, gestern Abend«, bemerkte John. »Aber schließlich haben Sie ja gewonnen.«
Es war wirklich ein Kampf gewesen. Es ist eine Sache, die Regierungsgenehmigung für die Beschlagnahme der Trawler durchzubekommen, eine andere aber, den Befehl durchzusetzen und die Fischer davon zu überzeugen, dass sie morgen hinaus auf See sollten. Was hieß, heute. Ich bemerkte, dass einige der Fischer im Club anwesend waren und tranken. Die Fahrt am Nachmittag den Fluss hinunter würde stürmisch werden. Farmer Blackstone war dabei, trank riesige Whiskys und stellte eine der kleinen Scherzfragen, die Riverside interessant machten. Er bebaute die letzte landwirtschaftliche Fläche und war bekannt dafür, seine Abgaben nicht zu zahlen – seine Arkühe waren schäbig und sahen häufig unterernährt aus – er war jedoch niemals knapp bei Kasse. Wie konnte er sich diesen Lebensstandard leisten? Keiner wusste es – am allerwenigsten vermutlich die Steuerbehörden.
»Nach ein oder zwei Bier werden Sie sich besser fühlen«, fuhr John fort. »Es gibt nichts Besseres, um einen Kater zu vertreiben, als ein Bier am Morgen. Allerdings …«, seine Stimme wurde spielerisch ernst, »man soll es nicht übertreiben.«
»Keine Sorge«, versicherte ich ihm. »Ich muss für heute Nachmittag einen klaren Kopf behalten.«
Ich nahm mein Glas und ging hinüber, wo Jane und Alan Phipps mit einer Gruppe von Fischern schwatzten. Es ist eine gute Politik, so viel wie möglich mit den Kolonisten im Gespräch gesehen zu werden – und es sorgt auch dafür, dass sich der Gesprächsstoff ändert. Unsere dynamischen jungen Wissenschaftler in der Forschungsstation reden über Fisch, denken an Fisch und – ich habe es mit eigenen Augen gesehen – essen Fisch. Die Ausnahmen sind ein paar wenige Mitglieder der Agrar-Abteilung, deren Existenz wie ein Satellit um die Arkuh, Arkadias Fleischlieferant und Pflanzenfresser, kreist. Meine Abteilung ist die Meeresbiologie, aber ich finde, ich weiß ebenfalls genügend über die Arkuh.
Jane grüßte mich flüchtig und lud mich ein, neben ihr Platz zu nehmen, die Reaktion der anderen war jedoch unterschiedlich. Das Gespräch erstarb.
»Wir redeten gerade über die Fische im Fluss«, sagte Jane fröhlich.
»Das ist nicht normal«, murmelte Eric Phipps, Alans Vater, düster.
»Man sollte denken, dass es euch gerade recht käme«, sagte ich.
»Es sind zu viele. Eine Schwemme. Das senkt den Marktpreis. In jedem Fall haben Sie unsere Boote gestohlen. Und es sind zumeist Schwarzfische.«
»Sehen Sie«, sagte ich geduldig, »ich brauche Ihre Boote bloß für zwei oder drei Wochen, und Sie werden dafür bezahlt. Und mit dem ganzen Plankton wird die Mündung vor Fatties nur so wimmeln, wenn die Gezeiten wieder normal sind. Die Schwarzfische bleiben nicht. Die sind in diesen Gewässern selten. Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie jetzt hier auftauchen.«
Eric Phipps kaute an seiner Zigarette; das Mundstück war feucht und zermantscht. Ich habe noch nie gerne den selben Aschenbecher wie er benutzt. »Hat irgendwas zu tun mit der Forschungsstation, wette ich … Wir Phipps haben in dieser Mündung schon seit hundert Jahren gefischt, seit Riverside gegründet wurde«, brummelte er. »Und noch niemals hat uns jemand unsere Boote weggenommen.«
Er war ein Mann von mittlerer Größe und schwer zu beschreibender Erscheinung, die seine Hitzigkeit Lügen strafte, wenn er in Wut geriet. Ich hatte schon erlebt, wie meine jüngeren Wissenschaftler ihre Scherze mit ihm trieben im Club; mit seinem leicht alkoholischen Zittern und dem leeren Gesicht wirkte er wie der typische schwachsinnige Dorftrottel. Ich habe miterlebt, wie er bei diesen Gelegenheiten Geschirr umgeworfen hatte, mit einer für sein Alter überraschenden Beweglichkeit auf die Beine sprang und jenen gegenübertrat, dessen Beleidigungen ihm zu viel geworden waren; seine blökende Raserei erinnerte dann an die eines wildgewordenen Schafes. Seine Persönlichkeit konnte sich von einem Augenblick auf den anderen verändern, und seine Gegner mussten feststellen, dass der gesamte Club auf unbehagliche Weise feindselig geworden war … Im Augenblick jedoch war er nur deprimiert. »Sie sind doch ungefähr fünfundsechzig, Eric«, riet ich. »Hat Ihr Vater Ihnen niemals erzählt, was während der letzten Hochflut geschah? Erinnern Sie sich an irgendetwas?«
Er zögerte. »Mein Vater ist umgekommen«, sagte er schließlich. »Es hatte eine Schlägerei auf dem Boot gegeben. Er hatte einen Maat, mit dem er nicht gut auskam. Aber so schlimm war es niemals gewesen, sagten sie. Einer der Burschen hat alles gesehen. Dieser Maat hat Vater einfach den Marlpfriem in die Brust gerammt – ohne irgendeinen Grund, scheint es.«
»Hat es denn an diesem Tag einen Streit gegeben, wissen Sie das?«
»Nicht, dass irgendjemand etwas gemerkt hätte. Mein Vater sagte manchmal, er würde Wharton schon noch erwischen – so hieß der Maat –, aber das war nur Gerede. Er hat es oft gesagt, denn Wharton war schuld daran, dass er eine Hand verloren hatte, weil er ungeschickt mit der Winde umgegangen war. Ich war damals noch klein. Aber ich bin sicher, dass er es nicht so gemeint hat.«
Jane unterbrach ihn. »Um Himmels willen, Mark, lass uns über etwas anderes reden. Was gibt's Neues über die Gezeiten?«
»Man schätzt immer noch fünfundzwanzig Meter Maximum. Das wird in ungefähr einer Woche sein. Der Zyklus dauert ungefähr zwanzig Stunden, dann werden die Monde wieder auseinanderlaufen – alle. Das ist doch immerhin eine Prognose.« Ich rechnete; die arkadischen Tage dauerten sechsundzwanzig Normalstunden. »Bei Tagesanbruch haben wir dann schon wieder Ebbe.«
Alan Phipps sprach langsam. »Die Mündung wird ziemlich trocken liegen, abgesehen von der schmalen Fahrrinne und ein paar Pfützen. Dort wird es von Plankton wimmeln – und Fischen.«
Nun gibt es da etwas, was mir gar nicht gefällt. Der junge Phipps ist bekannt dafür, dass er gern wildert. Seine Methoden sind rau. Er bombardiert die Fische und sammelt sie ein, wenn sie betäubt an der Oberfläche treiben. Eines Tages wird er erwischt werden, vielleicht von seinem eigenen Vater … Er ist ein großer, gutaussehender Bursche mit dunklem Haar und gefälligen, etwas tollkühnen Manieren, die die Mädchen anziehend finden. Er hat etwas von einem einsamen Wolf, er wird selten in Gesellschaft anderer junger Männer gesehen; Tom Minty zum Beispiel macht einen Bogen um ihn. Meiner Ansicht nach sondert er sich zu sehr ab. Ich hoffte, dass Jane sich nicht zu eng an ihn band …
»Mark?«
Ich blickte auf. Arthur Jenkins stand neben meinem Stuhl. Ich entschuldigte mich und folgte ihm hinüber zur Bar. Inzwischen begann sich die Menge zu lichten.
»Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten«, begann er ohne große Vorrede. »Sie haben sicher schon erraten, dass wir hier sind, um ein Auge auf die Vorgänge während der Gezeiten zu werfen, angesichts dessen, was das letzte Mal geschah. Nun haben Sie also ein Boot bekommen und stehen in engerem Kontakt mit den Kolonisten als jeder andere von der Station. Ich wollte Sie bitten, mich zu informieren. Lassen Sie mich wissen, was auch immer geschieht. Alles, was Ihnen merkwürdig vorkommt in der nächsten Woche oder später. Ich kann nicht mit hinaus auf diese Boote – Sie wissen, wie die Fischer jede Art von Einmischung ablehnen, und wenn sie auf den Gedanken kämen, dass ich sie beobachte, wäre die Hölle los. Aber sie könnten das für mich tun.«
»Warum sollte man die Boote besonders beobachten?«, wollte ich wissen.
»Was immer vor fünfzig Jahren geschah, hing mit dem Wasser zusammen. Es betraf lediglich die Küstengebiete. Natürlich gab es Befragungen; aber das Merkwürdige ist, dass keiner recht wusste, was eigentlich passiert war. Die einen wussten gar nichts und konnten nicht verstehen, was mit den Leuten geschehen war; und jene, die irgendwelche Morde oder Überfälle versucht hatten, sagten verschwommen aus, dass sie ihr Opfer hätten erwischen müssen, ehe es sie erwischte. Also keine Notwehr oder so. Es gab eine Menge Auseinandersetzungen, die in vielen Fällen zu Gewalttätigkeiten führten, aber die Opfer – die es überlebten – scheinen nicht zu wissen, warum sie angegriffen wurden. Sie sagen, dass es damals auch eine Menge Selbstmorde gab, Leute, die sich ins Wasser stürzten …«
»Aber Sie wissen, dass ich mit den Booten heute Nachmittag zur Landzunge hinausfahre? Sie werden die ganzen nächsten Wochen nicht in der Kolonie sein.«
»Ich weiß schon. Sie beobachten die Fischer, ich die übrigen. Aber seien Sie vorsichtig. Stellen Sie nicht zu viele Fragen. Sehen Sie sich bloß um.«
Er brauchte mich nicht zu warnen. Ich kannte die Haltung der Kolonisten gegenüber Fremden und jenen, die zu viele Fragen stellen; die Leute von Riverside wurden dann geheimniskrämerisch und sonderten sich ab. Ich hatte sie schon seit sechs Monaten im Auge …
Die Flut lief aus, als die acht Trawler in der starken Strömung die Flussmündung hinab zogen. Ich hatte die Karussell verankert an der Landzunge zurückgelassen und stand mit Perce Walters im winzigen Ruderhaus des ersten Bootes. Perce war einer der zugänglichsten der Trawlerschiffer, ein kräftiger Mann in den Vierzigern. Während der Diskussion in der vorangegangenen Nacht im Club hatte er Vernunft gezeigt und beachtlich dazu beigetragen, die anderen zu überreden.
Die übrigen Trawler waren achtern aufgereiht. Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick über die Schulter, um mich zu versichern, dass alles in Ordnung war. Ich hätte mir jedoch keine Sorgen machen müssen. Die Boote waren in fähigen Händen. Trotzdem hätte ich es nicht für unmöglich gehalten, dass Eric Phipps zum Beispiel sein Boot auf felsigen Untergrund auflaufen ließ, wenn wir den Ankerteich passierten, um dann von der Regierung eine Entschädigung zu fordern und zu behaupten, er wäre niemals freiwillig mit dem Boot bei so starker Strömung hinausgefahren.
»Hier ist Sheila aufgefunden worden. Ihr Hinterkopf war zertrümmert.«
Die Bemerkung traf mich wie ein Stromstoß. »Das stimmt«, sagte ich und erholte mich rasch. Vielleicht war doch irgendwann einer bereit, darüber zu reden.
»Was?« Perce sah mich leicht verwirrt an.
»Man hat sie dort zwischen den Baumwurzeln gefunden«, sagte ich. »Die Polizei meint, sie müsste abgestürzt sein und sich dabei den Schädel zertrümmert haben.«
»Das sagt sie«, bestätigte Perce. »Sehen Sie, Professor. Es tut mir leid. Seien Sie mir nicht böse. Ich muss laut gedacht haben. Das passiert mir oft. Ich weiß, dass Sie nicht darüber reden wollen. Und um nichts in der Welt wollte ich Sie aufregen.«
»Es ist schon gut, Perce. Ich habe mich nicht aufgeregt. Das ist jetzt sechs Monate her; allmählich ist es nicht mehr so schlimm. Ich würde lieber darüber reden, als dass jeder das Thema vermeidet und mich bedauert.«
»Das klingt vernünftig. Aber als Sie anfingen … jeden Abend im Club zu verbringen, nun ja, da hatten wir alle das Gefühl, dass Sie Ihren Kummer ertränken. Wir haben manchmal darüber geredet, wenn Sie nicht da waren, aber es schien wie eine Übereinkunft, dass wir niemals darüber gesprochen haben, wenn Sie anwesend waren.«
»So habe ich mir das auch vorgestellt«, gab ich zu. Ich beschloss, die Sache direkt anzugehen. »Was denken Sie über Sheilas Tod, Perce?«
Er zuckte zusammen. Ich glaube, es lag an dem Wort »Tod«. Über die Jahre hat sich eine merkwürdige Art von Höflichkeit, eine Weitschweifigkeit in Riverside entwickelt; die Kolonie ist ziemlich schüchtern und im Kontakt mit der Außenwelt ungeübt, außer über das Medium der Forschungsstation und die wöchentlichen Fischtransporte. Sie gebrauchen Worte wie »Tod« nicht – solche Sprache ist anstößig. Wenn sie etwas Unerfreuliches sagen wollen, so neigen sie dazu, dies unter einem Schwall beschönigender Ausdrücke zu verbergen.
»Die Polizei meint, es war ein Unfall«, murmelte er.
Ich begriff etwas anderes. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten sie sehr selten Sheilas Tod besprochen. In fünf Jahren hatte ich etwas von der Art in Riverside gelernt, aber es gab noch eine Menge, was ich nicht wusste. So wie ich die Leute der Subkolonie kannte, vermied man die Tatsache eines plötzlichen Todes als Gesprächsstoff. Er bedeutete nämlich ein Schandmal. Einer des Clans, einer von ihnen könnte ein Mörder sein.
Arkadia ist auf fast aufdringliche Weise dezentralisiert; die Regierung wird von den zerstreuten Siedlungen nur widerstrebend anerkannt. In Riverside erkennen sie als Führung eher das Kolonialkomitee an als den arkadischen Rat. Zweifellos war dies einer der Gründe für den Mangel an Informationen, was die frühere Zeit der Hochflut betraf; die betroffenen Küstenkolonien hatten sicher eine massive Abneigung dagegen, dass die Regierungsprüfer herumschnüffelten …