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In der Höhle des Löwen
Der Planet namens Sturm ist fast ganz von einem Ozean bedeckt. Nur einige winzige Inseln ragen aus dem Meer, heftige Orkane fegen über das Wasser, Vulkane speien Lava und Schwefel. Tyg Brood ist auf der Flucht, obwohl er kein Verbrechen begangen hat: Sein Klonbruder Francis ist wegen Mordes verurteilt worden, und nach den Gesetzen ist der geklonte Bruder ebenfalls schuldig. Tyg bleibt nur, Francis‘ Unschuld zu beweisen, bevor er selbst gefasst wird. Doch auf Sturm hat er keine Hilfe zu erwarten. Die Tadda – amphibische Humanoide – hassen die Menschen, weil sie von einem Menschen ausgebeutet werden: König Kaiman, der mit seinem riesigen Frachtschiff die Kelp-Wälder der Wasserwelt abbaut. Auf Kaimans Schiff kam Francis ums Leben. Tyg wagt sich an Bord, doch es scheint niemand an der Aufklärung des Mordes interessiert zu sein. Überall stößt er auf Schweigen und Ablehnung. Tygs Wettlauf gegen die Zeit wird immer aussichtsloser, und seine Verfolger sind ihm dicht auf den Fersen …
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Seitenzahl: 412
MICHAEL CONEY
NEPTUNS HEXENKESSEL
Roman
»Während des Sinkfluges durch die Atmosphäre erwarten wir einige Turbulenzen. Bitte stellen Sie sicher, dass die Schutzkokons eingeschaltet sind und Ihr Handgepäck richtig verstaut ist.«
Die Stimme klang wie eine zarte Melodie, und in voller Absicht wurden nur die unwichtigen Worte betont.
»Die durchschnittliche Windgeschwindigkeit im Bereich des Raumhafens beträgt über zweihundert Stundenkilometer.« Mein Nachbar blickte mich an, um zu sehen, wie ich das aufnahm. »Abfliegende Schiffe starten aus einer tiefen Grube der Insel Rodda, und deshalb sind sie bereits ziemlich schnell, wenn sie von den Böen erfasst werden. Ankommende Schiffe sind nicht ganz so gut dran: Sie landen auf einer offenen Betonfläche und werden dann von einem speziellen Lift nach unten gebracht.«
Die Fähre erzitterte. Die stählerne Geräumigkeit des Sternenschiffs war nur noch eine Erinnerung. »Wie ich hörte, handelt es sich um einen ziemlich ungemütlichen Planeten«, erwiderte ich.
»Darum nennt man ihn auch Sturm. Es ist eine verdammte Höllenwelt, das sage ich Ihnen. Kein geeigneter Ort für Menschen, das steht fest.« Schon vor einer Stunde hatte er mir einen ähnlichen Vortrag gehalten – zusammen mit einer vollständigen Schilderung seiner bisherigen Karriere und Hoffnungen und Sorgen. Er war ein redseliger und mitteilsamer Typ. »Drei Inseln, der Rest unseres Sektors besteht nur aus Meer, das für jede Art von Schiff viel zu aufgewühlt ist. Der Fabrikkreuzer – die Vorsehung – ist zu neun Zehnteln ein Unterseeboot. Nur eine kleine Kuppel ragt über die Wellen hinaus, damit hat es sich auch schon. Und über tausend Leute arbeiten im Innern …«
Daraufhin schwieg er und grübelte nun vielleicht darüber nach, was ihn zu der Entscheidung veranlasst haben mochte, für eine zweite Arbeitsperiode an Bord der Vorsehung auf den Planeten Sturm zurückzukehren. Möglicherweise bedauerte er diesen Entschluss. »Es ist wegen des Geldes«, erklärte er mir dann. »An keinem anderen Ort der Galaxis kann man so viel verdienen.«
Und bei diesen Worten glänzte Gier in seinen Augen, eine Habsucht, die Menschen dazu treibt, für ein paar schwarze Zahlen auf einem Kontoauszug ihr Leben zu riskieren. Eine Gewinnsucht, die die Wildnis zu zivilisieren vermag.
»Wären Sie bitte so freundlich, Ihre Tasche weiter unter den Sitz zu schieben?« Eine menschliche Stewardess beugte sich über uns und lächelte.
Mein Nachbar kam der Aufforderung nach und schob den widerspenstigen Koffer mit dem Fuß nach hinten. Als das Shuttle erneut erbebte, wurden seine sich tief in die Armlehnen bohrenden Finger weiß. Mit mühsam beherrschter Stimme fragte er: »Sie sagten, Sie seien Tourist, nicht wahr?«
Ich hatte ihm überhaupt keine entsprechende Auskunft gegeben. Er war die ganze Zeit über viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, von sich selbst zu erzählen, und hatte deshalb keine solche Frage stellen können. Jetzt aber wurde die Fähre von den heftigen Böen immer stärker hin und her geschüttelt, und angesichts dessen suchte er nach irgendeiner Möglichkeit, sich abzulenken. »Ich besuche Freunde«, erwiderte ich.
»In Sturmstadt?« Er zuckte zusammen, als irgendwo jemand schrie. Auf der anderen Seite des kreisförmigen Passagierbereiches kümmerten sich die Stewards um einen Reisenden, dessen Nerven der Belastung nicht standgehalten hatten. Ein Sedainjektor zischte leise, und daraufhin verstummte das Gellen. Eine Stewardess ging an uns vorbei, und das Strahlen ihres zuversichtlichen Lächelns verblasste selbst dann nicht, als das Shuttle erneut bockte und sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. Ich vernahm eine sonderbare Stimme, die laut und beharrlich gackerte – ein hinter uns sitzender Alien, der offenbar in Panik ausbrach. »In Sturmstadt?« Mein Nachbar grinste plötzlich – es war das schiefe Lächeln einer nur unvollkommen verborgenen Angst –, und er streckte die Hand aus. »Himmel, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Hy Willard. Besuchen Sie mich mal. Sie finden mich an Bord der Vorsehung.« Er sah mich an und hob fragend die Augenbrauen.
Er wollte, dass ich nun meinen Namen nannte. Und ich log.
Aber es war mir ein Rätsel, warum ich ihm nicht die Wahrheit sagte. Mein richtiger Name stand auf der Passagierliste des im Orbit befindlichen Sternenschiffs Abenteurer, und er war ebenso in der Transferliste der Fähre aufgeführt. Ich saß in der Falle. Wahrscheinlich war die Besatzung bereits auf mich aufmerksam geworden: »Seht ihr den in Blau gekleideten Typ dort vorn, etwa achtundzwanzig Jahre alt? Behaltet ihn im Auge, ja? Wir sollten vermeiden, die anderen Passagiere in Aufregung zu versetzen, aber wenn der Kerl anfängt, Schwierigkeiten zu machen …« Von der anderen Seite des Ganges her beobachtete mich ein Steward. Und in seinen Augen glaubte ich ein wissendes Funkeln zu erkennen. Dann hüpfte die Fähre erneut auf und nieder, und der Uniformierte ging fort, um sich um wichtigere Dinge zu kümmern. Irgendwo summte es. Mein Nachbar hielt sich noch immer an meiner Hand fest, so wie ein verängstigtes Kind. Ich machte mich frei und stellte fest, dass meine Finger von seinem Schweiß ganz feucht waren. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand …
Die Bekanntmachung war vor einer halben Stunde erfolgt.
Daraufhin hatte Willard seinen unablässigen Wortschwall unterbrochen, und ich war dadurch in der Lage gewesen, mir die Nachrichten anzuhören. Ich bemerkte, dass einige der anderen Passagiere Kopfhörer trugen und sich offenbar über den Planeten informierten, den sie nun bald betreten würden. Ich hörte Neuigkeiten über das Verfahren. Die Geschworenen waren zu einem Urteil gekommen und hatten den Angeklagten des vorsätzlichen Mordes schuldig gesprochen.
Aber der Angeklagte war bereits tot …
Was bedeutete das für mich? Als was hätte mich der Staatsanwalt zum Beispiel im zwanzigsten Jahrhundert beschrieben, als derartige Beziehungen noch eindeutiger waren? Als Mitschuldigen? Als Komplizen vor, während oder nach der Tat?
Es spielte keine Rolle. Ich war auf der Flucht. Und wenn sie mich fassten, musste ich damit rechnen, ebenfalls angeklagt und schließlich ohne Gerichtsverfahren hingerichtet zu werden. In rechtlicher Hinsicht hatte ich die Verhandlung bereits hinter mir …
»Ich habe gefragt: Was machen Sie so? Ich meine, um Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten?«
Willard ließ nicht locker, und in seinem breiten Gesicht glänzte Schweiß. Die Fähre neigte sich gefährlich weit auf die eine Seite und kehrte dann in eine stabile Lage zurück.
»Ich bin Taucher.«
»Dann w-wartet hier viel Arbeit auf Sie. Himmel, das war wirklich ein schlimmer Stoß!« Er verzog gequält das Gesicht, als das Shuttle ein weiteres Mal erbebte. »O ja, auf Sturm sind Taucher sehr gefragt. Eine Welt, die zu neunundneunzig Prozent aus Wasser besteht, einem riesigen Ozean, der ganz allein König Kaimans Eigentum ist – was er uns zumindest gerne Glauben machen würde.«
König Kaiman … »Das ist der Industrielle, nicht wahr?« Francis hatte Kaiman in seinen aufgezeichneten Nachrichten mehrmals erwähnt. »Ihm gehört die Vorsehung?«
»Verdammt – und so ziemlich alles andere auf Sturm.«
»Was ist er für ein Mann?«
»Verdammt, ich brauche einen Drink!« Ein erneutes Trudeln der Fähre hatte die letzten Reste seiner Selbstbeherrschung aufgezehrt, und jetzt zitterte er vor Furcht und drückte nervös die Servicetaste. Ich hatte das unangenehme Gefühl, dass sich das Shuttle um die eigene Achse drehte und außer Kontrolle geraten war. Ich glaubte eine Zentrifugalkraft zu verspüren, die mich in Richtung Willard presste. Er hielt sich an meiner Schulter fest. »Rufen Sie mal die verdammte Stewardess her, ja?« Er lehnte sich an mir vorbei in Richtung Gang und winkte. »Sie lässt sich überhaupt nicht blicken. Verdammt, was macht sie denn die ganze Zeit? Hat sie denn keine Augen im Kopf? He, Sie!«
Willard machte Anstalten, seinen Schutzkokon abzuschalten. Ich stieß seine Hand fort. Durch sein Verhalten wurden nun auch die anderen Passagiere unruhig. Ein allgemeines Murmeln und Brummen setzte ein, und hier und dort wurden auch einige Schreie laut. Das Innere der Fähre wirkte plötzlich sehr klein: ein schmaler und zylindrischer Sarg, der mit zweihundert Seelen vollgestopft war und direkt dem tosenden Meer des Planeten Sturm entgegenfiel. »Um Himmels willen, setzen Sie sich«, zischte ich Willard zu und versuchte, ihn zurückzuziehen. »Sie beschwören noch eine Panik herauf!«
Das Shuttle erbebte so heftig, als sei es gegen eine massive Wolke geprallt. In der stählernen Außenhülle knirschte und knarrte es bedrohlich. Dann ließ das Zittern nach, und daraufhin begann mein Herz wieder zu schlagen. Erleichterung verwandelte sich in Wut, und ich stieß Willard fort.
»Darf ich bitte Ihren Pass sehen?«
Ein Steward beugte sich mit ausdruckslosem Gesicht zu mir herab.
»Himmel, weswegen denn? Ohne einen Pass hätte ich gar nicht an Bord dieser Fähre gelangen können!«
»Nur eine routinemäßige Überprüfung. Wir haben ein kleines Problem mit der Belegung.«
»Aber es sind alle Sitze besetzt! Es sollte doch nicht schwer sein festzustellen, wie viele Passagiere sich an Bord befinden.« Ich wurde mir bewusst, dass meine Stimme bei den letzten Worten ein wenig schrill klang. In meiner Magengrube krampfte sich etwas zusammen.
»Trotzdem muss ich Sie um Ihren Pass bitten.«
Ich gab mich resigniert, holte das Dokument hervor und hoffte, der Mann würde aufgrund einer weiteren Turbulenz das Gleichgewicht verlieren und die Sache mit dem Pass vergessen. Aber die Fluglage des Shuttle blieb stabil, während der Steward erst die Sitznummer und dann den Namen las …
»Würden Sie kurz mit mir kommen?«
»Hat das nicht Zeit? Bis zur Landung kann es doch höchstens noch zehn Minuten dauern.«
»Es tut mir leid.« Noch immer war das Gesicht des Uniformierten eine ausdruckslose Maske. Er hätte ebenso gut ein Roboter sein können, darauf programmiert, die Wünsche der Reisenden zu erfüllen und immer höflich zu bleiben. Vermutlich war das auch der Fall.
»Himmel, diese Umstände …« Ich folgte ihm bereits durch den Gang. Wir nahmen den Spirallift. Der Steward sah sich nicht einmal nach mir um. Das war auch nicht nötig. Schließlich konnte ich an Bord der Fähre nicht fliehen. Als wir die Mannschaftsquartiere erreichten, hörte ich wieder die ruhige Stimme des Piloten.
»Tut mir leid, Leute, dass ihr eben so durchgeschüttelt wurdet. Aber diese gute alte Fähre hat schon Schlimmeres überstanden. Nur noch acht Minuten bis zur Landung. Das erinnert mich an etwas: Kennt ihr den von …«
»Ich musste ihn herbringen«, erklärte der Steward seinem Vorgesetzten.
»Meine Güte.« Der andere Mann – ein hochgewachsener, dunkelhaariger und mediterraner Typ – musterte mich von oben herab, so als empfände er mich nur als unnötige Belästigung. Er würde auch nicht sterben. Zumindest glaubte ich das zu jenem Zeitpunkt … »War das wirklich nötig?«
»Es kam zu einem Aufruhr. Er kämpfte mit seinem Sitznachbarn. Und die anderen Passagiere wurden nervös.« Seine Stimme klang entschuldigend.
»Na schön. Aber es wäre mir lieber gewesen, wir hätten die Sache der Polizei von Sturmstadt überlassen.« Er wandte sich wieder mir zu. »Es tut mir leid, aber ich muss Sie einsperren. Es scheint, Sie werden von der Polizei Sturmstadts gesucht … Aus welchem Grund sind Sie überhaupt hier? Sie sehen gar nicht wie ein Verbrecher aus.«
»Das bin ich auch nicht. Es handelt sich nur um ein Missverständnis. Wenn wir gelandet sind, werde ich die Sache klären. Sie können mich wieder im Passagierraum Platz nehmen lassen.«
Die Fähre tanzte hin und her, als wir erneut in eine Zone der Turbulenzen gerieten. Der Chefsteward hielt sich mit der einen Hand fest, und mit der anderen holte er einen kleinen Laser hervor. »Tut mir leid, aber Sie könnten schließlich auf den Gedanken kommen, das Shuttle unter Ihre Kontrolle zu bringen und uns alle als Geisel zu benutzen. Wäre nicht das erste Mal. Und jetzt – hier rein.«
Er deutete auf den Lift. Ein paar Sekunden lang wankten wir von einer Wand zur anderen, während uns die Kabine in die Höhe trug, und die ganze Zeit über war die Waffe auf mich gerichtet. Dann öffnete sich die Tür, und wir taumelten durch einen Korridor, dessen Boden sich dauernd hob und senkte. Anschließend nahmen wir einen weiteren Lift, der uns in eine einzelne und runde Kabine brachte. Sie durchmaß rund fünf Meter, war dreihundert Zentimeter hoch und kuppelförmig.
»Dies ist der höchste Punkt der Fähre«, erklärte mir der Mann im Plauderton. »Über Ihnen befinden sich nur noch die Antenne und der Weltraum. Die Wände sind gepanzert, ebenso die Tür. Also sollte sich diese Kammer zumindest fünf Minuten lang als ausbruchsicher erweisen.« Er lächelte. »Entschuldigen Sie nochmal. Ich schätze, das ist nicht gerade die Art von Service, für die wir bekannt sind, aber was kann ich schon machen? Übrigens: Licht gibt es hier nicht.«
Er schloss die Tür und ließ mich in völliger Dunkelheit zurück. Ich schnappte nach Luft, als das Shuttle wie ein Stein fiel, und ich prallte so hart auf den Boden, dass ich befürchtete, mir alle Knochen im Leib gebrochen zu haben. Alarmiert presste ich mich in eine Ecke, dorthin, wo sich Boden und gewölbte Wand trafen, und dort blieb ich hocken, während die Fähre weiterhin der Landefläche entgegenruckte.
Was würde die Polizei mit mir machen?
Eine Gerichtsverhandlung hatte ich nicht zu erwarten, was bedeutete, man würde mich entweder auf Sturm hinrichten oder zur Erde zurückschicken. Aber ein entsprechender Transport war teuer und zudem sinnlos. Nein – sicher sollte die Sache auf diesem Planeten beendet werden. Wann? Nun, wenn das Identifikationsverfahren abgeschlossen war, also in einigen Stunden. Und dann würde nichts sie davon abhalten können, mich sofort zu töten. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Die kleinen Ziffern leuchteten mich an: 16.00 Uhr, Sturmzeit.
Morgen früh mochte ich bereits tot sein.
Ich versuchte gerade, mich an diese Vorstellung zu gewöhnen, als mir die Wand der Kammer einen schmetternden Hieb auf die linke Kopfseite versetzte. Alle meine Gedanken zerfaserten in einem grellen roten Blitz und lösten sich dann im Nichts auf.
Mir war kalt, also lebte ich noch. Um mich herum blieb alles still. Auf der Haut spürte ich hartes Metall, und unter ihr pochte heftiger Schmerz. Ich fühlte, wie meine Gedanken unkontrolliert dahinschwebten und den Zeitstrom flussabwärts flossen.
Ich erinnere mich an den Blitz.
In Begleitung Wenceslas' fuhr ich über die Straße und lauschte der Sorge in seiner Stimme. Ich saß am Steuer, aber die Kontrollen waren auf Automatik gestellt. Was sich als glücklicher Umstand erweisen sollte … Draußen glitten die Hügel der Erde vorbei.
»Ich mache mir Sorgen um Francis«, sagte Wenceslas. »Du spürst es doch ebenfalls, nicht wahr?« In seinem Gesicht hatten sich tiefe Furchen gebildet. Francis und ich waren wie Brüder für ihn, vielleicht sogar noch mehr. »Er hat irgendetwas Gutes auf dem Planeten gefunden – wie hieß er doch gleich?«
»Sturm. Ich glaube, er fand Liebe. Jedenfalls fühlte es sich für mich so an.«
»Dachte ich's mir doch. Wie dem auch sei: Es muss etwas geschehen sein. Die Liebe gibt es nach wie vor, aber jetzt ist da auch noch etwas anderes. Zorn? Furcht?«
Ich dachte zurück und begleitete meine Erinnerungen in die ungehüteten mentalen Augenblicke, die sich Wenceslas und mir manchmal offenbaren: In jene Momente, in denen sich uns plötzlich ein fragmenthaftes Wissen darüber darbietet, was Francis macht, was er denkt und empfindet. »Es war eine Art Wutausbruch«, sagte ich langsam. »Francis hat etwas entdeckt, was ihn so tief bewegte, dass es über Zorn hinausging. Begleitet wurde das von einer gewissen Verzweiflung – konntest du das auch wahrnehmen?«
»Heute Morgen kam ein Telespruch an.« Wenceslas sah den großen Becken einer Hydropflanzung nach. »Er wurde ganz offensichtlich einer umfassenden Zensur unterzogen. Ich habe noch nie zuvor erlebt, dass sie kaum einen Versuch machten, das zu verschleiern.« Er holte eine kleine Kassette aus der Tasche und schaltete sie ein. Francis' Stimme war ganz deutlich zu verstehen; sie erfüllte das Cockpit mit seiner Präsenz und sprach von Nichtigkeiten …
Zensur. Manchmal werden die Aufzeichnungen vor der Sendung von einem Computer kontrolliert. Der Rechner entwickelt eine Entsprechung des Tonfalls und der Ausdrucksart des Absenders und ersetzt Teile der Nachricht dann durch eigene Sätze. Für gewöhnlich fällt dem Empfänger dabei kein Unterschied auf – aber Wenceslas, Francis und ich standen uns sehr nahe. Und obgleich die Stimme der Kassette zwar der Francis' ähnelte, benutzte sie doch andere Worte. Diese Ausdrücke waren alltäglich und belanglos – obgleich wir wussten, dass Francis beabsichtigte, uns etwas Wichtiges mitzuteilen.
»Aber sie haben die Sache verpfuscht. Es ist ihnen diesmal ein kleiner Fehler unterlaufen …« Wenceslas lächelte schief, als sich die Aufzeichnung dem Ende näherte.
Francis' Stimme – beziehungsweise das computergenerierte akustische Äquivalent – schloss: »… vermisse ich euch natürlich alle sehr, und ich freue mich schon darauf, euch nach Abschluss dieser Angelegenheit wiederzusehen. Himmel – wie ich mich nach der Erde sehne! Gruß an euch alle. Ende der Nachricht. Francis.«
Stille.
Und dann, so unerwartet, dass es fast erschreckend war, klickte es – und erneut ertönte Francis' Stimme, diesmal aber seine echte, und sie klang sehr ernst.
»… ist Kaiman für die Kommission zu mächtig. Teufel, ich fürchte sogar um mein Leben, aber verglichen mit den Problemen der Eingeborenen ist dieser Punkt unbedeutend. Die einzige Hoffnung für ihre Zukunft ist Alkin.«
Damit war das Band zu Ende.
Wir schwiegen eine ganze Weile und beobachteten die Straße. Schließlich sagte Wenceslas: »Du machst dich sicher auf den Weg, nicht wahr?«
Und noch bevor ich darauf Antwort zu geben vermochte, zuckte der Blitz auf. Wenceslas schrie, und ich vielleicht ebenfalls. Es war wie eine elektrische Entladung mitten im Hirn, und wie ein Laserskalpell versengte das mentale Feuer Gedanken und Erinnerungen. Ich erlitt tausend Qualen. Ich schrie, und ein Teil meines Bewusstseins war ausgeschaltet. Namen verschwanden, ebenso wie die Erinnerungen an Orte und Ereignisse, die nur noch in Spuren in meinem Gedächtnis enthalten waren. Das Gefühl des Verlustes war überwältigend. Ich hörte Wenceslas stöhnen. Wir warteten darauf, dass das Schlimmste vorüberging, und wir schienen dabei Lichtjahre von uns selbst und auch allen anderen Dingen entfernt zu sein.
Nachher wiederholte Wenceslas: »Du machst dich natürlich auf den Weg.« Diesmal aber war es eine Feststellung, keine Frage.
So gelangte ich nach Sturm, doch zu spät.
Mein Delirium löste sich auf, und ich befand mich wieder an Bord der Fähre, umgeben von Schwärze. Ich fragte mich, was geschehen war, warum mein Kopf schmerzte und aus welchem Grund der rechte Arm gebrochen zu sein schien. Um mich herum war alles ruhig und still. Wir waren gelandet. Hatten sie mich vergessen? Die jähe Hoffnung löste sich schlagartig auf, als ich mich entsann, dass die Tür verriegelt war, und wenn sich bei den Besatzungsmitgliedern in dieser Hinsicht tatsächlich eine Gedächtnislücke ergeben hatte, so bedeutete das den Tod für mich. Ich rief um Hilfe und versuchte aufzustehen.
Bei diesem Unterfangen stellte ich fest, dass der Boden gewölbt war.
Ich stand auf der Wand, und das bedeutete, die Fähre lag auf der Seite. War das Shuttle abgestürzt? Ich rief erneut, und hinter meiner Stirn schienen tausend Presslufthämmer an der Arbeit zu sein. Ich erhielt keine Antwort. Ich erzitterte in der Stille. Von den Metallwänden her fraß sich die Kälte einen Weg in meinen Leib, und ich fühlte mich schwach. Vielleicht hatte ich Blut verloren. Ich konnte überhaupt nichts sehen, und dumpfes Entsetzen regte sich in mir, als ich an die Möglichkeit dachte, durch eine Kopfverletzung erblindet zu sein.
Ich kniete mich nieder, kroch in meinem Gefängnis umher und tastete mit den klammen Fingern der linken Hand den vor mir liegenden Bereich ab. Bald stieß ich auf eine glatte Fläche – diejenige Wand, in die die Tür eingelassen war. Kurz darauf fand ich die Tür selbst, die sich nun direkt über mir befand. Das Metall wies einige Dellen auf. Ich presste die Schulter gegen die kalte Masse und drückte. Irgendetwas gab nach. Ich drückte noch fester, und aufgrund der Anstrengung zitterten mir die Knie.
Die Tür knarrte, zitterte in den Angeln und öffnete sich dann ganz. Sofort blies mir ein heftiger Wind ins Gesicht; er trug beißenden Rauch mit sich. In jähem Schrecken sprang ich hoch und griff mit der linken Hand nach der Metallkante. Es gelang mir, mich ganz emporzuhangeln und das eine Knie übers Scharnier zu hebeln; dann kroch ich auf die schlüpfrige Außenhülle der Fähre. Dort verlor ich das Gleichgewicht und begann zu rutschen. Ich griff nach Vorsprüngen im Metall, verfehlte sie aber, und ich spürte, wie meine Kleidung über Bolzen und geborstene Verstrebungen kratzte und schabte. Dann plötzlich fühlte ich nichts Festes mehr, und ich fiel und fiel …
Der Aufprall presste mir die Luft aus den Lungen. Ich rollte mich auf den Rücken und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ich war nicht blind, Gott sei Dank. Dichte Wolken rasten über einen trüben Himmel. Der Horizont war ungewöhnlich hoch, und ich begriff, dass ich mich im Innern eines rund einen Kilometer durchmessenden Vulkankraters befand. Ich setzte mich auf und sah mich um.
Überall lagen Trümmer. Links von mir wirkte die Hauptmasse der Fähre wie ein in sich selbst verdrehtes und verzerrtes Skelett, und Flammenzungen leckten gierig über die gebrochenen Knochen. Andere, kleinere Feuer glühten auf dem Kraterboden. Ihr zitterndes Licht zeigte mir weitere Wrackteile – und zahlreiche, überall herumliegende Körper, die wie Treibholz wirkten. Irgendwo ertönte der schrille Schrei einer Frau, und ganz in der Nähe vernahm ich ein Schluchzen. Das sich mir darbietende Bild schien direkt einem Albtraum entsprungen zu sein. Wie lange war ich bewusstlos gewesen? Lange sicher nicht, denn noch war weit und breit nichts von einer Rettungsmannschaft zu sehen.
Unsicher stand ich auf. Der Wind umheulte die Überreste der Fähre, nährte die Flammen mit frischem Sauerstoff, verspritzte glühende Funken und änderte dauernd die Richtung. Seine Böen fauchten über den hohen Felsrand und durchtosten den Krater. Es hatte den Anschein, als sei der Bug der Fähre in einem Teil abgebrochen; die anderen Trümmerstücke lagen fast einen halben Kilometer entfernt. Wie betäubt – ich konnte noch nicht klar denken – stolperte ich in die entsprechende Richtung.
»Helfen Sie mir. Bitte, helfen Sie mir.« Die Worte stammten von einem dunklen Haufen in der Nähe, einem verformten Bündel, das sich unglaublicherweise als ein menschliches Wesen erwies. Ich kniete neben der Frau.
»Keine Angst, es wird alles wieder gut.« Als eine der Flammen jäh in die Höhe stieg, konnte ich in dem hellen Licht die grässliche Wunde in der einen Seite der Reisenden sehen – und ich wusste, dass meine Worte nur ein schwacher Trost sein konnten, denn diese Frau stand dem Tode näher als dem Leben und würde sicher bald sterben. »Wie heißen Sie?«, fragte ich. Meine Hilflosigkeit ließ ein tiefes Gefühl der Schuld in mir entstehen, und ich wünschte mir einen Namen, um mich noch besser peinigen zu können.
»Sandy … Sandy …« Der Wind riss die geflüsterten Silben fort, und ich erfuhr nie, wie ihr Nachname lautete. Sie starb, bevor sie ihn mir nennen konnte.
Ich taumelte zwischen den Verwundeten und Toten umher, und trotz meiner eigenen Verletzungen schien ich im Vergleich mit den anderen Passagieren gut davongekommen zu sein. Einige Männer und Frauen hoben die Arme, als sie mich kommen sahen, und sie hielten sich an mir fest, so als könnten sie sich dadurch ans Leben klammern, so als sei ich eine Art Christus. Ich blieb stehen, übergab mich und ging dann weiter.
Voraus bewegten sich Lichter. Dicke gelbe Scheinwerferbalken durchteilten die dunklen Rauchschwaden und zitterten hin und her, als die Rettungsfahrzeuge über den Kraterrand krochen. Hier und dort verharrte das Licht, und ich erkannte die Konturen von Menschen, die Schläuche und Bahren trugen.
Ich trat hinter ein schwelendes Trümmerstück und damit außer Sicht. Auch hier fiel mein Blick überall auf Körper. Manche von ihnen lagen in seltsam verrenkten Haltungen auf dem Boden und rührten sich nicht. Der Schein von Feuer erhellte zerfetztes Fleisch und glänzendes Blut. Ich schluckte, rief mir einige Namen ins Gedächtnis und suchte nach …
»Was zum Teufel machen Sie da?«
Ich wirbelte herum. Ein Auge beobachtete mich – nur ein Auge in einem Meer aus Blut, dessen Küsten aus zerrissenem Metall bestanden. Das Auge zwinkerte, und die Stimme fuhr fort, so als seien die Worte wichtiger als alles andere in der Welt, wichtiger noch als Schmerz und sogar Tod.
»Leichen. Überall liegen Tote und Verletzte. Und Sie plündern Sie aus. Sie Mistkerl.«
»Hören Sie, Sie irren sich. Wissen Sie, ich brauche das hier.« Es erschien wichtig, mein Verhalten zu erklären, das Auge zu überzeugen. Ich prüfte kurz den Inhalt der Brieftasche und war zufrieden. Eine neue Identität und eine nicht unbeträchtliche Summe an Barem, in bankfähigen Krediten. Ich holte meine eigene Börse hervor und zeigte sie. »Sehen Sie«, sagte ich. »Ich tausche sie gegen die hier ein.«
Aber das Auge sah nichts mehr. Es war gestorben, nachdem es mich einen Leichenfledderer genannt hatte.
Ich ging den Rettungsmannschaften aus dem Weg, indem ich mich in den Schatten am Rande des Kraters verbarg. Es regnete noch immer in böigen Strömen, und nach einer Weile fühlte ich mich so schwach, dass ich mich auf einen Felsen hockte und mir über meine Situation klarzuwerden versuchte. Ich brauchte nun so lange nichts von der Polizei zu befürchten, bis sie feststellte, dass die physischen Charakteristiken des Toten, der nun meinen Pass bei sich trug, nicht mit ihren Aufzeichnungen übereinstimmte. Dann würde sie annehmen, dass ich noch am Leben war. Und durch eine einfache Überprüfung der Passagierliste musste sie schließlich auf den Namen stoßen, den ich jetzt benutzte.
Ich öffnete die Brieftasche. Offenbar war ich nun ein gewisser Winthrop Oates.
Was also sollte Winthrop Oates jetzt machen?
Mein Verstand funktionierte noch immer richtig, und ich versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Zuerst: Alkin. Francis hatte diesen Namen besonders betont, um wen oder was es sich dabei auch handeln mochte. Zweitens: das Verfahren. Ich musste mich in den Besitz einer Abschrift oder zumindest eines zusammenfassenden Berichts bringen. Ich war von Francis' Unschuld überzeugt, aber bestimmt würde es sich als recht nützlich erweisen zu wissen, welche Beweise gegen ihn angeführt worden waren.
Und nur wenn ich Francis' Unschuld bewies, konnten auch die Anklagen gegen Wenceslas und mich nicht mehr aufrechterhalten werden …
Ich erhob mich zitternd. Die Arbeiten im Bereich des Wracks gingen nun organisierter vonstatten. Man hatte Bogenlampen installiert, und dünne Laserstrahlen schnitten das geborstene Metall mit chirurgischer Präzision auseinander. Verletzte wurden befreit, Tote aus den Trümmern hervorgeholt. Ambulanzen sausten zwischen dem Wrack und dem erleuchteten Bereich etwas weiter entfernt hin und her, bei dem es sich offenbar um den Zugang zur unterirdischen Stadt handelte. Ich kehrte all dem den Rücken zu und begann damit, an dem steilen Felshang in Richtung des Kraterrandes emporzuklettern.
Dort angelangt hatte ich kurz das Gefühl, die Böen würden meinen Körper einfach fortwirbeln, doch dann stolperte ich auf der anderen Seite des Vulkans wieder in die Tiefe. Einen halben Kilometer unter mir glänzten einige Lichter. Ich nahm an, sie kennzeichneten die kleine Eingeborenensiedlung an der Wassergrenze.
Nach einer Weile erreichte ich das erste dieser Lichter. Es schien aus einer Tür, die in eine kleine Betonkuppel eingelassen war. Ich trat ein und wankte einige Treppenstufen herab, die in das massive Vulkangestein hineingemeißelt worden waren. Als die Böen hinter mir zurückblieben, wurde ich mir erneut meiner heftigen Schmerzen bewusst, und als ich an eine hölzerne Tür gelangte, war mir schwindelig, und meine Knie zitterten. Ich mühte mich mit der Klinke ab.
Als ich in das Zimmer taumelte und das Bewusstsein verlor, nahm ich in die Nacht vor meinen Augen das Bild eines großen Mannes mit, dessen Halskrause aus verrottendem Fleisch zu bestehen schien und der mich verblüfft anstarrte.
Als das Gefühl zurückkehrte, wurde es von Schmerzen begleitet. Ich drehte mich hin und her und versuchte, starken Fingern zu entgehen, die irgendetwas mit meinem verletzten Arm anstellten. Ich schlug die Augen auf und sah dicht über mir das Profil eines Gesichts. Ein trübes Auge lag tief in der Höhlung über der fleischigen Wange. Die Nase war flach, und die Kieferkonturen deuteten darauf hin, dass der Betreffende zu viel Nahrung zu sich nahm. Unter dem Kiefer – und ich schluckte, als bei dem Anblick jähe Übelkeit in mir emporstieg – haftete das Gewebe einer fransigen Membran. Faltig und runzlig war sie, von dicken Adersträngen durchzogen; sie reichte über die breiten Schultern und stank nach verwesendem Fisch.
In gutem Stelingua fragte das Wesen: »Wie fühlen Sie sich?«
Ich versuchte mich aufzurichten. »Lausig.«
»Nehmen Sie es nicht zu tragisch.« Jetzt entdeckte ich auch die Quelle eines anderen Geruchs, der mir bereits unangenehm aufgefallen war. Das Geschöpf griff nach einer Schüssel mit grünem Schleim und hielt sie mir unter die Nase. »Essen Sie das. Danach fühlen Sie sich besser. Ich setze mich in der Zwischenzeit mit dem Hospital in Verbindung. Ihr verletzter Arm muss richtig behandelt werden.« Es hielt auf die Tür zu.
»Nein!« Angesichts meiner Heftigkeit drehte sich das Wesen erstaunt um. Rasch fügte ich hinzu: »Ich habe keine Zeit – und Sie wissen ja sicher, wie das mit Krankenhäusern so ist. Lassen Sie mich hier einige Stunden lang ausruhen. Dann gehe ich wieder.«
Es musterte mich skeptisch. »Ich habe mich um Ihren Kopf gekümmert – Sie hatten dort eine tiefe Schnittwunde. Aber was den Arm angeht, konnte ich Ihnen nur mit einem Verband helfen. Er könnte gebrochen sein. Was ist überhaupt geschehen? Sind Sie auch einer der Fährenpassagiere?«
»Nein. Nein, ich traf vor einigen Tagen ein …« Ich erzählte ihm eine erfundene Geschichte, nach der ich während des Aufenthaltes in einem nahegelegenen System einen Job an Bord des Fabrikschiffes Vorsehung angenommen hätte. »Ich bin Taucher«, sagte ich und zeigte ihm das entsprechende Implantat. »Und wie ich hörte, ist die Vorsehung das Mutterschiff einer Flotte, die sich mit dem industriellen Abbau von Kelp, also Seetang, befasst.« Ich erläuterte, was bei meiner Ankunft angeblich schiefgelaufen sei und wieso ich den verabredeten Termin in Sturmstadt nicht hatte einhalten können, wodurch ich mich verirrt hätte. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich war, als ich Ihr Licht sah. Ich bin im Dunkeln in eine tiefe Schlucht gestürzt.«
Während ich sprach, betrachtete ich das Innere der Wohnhöhle. Sie war zum Teil natürlichen Ursprungs, und man hatte sie nur erweitert und die Wände hier und dort begradigt. An einigen Stellen wies der Fels noch Spuren der Bearbeitung mit Hilfe von Werkzeugen auf. Beleuchtet wurde die Kammer nur von einer einzelnen Glühbirne, die in der Mitte von der Decke hing. In einem beständigen Rhythmus wechselte die Leuchtstärke, und nach einer Weile stellte ich fest, dass er dem Auf- und Abschwellen eines dumpfen, aus dem Boden ertönenden Dröhnens entsprach. In der einen Ecke des Raumes stand ein gusseiserner Herd, auf dem ein Topf mit grünem Schleim brodelte. Ich nahm einen versuchsweisen Schluck davon und stellte fest, dass die zähflüssige Masse genießbar war und einen bitteren Beigeschmack hatte, der an Spinat erinnerte. Ich blickte mich erneut um und sah dabei einen zweiten Ausgang: einen niedrigen Tunnel, der in die Finsternis führte. Möbel gab es kaum: einen aus Holzlatten zusammengenagelten Tisch, einen Stuhl, das Bett, in dem ich lag, und einen zweiten, kleineren Tisch, auf dem ich einige Bücher erblickte. Die Vorstellung, dass dieser Eingeborene lesen konnte, erschien mir irgendwie absurd.
Ich spürte die Aura einer gewissen Feindseligkeit. »Ich kann meinen verletzten Arm an Bord der Vorsehung behandeln lassen«, sagte ich. »Dort gibt es bestimmt sowohl eine Krankenabteilung als auch einen Arzt.«
Die trüben Augen des Wesens blickten kühl. »Ihr Name?«
»Oates. Winthrop Oates.«
Seine Lippen formulierten still die fremden Silben, so als suche es nach dem Geschmack von Gift. »Ich bin Captain Bald.« Den Namen artikulierte das Geschöpf in seiner Sprache, und begleitet wurde der Klang von diversen Klacklauten. »Sie möchten also auf die Vorsehung?«
»Ja.«
»Das Unterseeboot der Schiffsmannschaft brach gestern auf. Es wird einige Tage dauern, bis es zurückkehrt. Und Sie haben es eilig.« Offenbar erwies sich mein Gesichtsausdruck diesem Geschöpf gegenüber als sehr mitteilsam.
Ich nickte.
»Wie viel wollen Sie zahlen?«
Ich griff in die Tasche, konnte die Börse aber nicht finden. Das Wesen reichte sie mir. »Ich bin kein Dieb. Aber ich nehme meine Vorteile wahr, Mr. Oates.«
»Reicht das?« Ich gab ihm ungefähr sechshundert.
Er nahm die Scheine. Er wollte gerade noch mehr fordern, als ein weiterer Alien eintrat und sagte: »Tikki n'abbat g hnuk da – nga?« Die Laute klangen seltsam vertraut, und ich wusste, dass es sich um eine Frage handelte. Captain Bald antwortete, und es schloss sich ein hitziges Gespräch an, bei dem es um mich ging. Einige Male deutete Captain Bald in meine Richtung und hielt seinem Besucher das Geld unter die Nase. Schließlich kam es zu einer Übereinkunft.
Sie würden mich mitnehmen. Man hätte fast meinen können, ich sei der fremden Sprache mächtig. Ich war zweifelsfrei in der Lage, die allgemeine Bedeutung zu verstehen. Der Besucher ging wieder.
»Es ist eine Eruptionswarnung erfolgt«, sagte Captain Bald. »Ich bringe Sie nach Zyg, aber nicht weiter.«
»Zyg?«
»Eine rund dreihundert Kilometer von hier entfernte Insel. Kaiman hat dort einen Stützpunkt, den er ›Institut für Anthropoide Forschungen‹ nennt.« Zum ersten Mal lächelte er. Es wirkte nicht sonderlich freundlich und war eher nur ein Verzerren des Gesichts. »Das Unterseeboot der Mannschaft steuert Zyg des Öfteren an.«
»Wie lange dauert die Reise?«
»Zwei Tage, vielleicht etwas länger.«
»Zwei Tage! Und zum Teufel auch: Wie viele Stunden hat ein Sturmtag?«
Wieder das schiefe Lächeln. »Wenn Sie sich schon seit einigen Tagen auf diesem Planeten befinden, sollten Sie das eigentlich wissen. Aber andererseits: Ich schätze, in der unterirdischen Sturmstadt haben Tag und Nacht wohl keine Bedeutung. Nun, ein Tag auf dieser Welt hat achtundzwanzig Standardstunden.«
Zwei Tage, vielleicht auch länger … Bis dahin konnte die Polizei meine neue Identität in Erfahrung gebracht haben und mich wieder suchen. Selbst wenn sie derzeit annahm, ich sei bei dem Absturz der Fähre ebenfalls ums Leben gekommen: Bestimmt fragte sie sich, was aus einem gewissen Winthrop Oates geworden war. Meine einzige Hoffnung bestand in dem Ausmaß der Katastrophe, das die Bürokratie für einige Tage beschäftigen mochte. Wenn ich mit dieser Vermutung richtig lag, konnte ich die Vorsehung rechtzeitig erreichen. Und wenn ich mich erstmal an Bord des Schiffes und unter der Obhut der Macht Kaimans befand, ergab sich möglicherweise eine Atempause für mich, die ich für Nachforschungen nutzen konnte.
»In Ordnung«, erwiderte ich. »Also nach Zyg.«
Als Captain Bald das Geld einsteckte, sah ich an seiner Hand etwas aufglitzern, und es fiel mir nicht leicht, meine Verblüffung zu verbergen.
Die Tür öffnete sich. Drei weitere Eingeborene traten ein und grüßten Captain Bald, der daraufhin aufstand. »Hier entlang«, sagte er. Ich folgte den drei Neuankömmlingen, und Captain Bald bildete den Abschluss. Meine Nackenhaare richteten sich auf, als ich mich duckte, um nicht an die niedrige Decke zu stoßen. Die anderen waren in der Überzahl. Und ein Gefühl der Furcht bildete sich in mir, als ich durch den dunklen Tunnel wanderte, in dem es nach verfaulendem Fisch stank, umgeben von Aliens, die weitaus kräftiger waren als ich. Das dumpfe Dröhnen wurde lauter, und ich empfand das unangenehme Prickeln von einigen leichten klaustrophobischen Anfällen. Die Eingeborenen marschierten schweigend und nackt durch die Finsternis. Captain Bald berührte mich kurz am Rücken, und ich zuckte zusammen. Ich traute ihm nicht. Ich war erschrocken angesichts der Bedeutung dessen, was ich eben im Licht der Wohnhöhle gesehen hatte.
Am dritten Finger der linken Hand trug Captain Bald einen goldenen Ring.
Und ich war fast sicher, dass es Francis' Ring war – jener goldene Siegelring, den ich ihm im letzten Jahr zum Jubiläum geschenkt hatte …
»Das ist das Boot? Und damit wollen wir dreihundert Kilometer weit segeln?«
Captain Bald verübelte mir meine Skepsis. »Tadda-Schiffe befuhren die Meere von Sturm schon lange bevor die Erdbewohner hierher kamen, Oates. Was bei Ihnen Drake, Cook und Da Gama waren, hießen bei uns Quästor, Wiederläut, Mr. Loch und Von Seltsam. Mein Schiff Sturmtaucher ist nach den Merkmalen der Sucher, Welle und Lied konstruiert, den Booten, mit denen Von Seltsam seine historische Reise um die Welt vollbrachte.« Wenn seine Stimme dabei ein wenig pathetisch geklungen hatte, so war sich Captain Bald dessen nicht bewusst. Ich war beeindruckt von seinem Vergleich in Hinblick auf die Seefahrtsgeschichte der Erde.
Aber die Sturmtaucher war das eigenartigste Schiff, das ich jemals gesehen hatte. In der Länge maß es rund zwölf und in der Breite knapp vier Meter, und es sah aus wie ein großer und halb im Wasser versunkener Holzklotz. Unter der Oberfläche konnte ich undeutlich dünne Auswüchse erkennen. Sie ragten aus dem Rumpf, und ein ganzes Stück unter der Kielhöhe waren Spanten daran befestigt, die aussahen wie die Ausleger eines Luftkissenbootes.
»Was ist das dort?« Auf der gewölbten Holzfläche lag ein Bündel aus Stangen, Seilen und Tuch.
Captain Bald schenkte mir keine Beachtung und wandte sich stattdessen einem anderen Mann zu, der gerade angekommen war. »Rik 'ik?«, fragte er. Seine Stimme klang zornig. »Rik 'ik? Ka Hedo Rik 'ik?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Rik 'ik da koko.«
»Ibud?«
»Ti.«
Captain Bald begann damit, den Neuankömmling mit zwar leiser, aber doch wütender Stimme zu verfluchen, und ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Sturmtaucher, die sich auf den Wellen langsam hob und senkte. Wir befanden uns in einer großen Höhle und standen auf einem Felsvorsprung. Neben mir drehte sich unregelmäßig die Trommel eines Generators, dessen Konstruktionsweise mir bekannt war; angetrieben wurde das Gerät mit Hilfe einer kompliziert wirkenden Anordnung von Schwimmern, Gestängen und Zahnrädern. Die Kraftübertragung war natürlich ebenfalls abhängig von der Wellentätigkeit. Das erklärte das Flackern des Glühbirnenlichts in der Wohnhöhle.
Captain Bald beendete seinen Monolog mit einer Salve aus Knacklauten, sprang an Deck der Sturmtaucher und riss eine Luke auf. Er kletterte ins Innere des Schiffes. Ich traf eine rasche Entscheidung, glitt über den schlüpfrigen Rumpf, wobei ich mich an all den Vorsprüngen festhielt, die ich mit der linken Hand finden konnte, und folgte Captain Bald. Ich gelangte in eine zylindrische Kabine, die von einigen Ansammlungen phosphoreszierender Pilze beleuchtet wurde, die hier und dort an den feuchten Wänden wuchsen. Ich war nicht sehr überrascht davon, dass Wasser über den Boden spülte. Die anderen Besatzungsmitglieder platschten in die Kammer, und die Luke schloss sich mit einem dumpfen Schmatzen.
Fünf Eingeborene und ich – in einem hohlen Holzklotz auf einem fremden Planeten. Was zum Teufel hatte ich hier zu suchen? Die automatisierte Perfektion der Erde schien weiter entfernt zu sein als jemals zuvor. »Wie verlassen wir die Höhle?«, fragte ich. »Ich habe keinen Ausgang gesehen.«
»Wir tauchen«, erwiderte Captain Bald knapp.
Er klickte einem der Fremden einen Befehl zu, und daraufhin holte der Eingeborene mit einem hölzernen Schlegel aus und hieb ihn auf einen aus dem Rumpf ragenden Pflock. Wasser strömte in die Kammer.
Ich hatte mich schon zuvor in schwierigen Situationen befunden, dabei aber nie jene eiskalte Angst empfunden, die mich regelrecht erstarren ließ, als das mir so primitiv erscheinende Gefährt dem Grund des unterirdischen Sees entgegensank. Vielleicht bin ich von Natur aus ein Feigling. Möglicherweise war es auch der Mangel an elementarsten Sicherheitsmaßnahmen, die zu stark mit meiner Taucherausbildung kontrastierten. Was auch immer der Grund sein mochte: Ich war nahe daran, laut zu schreien, als die Sturmtaucher sich mit Wasser füllte, sich hin und her neigte und zitternd und schwankend sank.
Und wie um die ganze Sache noch schlimmer zu machen, dämmerte mir nun die Bedeutung der Membranen, die ich an den Hälsen der Eingeborenen erkennen konnte. Es waren Kiemen. Bei den Fremden handelte es sich um Amphibien. Wenn sich die Sturmtaucher mit Wasser gefüllt hatte, fühlten sie sich wie zu Hause.
Das Boot erbebte, als es gegen irgendein Hindernis stieß. Ich schwankte und hielt mich an einer nahen Schulter fest. Das entsprechende Wesen schüttelte meine Hand verächtlich ab. Als ich das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, wandte ich mich an Captain Bald. »Was benutzen wir als Antrieb?«
Er sah mich erstaunt an. »Die Strömungen natürlich.«
»Und wie steuern wir?«
»Steuern? Das ist noch nicht notwendig. Wir halten uns in einer Höhe von einigen Metern über dem Meeresboden, und die Strömung lenkt uns in die gewünschte Richtung.« Seine Feindseligkeit schwächte sich ein wenig ab. Er erklärte mir seine erste große Liebe: die Navigation eines Unterseebootes. »Es dauert viele Jahre, bis man ein richtiges Gespür für die maritimen Strömungen entwickelt, um zu wissen, wo man sich befindet, ohne einmal aufzutauchen und sich umzusehen. Hundert Meter unter der Meeresoberfläche kann man keine Peilung vornehmen, Oates. Ebenso unmöglich ist es, sich von hier aus an der Lage von Inseln zu orientieren oder die Sterne zu beobachten. Dies ist wahres Seemannstum, und in dieser Kunst können große Männer beweisen, wozu sie fähig sind. Wir nehmen den Weg, den uns Mr. Loch und Von Seltsam zeigten. Angesichts ihrer Taten sind die Reisen der irdischen Entdecker lächerlich unbedeutend.«
»Wenigstens brauchen Sie hier unten keine Orkane zu befürchten.« Vor meinem inneren Auge formte sich plötzlich ein Bild von der Oberfläche dieses planetenumspannenden Ozeans: Das Meer wurde von so heftigen Böen gepeitscht, dass der Übergang zwischen Wasser und Luft in einem dauernden Sturm aus tosender Gischt verloren war …
»Wie wir vielleicht bald feststellen werden, gibt es bedrohlichere Gefahren als die von Orkanen heraufbeschworenen«, erwiderte der Captain geheimnisvoll und fügte diesen Worten eine Anweisung in seiner Sprache hinzu. Ein Besatzungsmitglied griff nach zwei Schlegeln und begann damit auf den Rumpf einzuhämmern. Es war wie ein wilder Trommelwirbel, in dem es dann und wann zu ganz bestimmten rhythmischen Veränderungen kam. Das Geräusch erinnerte mich an etwas, das lange zurücklag. Mir fiel auf, dass ein Teil des Rumpfes infolge oftmals wiederholter Schlegelhiebe wie glasiert wirkte. Die Eingeborenen hatten an dieser Stelle verschiedene Holzarten in das Material des Klotzes integriert, und auf diese Weise wurden unterschiedliche Klänge möglich. Ich fragte mich, woher sie sich auf einem Planeten, auf dem an der Oberfläche ganz gewiss nichts wachsen konnte, so viel Holz besorgten.
Ich fühlte mich plötzlich entmutigt. Überall stieß ich auf Geheimnisse. Wie sollte ich das Rätsel von Francis' Tod lösen, wenn ich unablässig mit neuen Mysterien konfrontiert wurde? Erneut kratzte irgendetwas am Rumpf entlang. Mit einem beständigen Tropfen sickerte Wasser durch die Einstiegsluke. Die Zeit verstrich. Nach einer Weile fragte ich mit rauer Stimme:
»Was wissen Sie über Alkin, Captain Bald?«
Es war, als hätte ich direkt neben seinem Ohr eine Plastiktüte knallen lassen. Jäh versteifte er sich, erholte sich aber sofort wieder von seiner Überraschung und rief dem Eingeborenen mit den Schlegeln einen Befehl zu. Der Rhythmus veränderte sich. Erstaunt bemerkte ich, dass ich den Takt kannte, mich an ihn wie an ein altes Lied erinnerte. Eine kulturelle Veranstaltung auf der Erde, die ich besucht hatte. Moderne Männer und Frauen, die wie Wilde gekleidet waren, hin und her hüpften und dabei Speere schwangen. Und die auf Holzbohlen einhämmerten.
Großes Tamtam. Die Sturmtaucher signalisierte Zuhörern in der Ferne ihren Kurs. Anderen Unterseebooten? Basen an der Küste? Mein Respekt gegenüber dem Volk Captain Balds wuchs. Die von den Einheimischen gesteuerten U-Boote konnten, wie die Wale auf der Erde, über große Entfernungen miteinander kommunizieren.
Der Trommler hatte eine Pause eingelegt und sprach mit Captain Bald. Dann presste er das eine Ohr an den Rumpf, nickte und sagte erneut etwas. Ich erfasste die Bedeutung seiner Gesten. In jener sonderbaren Art und Weise, die ein normaler Mensch nicht nachvollziehen kann, erwachte in mir das Wissen um die Sprache der Eingeborenen von Sturm, gleich einer bis dahin schlafenden Erinnerung …
Es mochte sich von Vorteil erweisen, dieses Wissen für mich zu behalten.
»Sie lieben also die Gefahr, Oates. Sie dachten, die Reise könnte sich als langweilig herausstellen. Nun, ich habe Neuigkeiten für Sie.« Sein Gesicht glich einer Fratze. Ich wusste nicht, was der Grund war – meine anfängliche Skepsis oder die Frage in Bezug auf Alkin –, aber er wollte mich erschrecken. »Wir könnten mit etwas konfrontiert werden, das weitaus schlimmer ist als ein Orkan. Ich hoffe, Sie lassen sich nicht allzu leicht erschrecken.«
»Fahren Sie fort.«
Er schob sich näher an mich heran. Ein starker Fischgeruch ging von ihm aus. Er war ein Sturmmann, ein Tadda. Dies war seine Welt, seine Heimat, sein Element, und er beabsichtigte, dies dem Besucher von der Erde zu beweisen. »Haben Sie während Ihres Aufenthalts in Sturmstadt einmal etwas vom Kessel Neptuns gehört?«
»Neptuns Kessel?«
Erneut das humorlose Grinsen. »Ein eher lustiger Name, den sich irdische Touristen einfallen ließen. Nun, die Wirklichkeit ist alles andere als lustig. Beim Kessel Neptuns handelt es sich um einen maritimen Vulkan, der sich zweihundert Kilometer westlich der Insel Zyg befindet. Für gewöhnlich brodelt er nur so vor sich hin. Jetzt aber haben wir gerade die Meldung erhalten, dass er ziemlich wütend wird.«
»Westlich von Zyg? Also liegt die entsprechende Region ein ganzes Stück abseits unserer Route.«
»Sie haben keine Ahnung von unterseeischer Navigation, Oates. In diesem Bereich führen alle Routen zu Neptuns Kessel, den wir Kag nennen. Die tiefen Strömungen weisen alle in seine Richtung. Das Wasser im ganzen Umkreis wird vom Auftrieb über Kag angesaugt. Und um Ihnen eine Vorstellung von der Größe Kags zu vermitteln: Die Zone des Auftriebs gleicht einer Spirale und durchmisst etwa fünfzig Kilometer …
Die Nachricht stammt von einem Schiff, das weniger als hundert Kilometer vom Zentrum Kags entfernt ist – dem Unterseeboot Wind. Und sie machen sich große Sorgen, die Tadda an Bord der Wind …«
Für eine ganze Zeit nach diesem kurzen Wortwechsel zeigte sich der Captain recht nervös. Wie ein in einem Käfig gefangenes Raubtier wanderte er in der Kammer hin und her und erteilte den Besatzungsmitgliedern dann und wann mit knappen Worten Anweisungen. Wie ich deutlich sehen konnte, begegneten ihm die anderen Eingeborenen mit großem Respekt. Als die Zeit verstrich, wurde die Luft in dem Raum allmählich schal, und ich trat auf eine Ansammlung graugrüner Pflanzen zu. Captain Bald erklärte mir, sie reicherten die Luft im Schiff mit Sauerstoff an. Der Trommler hieb die ganze Zeit über auf den Rumpf ein. Das Dröhnen zerrte so sehr an meinen Nerven, dass ich kurz davor war, laut zu schreien und ihn brüllend dazu aufzufordern, die Schlegel endlich beiseitezulegen. Die anderen Einheimischen verbrachten die Zeit damit, einen ständigen Kampf gegen die Lecks im Holz zu führen und sie mit fladenartigen Pilzmassen abzudichten. Und sie plauderten miteinander, während sie mit Stöcken und hölzernen Stechbeiteln arbeiteten …
Innerhalb von vier Stunden hatte ich ihre Sprache gelernt.
Schließlich kam es zu einer Veränderung in der Routine. Das Trommeln hörte auf. Die Besatzungsmitglieder stellten ihre bisherigen Arbeiten ein und versammelten sich im Bug des Schiffes, vor einem türähnlichen Schott, aus dessen Ritzen und Fugen Wasser rann. Durch das verlagerte Gewicht neigte sich die Nase des Bootes nach unten. Kurz darauf klopften die Tadda an das Holz. Irgendjemand antwortete ihnen. Sie hielten sich an diversen Vorsprüngen fest und zogen. Das Schott sprang mit einem jähen Ruck auf und fiel in den Raum.
Erschrocken wich ich zurück. Einen Augenblick lang befürchtete ich, das Innere der Kammer sei nun zum Meer hin offen. Ein großer Wasserschwall gischtete herein, spülte an dem rückwärtigen Schott in die Höhe und schwappte zurück, wobei mir die Fluten bis zur Taille reichten. Dann fiel mein Blick auf eine Wand, die sich jenseits der befand, in der nun ein großes Loch klaffte, und ich entspannte mich. Bei der sich an das offene Schott anschließenden Kammer handelte es sich um eine Schleuse, die für eine Benutzung unter Wasser konzipiert war.
Ein Besucher trat ein und begrüßte Captain Bald auf Taddan, wobei er ganz offensichtlich keinen großen Wert auf besondere Herzlichkeit legte. »Wie ich sehe, arbeitest du noch immer für die Leute von der Erde.« Der Mann war klein und hager, und obgleich sein Mienenspiel sich nicht mit dem eines Menschen vergleichen ließ, glaubte ich eine geradezu brennende Intensität in seinen Zügen zu erkennen. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und die Nase war gerade. Seine Kiemen pulsierten in einem purpurnen Farbton und wirkten weniger schlaff und faltig als die Captain Balds und seiner Mannschaft. Zuerst schien ihm das Atmen ein wenig schwerzufallen.
»Ich bin Geschäftsmann«, erwiderte Captain Bald. »Was ist daran verwerflich?«
»Es ist dann verwerflich, wenn du den Goppas dabei hilfst, unseren Planeten und seine Bewohner auszubeuten. Es gibt sauberere Möglichkeiten, Geld zu verdienen, Captain Bald.«
»Zum Beispiel Sabotage, Rik 'ik, Peitschenzunge?«
In der Kammer schien es plötzlich vor Anspannung zu knistern. Die beiden Eingeborenen starrten sich an und hatten die Fäuste geballt. Ich erinnere mich daran, dass mir folgender Gedanke durch den Kopf ging: Diese Situation – diese im Namen der Zivilisation unterdrückte Gewalt – ist elementar. Ganz gleich, wo im Kosmos man sich auch befinden mag, überall kann man feststellen, dass Fortschritt und Töten nicht voneinander zu trennen sind.
Die Anspannung löste sich auf, als die Besatzungsmitglieder – sie schenkten der Konfrontation nicht die geringste Beachtung, so als handele es sich dabei um eine reine Routineangelegenheit – im rückwärtigen Bereich der Kammer einige versiegelte Holzfässer öffneten. Das explosive Zischen entweichender Luft durchbrach die Stille.
Captain Bald zuckte mit den Schultern. »Wie dem auch sei«, sagte er. »Die Paarungszeit hat begonnen. Einige von uns sind bereits ganz versessen darauf, nach Zyg zu gelangen. Ich kann es bereits selbst spüren …« Er zupfte an der Kiemenmembran, und einige Schuppen aus abgestorbenem Fleisch fielen zu Boden. »Sieh dich nur vor, was die nächste Saison angeht, Peitschenzunge. Kaiman hat ein Auge auf dich geworfen. Er wartet nur darauf, dass du einen weiteren Fehler machst.«
»Der Terraner Brood machte den Fehler, nicht ich. Und der Kerl hat dafür bezahlt …«
Der Terraner Brood!
Es fiel mir schwer, eine scharfe Frage zurückzuhalten. Indem ich den Mund hielt, indem ich die Tadda in dem Glauben ließ, ich verstände ihre Sprache nicht, hatte ich weitaus bessere Aussichten, etwas in Erfahrung zu bringen.
Aber es war nicht leicht, als ich sie über Francis sprechen hörte …
Und dann ließen sie dieses Thema fallen. Eine schier endlose philosophische Erörterung schloss sich an, und die Reste der Anspannung verschwanden. Aber die Feindschaft zwischen den beiden Humanoiden bestand nach wie vor, und einige Stunden lang rechnete ich jeden Augenblick damit, dass die Gegensätzlichkeit in offene Gewalt ausbrach.
Schließlich aber errangen Müdigkeit und Blutverlust den Sieg über meinen Willen, wach zu bleiben, und ich schlief ein.