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Die Kult-Krimi-Serie endlich als eBook!
England im Winter 1145: Noch immer kämpfen Kaiserin Maud und König Stephan verbissen um den Thron. Hoffnung keimt auf, als sich die beiden Kontrahenten zu einem Treffen und einem Gefangenenaustausch bereiterklären. Doch einer der Gefangenen scheint spurlos verschwunden zu sein: Olivier de Bretagne. Gegen den Willen seines Abts verlässt Bruder Cadfael die Abtei zu Shrewsbury und macht sich auf die Suche nach dem jungen Adligen. Er setzt für ihn sogar seine Ordenszugehörigkeit aufs Spiel - denn den Benediktinermönch verbindet einiges mit dem Verschwundenen ...
Begleiten Sie Bruder Cadfael bei seinem letzten und persönlichsten Fall!
Über die Reihe: Morde und Mysterien im finstersten Mittelalter des 12. Jahrhunderts liefern den perfekten Hintergrund für die spannenden Abenteuer des Bruders Cadfael, eines ehemaligen Kreuzritters, der sich als Mönch in die Abtei St. Peter & Paul nahe Shrewsbury zurückgezogen hat. Doch ein ruhiges Leben als Kräutergärtner und Heilkundiger ist ihm nicht vergönnt: Immer wieder muss er seine detektivischen Fähigkeiten einsetzen, um Verbrechen in der Gemeinde aufzuklären.
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Seitenzahl: 473
Cover
Weitere Titel der Autorin
Über dieses Buch
Über die Reihe
Über die Autorin
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Historische Personen in diesem Buch
Leseprobe
Prolog
Eins
Bruder Cadfael und die Entführung der Heiligen
Bruder Cadfael und der unbekannte Tote
Bruder Cadfael und das Mönchskraut
Bruder Cadfael und der Hochzeitsmord
Bruder Cadfael und der Aufstand auf dem Jahrmarkt
Bruder Cadfael und die Jungfrau im Eis
Bruder Cadfael und die Zuflucht im Kloster
Bruder Cadfael und der Ketzerlehrling
Bruder Cadfael und das Geheimnis der schönen Toten
Bruder Cadfael und die schwarze Keltin
Bruder Cadfael und der fromme Dieb
England im Winter 1145: Noch immer kämpfen Kaiserin Maud und König Stephan verbissen um den Thron. Hoffnung keimt auf, als sich die beiden Kontrahenten zu einem Treffen und einem Gefangenenaustausch bereiterklären. Doch einer der Gefangenen scheint spurlos verschwunden zu sein: Olivier de Bretagne. Gegen den Willen seines Abts verlässt Bruder Cadfael die Abtei zu Shrewsbury und macht sich auf die Suche nach dem jungen Adligen. Er setzt für ihn sogar seine Ordenszugehörigkeit aufs Spiel – denn den Benediktinermönch verbindet einiges mit dem Verschwundenen ...
Morde und Mysterien im finsteren Mittelalter des 12. Jahrhunderts liefern den perfekten Hintergrund für die spannenden Abenteuer des Bruders Cadfael, einem ehemaligen Kreuzritter, der sich als Mönch in die Abtei St. Peter & Paul nahe Shrewsbury zurückgezogen hat. Doch ein ruhiges Leben als Kräutergärtner und Heilkundiger ist ihm nicht vergönnt: Immer wieder muss er seine detektivischen Fähigkeiten einsetzen, um Verbrechen in der Gemeinde aufzuklären.
Ellis Peters ist das Pseudonym der 1913 geborenen englischen Autorin Edith Pargeter. Ihre Bruder-Cadfael-Reihe erschien in 15 Sprachen und mehr als 20 Ländern und wurde erfolgreich von der BBC verfilmt. Ihr Wissen als Apothekenhelferin war der Ausgangspunkt für den kräuterkundigen Bruder Cadfael. Ellis Peters starb im Oktober 1995.
Ellis Peters
Bruder Cadfaels Buße
Aus dem Englischen von K. Schatzhauser
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1994 by Ellis Peters
Titel der britischen Originalausgabe: »Brother Cadfael‘s Penance«
Originalverlag: Headline Publishing Group Limited, London
Für die deutschsprachige Erstausgabe:
Copyright © der deutschen Übersetzung 1998 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt
Covergestaltung: Thomas Krämer unter Verwendung von Motiven © Shutterstock.com
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-0729-9
Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erscheinenden Werkes »Die Heilerin von Canterbury« von Celia L. Grace.
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Früh am Nachmittag eines Novembertages ritt über die Brücke, die den Severn überspannt, ein Bote des Grafen von Leicester in die Stadt Shrewsbury. Seine Satteltasche enthielt Mitteilungen über das, was es in den letzten drei Monaten Neues gegeben hatte.
Zwar waren die meisten dieser Ereignisse dem Empfänger bereits in großen Zügen bekannt, aber Graf Robert Beaumonts Botendienst in London verfügte über zuverlässigere Quellen als alles, was dem Großvogt der Grafschaft Shropshire zu Gebote stand. Der Graf hatte bereits bei seinem ersten Zusammentreffen mit Hugh Beringar in diesem jungen Hauptmann eine Person erkannt, auf deren gesunde Urteilskraft man zählen konnte. Das war alles andere als selbstverständlich in jener verrückten Welt, in der schon seit vielen Jahren ein Bürgerkrieg tobte, der England lähmte und beide Seiten an den Rand der Erschöpfung gebracht hatte, ohne dass es gelungen wäre, König Stephen oder Kaiserin Maud zur Einsicht zu bringen. Fähige junge Männer wie Hugh mit Nachrichten zu versorgen, war nach Graf Roberts Ansicht der Mühe wert. Denn gewiss würde der Tag kommen, an dem endlich die Vernunft die Oberhand gewinnen und dieser Krieg beendet würde, der so viele unnütze Opfer gefordert hatte und noch forderte. Einzelne vielversprechende Ansätze dazu hatten in jenem Jahr des Herrn 1145, das sich nunmehr dem Ende zuneigte, die schwache Hoffnung aufkeimen lassen, die beiden Verwandten, die da miteinander in Fehde um den Thron lagen, könnten erkennen, dass sich ihr Ziel mit Gewalt nicht erreichen ließ und sie nach einer anderen Möglichkeit Ausschau halten müssten, ihrer Auseinandersetzung ein Ende zu bereiten.
Der junge Bursche, der die Mitteilungen des Grafen nach Shrewsbury brachte, hatte den Ritt schon einmal gemacht, und so kannte er den Weg, der ihn über die Brücke und die Biegung des Wyle hinauf, am Marktkreuz vorbei zum Burgtor führte. Da er die Farben des Grafen trug, ließ man ihn überall ungehindert passieren, bis er den inneren Burghof erreichte. Als Hugh, sich den Staub von den Händen wischend, aus der Waffenkammer in den Bogengang trat, zerrte der wie durch einen Trichter hereinpfeifende Wind an seinem dunklen Haar. Er bat den Burschen herein, damit er seine Botschaft übermitteln konnte.
»Es wird allmählich unruhig«, sagte der Bote, während er den Inhalt seiner Satteltasche auf den Tisch im Vorraum des Torhauses leerte. »Mein Herr beobachtet das Geschehen mit größter Sorgfalt. Es ist das erste Mal, dass er dergleichen feststellt, und es könnte sein, dass es sich auch bald wieder legt. Es hat ebenso viel mit dem zu tun, was im Osten geschieht wie damit, dass so viele Burgen im Tal der Themse den Besitzer wechseln. Seit Edessa im vorigen Jahr an Weihnachten den Heiden von Mossul in die Hände gefallen ist, sorgt sich die gesamte Christenheit um das Königreich Jerusalem. Man spricht schon von einem neuen Kreuzzug. Dort wie hier im Lande gibt es adlige Herren, die in keiner Weise glücklich über das sind, was da geschieht, und manch einer von ihnen nähme wohl nur allzu gern das Kreuz, um seine Seele zu retten. Ich habe Euch die offiziellen Briefe des Grafen gebracht«, sagte er munter und schob einen sauber geordneten Packen zu Hugh hinüber, »teile Euch aber rasch das Wichtigste mit, bevor ich aufbreche. Ihr könnt sie mit Muße lesen, denn noch ist kein Zeitpunkt festgesetzt. Ich aber muss gleich heute zurück, da ich auf dem Rückweg einen Auftrag in Coventry zu erledigen habe.«
»Dann stärkt Euch am besten mit Speis und Trank, während wir miteinander reden«, sagte Hugh und schickte nach dem Nötigen. Sie begannen ein vertrautes Gespräch darüber, in welch beunruhigender Weise sich Englands verworrene Angelegenheiten im Laufe des Sommers entwickelt hatten. Man hoffte allgemein, der Knoten werde sich jetzt auflösen lassen, da der bevorstehende Winter dem Kämpfen Einhalt gebot, und man könne einen Weg finden, der Erfolg versprach. »Wollt Ihr etwa sagen, dass Robert Beaumont daran denkt, das Kreuz zu nehmen? Ich habe gehört, dass aus Clairvaux machtvolle Predigten herüberhallen, deren Eindruck man sich nur mit Mühe entziehen kann.«
»Nein«, sagte der junge Mann mit einem flüchtigen Lächeln. »Die Sorge meines Herrn gilt ausschließlich den Ereignissen in der Heimat. Aber das Unbehagen, das die Christenheit befallen hat, veranlasst die Bischöfe zu der Überlegung, dass hier im Lande Ordnung herrschen muss, bevor sie sich mit den Angelegenheiten ferner Länder beschäftigen können. Es heißt, man wolle noch einen letzten Versuch unternehmen, König und Kaiserin zu einer Unterredung zusammenzubringen, in deren Verlauf auf Mittel und Wege ersonnen werden sollen, wie man auf vernünftige Weise aus dieser verfahrenen Situation herausfinden kann. Sicherlich habt Ihr gehört, dass Graf Ranulf von Chester um eine Zusammenkunft mit König Stephen nachgesucht hat. Sie wurde ihm nicht nur vor etwa einer Woche gewährt, sondern er hat auch in ihrem Verlauf dem König Treue gelobt. Gewiss, das war ziemlich spät, und bestimmt kein leichter Gang, dennoch hat sich der König nicht zweimal bitten lassen. Wir wussten schon im Voraus von dieser Begegnung in Stamford, denn Graf Ranulf hatte alles von langer Hand vorbereitet und mit einigen von Stephens früheren Baronen Kontakt aufgenommen, die schon einige Zeit in das Lager des Königs zurückkehren wollten. Chester hat Zugeständnisse bezüglich eines Stücks Land nahe seiner Burg Mountsorrel gemacht, über dessen Besitz er sich mit meinem Herrn seit Jahr und Tag in den Haaren lag. Auf diese Weise versucht er, sich die Akzeptanz dieses Lagers zu erkaufen. Wenn man die Seite wechseln will, genügt es nicht, nur dem König gefällig zu sein, sondern man muss auch allen schmeicheln, die ihm zur Seite stehen. Daher war die Begegnung bei Stamford keine Überraschung, und Chester ist versöhnt und in Gnaden aufgenommen. Die Vorfälle von Faringdon und Cricklade sowie die ganze Geschichte von Philip FitzRobert, dessen Vater treu zur Kaiserin steht, und der sich auf Stephens Seite geschlagen und ihm obendrein diese zwei Festungen mitgebracht hat, kennt Ihr ohnedies bereits.«
»Diesen Seitenwechsel werde ich nie verstehen«, sagte Hugh mit Nachdruck. »Ausgerechnet Philip FitzRobert, der leibliche Sohn des Mannes, der von Anfang an der eifrigste Parteigänger der Kaiserin war, stellt sich gegen den Vater, indem er zum König überläuft! Und das nicht etwa nur halbherzig – er kämpft ebenso erbittert für Stephen wie einst für Maud.«
»Wirklich sonderbar, noch dazu, wenn man bedenkt, dass Ranulf von Chester mit Philips Schwester verheiratet ist«, fügte der Bote hinzu. »Gewiss ist es kein Zufall, dass es sich diese beiden anders überlegt haben. Gott allein weiß, wer wen überredet hat oder was sonst noch dahinterstehen mag. Aber so ist es nun einmal. Jetzt kann sich der König auf zwei weitere Verbündete stützen und verfügt über eine durchaus beachtliche Anzahl von Burgen.«
»Vermutlich denkt er nicht im Traum daran, Zugeständnisse zu machen, und wäre es nur, um den Bischöfen entgegenzukommen«, merkte Hugh nüchtern an. »Höchstwahrscheinlich ist er jetzt aufs Neue fest davon überzeugt, sich den endgültigen Sieg an seine Fahnen heften zu können. Ich zweifle, ob man ihn je an den Verhandlungstisch bekommt.«
»Unterschätzt Roger de Clinton nicht«, gab Graf Leicesters Beauftragter zu bedenken. »Er stellt Coventry als Treffpunkt zur Verfügung, und Stephen hat sich so gut wie einverstanden erklärt, an der Zusammenkunft teilzunehmen und sich die Vorschläge anzuhören. Beide Seiten haben bereits sicheres Geleit zugesagt. Coventry liegt günstig für alle: Chester kann in Mountsorrel Gastfreundschaft gewähren und sich weiter einschmeicheln, und die Priorei bietet Platz für alle übrigen. Stattfinden wird die Versammlung gewiss – ob aber viel dabei herauskommt, steht in den Sternen. Die Idee gefällt bestimmt nicht allen, und manch einer wird alles in seinen Kräften Stehende tun, um die Verhandlungen zu hintertreiben. Zu ihnen dürfte Philip FitzRobert gehören, der sicherlich teilnehmen wird, und wäre es nur, um seinem Vater gegenüberzutreten und ihm zu zeigen, dass er seinen Schritt nicht bereut. Sein Ziel heißt Zerstörung, nicht Versöhnung. Mein Herr jedenfalls möchte, dass Ihr dort im Namen Eurer Grafschaft sprecht. Wollt Ihr das tun? Er setzt seine Hoffnung auf Euch, denn er weiß, wie Ihr denkt«, sagte der junge Mann lässig, »oder glaubt es zumindest zu wissen. Was sagt Ihr?«
»Er soll mir nur den Tag nennen«, antwortete Hugh mit derber Herzlichkeit, »ich komme.«
»Gut. Ich werde es ihm berichten. Alles andere wisst Ihr bereits: dass eine Handvoll von Hauptleuten, an deren Spitze Brien de Soulis stand, Faringdon an den König verraten und alle Ritter festgesetzt hat, die nicht bereit waren, zur Gegenseite überzulaufen. Der König gab sie wie Beutestücke an einige seiner Gefolgsleute weiter, damit diese Lösegeld für sie einstreichen können. Meinem Herrn ist eine Liste mit den Namen der Ritter in die Hände gefallen. Teils verlangt man Lösegeld für sie, teils sind sie bereits freigekauft. Für den Fall, dass Euch einige der Namen etwas bedeuten, sei es unter den Gefangenen, sei es unter denen, in deren Gewahrsam sie sich befinden, schickt er Euch hier eine Abschrift. Sofern bei der Versammlung in Coventry etwas herauskommt, wird man über die Männer verhandeln, denn man weiß keineswegs von allen, wo sie sich befinden.«
»Ich bezweifle, dass ich die Namen kenne«, sagte Hugh, während er die versiegelte Rolle nachdenklich an sich nahm. »Was mich betrifft, könnten jene Burgen an der Themse tausend Meilen von hier entfernt liegen. Wir erfahren erst mit einem Monat Verspätung, wenn sie fallen oder die Seite wechseln. Aber dankt dem Grafen Robert für seine Freundlichkeit und sagt ihm, dass ich ihn in Coventry zu sehen hoffe, wenn der Tag kommt.«
Das Siegel von Robert Beaumonts Brief erbrach Hugh erst, als der Bote davongeritten war. Dieser hatte den Auftrag, auf dem Rückweg nach Leicester in Coventry zu bewirken, dass auch Bischof Roger de Clinton an der Versammlung teilnahm. Zwar war offiziell nach wie vor Lichfield Bischofsstadt, doch hatte Roger de Clinton in den letzten Jahren Coventry, dessen Benediktinerabtei er in Personalunion als Titularabt vorstand, zum Hauptsitz seiner Diözese gemacht. Daher galten beide Städte gleichermaßen als Bischofssitz. Eigentlich stand ihm nur der Rang eines Priors zu, doch trug er die Mitra eines Abtes. Erst zwei Jahre zuvor hatten die weltlichen Auseinandersetzungen den klösterlichen Frieden in betrüblicher Weise gestört und die Mönche zeitweise aus ihren Gebäuden vertrieben, die ihnen aber schließlich noch vor Jahresende zurückerstattet worden waren. Man würde sie schwerlich wieder von dort vertreiben.
»Unterschätzt Roger de Clinton nicht«, hatte Robert Beaumonts Bote gesagt und damit zweifellos die Worte seines mächtigen Herrn wiederholt. Hugh empfand für seinen Bischof, den die der Christenheit drohenden Gefahren niederdrückten, bereits einige Achtung. Wenn denn ein Kirchenfürst seiner Bedeutung, einen mächtigen Herrn wie den Grafen von Leicester und andere von ähnlicher Stellung und Gesinnung auf seine Seite zu ziehen vermochte, dann musste letzten Endes etwas Gutes dabei herauskommen. Mit gedämpfter Hoffnung entrollte Hugh die Botschaft des Grafen und machte sich daran, die darin enthaltene kurze Zusammenfassung der Ereignisse und die Liste wohlklingender Namen zu lesen.
Es hatte ganz England aufgestört, als es im Hochsommer unvermittelt zum völligen Bruch zwischen Robert, dem Grafen von Gloucester, Halbbruder und getreuer Paladin der Kaiserin Maud, und seinem jüngeren Sohn Philip gekommen war. Nach wie vor gab es keine Erklärung und niemand verstand, wie es dazu hatte kommen können. Auf dem nur halbherzig umkämpften, aber dennoch gefährlichen Schlachtfeld entlang der Themse hatten in Oxford und Malmesbury stationierte Krieger des Königs, Philip, den von der Kaiserin eingesetzten Burgherrn von Cricklade, mit wiederholten Überfällen belästigt. Um der Situation die Spitze zu nehmen, hatte dieser seinen Vater gebeten zu kommen und eine günstige Stelle für eine andere Burg auszusuchen. Auf diese Weise wollte Philip die Verbindungslinien zwischen den beiden Burgen des Königs kappen und diese in die Verteidigung drängen. Daraufhin hatte Graf Robert eine Stelle in Faringdon ausgewählt, dort seine Burg errichtet und mit einer Besatzung versehen. Sofort war jedoch der König mit einem großen Aufgebot vor die Burg gezogen, um sie zu belagern. Von Cricklade aus hatte Philip seinen Vater immer wieder dringlich um Verstärkung gebeten, damit dieser gerade erst errichtete Stützpunkt nicht verlorenging, der für den bedrängten Standort unter dem Befehl seines Sohnes so wichtig werden konnte. Doch dieser Bitte hatte sich Gloucester verschlossen und keine Hilfe geschickt. Daraufhin machte im Süden das Gerücht die Runde, Brien de Soulis, der Burgherr von Faringdon, habe hinter dem Rücken der übrigen Besatzung, aber im Einvernehmen mit einigen vertrauten Hauptleuten ein Geheimabkommen mit den Belagerern getroffen, die Männer des Königs bei Nacht eingelassen und ihnen die Burg mitsamt der Besatzung ausgeliefert. Wer mit den vollendeten Tatsachen einverstanden war, hatte sich Stephens Streitkräften angeschlossen. So war die Mehrzahl der einfachen Krieger verfahren, als sie erkannten, dass ihre Anführer sie verraten hatten. Alle, die der Kaiserin die Treue hielten, waren entwaffnet, gefangengesetzt und unter den Anhängern des Königs aufgeteilt worden, die Lösegeld für sie verlangen konnten. Kurz nach diesem Vorfall hatte auch Philip FitzRobert, der Sohn des einflussreichen Grafen, ungeachtet seiner Treuepflicht und Blutsverwandtschaft, dem König die Burg Cricklade mitsamt der wohlgefüllten Waffenkammer und der vollständigen Besatzung in die Hände gespielt. Viele vermuteten, dass bereits die Übergabe der Schlüssel von Faringdon auf sein Betreiben erfolgt war, wenn auch nicht durch seine Hand. Es war allgemein bekannt, dass er und Brien de Soulis einander bei allen Beratungen so nahe gewesen waren wie Zwillingsbrüder. Anschließend hatte sich Philip gegen seinen Vater gestellt und ihn mit ebenso großem Eifer bekämpft, wie er einst für ihn gefochten hatte.
Welche Beweggründe hinter all dem stehen mochten, war nur schwer zu verstehen. Philip liebte seine mit dem Grafen Ranulf von Chester vermählte Schwester. Ranulf lag daran, erneut Gnade vor den Augen des Königs zu finden und es konnte ihm nur recht sein, einen weiteren mächtigen Verwandten auf seiner Seite zu wissen, denn dann durfte er sicher sein, dass man ihn willkommen hieß. War das ein Grund? Philip hatte sich für die Befestigung Faringdons eingesetzt, weil das eine Entlastung seiner eigenen Streitkräfte bedeutete – nur um mit ansehen zu müssen, wie man die Burg trotz seiner wiederholten Hilferufe ihrem Geschick überließ. War das eine ausreichende Begründung? Es bedarf eines großen Maßes an Bitterkeit, bis sich ein Mann nach Jahren hingebungsvoller Treue gegen sein eigenes Fleisch und Blut wendet und es dem Untergang weiht.
Das aber hatte er getan. Hugh hielt den Bericht in der Hand, der schilderte, wie man etwa dreißig junge Edle, Ritter und Schildknappen unter die Anhänger des Königs verteilt hatte. Günstigstenfalls würde jemand teuer für ihre Freiheit bezahlen, ansonsten war es ihr Schicksal, schmählich in der Gefangenschaft zu verfaulen, sofern sie in die falschen Hände gefallen waren und man ihnen genug Hass entgegenbrachte.
Robert Beaumonts Schreiber hatte – soweit diese bekannt waren – bei jedem Gefangenen den Namen dessen hinzugefügt, der ihn in Gewahrsam hielt, und immer dann ein Zeichen gemacht, wenn Angehörige einen Gefangenen freigekauft hatten. Sonst war wohl niemand bereit, beträchtliche Summen für den Freikauf eines jungen Adligen aufzubringen, der sich bisher noch keine besonderen Verdienste erworben hatte. Es war durchaus möglich, dass der eine oder andere der jungen ehrgeizigen Parteigänger der Kaiserin in finsteren Verliesen schmachten musste, bis die geplante Versammlung in Coventry zu einem vernünftigen Abkommen führte, bei dem man unbedingt darauf bestehen musste, auch über die Freilassung jener Krieger zu sprechen.
Nach vielen unbekannten Namen stieß Hugh am Ende der Schriftrolle auf einen, den er kannte.
»Olivier de Bretagne. Gehört zu denen, die überwältigt und entwaffnet wurden. Es ist unbekannt, wer ihn in Gewahrsam hält und wo. Er wurde bisher nicht zur Freilassung gegen Lösegeld ausgelobt. Laurence d’Angers Erkundigungen nach ihm sind ergebnislos geblieben.«
Hugh ging mit den empfangenen Nachrichten zum Kloster hinab, um mit Abt Radulfus über die sich unverhofft bietende Möglichkeit zu sprechen, dem seit acht Jahren tobenden Bürgerkrieg ein Ende zu bereiten. Die Zeit musste lehren, ob die Bischöfe bereit waren, der Stimme der Klostergeistlichen das gleiche Gewicht zuzubilligen wie allen anderen. Zwar schätzte Roger de Clinton den Abt von Shrewsbury durchaus, doch waren die Beziehungen zwischen diesen unterschiedlichen Zweigen der Kirche nicht immer besonders herzlich. Ganz gleich aber, ob man Radulfus zur Versammlung einladen würde oder nicht, er musste auf Erfolg oder Fehlschlag vorbereitet sein, um in jedem Fall entsprechend dem Ergebnis handeln zu können. Davon abgesehen gab es im Kloster Sankt Peter und Paul noch jemanden, der ein Anrecht darauf hatte, den Inhalt von Robert Beaumonts Schreiben zu erfahren.
Bruder Cadfael stand inmitten seines von einer Mauer umgebenen Kräutergartens, der ihm so viel Freude bereitete. Er betrachtete nachdenklich dessen herbstliches Antlitz, alles begann abzusterben, wurde kahl und schwand dahin. Die meisten Pflanzen hatten bereits ihr Laub verloren, wie dürre Finger krallten sich ihre dunklen Stängel an das, was vom Sommer noch geblieben war, und alle Düfte hatten sich zu einem Geruch von Alter und Niedergang vereint. Zwar war er noch lieblich, doch nahm man darin bereits den süßlichen und fauligen Hauch des Verfalls wahr, der nach der Ernte einsetzt. Noch war es nicht sehr kalt. In der milden Schwermut des November hing noch ein wenig Gold, teils im fallenden Laub, teils in dem bernsteinfarbenen Licht der schrägstehenden Sonnenstrahlen. Längst lag das Heu in der Scheuer, waren alle Äpfel geerntet und gelagert, alles Getreide gemahlen, und auf den Stoppelfeldern weideten die Schafe. Es war die rechte Zeit, innezuhalten, um sich zu blicken und zu überlegen, ob man alles bedacht und alle Zäune geflickt hatte, damit der Winter kommen konnte.
Noch nie zuvor war sich Cadfael jener besonderen Beschaffenheit und Aufgabe des Monats November so sehr bewusst gewesen, seiner Reife und gedämpften Trauer. Das Jahr bildet keine gerade Linie durch die Jahreszeiten, sondern verläuft in einem Kreis, der die Welt und den Menschen in die Finsternis und zu dem Geheimnis zurückbringt, wo beide ihren Ursprung haben und eine neue Zeit der Saat und eine neue Geschlechterfolge entsteht. Alte Männer, dachte Cadfael, glauben zwar an jenen neuen Anfang, erleben aber das Ende. Vielleicht gemahnt mich Gott jetzt daran, dass ich mich meinem November nähere. Nun, warum es bedauern? Der November hat seine Schönheit. Die Ernte ist eingebracht und das Saatgut für das nächste Jahr liegt schon bereit. Es gibt keinen Grund, sich darüber zu grämen, dass man selbst nicht bleiben und es aussäen darf. Ein anderer wird sich darum kümmern. So finde dich damit ab, in die Erde einzugehen, zusammen mit den feuchten, zarten, zerfallenden Blättern, die Spinnweben und der Haut sehr alter Männer ähneln, auf der sich Flecken von der Farbe sich golden, zersetzenden Laubes ausbreiten. Der Spätherbst zeigt uns die Farben des Sonnenuntergangs: der eine ist der Abschied des Tages und der andere der Abschluss des Jahres. Bedeutet er zugleich den Abschied eines Menschenlebens? Sofern es in solch goldenem Zauber aufhört, ist das kein schlechtes Ende.
Hugh trat aus dem Haus des Abtes. Er wollte seinem Freund Cadfael unbedingt mitteilen, was er erfahren hatte, zögerte aber, war ihm doch klar, dass diese Nachricht nichts als Besorgnis auslösen würde. Er fand den Mönch reglos inmitten seines geliebten kleinen Reiches stehen, und es kam ihm vor, als halte dieser den Blick eher in sein Inneres gerichtet als auf die in Herbstfarben glühenden Pflanzen um ihn herum. Erst als ihm Hugh eine Hand auf die Schulter legte, kehrte er wieder in die Außenwelt zurück, und es war deutlich zu sehen, dass er aus einer geheimnisvollen Tiefe auftauchte, die in der Mitte seines Wesens verborgen lag.
»Gott segne dein Werk«, sagte Hugh und fasste ihn am Arm, »sofern du heute Nachmittag arbeitest. Ich dachte schon, du hättest hier Wurzeln geschlagen.«
»Ich habe über den Zyklus des Menschenlebens, die Jahreszeiten und die Stunden des Tages nachgedacht«, sagte Cadfael in beinah entschuldigendem Ton. »Ich hörte dich nicht kommen. Allerdings hatte ich auch nicht damit gerechnet, dich heute zu sehen.«
»Das wäre auch nicht der Fall, wenn Robert Bossus Kundschafter etwas weniger geschäftig gewesen wären. Komm mit herein«, sagte Hugh, »damit ich dir berichte, was sich zusammenbraut. Die Sache betrifft jeden braven Kirchenmann, und ich habe sie soeben deinem Abt Radulfus mitgeteilt. Ein Punkt aber geht dich persönlich an, und mich ebenfalls«, gestand er, während er mit einem tiefen Seufzer die Tür zu Cadfaels Arbeitsschuppen aufstieß.
»Du hast Nachrichten von Graf Leicester bekommen?« Cadfael sah ihn von der Schwelle aus nachdenklich an. »Wenn Robert Bossu dir Kunde zukommen lässt, muss er große Stücke auf dich halten. Was ist es diesmal?«
»Es geht weniger um ihn selbst, auch wenn er in Kürze bis zum Hals in der Sache stecken dürfte, ganz gleich, ob er sie zu der seinen macht oder nicht. Den ersten Schritt haben die Bischöfe getan, doch wird man bald Stimmen wie die Leicesters vernehmen, die Partei für die eine oder die andere Seite ergreifen.«
Hugh nahm mit Cadfael Platz unter den herabhängenden Büscheln zum Trocknen aufgehängter duftender Kräuter, die im Luftzug von der Tür her leicht schwankten. Er erzählte ihm von der geplanten Versammlung in Coventry, dass bereits auf beiden Seiten Geleitbriefe ausgestellt worden seien und erläuterte ihm, wie die Erfolgsaussichten seiner Ansicht nach aussahen.
»Gott allein weiß, ob eine der beiden Seiten auch nur einen Fußbreit nachgeben wird. König Stephen ist überglücklich, dass er Chester und dazu Gloucesters eigenen Sohn auf seine Seite hat ziehen können. Die Kaiserin aber weiß, dass sich die Männer, die für sie streiten, der Normandie versichert haben. Das wird einige der Barone auf ihre Seite bringen, die nicht nur hier Ländereien besitzen, sondern auch dort. Ich sehe, wie ein immer größerer Teil der Klügeren zwar nach wie vor Treuebekundungen von sich gibt, zugleich aber so wenig zum Krieg rüstet, wie es irgend möglich ist. Dennoch sollte man unbedingt den Versuch wagen. Roger de Clinton kann sehr überzeugend wirken, wenn es ihm mit etwas ernst ist, und das ist jetzt der Fall. Die Beute, auf die er es in Wahrheit abgesehen hat, ist der Atabeg Zenghi von Mossul, und sein eigentliches Ziel die Rückeroberung von Edessa. Wer weiß – sicherlich wird auch Heinrich von Winchester sein Gewicht in die Waagschale werfen. Ich habe dem Abt die Lage genau erklärt«, sagte Hugh und fuhr zweifelnd fort, »bin aber nicht sicher, ob die Bischöfe die Klöster hinzuziehen werden. Am liebsten behalten sie die Zügel selbst in der Hand.«
»Und inwiefern betrifft diese Angelegenheit mich, wie wünschenswert oder ungewiss auch immer all das sein mag?«, wollte Cadfael wissen.
»Warte, noch habe ich nicht alles gesagt.« Hugh bemühte sich, seine Worte sorgfältig abzuwägen, denn Mitteilungen dieser Art treffen den Empfänger an einer empfindlichen Stelle. Besorgt sah er Cadfael an, während er fragte: »Erinnerst du dich, was im Sommer in Robert von Gloucesters neu erbauter Burg Faringdon geschah? Als sich der Burgherr, Gloucesters jüngerer Sohn, auf König Stephens Seite schlug und ihm alles übergab?«
»Durchaus«, sagte Cadfael. »Den Kriegern blieb nichts anderes übrig, als mit ihm die Seite zu wechseln, da ihre Hauptleute die Übergabe unterzeichnet hatten. Dann hat sich Cricklade bis zum letzten Mann zusammen mit Philip dieser Entscheidung angeschlossen.«
»Aber viele der Ritter in Faringdon, die von dem Verrat nichts wissen wollten, wurden überwältigt und entwaffnet«, sagte Hugh gemessen. »Stephen hat sie einigen seiner alten und neuen Verbündeten ausgeliefert, wobei die neuen den fettesten Anteil bekommen haben dürften, damit sie nicht vergessen, auf wessen Seite sie stehen. Leicester hat mit Hilfe nahe Oxford und Malmesbury postierter Mittelsmänner in Erfahrung gebracht, wer die Gefangenen sind und wem man sie übergeben hat. Einige sind rasch freigekauft worden, bei anderen wartet man noch auf ein hinreichend hohes Gebot, um sie mit Profit loszuschlagen. Aber neben dem Namen eines Mannes, von dem man weiß, dass er sich ebenfalls in der Burg befunden hat, steht nicht verzeichnet, wem er übergeben wurde. Niemand hat seit dem Fall Faringdons etwas von ihm gehört oder gesehen. Ich bezweifle, dass er Robert Bossu mehr bedeutet als die anderen, aber mir ist er sehr wichtig.« Aufmerksam hörte Cadfael dem Freund zu; der gemessene Klang seiner Stimme wirkte auf ihn alles andere als beruhigend. »Und auch dir sagt er etwas.«
»Man verlangt kein Lösegeld«, sagte Cadfael ebenfalls mit gemessener Stimme. »Und niemand weiß, wo er sich aufhält. Das klingt nach mehr als gewöhnlicher Feindseligkeit. In diesem Fall wird der Preis sehr hoch sein, vorausgesetzt, man verlangt überhaupt einen.«
»Leicesters Mittelsmann hat mir versichert«, sagte Hugh, und es klang bedauernd, »dass Laurence d’Angers, der bereit ist, den verlangten Preis zu zahlen, überall ergebnislos nach diesem Mann gefragt hat. Seinen Namen müsste der Graf kennen, wenn er schon die Namen der jungen Männer seines Gefolges nicht kennt. Ich bedaure, dir eine solche Nachricht überbringen zu müssen. Olivier de Bretagne war in Faringdon und sitzt jetzt gefangen, Gott allein weiß, wo.«
Beide schwiegen lange, um Atem zu schöpfen, ihre Gedanken zu sammeln und über die unmittelbaren Folgen nachzudenken, die beiden Sorge bereiteten. Schließlich sagte Cadfael schlicht: »Er ist jung wie alle anderen und kennt die Gefahren. Er tritt ihnen mit offenem Blick entgegen. Was liegt an diesem einen mehr als an den übrigen?«
»Aber ich vermute, dass sich diese Gefahr nicht vorhersehen ließ. Gloucesters Sohn hat sich gegen den eigenen Vater gestellt! Darauf war Olivier am wenigsten von allem vorbereitet, denn Verrat ist ihm wesensfremd. Ich weiß nicht, wie lange er schon der Besatzung von Faringdon angehörte und was die jungen Ritter dort empfunden haben. Es sieht ganz so aus, als hätten viele seine Haltung geteilt. Die Burg war kaum vollendet, Philip hat die Männer gestellt, die sie gut verteidigen sollten, doch als sie belagert wurde, hat Robert nicht einmal den kleinen Finger gerührt, um sie zu retten. So etwas schafft Bitterkeit. Aber Leicester wird weiterhin versuchen, sie alle aufzuspüren, bis auf den letzten Mann. Und wenn wir einander bald in Coventry begegnen, könnten wir vielleicht zumindest eine Vereinbarung über die Freilassung von Gefangenen auf beiden Seiten erreichen. Alle Männer beider Parteien, die guten Willens sind, werden darauf drängen.«
»Olivier pflügt seine eigene Furche und mäht seine eigenen Garben«, sagte Cadfael und hielt den Blick gleichsam durch die vor ihm liegende Fachwerkwand hindurch ostwärts in die Weite gerichtet, bis hin zum Sand und zur Dürre, dorthin, wo in der Sonne glitzernde Wogen an die Gestade des fränkischen Königreichs Jerusalem rollten, das sich gegen die ihm geltende Bedrohung bereits gewappnet hatte. Diese Fabelwelt jenseits des Meeres war ihm einst vertraut gewesen. Dort war Olivier de Bretagne aufgewachsen und hatte in frühen Mannesjahren den Glauben des ihm unbekannten Vaters angenommen. »Ich danke dir, dass du es mir gesagt hast, Hugh«, sagte Cadfael gemessen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Gefängnis ihn lange zu halten vermag. Lass es mich wissen, wenn du weitere Nachrichten empfängst.«
Die Stimme klingt nicht wie die eines Mannes, der von einem guten Ausgang überzeugt ist, dachte Hugh, als er den Freund verließ, nachdem er seine Botschaft getreulich überbracht hatte. Und er hat nicht den Gesichtsausdruck eines Mannes, der fest in seinem Glauben ruht und alles Olivier oder Gott überlässt. Doch seine eigenen Sorgen drückten ihn zur Genüge.
Nach Hughs Weggang bedeckte Cadfael die Glut im Kohlenbecken mit Torfsoden, um sie einzudämmen, schloss seinen Schuppen ab und ging zur Kirche hinüber. Es war noch eine Stunde bis zum Vespergebet. Bruder Winfrid grub nach wie vor ein abgeerntetes Bohnenbeet um, damit der Winterfrost den Boden lockerte und krümelig machte. Ein dünner Schleier gelben Laubes hing noch in den Bäumen, an den Zweigen der übermannshoch aufgeschossenen Rosenstöcke saßen kleine Knospen, die sich nicht mehr öffnen würden.
In der dunklen Stille des großen Kirchenschiffs kniete Cadfael vor dem Altar der heiligen Winifred nieder. Obgleich er sonst mit ihr sprach wie mit einer vertrauten Freundin, zögerte er diesmal, sie mit der Sorge um einen anderen Menschen zu belasten, zumal sie diesen unter Umständen nur schwer verstehen würde. Gewiss, Olivier war zur Hälfte Waliser, aber das hätte sie angesichts der Tatsache, dass er dem Äußeren wie seinem Denken und seinen Grundsätzen nach unverkennbar Syrer war, womöglich noch mehr verwirrt. Also betete er ohne Worte still in seinem Herzen, und seine Zuneigung für sie schwebte wie Weihrauchduft im Raum. Sie hatte ihm so viel verziehen und ihn nie abgewiesen. Gerade in jenem Jahr hatte sie Überschwemmungen, Gefahren und Streit überstanden und war zu ihrer verdienten Ruhe zurückgekehrt. Warum sie mit einem Kummer aufstören, der ausschließlich der seine war?
So wendete sich Cadfael mit seinem Anliegen zum Hochaltar, der Quelle aller Kraft, aller Macht und allen Glaubens. Dies eine Mal begnügte er sich nicht damit niederzuknien, sondern warf sich mit ausgestreckten Armen auf die kalten Steinplatten, wie ein Sünder, der am Ende der Buße seinen Leib zur Sühne darbietet. Dabei hatte er noch gar kein Vergehen begangen und würde es womöglich auch gar nicht begehen müssen, sofern sein Vorgesetzter ein großes Maß an Gnade und Verständnis aufbrachte. Dennoch teilte er seine Absicht offen mit und erflehte eher Verständnis als Verzeihung. Während seine Stirn kalt auf dem Stein lag, ließ er das Bedürfnis, das ihn erfüllte, mit Hilfe von Gedanken Gestalt gewinnen und vermied es, mit Worten zu sagen, was ihn bedrängte. Ich muss es tun, dachte er, ganz gleich, ob es mir Segen oder Fluch einträgt. Es ist unerheblich, ob man mich segnet oder verflucht, solange ich ordnungsgemäß erledige, was zu tun meine Aufgabe ist.
Nach dem Vespergebet erbat und bekam er die Erlaubnis, bei Abt Radulfus vorzusprechen. Beide Männer nahmen in dessen Sprechzimmer Platz.
»Vater Abt, ich vermute, dass Hugh Beringar Euch bereits mit allem vertraut gemacht hat, was ihm durch die Briefe des Grafen von Leicester übermittelt wurde. Er hat Euch wohl auch über das Schicksal der Ritter in der Burg Faringdon berichtet, die sich geweigert haben, ihre Gebieterin im Stich zu lassen?«
»So ist es«, gab Radulfus zur Antwort. »Ich habe die Namensliste der Gefangenen gesehen, und mir ist klar, welches Schicksal sie erwartet. Ich bin aber überzeugt, dass man sich bei der bevorstehenden Versammlung in Coventry auf eine Möglichkeit einigen wird, sie freizulassen oder gar auf eine bessere Lösung verfällt.«
»Könnte ich doch Eure Zuversicht teilen! Allerdings fürchte ich, dass keine der streitenden Parteien daran denkt, nachzugeben. Euch wird der Name des Ritters Olivier de Bretagne aufgefallen sein. Niemand hat seit dem Fall von Faringdon etwas von ihm gehört, und man weiß nichts über seinen Verbleib. Obwohl sein Lehnsherr bereit ist, Lösegeld für ihn zu zahlen, hat man ihm bisher keine Möglichkeit dazu gegeben. Ich muss Euch unbedingt gewisse Einzelheiten über diesen jungen Mann berichten, von denen ich weiß, dass Hugh sie Euch nicht mitgeteilt hat.«
»Ich weiß durchaus einiges über ihn«, erinnerte ihn Radulfus lächelnd, »denn ich habe keineswegs vergessen, dass er vor vier Jahren zur Zeit des Festes anlässlich der Überführung der heiligen Winifred hier war. Er suchte nach einem gewissen Knappen, der nach dem Treffen in Winchester mit einem Mal fehlte.«
»Dennoch ist Euch eines nach wie vor unbekannt«, sagte Cadfael, »was ich Euch möglicherweise längst hätte sagen müssen, schon, als er zum ersten Mal in mein Leben getreten ist. Ich hatte nicht geglaubt, dass sich meine Pflicht diesem Kloster gegenüber in irgendeiner Weise ändern könnte. Auch habe ich nicht angenommen, dass ich Olivier de Bretagne je wieder begegnen oder er meiner bedürfen würde. Nunmehr aber scheint der Zeitpunkt gekommen zu sein, alles vor Euch auszubreiten«, fuhr er schlicht fort. »Olivier ist mein Sohn.«
Das Schweigen, das jetzt eintrat, war von einer erstaunlichen Gelassenheit und Milde. Menschen bleiben auch innerhalb der Klostermauern Menschen, sind verletzlich und fehlbar. Wie es sich für einen Weisen geziemt, empfand Radulfus große Hochachtung vor der Vollkommenheit, erwartete aber nicht unbedingt, ihr im Umgang mit seinen Mitmenschen zu begegnen.
»Als ich mit achtzehn Jahren nach Palästina kam«, sagte Cadfael mit einer Stimme, in der kein Bedauern lag, »lernte ich in Antiochia eine junge Witwe kennen und verliebte mich in sie. Viele Jahre später – ich war nach Sankt Simeon zurückgekehrt, um von dort wieder in die Heimat zu segeln – begegnete ich ihr erneut und war in Liebe mit ihr zusammen, bis das Schiff zum Auslaufen bereit war. Ohne es zu wissen, hinterließ ich ihr einen Sohn. Von ihm erfuhr ich erst, als er nach der Plünderung der Stadt Worcester auf der Suche nach zwei verlorenen Kindern in unsere Gegend kam. Ich war froh, und ich war stolz auf ihn, wozu ich durchaus Anlass hatte. Als er zum zweiten Mal kam, habt auch Ihr ihn kennengelernt. Urteilt selbst, ob ich mich gefreut habe oder nicht.«
»Du hattest guten Grund dazu«, räumte Radulfus bereitwillig ein. »Wie auch immer er in die Welt gekommen sein mag, er hat seiner Herkunft Ehre gemacht. Ich wage nicht, dir Vorwürfe zu machen. Du hattest keine Gelübde abgelegt, du warst jung und fern der Heimat, und wir Menschen sind schwach. Zweifellos hast du all das längst gebeichtet und bereut.«
»Gebeichtet habe ich es«, sagte Cadfael abweisend, »als ich erfuhr, dass ich sie freundlos und mit einem Kind zurückgelassen hatte, aber das liegt noch nicht lange zurück. Doch Reue? Ich glaube nicht, dass ich je bereute, sie geliebt zu haben, denn sie war der Liebe eines jeden Mannes wert. Vergesst auch nicht, Vater Abt, dass ich aus Wales stamme, wo als Bastard ausschließlich der gilt, von dem sein Vater nichts wissen will. Nie würde ich mein Anrecht auf diesen fröhlichen und tapferen jungen Menschen bestreiten. Das Beste, was ich je getan habe, war, ihn in eine Welt zu setzen, in der ihm nur wenige das Wasser reichen können.«
»Wie bewundernswert auch immer das Ergebnis sein mag«, sagte der Abt trocken, »So ist das kein Grund, sich einer Sünde zu rühmen oder ihr einen anderen Namen zu geben. Doch ist es sinnlos, heute über eine Sünde zu rechten, die wohl an die dreißig Jahre zurückliegt. Seit du dein Gelübde abgelegt hast, habe ich nur selten tadelnswerte Schwächen an dir entdeckt, abgesehen von den kleinen täglichen Fehlern wie Ungeduld oder mangelnden Eifer, zu denen wir alle neigen. Daher wollen wir uns mit dem beschäftigen, was uns augenblicklich drückt. Ich vermute, dass du mit Bezug auf Olivier de Bretagne etwas vortragen oder um etwas bitten möchtest.«
»Tadelt mich, Vater«, sagte Cadfael, jedes seiner Worte wägend, »falls ich zu Unrecht meine, dass mir die Vaterschaft eine Pflicht auferlegt, wenn mein Kind in Not oder Unglück gerät. Ich sehe mich durch eine solche Verpflichtung gebunden und kann mich ihr nicht entziehen. Ich muss meinen Sohn suchen und ihm zur Freiheit verhelfen, sofern ich ihn finde. Ich bitte Euch, mein Unternehmen gutzuheißen und mir Urlaub dafür zu gewähren.«
»Ich sage dir, was ganz im Gegenteil deine Pflicht ist«, gab ihm Radulfus zu bedenken. Dabei runzelte er die Stirn, wohl weniger aus Missbilligung denn vor tiefer Konzentration. »Deine Gelübde binden dich an diesen Ort. Aus eigenem Willen hast du dich dazu entschieden, der Welt und allem zu entsagen, was dich an sie bindet. Das kannst du nicht abwerfen wie einen Umhang.«
»Meine Gelübde habe ich in gutem Glauben abgelegt«, gab Cadfael zurück. »Zu jener Zeit war mir nicht bekannt, dass diese Welt ein Lebewesen trägt, für dessen Existenz ich verantwortlich bin. Gewiss, meine Gelübde haben alle Bindungen gelöst und alle persönlichen Beziehungen aufgehoben – bis auf diese eine! Ob ich der Welt entsagt hätte, wenn mir bekannt gewesen wäre, dass sie meinen lebenden Samen hält, vermag ich nicht zu sagen, und auch Ihr könnt keine Antwort wagen. Der Sohn, den ich gezeugt habe, lebt und schmachtet in Gefangenschaft, ich hingegen bin frei. Es ist gut möglich, dass er in Gefahr schwebt, während ich in Sicherheit bin. Vater Abt, gibt der Schöpfer das unbedeutendste seiner Geschöpfe auf? Kann sich ein Mann von seinem eigenen Fleisch und Blut abwenden, wenn es in Gefahr ist? Ist nicht auch der Akt der Zeugung gleichbedeutend mit einem heiligen und unverletzlichen Gelöbnis? Ob ich es wusste oder nicht, ich war Vater, bevor ich Mönch wurde.«
Diesmal wirkte das Schweigen nicht nur kälter und distanzierter als zuvor, es dauerte auch länger. Dann sagte der Abt in ruhigem Ton: »Nenne mir offen heraus deine Bitte.«
»Urlaub und Euren Segen«, sagte Cadfael, »damit ich Hugh Beringar zur Versammlung in Coventry begleiten kann, um dort vor König und Kaiserin zu fragen, wo mein Sohn gefangen gehalten wird und mit Gottes und ihrer beider Hilfe zu erreichen, dass man ihm die Freiheit gibt.«
»Und was ist, wenn dir dort keine Hilfe zuteilwird?«, fragte Radulfus.
»Dann möchte ich die Sache auf jede mögliche Weise weiterverfolgen, bis ich ihn finde und seine Freilassung erreiche.«
Der Abt sah ihn beherrscht an. Er hörte in der Stimme dieses älteren Mönches einen stählernen Klang aus früherer Zeit mitschwingen, der stumpf und verborgen gewesen war, seit er ihn kannte. Cadfael betrachtete ihn offen aus einem wettergegerbten und sonnengebräunten Gesicht mit kräftigen Knochen, in dessen Haut fünfundsechzig Lebensjahre tiefe Furchen gegraben hatten. Der Blick seiner herbstbraunen Augen zeigte dem Abt, dass sein Gegenüber nichts zu verbergen hatte. Nach Jahren bereitwilliger Unterwerfung gemäß den Forderungen der Gemeinschaft stand er mit einem Mal aufrecht und von den anderen losgelöst da, erneut allein. Radulfus erkannte die Endgültigkeit seiner Entscheidung.
»Sofern ich es dir verböte«, sagte er, »würdest du dennoch gehen.«
»Vor Gottes Angesicht und in aller Ehrfurcht sage ich ja, Vater Abt.«
»Dann verbiete ich es nicht«, gab Radulfus zurück. »Mir obliegt es, meine ganze Herde zusammenzuhalten. Wenn eins meiner Schafe in die Irre geht, fehlt auch den anderen etwas. Ich gestatte dir, Hugh zu begleiten und an der Versammlung teilzunehmen, und ich bete, dass die Sache ein gutes Ende nehmen möge. Doch endet dein Urlaub, sobald die Versammlung aufgelöst wird, ganz gleich, ob du erfahren hast, was du zu wissen begehrst oder nicht. Kehre mit Hugh zurück, wie du mit ihm gehst. Du bist auf dich allein gestellt und hast weder meine Unterstützung, noch meine Genehmigung oder meinen Segen, falls du weiterziehst und länger säumst.«
»Und auch nicht Eure Gebete?«, fragte Cadfael.
»Habe ich das gesagt?«
»Vater Abt«, sagte er, »die Regel unseres Ordens erlaubt es, einen Bruder, der das Kloster irrenderweise verlassen hat, bis zu dreimal wieder aufzunehmen, wenn auch unter Strafe. Sogar die Buße endet, wenn Ihr die Worte sagt: ›Es ist genug‹.«
Als Zeitpunkt für den Beginn der Versammlung in Coventry legte man den letzten Novembertag fest. In der Zwischenzeit gab es gewisse Hinweise darauf, dass das Bemühen um Aussöhnung und Frieden keineswegs allgemein auf Zustimmung stieß – offenbar lag mächtigen Interessengruppen daran, es scheitern zu lassen. Philip FitzRobert hatte den Grafen von Cornwall und Halbbruder der Kaiserin, Reginald Fitz-Roy, mit dem er selbst verwandt war, ergriffen und gefangengesetzt, obwohl dieser im Auftrag der Kaiserin reiste und einen Geleitbrief des Königs besaß. Zwar ordnete dieser FitzRoys sofortige Freilassung an, als man ihm Mitteilung machte, doch entspannten sich die Beziehungen dadurch in keiner Weise.
»Wenn dieser Vorfall einen Rückschluss auf Philips Einstellung zulässt, kommt er auf keinen Fall nach Coventry«, sagte Cadfael zu Hugh, als sie davon erfuhren.
»Er wird sich hüten, fortzubleiben«, entgegnete dieser, »und käme er nur, um allen Friedenswilligen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Dazu hat er an Ort und Stelle weit bessere und wirksamere Möglichkeiten als aus der Ferne. Außerdem liegt ihm, soweit ich die Sache durchschaue, daran, seinem Vater, gegen den er so heftig wütet, von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Er kommt bestimmt.« Aufmerksam sah er den Freund an, in dessen Gesicht er sonst so deutlich lesen konnte und dessen niedergeschlagener Ausdruck ihm jetzt ein gewisses Unbehagen bereitete. »Willst du wirklich mit mir ziehen? Auch auf die Gefahr hin, zu weit zu gehen und deinen Urlaub zu überschreiten? Du weißt, dass ich deine Sache gern für dich betreiben würde. Sofern es über Olivier etwas in Erfahrung zu bringen gibt, werde ich es erfahren. Dafür brauchst du nicht aufs Spiel zu setzen, was du so hoch schätzt wie dein eigenes Leben.«
»So Gott sich dem Jungen als gnädig erweist, ist sein Leben noch nicht zur Hälfte um«, sagte Cadfael, »und es ist mehr wert als meine abgelaufenen Jahre. Ich denke, du hast eine eigene Aufgabe zu erfüllen. Es bleibt dabei – ich ziehe mit. Radulfus weiß es. Er verspricht nichts und droht mir nicht. Er hat gesagt, dass ich auf eigene Faust handele, wenn mich mein Weg weiter vom Kloster entfernt als bis Coventry, aber er hat nicht gesagt, was er an meiner Stelle täte. Allerdings wird er mich nicht ausrüsten, da ich nicht in seinem Auftrag reise, und so wäre ich dir dankbar, wenn du mich mit einem Reittier, einem Umhang und etwas Wegzehrung ausstatten könntest.«
»Außerdem bekommst du von mir ein Schwert und ein Strohlager in der Wachstube auf der Burg«, sagte Hugh, alle Feierlichkeit ablegend, »wenn dich das Kloster eines Tages verstößt. Natürlich erst, nachdem wir Olivier gerettet haben.«
Die bloße Nennung des Namens genügte, um Cadfael das Bild der ersten Begegnung mit dem bis dahin unbekannten Sohn ins Gedächtnis zu rufen. Im Schnee eines bitterkalten Wintertages hatte er ihn über die Schulter eines jungen Mädchens hinweg durch das offene Gatter des Tores der Priorei von Bromfield gesehen. Ein langes, schmales Gesicht mit milden Zügen, den weit auseinanderstehenden schwarzen Augen eines Falken, die von einem Goldschimmer umrahmt waren, einer scharf gekrümmten Nase und einem sacht geschwungenen stolzen und lebhaften Mund. Das Ganze wurde überkrönt von einem kurzgeschnittenen glänzenden Schopf blauschwarzen Haares. Die Haut leuchtete olivgolden wie ein überaus schönes Bronzestandbild. Mariams Sohn hatte ihr Gesicht und war des Andenkens an seine Mutter würdig. Mit vierzehn Jahren hatte er nach der Feier zu ihrer Beisetzung Antiochia verlassen und war nach Jerusalem gezogen, um sich dort der Glaubensgemeinschaft seines Vaters anzuschließen, den er bis dahin nur durch die Augen der Mutter gesehen hatte. Jetzt musste er an die dreißig Jahre alt sein und war womöglich selbst schon Vater eines Kindes von jener Ermina Hugonin, mit der er damals durch den Schnee nach Bromfield gekommen war. Ihre edle Familie hatte seinen Wert erkannt und sie ihm als Eheweib gegeben. Jetzt würde er ihr fehlen, wie auch dem Enkel, der vielleicht schon zur Welt gekommen war. Das aber durfte nicht sein, und niemand als Cadfael konnte die Dinge wieder ins Lot bringen.
»Nun«, sagte Hugh, »es ist nicht das erste Mal, dass wir miteinander reiten. Du hast drei Tage, um zu klären, was zwischen Gott, Radulfus und dir steht. Mach dich dann reisefertig. Auf jeden Fall werde ich dir statt eines Maultieres aus dem Kloster das beste Pferd aus den Stallungen meiner Burg geben.«
Innerhalb der Klausur herrschten gemischte Gefühle in Bezug auf Cadfaels Vorhaben, das er nur mit eingeschränkter Billigung des Abtes und ohne das Versprechen unternahm, sich dessen Bedingungen zu unterwerfen. Sorgfältig hatte Prior Robert den Brüdern dargelegt, unter welchen Voraussetzungen Cadfaels Abwesenheit vom Abt genehmigt worden war und dass sich dieser lediglich für die Dauer der Versammlung in Coventry vom Kloster entfernen durfte. Seine Formulierungen ließen erahnen, dass es zu einer Missachtung des Gebotes kommen werde, als könne er damit vorsorgen, dass man ihm später keinen Vorwurf machen würde. Der Grund war vermutlich, dass ihn der Abt nur unvollständig eingeweiht hatte. Eine Erklärung für die Gründe von Cadfaels nur zögernd genehmigter Abwesenheit wurde den Mitgliedern der Gemeinschaft nicht gegeben. Dieser Punkt ging nur Cadfael und Radulfus etwas an.
Unbefriedigte Neugier sorgte dafür, dass angesichts des wenigen, was bekannt wurde, die wildesten Mutmaßungen umliefen. Stumm richteten sich entsetzte und bekümmerte Blicke auf einen Bruder, den der eine oder andere beinahe schon als Abtrünnigen ansah. Manche, die bereits seit ihrer Kindheit im Kloster lebten, nahmen ihm gegenüber eine feindselige Haltung ein. Andere hingegen, die später gekommen waren und denen das Leben als Eingeschlossene bisweilen zur Last wurde, waren voll Neid. Der Krankenpfleger Edmund, den man bereits mit vier Jahren als für den Ordensstand bestimmt und ins Kloster gegeben hatte, nahm getreulich hin, was ihn an Cadfael verwirrte und fürchtete lediglich eine Weile, er werde den kräuterkundigen Mitbruder verlieren. Nur der Vorsänger, Bruder Anselm, der sonst äußerstenfalls einen misslungenen Ton beim Chorgesang oder eine Erkältung bei einem der besten Sänger durchgehen ließ, nahm die Neuigkeit mit äußerster Gelassenheit hin. Er vermutete, dass alles zum Besten stehe, wünschte jedem nur das Beste und machte sich weiter keine Sorgen.
Prior Robert missbilligte jede Abweichung von der Benediktinerregel, wie er schon in den vergangenen Jahren alle Vorrechte missbilligt hatte, die seiner Meinung nach Bruder Cadfael eingeräumt wurden. Dazu gehörte auch die Erlaubnis, sich frei unter den Bewohnern der Abteivorstadt und in der Stadt zu bewegen, wenn Krankheitsfälle das erforderten. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte außerdem sein Sekretär, Bruder Jerome, nur allzu gern den Groll des Priors geschürt; doch war jenem vor einer Weile eine schreckliche Niederlage widerfahren, die seiner Selbstzufriedenheit einen schweren Dämpfer aufgesetzt hatte. Seit man ihn nach einer ihm auferlegten langen Buße von seiner Aufgabe als Beichtiger der Novizen entbunden hatte, war er von überraschender Demut. So verhielt er sich zumindest zurzeit weit umgänglicher als zuvor und nutzte nicht mehr jede sich bietende Gelegenheit, die Schwächen anderer zu geißeln. Zweifellos würde er im Laufe der Zeit wieder in seine gewohnte Selbstgerechtigkeit verfallen, dies eine Mal aber blieb Cadfael jeglicher Tadel aus seinem Munde erspart.
So kam es, dass die schärfste Auseinandersetzung in Cadfael selbst stattfand. Er hatte die Gelübde abgelegt und war sich durchaus dessen bewusst, dass sie ihn an den von ihm selbst gewählten Ort banden, den er jetzt zu verlassen erwog. Bei der Darlegung seines Falles vor dem Abt hatte er die reine Wahrheit gesagt und alles rückhaltlos und offen geschildert. Doch entband ihn das von den Verpflichtungen, die er eingegangen war? Bruder Edmund und Bruder Winfried würden ihn gemeinsam vertreten müssen, Arzneien zubereiten, sich um das Lepra-Hospiz von St. Giles kümmern, den Kräutergarten pflegen, kurz, nicht nur ihre eigene Arbeit, sondern auch seine erledigen müssen.
Das wäre für sie eine große Bürde, wenn er die ihm gewährte Zeit der Abwesenheit nicht einhielte. Während er diese Möglichkeit erwog, war ihm bewusst, dass er durchaus damit rechnete. Daher lag sein Entschluss wie eine Entscheidung zwischen Leben und Tod auf ihm, bevor er auch nur die Klosterpforte durchschritten hatte.
Trotz allem war ihm klar, dass er gehen würde.
Hugh kam am vereinbarten Vormittag unmittelbar nach dem Primgebet mit dreien seiner Hauptleute. Alle waren gut beritten, und für Cadfael führten sie einen munter tänzelnden und stolz blickenden Rotschimmel am Zügel mit, dessen Stirn eine weiße Blesse schmückte. Befriedigt merkte Hugh, dass sich das besorgt blickende Gesicht des Freundes aufhellte, als er des gut gebauten stattlichen Tieres ansichtig wurde, das fast ebenso edel war wie Hughs stolzer Grauschimmel. Gestiefelt und reisefertig legte ihm Cadfael den Mantelsack quer über den Sattel und schwang sich hinauf, ein wenig steif zwar, aber mit sichtlichem Vergnügen. Hugh unterließ es bewusst, ihm seine Hilfe anzubieten. Auch wenn ein Fünfundsechzigjähriger die Achtung und Verehrung Jüngerer verdient, so möchte er doch nicht bei jeder Gelegenheit an sein Alter erinnert werden.
Als sie zum Tor hinausritten, sah ihnen niemand offen nach, obwohl es hier oder da verborgene Blicke aus dem Torhaus, der Krankenstation oder gar aus der Abtwohnung gegeben haben mochte. Am besten hielt man sich an den üblichen Tagesablauf, denn schließlich war es ein ganz gewöhnlicher Tag, und niemand zweifelte, dass der Bruder, der da fortritt, zum festgesetzten Zeitpunkt zurückkehren würde, um sich aufs Neue seinen Pflichten zu widmen. Sofern der Frieden mit ihm kam, umso besser.
Als sie an St. Giles vorüber waren, Stadt und Kloster hinter ihnen lagen und der Buckel des Berges Wrekin vor ihnen aufragte, hob sich Cadfaels Herz. Er war bereit, sich allem zu fügen, was da kommen mochte. Manches, was er unterwegs sah, tröstete ihn. Zwar stand der Dezember vor der Tür, doch noch war die Landschaft grün und das Wetter mild. Auch blieben sie von Winden verschont. Er hatte ein gutes Pferd, und neben Hugh zu reiten war eine Wonne, zumal sie viele Erinnerungen miteinander teilten. Die Straße, die vor ihnen lag, war sicher, der Weg, den sie nehmen mussten, zumindest bis zum Forst von Chenet beiden vertraut. Hugh war so zeitig aufgebrochen, dass ihnen bis zur offiziellen Eröffnung der Versammlung drei volle Tage blieben.
»Wir wollen uns nicht unnötig hetzen«, sagte er, »und ich würde gern noch einige Worte mit Robert Bossu wechseln, bevor die Sache in der Versammlung angesprochen wird. Vielleicht stoßen wir sogar in Lichfield, wo wir über Nacht bleiben wollen, auf Ranulf von Chester. Ich habe erfahren, dass man ihm in letzter Minute noch Nachrichten mit auf den Weg gegeben hat, die er seinem Halbbruder aus Lincoln übermitteln soll. William kümmert sich um das, was beide im Norden gewonnen haben, während Ranulf bescheiden zur beratenden Versammlung nach Coventry reitet.«
»Er täte gut daran, seine Erfolge nicht übermäßig herauszustreichen«, sagte Cadfael nachdenklich, »denn gewiss wird dort eine ganze Anzahl seiner Feinde zusammenkommen.«
»Er sucht noch nach Verbündeten. Ein Seitenwechsel ist ein kostspieliges Unterfangen«, sagte Hugh sarkastisch. »Er hat in den vergangenen Wochen klug bemessene Zugeständnisse an Barone gemacht, deren Landbesitz oder Privilegien er noch im vorigen Jahr an sich gebracht hatte. Der König ist lediglich der erste, den er für sich günstig stimmen muss, und der ist geneigt, Verbündete mit geschlossenen Augen und offenen Armen willkommen zu heißen. Er gibt lieber, als dass er nimmt. Wer ihm von Anfang an die Treue gehalten und dabei beobachtet hat, wie Ranulf den König verspottete, ist bestimmt nicht billig zu haben. Es würde mich nicht wundern, wenn der eine oder andere gern nähme, was Ranulf zu bieten hat, ohne auch nur im Traum daran zu denken, ihm die erhoffte Gegenleistung zu gewähren. Ich an seiner Stelle wäre noch ein weiteres Jahr oder gar länger äußerst vorsichtig und zurückhaltend.«
Als sie am frühen Abend auf das Gelände des erzbischöflichen Gästehauses von Lichfield ritten, herrschte dort munteres Treiben. Im Logis, das auch Hughs Begleitern als Unterkunft diente, sah man so manches Adelswappen auf der Brust von Reitknechten und Lakaien prangen. Doch keiner kam aus Chester. Entweder hatte Ranulf eine andere Route genommen – er mochte geradenwegs vom Sitz seines Halbbruders in Lincoln aus geritten sein – oder er befand sich schon vor ihnen und war bereits wieder auf seiner Burg Mountsorrel in der Nähe von Leicester, um Pläne für die Versammlung zu schmieden. Bei ihm ging es weniger um den Versuch, Frieden zu schließen, als um eine Gelegenheit, sich der günstigen Aufnahme auf der Seite zu versichern, von der er hoffte und annahm, sie werde den Sieg erringen.
Vor dem Komplet trat Cadfael in die Kälte der Abenddämmerung hinaus und wandte sich nach Süden, dorthin, wo die Flächen der um das Münster liegenden Teiche in der Abendruhe in bleiernem Licht leuchteten. An der Stelle, wo zuvor die sächsische Kirche gestanden hatte, sah man die freie Fläche wie eine Narbe, die noch längst nicht verheilt war. Roger de Clinton hatte die Wahl eines weiter entfernten und besser geeigneten Ortes für ein Bauvorhaben gebilligt, das auf der Basis alter Planungen weit gewichtiger zu werden schien, als es der heilige Chad, der erste Bischof, je erwogen hatte. Am Rande des heiligen Bodens, den einer der sanftmütigsten und meistgeliebten Priester geweiht hatte, wandte sich Cadfael um und blickte auf die wuchtige Masse der neuen steinernen Bischofskirche, die noch kaum beendet war – sofern man überhaupt je mit der Aufgabe fertig würde, sie auszuschmücken und zu vergrößern. Der kurze Chor lief in einer Apsis aus, und das lange Dach des Schiffes schnitt, wie auch der feste mittlere Vierungsturm, scharfe Linien in den blasser werdenden Himmel. Schräg fiel durch die hohen Fenster im Westen, die in Mauern, dick wie die einer Festung, eingelassen waren, ein wenig Licht ins Innere. Aus der Ferne konnte man weder die aufgeschichteten Stapel von Steinquadern und Bauholz, noch den Bruchsteinhaufen sehen, der dort lag, wo man einstweilen die Werkbänke der Steinmetze beiseite geräumt hatte. Inzwischen hielt sich der Mann, der seinem Gott diese feste Burg errichtet hatte, in Gedanken bereits im Heiligen Land auf, denn die Sache des Christentums lag ihm sehr am Herzen.
Schwach flackernder Lichtschein ließ den Rand des Teiches sichtbar werden, als sich Cadfael umwandte, um nicht zu spät zur Komplet zu kommen. Im Hof der bischöflichen Anlage befand er sich wieder unter Männern, schattenhaften Gestalten, die in der zunehmenden Dunkelheit an ihm vorüberkamen und ihm ein freundliches Wort zuwarfen. Er kannte keines der Gesichter. Es waren Kanoniker, Messdiener, Chorknaben, Gäste aus der Gemeinschaftsunterkunft und dem Speisesaal, fromme Stadtbewohner, die gekommen waren, den Tag mit der abendlichen Andacht zu beenden und zu krönen. Er fühlte sich von einer großen Schar Zeugen umgeben, wobei völlig unerheblich war, dass unter Umständen jeden von ihnen eigene Sorgen verzehrten und sie ihn überhaupt nicht wahrnahmen. So viele leidenschaftliche Bedürfnisse, wie hier versammelt waren, mussten doch gewiss den Himmel in seinen Grundfesten erschüttern.
Im gewaltigen Kirchenschiff zogen einige Gestalten stumm durch die Dunkelheit und widmeten sich den mit der Abendandacht verbundenen Aufgaben. Noch war es früh, nur auf dem Altar glomm das Ewige Licht wie ein kleines rotes Auge. Im Chor war ein Kirchendiener jedoch damit beschäftigt, die Kerzen zu entzünden, so dass in der reglosen Luft Flamme auf Flamme stetig emporwuchs.
Vor einem der Seitenaltäre, auf dem man gerade die Kerzen entzündet hatte, stand ein untersetzter und kräftig wirkender junger Mann, der sichtlich nicht dem geistlichen Stand angehörte. Zwar war er in diesem Moment waffenlos, doch trug er das Gurtzeug für Schwert und Degen aus kunstfertig bearbeitetem Leder, und sein aufwendig geschneiderter dunkler Umhang war aus feinstem Stoff. Der Mann stand völlig still und hielt den Blick unverwandt auf das Kreuz gerichtet. Er schien zu beten, ernst und in sich versunken, wie für eine wichtige Sache. Da er halb abgewandt stand, war sein Gesicht nicht zu erkennen. Obwohl er sich nicht erinnern konnte, ihn je gesehen zu haben, kam Cadfael die Gestalt ebenso vertraut vor, wie auch die Art, in der er den Kopf emporreckte und das Kinn vorschob, als stritte er von gleich zu gleich mit Gott und als hätte er einen Anspruch darauf, dass man ihm bei einer Sache helfe, die es verdiente.
Cadfael trat ein wenig beiseite, um das bewegungslose Profil genauer zu betrachten. Im gleichen Augenblick loderte eine der Kerzenflammen auf, die einen losen Faden erfasst haben mochte, und warf einen hellen Lichtschein auf das Gesicht des jungen Mannes. Sogleich sank sie nieder, denn der Mann nahm rasch mit Daumen und Zeigefinger einer Hand das störende Gewebe fort. Cadfael erkannte in dem Gesicht eine gerade Nase und ein gemeißeltes Kinn. Es handelte sich offensichtlich um einen jungen Mann von edler Abkunft, der sich seines Wertes durchaus bewusst war. Als die Kerze aufloderte, musste dieser im Augenwinkel eine Bewegung Cadfaels wahrgenommen haben, denn mit einem Mal drehte er sich um und wandte ihm das Gesicht zu. Unter der kräftigen Stirn und dem dichten braunen Haar lagen die braunen Augen weit auseinander. In ihnen erkannte Cadfael die Verletzlichkeit des aufrichtigen Mannes.