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Die Kult-Krimi-Serie endlich als eBook!
Bruder Cadfael freut sich, dass er in seine alte Heimat Wales reisen darf, um für seinen jungen Ordensbruder Mark zu dolmetschen. Auf ihrer Reise begegnen die beiden Mönche Heledd, einer Keltin, die gegen ihren Willen verheiratet werden soll. Und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse! Als schließlich der Bruder des walisischen Königs mit Wikingern das Land überfällt, um die Macht an sich zu reißen, ist Bruder Cadfael nicht mehr nur als Übersetzer gefragt ...
Über die Reihe: Morde und Mysterien im finstersten Mittelalter des 12. Jahrhunderts liefern den perfekten Hintergrund für die spannenden Abenteuer des Bruders Cadfael, eines ehemaligen Kreuzritters, der sich als Mönch in die Abtei St. Peter & Paul nahe Shrewsbury zurückgezogen hat. Doch ein ruhiges Leben als Kräutergärtner und Heilkundiger ist ihm nicht vergönnt: Immer wieder muss er seine detektivischen Fähigkeiten einsetzen, um Verbrechen in der Gemeinde aufzuklären.
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Seitenzahl: 442
Cover
Weitere Titel der Autorin
Über dieses Buch
Über die Reihe
Über die Autorin
Titel
Impressum
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Bruder Cadfael und die Entführung der Heiligen
Bruder Cadfael und der unbekannte Tote
Bruder Cadfael und das Mönchskraut
Bruder Cadfael und der Hochzeitsmord
Bruder Cadfael und der Aufstand auf dem Jahrmarkt
Bruder Cadfael und die Jungfrau im Eis
Bruder Cadfael und die Zuflucht im Kloster
Bruder Cadfael und der Ketzerlehrling
Bruder Cadfael und das Geheimnis der schönen Toten
Bruder Cadfael freut sich, dass er in seine alte Heimat Wales reisen darf, um für seinen jungen Ordensbruder Mark zu dolmetschen. Auf ihrer Reise begegnen die beiden Mönche Heledd, einer Keltin, die gegen ihren Willen verheiratet werden soll. Und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse! Als schließlich der Bruder des walisischen Königs mit Wikingern das Land überfällt, um die Macht an sich zu reißen, ist Bruder Cadfael nicht mehr nur als Übersetzer gefragt ...
Morde und Mysterien im finsteren Mittelalter des 12. Jahrhunderts liefern den perfekten Hintergrund für die spannenden Abenteuer des Bruders Cadfael, einem ehemaligen Kreuzritter, der sich als Mönch in die Abtei St. Peter & Paul nahe Shrewsbury zurückgezogen hat. Doch ein ruhiges Leben als Kräutergärtner und Heilkundiger ist ihm nicht vergönnt: Immer wieder muss er seine detektivischen Fähigkeiten einsetzen, um Verbrechen in der Gemeinde aufzuklären.
Ellis Peters ist das Pseudonym der 1913 geborenen englischen Autorin Edith Pargeter. Ihre Bruder-Cadfael-Reihe erschien in 15 Sprachen und mehr als 20 Ländern und wurde erfolgreich von der BBC verfilmt. Ihr Wissen als Apothekenhelferin war der Ausgangspunkt für den kräuterkundigen Bruder Cadfael. Ellis Peters starb im Oktober 1995.
Ellis Peters
Bruder Cadfael und die schwarze Keltin
Aus dem Englischen von David Eisermann
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1991 by Ellis Peters
Titel der britischen Originalausgabe: »The Summer of the Danes«
Originalverlag: Headline Book Publishing plc, London
Für die deutschsprachige Erstausgabe:
Copyright © der deutschen Übersetzung 1995 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt
Covergestaltung: Thomas Krämer unter Verwendung von Motiven © Color Symphony/Shutterstock, © optimarc/shutterstock, © Andrey_Kuzmin/shutterstock, © ArtCookStudio/shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimapr (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-9426-9
be-ebooks.de
luebbe.de
lesejury.de
Von den außergewöhnlichen Geschehnissen im Sommer jenes Jahres 1144 lässt sich eigentlich sagen, dass sie im Jahr zuvor begonnen hatten, in einem Gewirr aus Fäden sowohl kirchlicher wie weltlicher Art, einem Netz, in dem eine Anzahl ganz unterschiedlicher Menschen gefangen wurden, Geistliche vom Erzbischof bis hinab zum niedersten Diakon von Bischof Roger de Clinton und Laien von den Fürsten von Nordwales bis zu den bescheidensten Landarbeitern, Hüttenbewohnern und Zinsbauern in den Keltendörfern von Arfon. In die Sache war auch ein Benediktinermönch von fortgeschrittenen Jahren verwickelt, der zur Abtei Sankt Peter und Paul in Shrewsbury gehörte.
Bruder Cadfael hatte jenen April in einer Stimmung leicht ruheloser Hoffnung erwartet, so wie es ihm gewöhnlich ging, sobald die Vögel ihre Nester bauten und die Wiesenblumen gerade begannen, ihre Knospen aus dem frischen Gras zu strecken, und sich die Bahn der Sonne Mittag für Mittag ein wenig höher erhob. Gewiss, es gab Mühsal in der Welt, wie das schon ewig so gewesen war. In den vertrackten Angelegenheiten Englands war noch immer keine Lösung absehbar. Das Land war geteilt. Zwei Verwandte wetteiferten um den Thron. König Stephan von Blois konnte sich noch immer im Süden und meistenteils im Osten behaupten; Mathilde, »Herrscherin Englands« und Witwe des deutschen Kaisers Heinrich V., hatte dank ihres treu ergebenen Halbbruders Robert von Gloucester im Südwesten unangefochten das Sagen und hielt ungestört Hof in Devizes. Aber seit einigen Monaten hatte es zwischen ihnen so gut wie keine Kämpfe mehr gegeben, sei es aus Erschöpfung oder aus politischer Absicht, und eine merkwürdige Ruhe hatte sich im Land ausgebreitet, beinahe Frieden. Im Sumpfland der Fens wütete immer noch der gesetzlose Geoffrey de Mandeville, jedes Menschen Feind. Er war frei, aber seine Freiheit wurde durch die neuen Festungen des Königs eingeschränkt. Er war zunehmend verwundbar geworden. Alles in allem gab es durchaus Raum für Zuversicht, und die ganze Frische und der Glanz des Frühjahrs verboten Trübsinn, falls es überhaupt Cadfaels Neigung gewesen wäre, Trübsal zu blasen.
So kam er zum Kapitel, an diesem besonderen Tag Ende April, in der allerheitersten und gleichmütigsten Verfassung voll milder Absichten gegen jedermann und zufrieden, dass alles so ruhig und ereignislos durch den Sommer und in den Herbst weiterlaufen würde. Gewiss dachte er keinesfalls an eine baldige Störung dieser Idylle, noch weniger an die Instanz, die sie herbeiführen sollte.
Als ob sich das Kapitel von ebendieser prekären, aber willkommenen Ruhe leiten ließ, verlief es an diesem Tag bescheiden und ohne Disput. Niemand war abwesend, und es gab nicht einmal eine kleine Sünde unter den Novizen, die Bruder Jerome hätte beklagen können, und die Schulknaben – berauscht von Frühling und Sonnenschein – schienen sich wie die Engel aufzuführen, die sie keinesfalls waren. Das Kapitel der Ordensregel war zudem das 34., vorgetragen im eintönigen, quengelnden Tonfall von Bruder Francis: eine sanfte Erläuterung, dass die Doktrin sich nicht immer aufrechterhalten ließ, nach der jeder einen gleichen Anteil erhalten soll, mögen doch die Bedürfnisse des einen die des anderen übersteigen, und der, dem mehr zuteilwird, soll sich nicht damit brüsten, dass er mehr erhält als seine Brüder, und der, dem weniger und doch genug zuteilgeworden ist, soll sich nicht um das kümmern, das seine Brüder zusätzlich erhalten haben. Und vor allem kein Murren und kein Neid. Alles war friedfertig, versöhnlich, maßvoll. Vielleicht sogar eine Idee langweilig?
Es war insgesamt schon ein Segen, in etwas langweiligen Zeiten zu leben, besonders wenn sie auf solche voller Unordnung, Belagerung und bitterem Zwist folgten. Doch irgendwo in Cadfael gab es da noch etwas, das ihn juckte, wenn die Ruhe zu lange anhielt. Ein wenig Aufregung musste nichts Schlechtes bedeuten und mochte einen angenehmen Kontrapunkt zu der starren Ordnung im Kloster setzen, wie sehr er sie auch liebte und wie sorgfältig er auch um sie bemüht war.
Sie waren am Ende des gewohnten Ablaufs, und Bruder Cadfael hörte den einzelnen Aufstellungen des Kellermeisters nicht mehr zu, seit er selbst keine solche Funktion mehr hatte und zufrieden war, diese Angelegenheiten denen zu überlassen, die den Auftrag dazu hatten. Abt Radulfus wollte das Kapitel gerade mit einem Blick durch den ganzen Saal schließen, um sicherzustellen, dass keiner vor sich hinbrütete, der eigentlich einen Widerspruch oder Vorbehalt hegte, als der Pförtner, der während Gottesdienst oder Kapitellesung am Torhaus diente, seinen Kopf auf eine Art zur Tür hereinsteckte, die vermuten ließ, dass er außer Sichtweite auf genau diesen Augenblick gewartet hatte.
»Vater Abt, hier ist ein Gast aus Lichfield. Bischof de Clinton hat ihn beauftragt, nach Wales zu reisen, und er bittet hier für eine Nacht oder zwei um Unterkunft.«
Bei jedem geringeren Anlass, überlegte Cadfael, hätte der Abt gewartet, bis wir alle den Raum verlassen hätten, doch wenn es um eine bischöfliche Angelegenheit geht, kann es sich gut um eine ernste Sache handeln, die öffentlich behandelt werden muss, bevor wir uns alle zerstreuen. Er erinnerte sich gern an Roger de Clinton, einen Mann der Entscheidung und des soliden Menschenverstands mit einem Blick für das Echte und das Falsche in anderen Menschen, der sich mit Fragen der Doktrin nicht lange aufhielt. Obgleich Radulfus’ Gesicht gleichmütig blieb, glitzerte sein Blick doch, da er sich des letzten Besuchs des Bischofs mit Wertschätzung erinnerte.
»Der Gesandte des Bischofs ist sehr willkommen«, sagte er, »und mag hierbleiben, solange er wünscht. Hat er sofort einen Wunsch an uns, bevor ich dieses Kapitel schließe?«
»Ehrwürdiger Vater, er möchte Euch sofort die Reverenz erweisen und auch wissen lassen, was sein Auftrag sei. Ihr entscheidet, ob dies hier oder unter vier Augen geschehen soll.«
»Lass ihn hereinkommen«, sagte Radulfus.
Der Torwächter verschwand, und das leise, verstohlene Gemurmel von Neugier und Spekulation, das durch das Kapitelhaus wie ein Wellenkreis auf einem Teich lief, verebbte zu erwartungsvoller Stille, als der Gesandte des Bischofs hereinkam und sich vor sie stellte.
Er war ein kleiner Mann, schlank und mager gebaut, doch drahtig, schmal wie ein Sechzehnjähriger. Er wirkte ganz wie ein Junge, bis der Charakter und die Reife des ovalen, bartlosen Gesichts bei genauerem Hinsehen deutlich wurden. Ein Benediktiner wie diese seine Brüder, mit Tonsur und Habit, stand er aufrecht in der Würde seines Amtes und der Bescheidenheit und Schlichtheit seiner Natur, zart wie ein Kind und dauerhaft wie ein Baum. Mit seinem kurz geschnittenen, strohfarbenen Haarkranz wirkte er stachelig wie ein Igel. Das Haar stand so unbeherrschbar ab wie bei einem Kind. Doch ein Blick in seine grauen, klaren Augen zeigte einem gleich, dass er ein Mann war.
Ein kleines Wunder! Cadfael fand sich unvermutet mit einem Geschenk beschert, nach dem er sich in den vergangenen Jahren oft gesehnt hatte. Jetzt kam es ihm plötzlich und unwahrscheinlich wie ein Wunder vor. Roger de Clinton hatte als seinen akkreditierten Sendboten nicht irgendeinen dicken imposanten Kanoniker aus der inneren Hierarchie seiner weitgespannten Diözese gewählt, sondern den jüngsten und bescheidensten Diakon an seinem Hof. Cadfael dachte gern an die zwei Jahre zurück, als dieser Bruder Mark ihm im Garten der Abtei Shrewsbury beim Bereiten von Kräutern und Arzneien zur Hand gegangen war.
Bruder Mark verneigte sich mit großer Feierlichkeit vor dem Abt, wobei er seine Tonsur tief beugte. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, war seinen klaren Augen ein schwaches Echo jenes spöttischen Charmes anzumerken, den Mark schon besessen hatte, als Cadfael ihn vor Jahren als stummes Waisenkind kennengelernt hatte. Er würde stets sowohl Mann wie Kind sein, von diesem Tag an bis zu dem Tag, an dem er Priester würde, was sein leidenschaftliches Verlangen war. Und das würde noch einige Jahre dauern, denn er war noch nicht alt genug, um aufgenommen zu werden.
»Mein Herr«, sagte er, »mein Bischof schickt mich mit einer Botschaft des guten Willens nach Wales. Er bittet darum, dass Ihr mich aufnehmt und mich für eine Nacht oder zwei bei Euch unterbringt.«
»Mein Sohn«, sagte der Abt und lächelte, »hier brauchst du kein anderes Beglaubigungsschreiben als deine Anwesenheit. Hast du denn gedacht, wir könnten dich so bald vergessen haben? Du hast hier so viele Freunde, wie es Klosterbrüder gibt, und in nur zwei Tagen wird es dir schwerfallen, sie alle zufriedenzustellen. Und was deinen Auftrag anbelangt, oder den deines Herrn, so werden wir alles tun, um ihn voranzubringen. Willst du darüber sprechen? Hier oder unter vier Augen?«
Der feierliche Ausdruck auf Bruder Marks Gesicht verwandelte sich in ein erfreutes Lächeln. Der Abt hatte ihn nicht nur nicht vergessen, sondern erinnerte sich seiner offensichtlich mit Vergnügen. »Das ist keine lange Geschichte, Vater«, sagte er, »und ich mag sie gern hier erklären und würde doch später Euren Rat und Beistand einholen, denn so eine Botschaft ist neu für mich, und es gibt keinen, der mir besser als Ihr beistehen könnte, sie getreu zu überbringen. Ihr wisst, dass die Kirche im vergangenen Jahr beschlossen hat, den Bischofssitz von Sankt Asaph zu Llanelwy wieder aufzurichten.«
Radulfus neigte zustimmend den Kopf. Die vierte unter den Diözesen von Wales war seit gut siebzig Jahren verwaist, und sehr wenige Menschen waren noch am Leben, die sich an einen Bischof auf dem Stuhl zu Sankt Kentigern erinnern konnten. Seine Lage jeweils zu beiden Seiten der Grenze und mit der ganzen Macht von Gwynedd im Westen hatte es immer schwierig gemacht, das Bistum aufrechtzuerhalten. Die Kathedrale stand auf Land, das dem Earl von Chester gehörte, doch das ganze Clwyd-Tal darüber lag in Owain Gwynedds Gebiet. Wieso genau Erzbischof Theobald sich entschlossen hatte, die Diözese zu dieser Zeit wieder zu beleben, war niemandem so richtig klar, vielleicht nicht einmal dem Erzbischof. Anscheinend verlangten Kirchenpolitik und weltliche Absichten einen festen englischen Zugriff auf dieses Grenzland, denn der vorgesehene Mann war Normanne. In so einer Wahl lag nicht viel Feingefühl, überlegte Cadfael traurig.
»Letztes Jahr ist Bischof Gilbert bei Lambeth von Erzbischof Theobald geweiht worden. Der Erzbischof wünscht, dass unser Bischof ihn seiner Unterstützung versichert. Früher sind in dieser Gegend die pastoralen Verpflichtungen in die Zuständigkeit der Diözese von Lichfield gefallen. Ich bin der Überbringer von Briefen und Geschenken nach Llanelwy im Auftrag meines Herrn.«
Das ergab Sinn, falls es die Absicht der Kirche war, ihre Stellung im Lande Wales zu festigen und zu demonstrieren, dass sie bewahrt und verteidigt werden sollte. Ein Wunder, überlegte Cadfael, dass es irgendeinem Bischof einmal gelungen war, eine so riesige Teilkirche wie die ursprüngliche Diözese Mercia zu verwalten. Im Lauf der Zeit war ihr Zentrum von Lichfield nach Chester und zurück nach Lichfield und nun nach Coventry versetzt worden, stets in dem Bemühen, mit einer so unterschiedlich gescheckten Herde in Verbindung zu bleiben, wie sie nur je ein Hirte umsorgt hatte. Roger de Clinton dürfte es nicht leidtun, diese Grenzpfarreien los zu sein, ob er der Strategie nun zustimmte oder nicht, mit der sie ihm entzogen wurden.
»Der Auftrag, der dich zu uns zurückbringt, und sei es auch nur für ein paar Tage, ist sehr begrüßenswert«, sagte Radulfus. »Wenn meine Zeit und Erfahrung für dich von Nutzen sein können, gehören sie dir, wenngleich ich finde, dass du dir gut genug ohne jeden Beistand durch mich oder sonst jemand zu behelfen weißt.«
»Die Ehre Eures Vertrauens wiegt schwer«, sagte Mark voller Ernst.
»Wenn der Bischof keine Zweifel hat«, sagte Radulfus, »hast du sie auch nicht nötig. Ich halte ihn für einen Mann, der sehr wohl weiß, in wen er sein Vertrauen setzt. Wenn du von Lichfield hergeritten kommst, hast du etwas Ruhe und Erfrischung nötig, denn es ist offensichtlich, dass du früh losgeritten bist. Kümmert sich schon jemand um dein Pferd?«
»Ja, Vater.« Die alte Form der Anrede kam von selbst zurück.
»Dann komme mit mir zu meiner Unterkunft, und mach es dir etwas bequem, und verwende meine Zeit, wie du magst. Was ich an Weisheit habe, steht zu deiner Verfügung.« Cadfael ging es wie dem Abt – ihm war genau bewusst, dass diese scheinbar so schlichte Mission zu dem neu ernannten und fremden Bischof von Sankt Asaph viele Risiken und heikle Themen einschloss. Mark war so weise, wie er unschuldig war. Er würde sich Schritt für Schritt seinen Weg durch einen Sumpf suchen müssen, durch Gelände, wo der Boden auf jeder Seite nachgeben konnte. Umso beeindruckender war es, dass Roger de Clinton seine Hoffnung in den Jüngsten und Letzten im Gefolge seiner Kleriker gesetzt hatte.
»Das Kapitel ist beendet«, sagte der Abt und ging zur Tür. Als der Besucher die Versammlung durchquerte, stand es ihm endlich frei, sich weiter nach alten Freunden umzusehen. Seine grauen Augen erblickten Cadfael und erwiderten sein Lächeln. Dann wandte der junge Mann sich ab und folgte seinem Superior. Sollte Radulfus ihn für eine Weile haben und es genießen, von ihm Neuigkeiten zu erfahren. Mark hatte eine Reise mit komplizierten Einzelheiten vor sich. Der lebenskluge Abt verfügte über lange Erfahrung. Später würde Mark von selbst den Weg zurück in den Kräutergarten finden.
»Der Bischof ist sehr gut zu mir gewesen«, sagte Mark, dem die Idee fremd war, dass ihm mit dieser Mission ein besonderer Gunstbeweis zuteilgeworden war, »aber so ist er gegen jeden in seiner nächsten Umgebung. Er wollte mir damit nicht einfach einen Gefallen tun. Nun, da er Bischof Gilbert in Sankt Asaph eingesetzt hat, weiß der Erzbischof sehr gut, wie wacklig dessen Stellung ist, und möchte sicherstellen, dass sein Sitz auf jede erdenkliche Unterstützung rechnen kann. Es ist sein Wunsch, ja sein Befehl gewesen, dass unser Bischof dem neuen Mann einen Höflichkeitsbesuch abstatten möge, da Gilberts neuem Bistum das meiste von unserer Diözese zugeschlagen worden ist. Die Welt soll sehen, welche Harmonie unter Bischöfen herrscht – sogar unter Bischöfen, denen einfach ein Drittel ihres Gebiets abgenommen wird. Was immer er davon gedacht haben mag, wie klug es war, einen Normannen, der kein Wort Walisisch spricht, mit einer Diözese zu betrauen, die zu neun Zehnteln aus Walisern besteht, Bischof Roger hat sich dem Erzbischof schließlich nicht widersetzen können. Aber es ist ihm überlassen geblieben, wie er den Befehl ausführt. Ich glaube, er hat mich ausgesucht, weil er der Mission nicht zu viel Gewicht geben und Bischof Gilbert nicht zu sehr schmeicheln will. Sein Brief ist förmlich und wunderschön ausgeführt, sein Geschenk ist mehr als geeignet. Doch ich – ich bin bloß ein unwichtiger kleiner Mensch!«
Sie hatten sich um einen der Tische versammelt, die an dem Parkweg im Norden standen, wo die Frühlingssonne sogar am späten Nachmittag noch mit schrägen Fingern von blassem Gold hinreichte, ungefähr eine Stunde vor der Vesper. Hugh Beringar war aus der Stadt gekommen. Doch er war von seinem Haus nicht hierhergeritten, um sich als Sheriff mit dem Abgesandten der Kirche amtlich zu befassen. Er war einem starken Gefühl der Zuneigung gefolgt. Ihm ging es um das Vergnügen, einen jungen Mann wiederzusehen, den er gut in Erinnerung behalten hatte. So, wie es jetzt aussah, konnte Mark vielleicht Hughs Hilfe oder doch einen Ratschlag gebrauchen. Hugh hatte gute Beziehungen nach Nordwales. Er hatte ein freundschaftliches Einvernehmen mit Owain Gwynedd, da keiner von ihnen ihrem gemeinsamen Nachbarn traute, dem Earl von Chester, und sie jeweils das Wort des anderen ohne Frage akzeptierten. Die Beziehung, die der Sheriff zu Madog ap Meredith von Powis unterhielt, war prekärer. Die Grenze von Shropshire war in ständiger Alarmbereitschaft gegen sporadische und beinahe spielerische Überfälle von der anderen Seite der Grenze zwischen England und Wales, wiewohl zu dieser Zeit alles vergleichsweise ruhig war. Wenn es um die Bedingungen ging, die auf dem Ritt nach Sankt Asaph zu berücksichtigen sein würden, war Hugh der Mann, der sie noch am ehesten kannte.
»Ich glaube, du bist zu bescheiden«, sagte er ernst. »Ich schätze, wenn er dich ständig um sich gehabt hat, kennt dich der Bischof mittlerweile gut genug, um sehr viel von deinem Verstand zu halten. Er traut dir zu, sanft aufzutreten, wo ein Botschafter von mehr Gewicht zu viel reden und zu wenig zuhören könnte. Cadfael wird dir mehr über die walisischen Gefühle in Angelegenheiten der Kirche erklären, als ich es vermag, doch ich weiß, wo die Politik hereinspielt. Du kannst sicher sein, dass Owain Gwynedd ein scharfes Auge auf das wirft, was Erzbischof Theobald in seinem Herrschaftsbereich tut und lässt, und mit Owain ist stets zu rechnen. Erst vor vier Jahren ist in seiner eigenen Heimatdiözese Bangor ein neuer Bischof geweiht worden, wo jeder Einwohner Waliser ist. Dort zumindest haben sie einen Waliser zugelassen, einen, der sich zuerst geweigert hat, dem König Stephan die Treue zu schwören oder die Vorherrschaft von Canterbury anzuerkennen. Bischof Meurig ist kein Held gewesen und hat schließlich eingelenkt und beides getan, und das hat ihn damals Owains Langmut und Wohlwollen gekostet. Es hat starken Widerstand gegeben, ihn seine Stelle einnehmen zu lassen. Doch sie haben sich seitdem geeinigt und ihre Meinungsverschiedenheiten beigelegt, was so viel heißt, dass sie bestimmt zusammenarbeiten, wenn es darum geht, Gwynedd davor zu bewahren, ganz unter Theobalds Einfluss zu geraten. Wenn zu Sankt Asaph jetzt ein Normanne zum Bischof geweiht worden ist, liegt darin eine Herausforderung für Fürsten wie Prälaten, und wer immer da eine diplomatische Mission unternimmt, wird auf beide ein scharfes Auge haben müssen.«
»Und Owain zumindest«, fügte Cadfael schlau hinzu, »wird ein scharfes Auge darauf haben, wie seine Leute empfinden, und ein offenes Ohr für das, was sie sagen. Gilbert wäre klug beraten, dasselbe zu tun. Gwynedd hat keine Lust, Canterbury nachzugeben. Sie haben ihre eigenen Heiligen, Gewohnheiten und Riten.«
»Ich habe gehört«, sagte Mark, »dass früher, vor langer Zeit, St. David seinen eigenen Erzbischof gehabt hat und der maßgebliche Bischofssitz für Wales gewesen ist, ohne Canterbury unterworfen zu sein. Es gibt in der Kirche von Wales einige Männer, die diese Verhältnisse wiederherstellen wollen.«
Cadfael schüttelte darüber nur den Kopf. »Blicken wir besser nicht zu genau in die Vergangenheit. Je mehr Canterbury uns seinen Willen deutlich macht, umso mehr werden wir von solchen Ansprüchen hören. Doch Owain wird den neuen Bischof sicher beeindrucken wollen, schon um ihn daran zu erinnern, dass er auf fremdem Boden ist und besser auf seine Manieren achtgeben sollte. Ich hoffe, er wird sich klug verhalten und sich sanft um seine Herde kümmern.«
»Unser Bischof ist ganz deiner Meinung«, sagte Mark, »und ich bin gut vorbereitet. Ich habe im Kapitel nicht alles über meinen Auftrag mitgeteilt, obgleich ich mittlerweile dem Vater Abt davon berichtet habe. Ich habe noch einen Brief und ein weiteres Geschenk zu überbringen. Ich soll weiter bis nach Bangor reisen – oh, nein, das geschieht bestimmt nicht auf Anordnung von Erzbischof Theobald! – und Bischof Meurig dieselbe Aufmerksamkeit erweisen wie Bischof Gilbert. Wenn Theobald der Ansicht ist, Bischöfe sollten zusammenstehen, dann ist es Roger de Clintons Überzeugung, dieses Prinzip auf Normannen wie auf Waliser anzuwenden. Wir schlagen daher vor, sie gleich zu behandeln.«
Das »wir«, das Mark verwendete, um die Gemeinsamkeit mit seinem illustren Vorgesetzten zum Ausdruck zu bringen, schlug eine vertraute Saite in Cadfaels Ohren an. Ihm war wieder eingefallen, wie Mark vor einigen Jahren genauso unschuldig von einer Partnerschaft gesprochen hatte. Langsam hatte dieser Junge damals sein wohlbegründetes Misstrauen allen Menschen gegenüber abgelegt und Wärme und Zuneigung und eine impulsive Loyalität denen gegenüber gezeigt, die er bewunderte. Sein »wir« hatte damals ihn selbst und Cadfael gemeint, als wären sie zwei Reisegefährten, die sich gegen die Welt gegenseitig den Rücken freihielten.
»Mehr und mehr«, sagte Hugh dankbar, »erwärme ich mich für unseren Bischof. Aber schickt er dich sogar auf eine so weite Reise allein?«
»Nicht ganz allein.« Für einen Augenblick blitzte in Bruder Marks schmalem, klugen Gesicht ein durchtriebenes Lächeln auf, als verfüge er noch über eine geheimnisvolle Karte im Ärmel. »Doch er würde nicht zögern, allein durch Wales zu reiten, und ich auch nicht. Für ihn ist es selbstverständlich, dass der Kirche und Kutte Respekt bezeugt werden. Doch sicher werde ich für jeden Rat dankbar sein, den ihr mir geben könnt. Ihr beide wisst viel besser als mein Bischof oder ich, welche Bedingungen in Wales gelten mögen. Ich habe vor, direkt über Oswestry und Chirk zu reiten. Was meinst du?«
»Da oben ist es ruhig«, stimmte Hugh zu. »In jedem Fall ist Madog in Bezug auf Männer der Kirche eine fromme Seele, wie immer er auch Englands Laienschaft behandeln mag. Und zurzeit führt er all die kleinen Häuptlinge von Powys Fadog an einer straffen Leine. Ja, auf dem Weg wirst du sicher genug sein, und es ist der schnellste Weg für dich, obwohl du zwischen Dee und Clwyd durch etwas raues Hochland reiten wirst.«
Marks helle graue Augen zeigten seine Erwartung. Er freute sich auf sein Abenteuer. Es war großartig, eine wichtige Aufgabe anvertraut zu bekommen, als Jüngster und Niedrigster unter den Dienern seines Herrn, und so sehr ihm auch bewusst war, dass gerade sein bescheidener Rang das Kompliment dämpfen sollte, war ihm doch klar, wie viel von dem Geschick abhing, mit dem er sich seiner Aufgabe entledigen würde. Er sollte weder schmeicheln noch übertreiben, aber doch in seiner Person die wirkliche und starke Solidarität von Bischof zu Bischof repräsentieren.
»Über welche Angelegenheiten in Gwynedd sollte ich Bescheid wissen?«, fragte er. »Die Politik der Kirche muss mit der Politik des Staates rechnen, und über Wales weiß ich nicht gut Bescheid. Ich muss wissen, bei welchen Themen ich besser den Mund halte und wann ich ihn besser aufmachen sollte und was zu sagen ratsam wäre. Umso mehr, als ich nach Bangor komme. Was, wenn der Hof dort sein sollte? Es mag sein, dass ich mich vor Owains Gefolgsleuten erklären muss. Sogar vor Owain selbst!«
»Schon richtig«, sagte Hugh, »denn für gewöhnlich stellt er es so an, dass er jeden Fremden in Augenschein nimmt, der seinen Boden betritt. Du wirst ihn umgänglich finden, falls du ihm begegnest. Was das angeht, magst du ihm meine Grüße und Empfehlungen ausrichten. Cadfael ist ihm auch schon begegnet, mindestens zweimal. Ein großer Mann, in jeder Hinsicht! Aber sag bloß kein Wort über Brüder! Das dürfte für ihn noch ein wunder Punkt sein.«
»Brüder haben für walisische Fürstentümer zu allen Zeiten den Ruin bedeutet«, bemerkte Cadfael mit Bedauern. »In Wales sollten die Fürsten immer nur einen Sohn haben. Erst baut der Vater ein anständiges Fürstentum und eine starke Herrschaft auf, und nach seinem Tod fordern seine drei oder vier oder fünf Söhne, ehelich oder nicht, jeweils gleiche Anteile, und das Gesetz gibt ihnen recht. Dann schießt einer den anderen ab, um seinen Anteil zu vergrößern, und es würde mehr als das Gesetz brauchen, um dem Töten Einhalt zu gebieten. Manchmal frage ich mich, was geschehen wird, wenn Owain nicht mehr da ist. Er hat bereits Söhne und noch Zeit genug, mehr in die Welt zu setzen. Ich frage mich, ob sie alles zunichtemachen werden, was er geschaffen hat?«
»Lieber Gott«, sagte Hugh entschieden, »Owain mag noch dreißig Jahre oder mehr vor sich haben. Er ist ja kaum über vierzig. Mit Owain kann ich umgehen, er hält sein Wort und er hält Maß. Wäre Cadwaladr der Ältere und hätte die Herrschaft erhalten, dann hätten wir entlang dieser Grenze Krieg, jahrein, jahraus.«
»Dieser Cadwaladr ist der Bruder, den es nicht zu erwähnen gilt?«, fragte Mark. »Was hat er angestellt, das ihn so unaussprechlich macht?«
»Eine ganze Menge im Lauf der Jahre. Owain muss ihn lieben, oder er hätte schon vor langer Zeit jemand gebeten, ihn von diesem Mistkerl zu befreien. Diesmal ist es allerdings Mord. Vor einigen Monaten, im letzten Herbst, haben eine Reihe von Cadwaladrs engsten Gefolgsleuten den Fürsten von Deheubarth überfallen und umgebracht. Weiß Gott nur aus welchem verrückten Grund! Der junge Bursche war eng mit ihm verbündet und verlobt mit Owains Tochter. Die Tat war ohne jeden Sinn. Cadwaladr ist dabei selbst nicht in Erscheinung getreten, doch Owain hat keinen Zweifel, dass es auf seinen Befehl hin geschah. Keiner von ihnen hätte das aus eigenem Antrieb gewagt.«
Cadfael erinnerte sich an den Schock, den der Mord ausgelöst hatte, und an die schnelle und gründliche Vergeltung. Owain Gwynedd hatte seinen Sohn Hywel geschickt, um Cadwaladr leibhaftig von jedem Stück Land zu vertreiben, das er in Ceredigion besaß, und sein Schloss Llanbadarn zu verbrennen. Der junge Hywel, kaum über zwanzig, hatte seine Aufgabe mit Leidenschaft und Gründlichkeit erfüllt. Ohne Zweifel hatte Cadwaladr Freunde und Anhänger, die ihm zumindest ein Dach über dem Kopf als Zuflucht bieten konnten, doch er blieb ohne Land und ausgestoßen. Cadfael fragte sich nicht nur, wo der Übeltäter sich jetzt verborgen hielt, sondern auch, ob er nicht in den Fens enden mochte wie Geoffrey von Mandeville, der den Abschaum von Nordwales um sich versammelt hatte: Verbrecher, Unzufriedene, geborene Gesetzlose. Sie vergriffen sich an Menschen, die die Gesetze achteten.
»Was ist aus diesem Cadwaladr geworden?«, fragte Mark mit verständlicher Neugier.
»Er ist vollständig enteignet worden. Owain hat ihn vertrieben. Nicht ein Stück Land ist ihm in Wales geblieben.«
»Und doch ist er irgendwo immer noch auf freiem Fuß«, stellte Cadfael etwas betroffen fest »Er ist auf keinen Fall der Mann, der so eine Strafe einfach hinnimmt. Das kann noch übel ausgehen. Ich sehe, du bist auf dem Weg in ein gefährliches Labyrinth, und ich denke, du solltest nicht allein gehen.«
Hugh studierte Marks Gesichtsausdruck. Mark sah ihn gleichmütig an, doch seine Augen funkelten dabei vor Spaß. »Wie ich mich erinnere«, erklärte Hugh milde, »sagte er, er würde nicht ganz allein gehen!«
»Das hat er!« Cadfael starrte in das junge Gesicht, das ihm feierlich vorgekommen wäre, hätten die Augen nicht so verräterisch geblitzt. »Was ist es, Junge, das du uns nicht erzählt hast? Heraus damit! Wer geht mit dir?«
»Aber ich habe euch doch gesagt«, sagte Mark, »dass ich weiter nach Bangor reise. Bischof Gilbert ist Normanne und spricht sowohl Französisch als auch Englisch, doch Bischof Meurig ist Waliser, und er und viele seiner Leute sprechen kein Englisch, und mein Latein würde mir nur bei den Geistlichen helfen. Also ist mir ein Dolmetscher gestattet worden. Bischof Roger hat in seiner Umgebung niemand, der Walisisch spricht und ihm nahesteht oder doch sein Vertrauen verdient. Ich habe ihm daraufhin einen Namen vorgeschlagen, den er noch gut in Erinnerung hat.« Das Funkeln war zu einem Strahlen geworden, das sein Gesicht erleuchtete. Sein Abglanz erhellte auch Cadfaels verblüffte Augen. »Ich habe das Beste bis zum Schluss aufgespart«, sagte Mark begeistert. »Ich habe die Erlaubnis, mir meinen Mann selbst auszusuchen. Falls Abt Radulfus zustimmt, kann ich selbst meinen Reisegefährten bestimmen. Ich habe dem Abt versprochen, dass ich seinen Mann nicht länger als zehn Tage brauche. Wie kann ich denn überhaupt Schiffbruch erleiden«, fragte Mark vernünftig, »wenn du mich begleitest?«
Es war für Bruder Cadfael eine Sache des Prinzips, oder vielleicht der Ehre, wenn sich vor ihm eine Tür plötzlich und unerwartet öffnete, so ein Angebot anzunehmen und hindurchzugehen. Wenn sich die Tür mit Ausblick auf Wales öffnete, war er sogar stets besonders behände gewesen und geradezu in Laufschritt verfallen, bevor die Tür sich vor dem bezaubernden Ausblick wieder schließen konnte. Hier ging es nicht einfach auf einen Sprung über die Grenze nach Powys, sondern um einen Ritt von einigen Tagen in genau der Gesellschaft, die er sich selbst gern ausgesucht hätte, durch das Küstenland von Gwynedd, von Sankt Asaph nach Carnarvon, vorbei an Aber of the Princes und dem gewaltigen Massiv von Moel Wnion. Sie würden Zeit haben, jeden Tag zu bereden, den sie getrennt gewesen waren, und sie würden Zeit haben, wieder in das freundliche Schweigen zu verfallen, nachdem alles gesagt war, das gesagt werden musste. Und all das war ein Geschenk von Bruder Mark. Wunderbar, welche Reichtümer ein Mann bescheren konnte, der aus freiem Entschluss oder Berufung nichts sein Eigen nannte! Die Welt war doch voller kleiner, wohltätiger Wunder.
»Sohn«, sagte Cadfael herzhaft, »für diese Wohltat werde ich unterwegs gern dein Pferdeknecht und auch dein Dolmetscher sein. Es gibt nichts, womit du oder sonst jemand mir ein größeres Vergnügen hätte bereiten können. Hat Radulfus denn wirklich zugestimmt, dass ich mitkommen kann?«
»Das hat er«, versicherte ihm Mark, »und du hast die freie Auswahl, dir aus den Ställen ein Pferd auszusuchen. Du hast noch heute und morgen, um deine Vorbereitungen mit Edmund und Winfrid für die Zeit zu treffen, die du abwesend sein wirst, und die Stunden des Gebets so genau einzuhalten, dass sogar eine verirrte Seele wie deine sicher nach Bangor und zurückgelangen sollte.«
»Ich habe mich sehr gebessert und bin ganz tugendhaft«, sagte Cadfael unendlich zufrieden. »Hat das nicht der Himmel gerade gezeigt, indem er mich freigibt nach Wales? Glaubst du, ich riskiere jetzt seine Missbilligung?«
Da zumindest der erste Teil von Marks Mission öffentlich und demonstrativ gemeint war, gab es keinen Grund, wieso nicht jede Seele in der Enklave ein gesteigertes Interesse daran haben sollte. Es gab keinen Mangel an ungebetenen Ratschlägen von allen Seiten, wie Mark am besten vorgehen sollte. Besonders der alte Bruder Dafydd im Siechenhaus tat sich dabei hervor, der seinen walisischen Geburtsort Duffryn Clwyd seit vierzig Jahren nicht gesehen hatte, doch immer noch überzeugt war, ihn so gut zu kennen wie die Innenfläche seiner alten Hand. Sein Vergnügen an der Wiederbelebung des alten Bistums wurde ihm durch die Ernennung eines Normannen ein wenig versalzen, doch die leichte Aufregung hatte ihm ein neues Interesse am Leben verschafft, und er verfiel gern in seine Muttersprache und war redselig, als Cadfael ihn aufsuchte. Im Gegensatz dazu hatte Abt Radulfus nichts außer seinem Segen beizutragen. Die Mission gehörte Mark und musste sorgfältig in seinen Händen gelassen werden. Prior Robert ersparte sich jeden Kommentar, obwohl in seinem Schweigen eine gewisse Missbilligung lag. Ein Gesandter von seiner Würde und Präsenz wäre an bischöflichen Höfen passender gewesen!
Bruder Cadfael überprüfte seine Arzneibestände, übertrug Bruder Winfrid frohgemut seinen Garten und stattete vorsorglich Sankt Giles einen Besuch ab, um sicher zu sein, dass die Krankenhausschränke entsprechend ausgestattet waren und Bruder Oswin heiter das Kommando über seine Herde führte. Dann wandte er sich den Ställen zu, um sich sein Reittier für die Reise auszusuchen. Dort fand Hugh ihn am frühen Nachmittag, wie er sich froh mit einem eleganten schmalen Rotschimmel beschäftigte. Das Tier hatte eine sahnefarbene Mähne und rieb sich behaglich an Cadfaels streichelnder Hand.
»Zu groß für dich«, sagte Hugh über die Schulter. »Dafür brauchst du jemand, der dir in den Sattel hilft, und das würde Mark nie schaffen.«
»Ich bin noch nicht so dick oder vom Alter so verschrumpelt, dass ich nicht mehr auf ein Pferd steigen könnte«, sagte Cadfael würdevoll. »Was bringt dich dazu, dass du schon wieder nach mir schaust?«
»Na, ein guter Einfall von Aline, als ich ihr berichtet habe, was Mark und du vorhabt. Der Mai steht schon vor der Tür, und in ein oder höchstens zwei Wochen sollte ich Giles und sie für den Sommer nach Maesbury bringen. Er darf dort die Aufsicht über das Landhaus führen, und für ihn ist es besser, aus der Stadt raus zu sein.« Es war bei ihm Sitte, seine Familie aufs Land zu bringen, bis die Schafe geschoren und die Felder abgeerntet waren, während er seine Zeit zwischen zu Hause und den Geschäften seiner Grafschaft aufteilte. Cadfael war diese Gewohnheit vertraut. »Sie meint, warum ziehen wir den Umzug nicht um eine Woche vor und reiten morgen mit euch und begleiten euch bis Oswestry? Der Rest meiner Leute kann später folgen, und wir hätten mindestens einen Tag eurer Gesellschaft, und ihr könnt, wenn ihr wollt, bei uns in Maesbury übernachten. Was sagst du dazu?«
Cadfael sagte herzlich gerne Ja, und Mark genauso, als er den Vorschlag zu hören bekam, obgleich er mit Bedauern die Unterkunft für die Nacht ablehnte. Er war entschlossen, Llanelwy in zwei Tagen zu erreichen und zu einer zivilen Zeit einzutreffen, spätestens um die Mitte des Nachmittags, um vor der Abendmahlzeit Zeit für die Annehmlichkeiten der Gastfreundschaft zu haben. Also zog er es vor, vor der Nachtruhe über Oswestry hinaus und ein Stück nach Wales hineinzureiten, um für den zweiten Tag einen leichten Abschnitt übrig zu lassen. Wenn sie das Tal des Dee erreichten, konnten sie dort bei einer der Kirchen Unterkunft finden und am frühen Morgen den Fluss überqueren.
So schien alles bereits ausgemacht zu sein, und es blieb nichts mehr zu tun, als ehrfürchtig zu Vesper und Komplet zu gehen und dieses Unternehmen wie alle anderen dem Willen Gottes zu unterwerfen, vielleicht auch mit einer sanften Mahnung an Sankt Winifred, dass sie in ihre Heimat reisten. Falls sie geneigt war, unterwegs ihre zarte Hand über sie zu halten, würden sie diese Geste sehr zu schätzen wissen.
Am Morgen der Abreise begab sich ein kleiner Zug von sechs Pferden und einem kleinen Packpferd über die Brücke nach Westen und aus der Stadt heraus auf die Straße nach Oswestry. Da waren Hugh auf seinem bevorzugten eigenwilligen Grauen mit seinem Sohn vor sich im Sattel und nach ihnen Aline auf ihrem weißen Maultier, trotz der hastigen Vorbereitungen ganz gelassen, schließlich ihre Zofe und Freundin Constance, die hinter einem der Knechte im Damensattel ritt. Ein zweiter Pferdeknecht ritt hinterher und führte das Packpferdchen an einem Zügel mit. Ihm folgten schließlich die beiden Pilger nach Sankt Asaph, die von der Familie ein Stück weit auf ihrem Weg begleitet wurden. Es war der letzte Tag im April, ein Morgen ganz grün und silbrig. Cadfael und Mark waren vor dem Morgengrauen aufgebrochen, um Hugh mit seiner Reisegesellschaft im Ort zu treffen. Ein fast unmerklich feiner Nieselregen erfüllte die Luft, verfolgte sie über die Brücke, unter der der Severn voll, aber friedlich strömte, und ließ Blätter und Gräser funkeln, als die Sonne hervorkam. Mit jeder Welle erschien der Fluss in dem eigenwillig funkelnden Licht wie vergoldet. Ein guter Tag, um aufzubrechen, und dabei war es nicht wichtig, warum und wohin.
Die Sonne stand hoch, und der silbrig-dunstige Morgennebel löste sich auf, als sie bei Montford den Fluss überquerten. Die Straße war gut, ein Teil der Wegstrecke von weiten Grasrändern gesäumt, wo sie bequem und schnell vorankamen. Giles verlangte gelegentlich nach einem langsamen Galopp. Er war viel zu stolz, um bei jemand anderem als seinem Vater mitzureiten. Waren sie erst mal in Maesbury, würde das ruhige und verträgliche Packpferdchen den Sommer über sein Reitpferd werden, und der Knecht, der es führte, würde sein zurückhaltender Wächter auf seinen Ausflügen sein. Wie die meisten Kinder, die noch niemals Grund zur Angst gehabt haben, war er zu Pferde furchtlos. Aline nannte es tollkühn, doch zögerte sie, Warnungen auszusprechen, vielleicht weil sie nicht sicher war, dass sie auch befolgt würden.
Um die Pferde auszuruhen und sich etwas zu erfrischen, hielten sie mittags unten am Hügel bei Ness, wo ein Pächter von Hugh wohnte. Bevor der Nachmittag zur Hälfte um war, hatten sie Felton erreicht, und von dort machten Aline und ihre Begleiter sich auf den Weg nach Maesbury. Hugh entschied sich jedoch, mit seinen Freunden noch bis zu den Ausläufern von Oswestry zu reiten. Giles fügte sich quengelnd und wurde in die Arme seiner Mutter übergeben.
»Gott behüte euch auf euren Wegen!«, sagte Aline. Ihr blonder Kopf wirkte zart und hell wie der eines Kindes. Der Abglanz des Frühlings lag auf ihrer Miene und in ihrem sonnigen Lächeln. Sie machte vor ihnen das kleine Kreuzzeichen in die Luft, bevor sie ihr Maultier nach links wendete.
Befreit von Gepäck und Weibervolk, ritten sie rasch die wenigen Meilen weiter bis Whittington, wo sie unter den Mauern des kleinen hölzernen Wehrturms anhielten. Oswestry selbst lag zu ihrer Linken, auf Hughs Heimweg. Mark und Cadfael mussten weiter nach Norden. Hier waren sie genau im Grenzland, einem Gebiet, das schon Jahrhunderte vor den Normannen abwechselnd walisisch oder englisch gewesen war. Die Namen der Dörfer und Menschen klangen eher walisisch als englisch. Hugh lebte zwischen den beiden ausgedehnten Trennwällen, die die Könige von Mercia vor langer Zeit errichtet hatten, um festzulegen, wo sie herrschten und das Sagen hatten. Keine Streitmacht sollte hier eindringen können, und keiner, der von der einen auf die andere Seite wechselte, sollte irgendeinen Zweifel daran haben, unter welchem Gesetz er hier stand. Nicht weit von dem Landhaus entfernt lag im Osten der niedrigere Erdwall, schon verwittert und streckenweise abgetragen. Nach Westen hin war der höhere Wall errichtet worden. Dort war es Mercia einst gelungen, seine Herrschaft noch tiefer hinein nach Wales auszudehnen.
»Hier muss ich euch verlassen«, sagte Hugh, der über den Weg, den sie gekommen waren, und nach Westen auf Stadt und Burg zurückschaute. »Schade! Bei diesem Wetter wäre ich gern mit euch bis nach Sankt Asaph geritten, aber Gefolgsleute des Königs sollten sich von den Angelegenheiten der Kirche besser fernhalten, um nicht ins Kreuzfeuer zu geraten. Ich möchte Owain um keinen Preis auf die Zehen treten.«
»Du hast uns jedenfalls so weit begleitet, wie Bischof Gilberts Wort gilt«, sagte Bruder Mark und lächelte. »Sowohl diese Kirche wie auch eure zu Sankt Oswald unterstehen jetzt dem Bischof von Sankt Asaph. Ist dir das aufgefallen? Hier im Nordwesten hat Lichfield einen großen Streifen von Gemeinden verloren. Ich denke, Canterbury verfolgt mit Absicht die Politik, ein grenzüberschreitendes Bistum zu schaffen, um der Trennung zwischen Engländern und Walisern ihre Bedeutung zu nehmen.«
»Owain wird auch etwas dazu zu sagen haben.« Hugh grüßte sie mit einer erhobenen Hand und begann, sein Pferd zu wenden, um die Straße zurückzureiten, heimwärts. »Geht mit Gott und gute Reise! Wir werden euch so in zehn Tagen wiedersehen.« Er war schon einige Schritte entfernt, als er über die Schulter zurückschaute und ihnen nachrief: »Pass auf, dass er nichts anstellt! Wenn du kannst!« Doch es war nicht klar, an wen er seine Aufforderung nun gerichtet hatte oder wem seine Zweifel galten. Das konnten sie unter sich ausmachen.
Ich bin eigentlich zu alt«, stellte Bruder Cadfael selbstzufrieden fest, »um auf solche Abenteuer auszuziehen.«
»Du arme alte Seele«, sagte Mark und sah ihn von der Seite an, »davon hast du keinen Ton gesagt, bis wir Shrewsbury ganz hinter uns gelassen hatten und dich keiner mehr beim Wort nehmen und bitten konnte, doch daheim zu bleiben.«
»Was bin ich doch für ein Narr gewesen!«, stimmte Cadfael ihm bereitwillig zu.
»Immer wenn du beginnst, über dein Alter zu klagen, weiß ich, womit ich es zu tun habe. Dann legst du dich ins Zeug wie ein Pferd, das der Hafer gestochen hat. Wir haben es mit Bischöfen und Kanonikern zu tun«, sagte Mark streng, »und die können einem schon genug Kopfzerbrechen machen. Bitte erspare mir Schlimmeres.« Doch das klang nicht besonders ernst. Der Ritt hatte Farbe in sein schmales, blasses Gesicht und Glanz in seine Augen gebracht. Mark war mit Bauernpferden aufgewachsen, als er wie ein Leibeigener für einen Onkel arbeiten musste, der ihm den Schlafplatz im Haus und das Essen nicht gegönnt hatte. Jetzt, wo ihn der Stall des Bischofs mit einem schönen großen Wallach versehen hatte anstelle eines schwerfälligen Arbeitstiers, ritt er immer noch wie ein Bauer, ohne Eleganz, aber ausdauernd. Unter Marks leichtem Gewicht war das Pferd lebhaft. Sein nussbraunes Fell glänzte wie Kupfer.
Auf dem Kamm des Höhenzugs hielten sie an und blickten auf das Tal des Dee in seinem saftigen, satten Grün. Tief im Westen leuchtete die Sonne – nicht mehr goldhell wie am Mittag, sondern in einem weicheren Bernsteinton – über dem Fluss, dessen Schleifen zwischen den waldigen Ufern abwechselnd aufblitzten und verschwanden. Hier war er noch ein Hochlandfluss. Sein Wasser tanzte sprühend durch ein felsiges Bett, und wo sich das Sonnenlicht darin brach, gab es Regenbogen. Irgendwo da unten würden sie eine Unterkunft für die Nacht finden.
Sie machten sich einträchtig Seite an Seite auf den Weg. Der grasbewachsene Weg war breit genug für beide. »Trotzdem«, sagte Cadfael, »habe ich nie damit gerechnet, noch in meinem Alter zu einem derartigen Auftrag herangezogen zu werden. Ich schulde dir mehr, als du weißt. Shrewsbury ist mein Zuhause, und ich würde es für keinen Ort der Welt aufgeben, aber dann und wann reizt es mich, anderswo einen Besuch zu machen. Die Rückkehr in die Heimat ist eine feine Sache, aber eine Reise ist auch ein Vergnügen. Beides, das Weggehen und das Wiederkommen, ist eine Freude. Gut für mich, dass Theobald daran gedacht hat, für seinen neuen Bischof Verbündete zu gewinnen. Und was schickt ihm Roger de Clinton außer einem förmlichen Brief?« Er hatte bisher keine Zeit gehabt, diesbezüglich neugierig zu werden. Marks Sattelrolle war zu bescheiden, um etwas Sperriges zu enthalten.
»Ein Brustkreuz, gesegnet am Schrein des Heiligen Chad. Einer der Chorherren hat es gemacht, ein guter Silberschmied.«
»Und dasselbe für Meurig in Bangor, mit Rogers brüderlichen Gebeten und Empfehlungen?«
»Nein, Meurig kriegt ein Gebetbuch, ein besonders schönes. Unser bester Buchmaler hatte es schon so gut wie fertig, als der Erzbischof seine Befehle gab. Er hat ein besonderes Blatt mit einem Bild von Sankt Deiniol hinzugefügt, Meurigs Stifter und Schutzpatron. Ich selbst hätte lieber das Buch«, sagte Mark auf seinem kurvenreichen Ritt das steile Waldland hinab und hinaus ins Tal und in die untergehende Sonne. »Doch das Kreuz ist als der förmlichere Tribut gemeint. Wir haben schließlich unsere Befehle gehabt. Aber zeigt das nicht, dass Theobald weiß, was für einen schwierigen Posten er Gilbert übertragen hat?«
»Ich möchte nicht in seinen Schuhen stecken«, stimmte Cadfael zu. »Doch wer weiß, vielleicht macht ihm so eine Aufgabe ja Freude. Es gibt Leute, die Auseinandersetzungen brauchen, um aufzublühen. Falls er sich zu sehr in walisische Dinge einmischt, wird er allerdings noch mehr als genug davon bekommen.«
Sie ritten am Fluss entlang, durch grüne, auf- und absteigende Auen. Durch die Büsche am Ufer blitzte es vom Fluss her orange auf, wo das Wasser das Licht der sinkenden Sonne zurückwarf. Auf der gegenüberliegenden Seite erhob sich ein großer, grasbewachsener Hügel. Seinen Umrissen nach hatten ihn Menschen der Vorzeit aufgeschüttet. Unter der niedrigen Holzbrücke spritzte und tanzte das Flusswasser des Dee durch sein steiniges Bett. Hier in der Kirche von Sankt Collen fragten sie und fanden bei dem örtlichen Priester eine Unterkunft für die Nacht.
Am folgenden Tag überquerten sie den Fluss und ritten über das baumlose Hochland vom Tal des Dee zum Tal des Clwyd. Diesem Fluss folgten sie den ganzen Morgen über und bis in den Nachmittag hinein, als bei strahlender Sonne ein sanfter Regen einsetzte, der dem Licht einen eigentümlichen Glanz verlieh. Sie kamen durch Ruthin, vorbei an der Felsnase aus rotem Sandstein, die von einer niedrigen flachen Holzfestung gekrönt wurde, und schließlich in das Tal selbst, das im frischen Grün junger Blätter breit und schön vor ihnen lag. Vor Sonnenuntergang erreichten sie die zugespitzte Landzunge zwischen dem Clwyd und dem Elwy, wo die beiden Flüsse sich auf der Höhe von Rhuddlan trafen, um vereint in die trichterförmige Flussmündung zu fließen. Und dazwischen, bequem geborgen in dem grünen geschützten Tal, lag der Ort Llanelwy mit dem Dom von Sankt Asaph.
So klein und überschaubar, wie Llanelwy dalag, konnte man es kaum eine richtige Stadt nennen. Die einzige Straße führte mitten hinein zwischen die niedrigen, eng zusammengedrängten Holzhäuser, bis das unverwechselbare Langdach und der gezimmerte Glockenturm der Kathedrale im Dorfkern sichtbar wurden. Bescheiden, wie es war, stellte es doch das größte Gebäude in Sichtweite dar, und das einzige, dessen Wände aus Stein gemauert waren. Die meisten anderen niedrigen Dächer, die sie sahen, waren hastig ausgebessert worden, und auf einigen Dächern waren Männer noch eifrig bei der Arbeit. Obwohl die große Kirche immer in Gebrauch gewesen war, hatte die Diözese selbst doch siebzig Jahre lang geruht. Falls es hier überhaupt noch Stiftsherren gab, die dem neuen Kapitel dienen konnten, musste ihre Zahl sehr stark abgenommen haben, und ihre Häuser mussten baufällig geworden sein. Das Bistum war viele Jahrhunderte zuvor von Sankt Kentigern nach der Mönchsregel der alten keltischen Kanoniker, der Clas, gegründet worden – ein Stift von Brüdern und Geistlichen unter einem Priester-Abt, mit einem anderen Priester oder mehreren unter den Mitgliedern. Die Normannen verachteten die Clas und waren eifrig bemüht, alle religiösen Angelegenheiten in Wales dem römischen Ritus von Canterbury zu unterwerfen. Das war schwere Arbeit, doch die Normannen besaßen Ausdauer.
Doch erstaunlich an dieser abgelegenen und ländlichen Gemeinde war, dass sie in einem verblüffenden Ausmaß übervölkert war. Sobald sie in die Ortsmitte vorstießen, fanden sie sich mitten in einem zielgerichteten Tun und Treiben wieder, wie es eher zu einem Fürstensitz als zu einer Pfarrgemeinde passte. Außer den geschäftigen Zimmerleuten und Maurern eilten Männer und Frauen mit Wasserkrügen vorbei, die Arme voller Bettzeug, gefalteten Vorhängen, Tragbrettern mit frisch gebackenem Brot und Körben mit Essen, und ein besonders kräftiger Bursche trug eine Schweinehälfte auf den Schultern.
»Hier hält nicht bloß ein Bischof Hof«, sagte Cadfael und starrte auf das ganze Treiben. »Die füttern ja eine Armee durch! Hat Gilbert dem Tal von Clwyd den Krieg erklärt?«
»Ich glaube«, sagte Mark und blickte über den Strudel von geschäftigen Menschen zu dem sanft ansteigenden Hügel darüber, »die empfangen hier wichtigere Gäste als uns.«
Cadfael folgte Marks Blick und erkannte auf dem hohen grünen Hügel über der Stadt ein Muster aus farbigen Punkten. Die hellen Zeltpavillons und flatternden Banner, die er bei genauerem Hinsehen ausmachen konnte, entsprachen nicht den groben und einfachen Zelten eines soldatischen Lagers, sondern der Ausstattung eines Fürstenhofs. »Keine Armee«, sagte Cadfael, »sondern ein Hof. Da sind wir in hoher Gesellschaft. Sollten wir nicht besser schnell herausfinden, ob zwei mehr noch willkommen sind? Denn da mag etwas im Gange sein, das mehr als herzhafte Bruderschaft unter Bischöfen betrifft. Und eine Erinnerung von Canterbury mag nicht ungelegen kommen, wenn die Männer des Fürsten Bischof Gilbert zu sehr bedrängen sollten. Wie kühl sie das auch immer aufnehmen mögen!«
Sie ritten voran und schauten sich um. Der Palast des Bischofs war ein frisch aus Holz errichtetes Gebäude mit Saal und Kammern und auf jeder Seite einer Reihe neuer kleiner Wohngebäude. Es war schon beinahe ein Jahr her, seit Gilbert zu Lambeth geweiht worden war, und um ihn ordentlich zu empfangen, war auch die Kirche mit dem Holzturm dem Anschein nach auf hastige Weise wieder instand gesetzt worden. Cadfael und Mark stiegen auf dem Hofgelände ab, als ein junger Mann durch das Gedränge schnell auf sie zukam und einen Knecht mitbrachte, um ihnen die Pferde abzunehmen.
»Brüder, kann ich euch helfen?« Er war jung, sicher nicht über zwanzig, und wohl kaum einer von Gilberts Kirchenleuten. So wie er gekleidet war, hatte er eher etwas von einem Höfling. An seinem feinen, kräftigen Hals trug er Schmucksteine. Seine Art zu reden und sich zu bewegen bewies Selbstvertrauen und Anmut. Sein Gesicht und seine Haut waren hell, sein Haar hellbraun bis rötlich. Etwas an diesem großen Burschen kam Cadfael entfernt vertraut vor, obgleich er ihn sicher nie zuvor getroffen hatte. Er hatte sie zuerst auf Walisisch angesprochen, war aber locker ins Englische verfallen, nachdem er Mark mit einem strahlenden Blick von Kopf bis Fuß gemustert hatte.
»Männer in eurem Habit sind immer willkommen. Seid ihr weit geritten?«
»Von Lichfield«, sagte Mark, »mit einem brüderlichen Brief und einem Geschenk für Bischof Gilbert von meinem Bischof von Coventry und Lichfield.«
»Das wird ihn herzlich freuen«, sagte der junge Mann mit erstaunlichem Freimut, »denn er kann wohl gerade jetzt Unterstützung gut gebrauchen.« Sein blitzendes Grinsen war frech, aber liebenswert. »Lasst mich noch jemand rufen, der uns eure Sattelrollen nachträgt, und ich bringe euch dahin, wo Ihr euch ausruhen und erfrischen könnt. Bis zum Abendessen ist noch eine Weile Zeit.«
Auf einen Wink von ihm liefen Diener herbei, die Gepäckrollen abzuschnallen, und sie folgten den Besuchern dicht auf den Fersen, als der junge Mann sie über den Platz zu einer der neuen Wohnkammern führte, die an den Hof gebaut worden waren.
»Ich bin hier ohne Befehlsgewalt, da ich selber Gast bin, aber sie haben sich an mich gewöhnt.« Das sagte er mit sicherem und etwas amüsiertem Selbstvertrauen, als ob er einen guten Grund wüsste, warum die Leute des Bischofs sich bemühen sollten, ihn zufriedenzustellen, und er war umsichtig genug, darin nicht zu weit zu gehen. »Wird das genügen?«
Die Unterkunft war klein und doch angemessen ausgerüstet mit Betten, Bank und Tisch. Sie roch würzig nach frisch zugeschnittenem Holz. Frische Brychans wurden auf die Betten gestapelt, und der Geruch der warmen Wolldecken vermischte sich mit dem von frischem Holz.
»Ich werde jemand mit Wasser schicken«, sagte ihr Führer, »und einen der Kanoniker holen. Der Bischof hat schon ausgesucht, wo er kann, aber seine Ansprüche sind hoch. Er hat Schwierigkeiten, geeignete Männer für sein Domkapitel zu finden. Fühlt euch hier ganz zu Hause, Brüder, gleich wird jemand zu euch kommen.«
Und dann war er fort mit seinen munteren, langen Schritten und seinem federnden Gang. Sie waren sich selbst überlassen und konnten sich nach einem Tag im Sattel endlich ausstrecken.
»Wasser?«, fragte Mark und wunderte sich über diese ungewöhnliche und augenscheinlich wesentliche Höflichkeit. »Ist das hier in Wales eine Schutzmaßnahme gegen Krankheit?«
»Nein, Junge, ein Volk, das meist zu Fuß geht, kennt eben den Wert der Füße und den Staub und die Beschwernisse der Reise. Es ist eine höfliche Art zu fragen: ›Habt ihr vor, die Nacht hierzubleiben?‹ Falls wir das nicht annehmen, dann bleiben wir nur kurz zu einem Höflichkeitsbesuch. Nehmen wir aber an, sind wir von diesem Augenblick an Gäste des Hauses.«
»Und dieser junge Edelmann? Für einen Diener ist er zu fein, und ein Geistlicher ist er sicher auch nicht. Ein Gast, hat er gesagt. In was für eine Versammlung sind wir denn da hineingeraten, Cadfael?«
Sie hatten die Türe weit aufgelassen, um das Abendlicht zu genießen und das Leben auf dem Hof zu verfolgen. Eine junge Frau suchte sich mit weiten, anmutigen Schritten ihren Weg durch das heftige Gedränge. Sie trug eine Kanne auf einer Schale vor sich her. Die Wasserträgerin war groß und wirkte lebhaft. Ein Zopf von blauschwarz schimmerndem Haar, dick wie ihr Handgelenk, hing ihr über die Schulter, und einzelne Locken wehten in der Brise um ihre Schläfen. Es war ein Vergnügen, sie anzusehen, dachte Cadfael, als sie näher kam. Sie verbeugte sich tief vor ihnen, als sie eintrat, und hielt den Blick sittsam gesenkt, als sie ihnen Wasser eingoss und ihnen die Sandalen mit ihren langen, wohlgeformten Händen öffnete. Sie verbeugte sich vor ihnen, um sie zu bedienen, doch nicht als Dienerin, sondern als ansehnliche Gastgeberin, ohne sich dabei auch nur das Geringste zu vergeben. Als sie Marks schlanke Fußgelenke und seine feinen, fast mädchenhaften Füße berührte, lief er davon bis zu den Augenbrauen feuerrot an, und sie blickte auf, als hätte sein Blick ihre Stirn verbrannt.
Dieser Blick war vollkommen offen und eindringlich, obgleich er nur einen Augenblick dauerte. Bisher hatte sie eine gelassene und nüchterne Miene zur Schau getragen. Jetzt wechselten in ihrem Gesicht die unterschiedlichsten Ausdrücke blitzartig einander ab. Mit einem Wimpernschlag hatte sie Mark eingeschätzt, und sein Unbehagen bereitete ihr sichtliches Vergnügen. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie ihm ihr Lächeln zeigen sollte, womit sie seine Verlegenheit noch gesteigert hätte, doch dann gab sie den Gedanken aus Mitgefühl für seine Jugend und seine zerbrechlich wirkende Unschuld auf und sah ihn wieder mit ernster Miene an.