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***Warme Gefühle für kalte Wintertage***
Als Studentin Luna den charmanten Briten Will kennenlernt, ist es sofort um sie geschehen. Während er die Welt bereist, ohne an morgen zu denken, wird sie von sozialer Angststörung geplagt und hat viele Zweifel, was sie im Leben will. Viel zu schnell trennen sich ihre Wege wieder, doch Luna kann Will einfach nicht vergessen. In der Hoffnung, ihn wiederzusehen, reist sie ihm in ein österreichisches Skigebiet hinterher und nimmt in einer Therme einen Job als Saisonarbeiterin an. Doch kann jemand wie Will wirklich ihre Zukunft sein? Dagegen spricht nicht nur ihre eigene Schüchternheit, sondern auch eine gemeinsame Kollegin, die es auf Will abgesehen hat …
Winter Hearts: Beide Bände sind unabhängig lesbar.
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Chasing Snowfall
Zusammen verloren
Impressum
Annie Waye
c/o JCG Media
Freiherr-von-Twickel-Str. 11
48329 Havixbeck
© 2024 Annie Waye
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Emily Bähr
Lektorat und Korrektorat: Larissa Schira (Lektorat Tintenglanz)
Buchsatz: Kaja Raff
Dieser Buchsatz wurde mit Ressourcen von Freepik.com erstellt.
Am Ende dieses Buchs findest du ein Glossar.
Winter Hearts:
Dancing Snowflakes: Zusammen eingeschneit (Winterroman)
Chasing Snowfall: Zusammen verloren (Winterroman)
Annie Waye ist eine junge Autorin mit einer alten Seele. Sie ist auf der ganzen Welt zu Hause und seit jeher der Magie der Bücher verfallen. Sie schreibt, um fremde und vertraute Welten zu erschaffen, sympathischen und zwiespältigen Charakteren Leben einzuhauchen und Dunkelheit und Stille aus den Herzen der Menschen zu vertreiben. Wenn sie nicht gerade an Romanen arbeitet, veröffentlicht sie Kurzgeschichten und bereist die Welt auf der Suche nach ihrem nächsten Sehnsuchtsort.
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Für alle, die nicht auf die Zeit der guten Vorsätze warten wollen, um über sich hinauszuwachsen.
»Dieser Weihnachtsmarkt ist einfach der Wahnsinn«, seufzte Krissi neben mir, bevor wir den Victoria Square in Birmingham überhaupt erreicht hatten. »Letztes Jahr war es schon der Hammer, aber dieses Jahr finde ich ihn noch besser. Oder was meinst du, Luna?«
Ich atmete tief ein und glaubte bereits die ersten Noten Weihnachtsmarktduft in mich aufzusaugen. »Es ist wirklich ganz wie zu Hause.« Es war angemessen kalt für einen Dezemberabend und wir entsprechend dick eingepackt, mit dunklen Jacken und knallbunten Mützen und Schals, die wir uns bei einem Abstecher nach London gekauft hatten. Ich hatte meine braunen Haare zu einem unsauberen Knoten gebunden, damit ich meine Mütze besser auf meinen Kopf bekam, aber als ich sie beiläufig abtastete, hatte ich das Gefühl, dass mein ganzer Schädel hoffnungslos verbeult aussah. Das sollte ich vielleicht in einer ruhigen Minute richten.
Krissi machte ihren Bachelor an der Uni Birmingham, während es mich nur für ein Semester hierher verschlagen hatte. Ein Semester, das bald enden würde. Umso wichtiger war es mir gewesen, ein letztes Mal hierherzukommen.
Unterm Jahr war Birmingham hauptsächlich für seine Kanäle, die Musikszene, zahlreiche Sportvereine und Cadbury-Schokolade bekannt. Doch vor allem jetzt im Dezember entfaltete sich der Victoria Square, ein großer Platz im Zentrum von Birmingham, zu seiner vollen Pracht.
Krissi, deren Haare wie ein pechschwarzer Fluss über ihre Schultern rannen, war schon ein paar Mal mit mir hier gewesen, manchmal auf dem Weg zum Campus oder der Wohnung von Bekannten hindurchgeschlendert, manchmal aktiv hierhergekommen, um authentisch deutschen, wenn auch völlig überteuerten Glühwein zu trinken. Es war inzwischen schon der achtzehnte Dezember – mein letzter Tag in Birmingham – und wir hatten entschieden, dass es der passendste Ausstand wäre, ihn hier zu verbringen, am wahrscheinlich deutschesten Ort der Stadt.
»Ich hab das Gefühl, ich hab immer noch nicht alles davon gesehen«, murmelte ich, als wir den Rand des Victoria Square erreichten und erst einmal stehenblieben, fast schon erschlagen von den unzähligen Eindrücken, die alle gleichzeitig auf uns einströmten.
Der ganze Platz war wie in Gold getaucht. Überall erstrahlten helle Lichter, und die Stände und das große Kinderkarussell, das sie am Rand des Markts errichtet hatten, strahlten miteinander um die Wette. Die Luft war erfüllt von süßen bis deftigen Gerüchen, und wohin man sich auch bewegte, wurde man von winterlich-weihnachtlicher Musik begleitet. Das Einzige, was fehlte, um den Anblick perfekt zu machen, war Schnee.
»Es ist so groß und so hell und …« Ich lächelte zaghaft. »Ich weiß schon gar nicht mehr, wie ein Weihnachtsmarkt zu Hause aussieht.«
Krissi kicherte. »Frag mich mal!« Sie war ganz anders als ich. Während ich am liebsten jedes Wochenende nach Hause gekommen wäre, war sie in den letzten anderthalb Jahren nur in den Semesterferien zurück nach Deutschland geflogen – wenn überhaupt. Sie war frei wie ein Vogel, und ich wünschte, meine gemeinsame Zeit mit ihr hätte dafür gesorgt, dass sie zumindest ein klein wenig auf mich abfärbte. Ich war so selbstreflektiert, um zu wissen, dass mir das guttäte.
»Okay, also …« Ich sah mich um und vergaß sofort, was ich hatte sagen wollen. Hier waren so viele Menschen unterwegs, dass ich aus der Ferne nicht ausmachen konnte, welche Stände sich in unserer unmittelbaren Nähe befanden. »Was machen wir zuerst?«
»Lass mich mal überlegen.« Krissi zählte an ihren pink-behandschuhten Fingern ab. »Du wolltest noch Souvenirs kaufen, ich wollte mir noch irgendwas Süßes reinziehen, und natürlich müssen wir so viel Glühwein trinken, dass wir nicht mehr geradeaus nach Hause laufen können.« Sie grinste. »Ich würde sagen, jeder ungerade Tagesordnungspunkt ist Glühwein und jeder gerade alles andere. So können wir dafür sorgen, dass der Pegel immer stimmt.«
Grinsend schüttelte ich den Kopf. »Wenn es dann überhaupt mehr als drei Tagesordnungspunkte gibt.«
»Ach!« Krissi machte eine wegwerfende Handbewegung und schritt langsam weiter. »Du weißt doch, wie das hier ist. In Birmingham bekommst du weniger Glühwein für viel mehr Geld als zu Hause. Da braucht es schon ein paar, um betrunken zu werden.«
Seite an Seite bewegten wir uns durch die Menge, die sich vor besonders beliebten Ständen verdichtete und in den hintersten Winkeln wieder etwas leichter zu durchdringen war. Um uns herum erspähte ich Familien mit Kindern, junge Menschen aus allen Ecken und Enden der Welt und ältere Männer mit sicher nicht wegen der Kälte roten Nasen, die bestimmt schon hier waren, seit der Markt heute geöffnet hatte – und zwar um zehn Uhr morgens.
Krissi und ich waren ziemlich spät dran. In zwei Stunden würden die Stände hier nach und nach dicht machen, weshalb ich im Vorbeigehen jeden einzelnen davon mit dem Blick scannte.
Man legte hier großen Wert auf authentisch-deutsches Essen. Zwischen Bratwurst- und Currywurstständen gab es Schnitzel mit Pommes, verschieden belegte Flammkuchen und natürlich Stollen. Dazu aus Frankfurt importiertes Bier. Wo es nichts zu essen gab, erwarteten uns weihnachtliche Dekorationen, hölzerne Ornamente, handgewobene Kleidungsstücke und Kerzen in allen Farben des Regenbogens. Das Geschenkpotenzial war ziemlich hoch – andererseits waren das alles Dinge, die ich auch in Deutschland bekommen konnte. Somit taugten sie nicht wirklich als britisches Souvenir für meine Familie.
Ich unterdrückte ein Seufzen. Das würde dann wohl Last-Minute-Shopping am Flughafen bedeuten.
»O mein Gott!«, stöhnte Krissi voller Wonne. »Wenn ich das hier rieche, kriege ich schon wieder Hunger.«
Normalerweise wären wir uns wahrscheinlich niemals begegnet: Sie studierte Anglistik, ich belegte im Rahmen meines Jurastudiums ein paar Kurse in internationalem Recht, weil ich mir abgesehen davon so gut wie nichts auf mein Studium zu Hause hätte anrechnen lassen können. Auch privat hatten wir absolut keine Berührungspunkte. Krissi engagierte sich in der Studierendenvertretung und war eine begnadete Angreiferin im Volleyball-Team. Ich hatte mich für die Public Speaking Society eingeschrieben, in der man lernen sollte, sich möglichst selbstsicher vor anderen zu präsentieren. Beim ersten Treffen war ich klammheimlich aus der letzten Reihe abgehauen, als es hieß, dass wir eine Vorstellungsrunde machen würden.
Was soziale Interaktion betraf, war ich zu nichts zu gebrauchen. Wie die Beta-Version eines Menschen, die den Crashtest nicht bestanden hatte. Im Grunde überhaupt nicht lebensfähig. Rückblickend kam es mir so vor, als wäre Krissi der einzige Faktor gewesen, der dazu geführt hatte, dass ich dieses Auslandssemester irgendwie überstanden hatte.
Ja, ich studierte Jura. Diese eine Fachrichtung, die bedeutete, dass man im späteren Job für das Recht und Unrecht anderer Menschen kämpfen musste. In dem man sich mit anderen anlegen musste. In dem man laut werden musste.
Und nein, ich hatte keine Ahnung, was mich geritten hatte, zu glauben, das könnte auch nur im Geringsten zu mir passen.
»Hey!«, hob Krissi schließlich an. »Da hinten ist ein Crêpe-Stand. Was dagegen, wenn ich mir kurz einen hole?«
Neckisch zog ich eine Braue hoch. »Das würde dann aber gegen den Plan verstoßen, den du gerade aufgestellt hast.«
Sie zuckte die Achseln. »Du kannst in der Zwischenzeit ja schon mal zwei Glühwein für uns holen gehen.«
Mein Herz verkrampfte sich in meiner Brust. »Nein«, sagte ich vollautomatisch, wie ich es mein ganzes Leben lang getan hatte. »Lieber nicht. Ich meine, nicht dass wir uns dann nicht mehr wiederfinden und …«
»… und du allein ganze zwei Tassen Glühwein bewältigen musst!«, antwortete Krissi theatralisch. »Wie könnte man dir das nur zumuten?«
Ich lachte leise, war insgeheim aber froh, dass sie nicht auf ihrem Vorschlag beharrte und ich sie zum Crêpe-Stand begleiten durfte.
Ich hatte Kristine kennengelernt, nachdem ich zehn Minuten nach Vorlesungsbeginn völlig verirrt im Hauptgebäude der Uni herumgelaufen war. In der Viertelstunde vor neun Uhr waren dort noch viel mehr Menschen gewesen. Menschen, die ich nach dem Weg hätte fragen können – aber ich hatte mich schlichtweg nicht getraut.
Es war furchtbar. Ich war furchtbar im Umgang mit anderen. Sobald ich in Situationen wie diese kam, spielten meine Gedanken völlig verrückt. Das Blut begann in meinen Ohren zu rauschen und mein Puls stieg ins Unermessliche. Mein Blick hatte den ganzen Flur gescannt auf der Suche nach jemandem, den ich für ansprechbar und offen genug hielt, um sich mit mir und meinen Problemen abzugeben.
Aber nach und nach hatte ich alle ausgeschlossen: Personen, die zu zweit oder in Gruppen unterwegs waren, waren so in Gespräche vertieft, dass ich sie nicht herausreißen wollte – könnte ja wichtig sein. Wer auch nur einen halben Stundenkilometer schneller lief als der Durchschnitt, hatte es bestimmt eilig und wollte sicher nicht meinetwegen zu spät zu seiner Vorlesung oder zu seinem Termin kommen. Und all diejenigen, die zu keiner der beiden Kategorien gehörten, blickten so finster drein, dass sich mir beim Gedanken daran, auf sie zuzugehen, die Kehle zuschnürte.
Somit war ich irgendwann allein gewesen – und Krissi, die quasi immer verschlief, hatte sich meiner erbarmt und mich angesprochen. Seitdem hingen wir irgendwie zusammen, und es war unglaublich, welches grenzenlose Verständnis sie für mich aufbrachte. Sie war für mich da und passte auf mich auf. Sie nahm mir eine Last von den Schultern, wann immer es ging, und dafür wäre ich ihr auf ewig dankbar.
Wir stellten uns am Crêpe-Stand an, und ich ließ mich vom süßlichen Geruch nach Zucker oder Nutella oder beidem einlullen, der mir in die Nase stieg. Obwohl es fast null Grad waren, wurde mir hier, inmitten der vielen Menschen um mich herum, irgendwie warm, und ich zog den Reißverschluss meiner Jacke etwas herunter. »Mann«, murmelte ich. »Jetzt würde nur noch Schnee fehlen.«
»O ja.« Krissi zupfte sich ihre Mütze, die ständig hochrutschte, wieder über die Ohren. »Aber da haben sie hier so gut wie nie Glück. Schneien tut es meistens erst irgendwann im Januar. Immer ein paar Wochen zu spät.«
»Na ja«, gab ich zurück. »Das ist in Deutschland ja nicht groß anders.«
»Wir sollten eine Petition starten: Verschieben wir Weihnachten auf den ersten Tag, an dem es so richtig schön schneit! Damit alles perfekt werden kann.«
Auch so war der Frankfurt Christmas Market perfekt. Wahrscheinlich gehörte er zu den schönsten und bekanntesten Winter-Attraktionen im ganzen Vereinigten Königreich. Es war immer ein tolles Erlebnis für mich, hierherzukommen.
Dennoch hatte ich ihn stets mit gemischten Gefühlen besucht. Dass ich mich überhaupt dazu überwunden hatte, ein Auslandssemester zu absolvieren, grenzte an ein Wunder. Zu viel Fremde, zu viel schieres Existieren abseits des eigenen Tellerrands war damit verbunden. Aber irgendwie hatte ich es in einem Stück hierhergeschafft – und seitdem mit Heimweh zu kämpfen gehabt. Heimweh, das immer dann zu mir zurückkehrte, wenn ich irgendetwas oder irgendjemandem begegnete, der mich zu sehr an meine Herkunft erinnerte.
Wir erreichten das vordere Ende der Schlange, und Krissi bestellte sich einen gezuckerten Crêpe. Als ich gefragt wurde, ob ich auch etwas wollte, bekam ich auch mit aller Willenskraft den Mund nicht auf und schüttelte nur stumm den Kopf.
»O Mann«, murmelte Krissi, als sie ihren Crêpe entgegennahm. »Wenn ich es mir recht überlege, macht es überhaupt keinen Sinn, sich jedes Jahr auf diesen Weihnachtsmarkt zu freuen. Ich könnte ja auch einfach nach Hause fliegen und die Originalversion besuchen. Ist wahrscheinlich sogar inklusive Flug schonender für den Geldbeutel.«
»Kommt ganz darauf an, wie viel Glühwein dir dort zum Opfer fallen würde.«
»Die würden gar nicht mehr hinterherkommen mit Nachschenken!« Krissis Grinsen verblasste, kaum dass es ihre Miene erhellt hatte. »Ja, nein, ich weiß nicht. Vielleicht fliege ich ja doch noch rüber. Weil mein Opa ja auch noch runden Geburtstag feiert. Ich werd mal sehen, was die Flugpreise so machen.«
Wir verzogen uns in den engen Zwischenraum zwischen dem Crêpe-Stand und seinem Nachbarn, wo es etwas ruhiger war, und Krissi schob den Crêpe der rechteckigen Pappunterlage hin und her, auf der sie ihn bekommen hatte. »Und?«, fragte sie beiläufig. »Schon aufgeregt, wieder nach Hause zu kommen?«
»Aufgeregt?«, wiederholte ich verwundert. »Ich war aufgeregt, als ich hierhergeflogen bin. Aber doch nicht, wenn ich zurückfliege.«
»Stimmt auch wieder«, gab sie zu bedenken und hielt vor dem Abbeißen noch einmal inne. »Wahrscheinlich hat sich in Deutschland gar nichts verändert. Business as usual.«
Ich antwortete nicht, weil ich das Gefühl hatte, dass sie sonst noch länger mit dem Essen warten würde, um mit mir zu reden. Stattdessen ließ ich den Blick über den Weihnachtsmarkt schweifen, konnte aber nicht aufhören, über ihre Frage nachzudenken.
Ich war fest mit meinem Zuhause verwurzelt. Ich war in Frankfurt zur Schule gegangen, hatte mein Abi gemacht und studierte inzwischen dort. Meine Freunde stammten aus Frankfurt und fast meine ganze Familie lebte in der Stadt. Nur Tagestrips oder kurze Urlaube hatten mich je von dort wegbekommen können. Warum auch weggehen, wenn man zu Hause alles hatte, was man brauchte?
Ich hatte es nicht bereut, nach Birmingham zu kommen, denn hier hatte ich zum ersten Mal erlebt, wie schön und bereichernd ein Tapetenwechsel sein konnte. Hier lebten so viele unterschiedliche Menschen aus der ganzen Welt mit ihren eigenen Erfahrungen, Geschichten und speziellem Humor. Das Uni-System war anders als in Deutschland, und je länger ich hier gewesen war, desto weniger war ich scharf darauf gewesen, an meine eingestaubte Universität zu Hause zurückzukehren.
Aber die letzten Monate hatten auch ihre Schattenseiten gehabt. Beispielsweise als mir Krissi einen Tipp gegeben hatte, dass dreißig Busminuten von meiner Wohnung ein Aldi-Markt zu finden war. In der Hoffnung, dort endlich gutes Brot zu bekommen, das sich nicht als Toast-Abklatsch herausstellte, hatte ich sofort die nächste Linie genommen und hatte mich dorthin begeben. Hatte zum ersten Mal seit Wochen einen deutschen Discounter betreten, der tatsächlich genauso aussah wie in Frankfurt. Alles um mich herum hatte sich so vertraut angefühlt, weshalb mich die Gewissheit wie ein Schlag getroffen hatte, dass es alles andere als vertraut war.
An diesem Tag hätte ich das Auslandssemester beinahe abgebrochen. Einzig und allein die Tatsache, dass mich ein kurzfristiger Rückflug schier meine ganzen Rücklagen gekostet hätte, hatte mich davon abgehalten.
Seitdem war viel passiert. Ich war jetzt schon seit drei Monaten hier und war noch nicht daran gestorben. Daran klammerte ich mich fest, und im Alltag kam ich auch gut damit klar.
Und dann hatte dieser Weihnachtsmarkt aufgemacht. Ein Weihnachtsmarkt, der in Kooperation mit dem Original in Frankfurt entstanden war und in dem schlichtweg alles aus Frankfurt importiert oder vom dortigen Weihnachtsmarkt kopiert worden war. Das hier war nicht nur ein Discounter. Es war eine riesige Portion Lebensgefühl, das mich erwartet hätte, wäre ich diesen Herbst zu Hause geblieben. Es war das Schicksal, das mir einen Spiegel vorhielt, dass ich jetzt auch bei meiner Familie hätte sein können, mich aber dazu entschieden hatte, fast tausend Kilometer weit weg zu gehen.
Es war Nostalgie pur. Gleichzeitig beschwor der Anblick ein schlechtes Gewissen in mir herauf. Die Frage, was ich hier überhaupt tat, und ob es nicht besser gewesen wäre, ich wäre niemals nach England gekommen.
Inzwischen war es nicht mehr so schlimm. Schließlich waren meine Koffer gepackt und meine Bordkarte ausgedruckt. Aber dieser Weihnachtsmarkt hatte bereits Anfang November eröffnet – also lebte ich schon seit gut anderthalb Monaten mit der Qual, die morgen endlich enden würde.
»Das war so gut«, urteile Krissi noch mit vollem Mund und schluckte ihren letzten Bissen herunter. »Okay, jetzt muss ich dringend aufs Klo und dann kann's losgehen.« Wir machten zwei Schritte auf die Hauptstraße des Weihnachtsmarkts und wurden beinahe von der Menschenmenge fortgespült. »Hast du noch eine Ahnung, wo das war?«
»Ähm.« Ich stellte mich im Gehen auf die Zehenspitzen und blickte mich um, aber auf einmal sah der Weihnachtsmarkt überall gleich aus, wohin ich mich auch wandte. »Puh.«
»Okay, irgendwann wird schon was kommen. Am besten schnell. Oh, hey, Luna!« Sie bedeutete mir, ihr zu folgen, und führte mich quer durch den Menschenstrom in Richtung eines größeren Glühweinstands, an dem man sich von vier Seiten aus anstellen konnte. »Der ist auffällig genug«, kommentierte sie den überdimensionalen, leuchtenden Weihnachtsmann, der auf dem Dach des Stands emporragte. »Den finde ich wieder. Dann kannst du hierbleiben und ich komme zurück hierher, wenn ich fertig bin.«
Unschlüssig blieb ich im groben Radius der Bude stehen. »Das ist echt nicht nötig«, wehrte ich ab. »Ich kann mit dir suchen gehen.«
»Quatsch!« Sie zog ihr Handy aus ihrer Jackentasche, um darauf zu deuten. »Ich schreib dir einfach, wenn ich fertig bin, und notfalls schickst du mir deinen Standort. Wird schon kein Marathon bis zum nächsten Klo sein. Bis gleich!« Ohne eine Reaktion abzuwarten, wirbelte sie herum und warf sich förmlich in die Menschenmenge, die sich durch die Straßen des Weihnachtsmarkts drückte. Wie ein Ninja ging sie in den dicken Jacken und bunten Farben der Besucher unter, und ich konnte sie schon nach ein paar Sekunden nicht mehr sehen.
Ich unterdrückte ein Seufzen und sah mich nach dem Glühweinstand um. Eigentlich war es sinnvoll, sich hier zu treffen, weil wir ja unbedingt noch ein paar hatten trinken wollen – heute, an unserem letzten gemeinsamen Abend, bevor ich in aller Frühe meinen Koffer aus meiner Wohnung schleifen und den Rückflug nach Hause antreten würde.
Beim Gedanken daran wurde ich von einem Hauch der Wehmut erfasst, was mich selbst überraschte. Gleichzeitig drehte sich mir der Magen um, wenn ich mir vorstellte, mein Studium in Frankfurt fortzusetzen. Was das betraf, hatte mir alles in Birmingham viel mehr Spaß gemacht als zu Hause. Vielleicht lag das auch nur daran, dass mein ganzes Leben hier anders gewesen war und in Deutschland der alte Alltagstrott weitergehen würde. Wie Krissi gesagt hatte: Business as usual.
Das war der Moment, in dem mir etwas klar wurde. Etwas hatte sich verändert. Ich hatte mich verändert. Zumindest war ich gerade eben fest davon überzeugt. Und vielleicht konnte ich mir ja den Beweis dafür liefern, den ich brauchte.
Langsam ließ ich den Blick zum Glühweinstand schweifen. Dort war auf allen vier Seiten etwas los, aber da gleichzeitig vier oder fünf Leute mit Ausschenken und Abkassieren beschäftigt waren, konnte es nicht so lange dauern, etwas zu bekommen. Das war meine Chance.
Ich atmete tief durch, während ein Schub der Nervosität durch meinen Körper ging. Aber ich würde mich nicht von ihr kontrollieren lassen.
Ich würde jetzt verdammt nochmal zwei Glühwein bestellen. Ich ballte die Hände in meinen Jackentaschen zu Fäusten und bewegte mich auf den Stand zu. Die Schlange (oder eher Traube) vor mir löste sich schon innerhalb von zwei, drei Minuten auf, sodass ich gerade so Zeit hatte, meinen Geldbeutel herauszukramen, ehe ich mich an den Tresen lehnen konnte.
Nur, dass auf der anderen Seite niemand mehr da war. Einer der Mitarbeiter war vor ein paar Sekunden abgehauen – wahrscheinlich auch in Richtung Toilette – ein zweiter stand auf der gegenüberliegenden Seite des Stands, um dort eine viel längere Schlange zu bedienen, und die letzten beiden waren vor ihren Zapfhähnen postiert und unterhielten sich angeregt, ohne ihrer Umgebung auch nur einen Funken Aufmerksamkeit zu zollen.
Mein Magen verkrampfte sich, und mein Unterbewusstsein wusste nicht, ob es Empfindungen der Wut oder der Unsicherheit verspüren sollte. Das durfte doch nicht wahr sein, oder? Hier war immer noch verdammt viel los, und ich konnte förmlich spüren, wie sich hinter mir mehr und mehr Glühweindurstige versammelten. Warum kam niemand? Nahmen sie mich nicht wahr? Lag das an den bereits bedienten Kunden, die links und rechts von mir am Tresen standen und sich mit ihren Partnern und Freunden unterhielten? Ging ich so sehr in ihnen unter?
Ich musste auf mich aufmerksam machen. Also holte ich tief Luft, öffnete den Mund –
Und dann schlug er wieder zu, der kleine Teufel auf meiner Schulter, der mich mit seinem Dreizack in den Hals pikste und zischte: »Spinnst du? Die beiden unterhalten sich! Willst du sie jetzt wirklich unterbrechen, bloß weil du dich mit Glühwein zulaufen lassen willst? Weißt du eigentlich, wie unhöflich das ist?«
Mir blieben die Worte im Hals stecken. Anstatt sie auszusprechen oder auch nur auszuatmen, hielt ich unwillkürlich die Luft an, sammelte sie in meinem Innern und starrte die beiden Männer in den Mittvierzigern an, um jede ihrer Lippenbewegungen zu verfolgen und den besten Augenblick abzupassen, um mich einzuhaken. Vielleicht war es nur ein kurzes, wichtiges Thema und sie wären gleich fertig …
Beide Münder schlossen sich, und mein Herz machte einen Satz. Schnell hob ich an: »E-«
»Oh, well«, fuhr der eine plötzlich kaum für mich hörbar fort. »I know what you mean …« Und dann ging das Gespräch nahtlos weiter.
Mein Mund klappte geräuschvoll zu, und zu allem Übel biss ich mir dabei auch noch auf die Zunge. Krissi hatte schon früh kapiert, was mit mir nicht stimmte. Die letzten Male, die wir hier gewesen waren, hatte meistens sie die Getränke für uns geholt – natürlich hatte ich ihr das Geld immer zurückgegeben. Das hier war die größte Herausforderung für mich. Wie eine Abschlussprüfung, die nichts mit meinem Studienfach zu tun hatte. Oder eher verdammt viel: Wie sollte ich jemals das Recht anderer Menschen verteidigen, wenn ich nicht mal was zu trinken bestellen konnte?
Mein Herz schlug immer schneller, und unter meiner Mütze brach mir heißkalter Schweiß aus. Komm schon, drängte ich mich. Sei einfach unhöflich! Die werden dafür bezahlt, dich zu bedienen! Du bezahlst sie, um dich zu bedienen. Dafür sind sie schließlich hier!
Ich umklammerte den Geldbeutel in meiner Hand fester, erhob die Stimme und sagte laut: »Excuse me!«
Die Männer drehten gleichzeitig die Köpfe, allerdings in die gegenüberliegende Richtung, wo im selben Moment jemand anderes auf sich aufmerksam gemacht haben musste. Sofort setzten sie sich in Bewegung, zapften Glühwein, kassierten ab. Anderswo.
Meine Schultern sackten herab, und mir drehte sich der Magen um. Warum hatte ich es überhaupt versucht? Anscheinend war ich einfach nicht würdig, Glühwein zu bekommen. Ich hatte mich bemüht, auf mich aufmerksam zu machen, und war gescheitert. Das war wohl der Beweis, den ich gebraucht hatte. Wenn auch nicht der, den ich gewollt hatte.
Ich biss mir auf die Unterlippe und schob meinen Geldbeutel zurück in meine kleine Handtasche. Dann eben nicht.
Ich machte auf dem Absatz kehrt – und eine sanfte, männliche Stimme drang unmittelbar neben mir an meine Ohren: »Hey.«
Erstaunt hielt ich inne und begegnete dem Blick des dritten Mannes hinter dem Tresen. Dem Einzigen, der die letzten Minuten mit Arbeiten verbracht, einen ganz anderen Teil der Schlangen bedient und mich trotzdem bemerkt hatte.
»What can I get you?«
Mir fiel ein Stein vom Herzen – und dann veränderte sich plötzlich alles. Der Moment, in dem ich mein Gegenüber musterte, zog sich in meinem Unterbewusstsein nicht nur in die Länge, sondern schier bis in die Ewigkeit. Er trug eine dunkle Jacke und einen knallblauen Schal mit Schneemann-Muster darauf. Obenrum hatte er auf seine Mütze verzichtet. Seine kurzen, braunen Haare gesellten sich zu seinem glattrasierten Gesicht – und seinen Augen.
Es waren seine Augen, die mich hoffnungslos in ihren Bann zogen. Denn trotz seines dunklen Haars waren sie von einem hellen, strahlenden Blau, einer Farbe, die ich nicht erwartet hatte und die mich restlos aus der Bahn zu werfen drohte. Ich konnte mich einfach nicht an ihnen sattsehen.
Der Mann blinzelte. »Are you okay?«, fragte er im perfekten Britisch-Englisch, und ich hätte mir am liebsten selbst eine schallende Ohrfeige verpasst.
Was stimmt nicht mit dir, Luna?
»Ä-ähm«, stammelte ich und versuchte krampfhaft, mich daran zu erinnern, wer, wo und wann ich war. »Yes!«
Mein hilfloser Blick zuckte zur Tafel an der Ecke des Stands, wo die verschiedenen Getränke geschrieben standen, die man hier bekommen konnte. Allen voran Glühwein und Glühsekt. Diese waren nicht als englische Übersetzungen angegeben. Stattdessen fand ich dort stilecht die deutschen Namen, wie es sich auf einem deutschen Weihnachtsmarkt gehörte.
Mein Mund fühlte sich trocken an, als ich sagte: »Two Glühwein, please.« Drei Wörter, eines davon in meiner Muttersprache, die zwei anderen kannte wahrscheinlich jedes Baby auf der ganzen Welt. Und doch kam es mir so vor, als hätte ich gerade den Mount Everest im Bikini bestiegen.
Außer – hätte ich Glühwein Englisch aussprechen müssen? Verstand mich mein Gegenüber denn, wenn ich es deutsch betonte?
»Blimey!« Tatsächlich schossen seine Brauen in die Höhe, und ich schnappte nach Luft, um schnell die englische Übersetzung hinterherzuschieben. Sie lag mir schon auf der Zunge, hechtete dann aber panisch davon, bevor ich auch nur die Chance hatte, sie auszusprechen.
Doch anstatt verwirrt dreinzublicken, stahl sich ein Lächeln auf die Lippen des Mannes, ehe er in akzentfreiem Deutsch antwortete: »Du kommst wohl aus Deutschland, was?«
Mein Herz machte einen Satz, und mir blieb der Mund offen stehen. »J-ja«, war alles, was ich auf die Schnelle herausbekam. Wahrscheinlich auch besser so, weil alles Weitere sicher nur in unkontrolliertes Gestammel ausgeartet wäre.
Der Mann grinste, und aus irgendeinem Grund stieg eine seltsame Wärme in mir auf, als mir klar wurde, dass er sich nicht über mich lustig machte. »Das hört man. Glühwein ist das ultimative Wort für einen Deutschtest.«
Ich musste kichern. »Stimmt.« Es fühlte sich so an, als würde ich von einem bittersüßen Fluch erlöst werden, als sich mein Gegenüber abwandte und sich zwei frische Tassen schnappte. »Das macht dann zehn Pfund«, teilte er mir über die Schulter hinweg mit.
Gelöst zog ich meinen Geldbeutel doch noch heraus und griff nach dem nächstbesten Schein. Erst als ich einen weiteren Blick auf das Preisschild warf, geriet ich ins Stutzen. »Eine Tasse kostet doch sechs.«
»Die zehn Pfund sind nur der cup deposit.« Der Mann stellte die zwei Tassen vor mir auf dem Tresen ab und nahm mir dafür den Schein aus der Hand. »Der Inhalt geht aufs Haus. Du hast schließlich lange genug darauf gewartet.« Er schickte sich an, die Tassen endgültig zu mir rüberzuschieben, überlegte es ich dann aber nochmal anders. »Vorher müsste ich allerdings noch deinen Ausweis sehen.«
Ich unterdrückte ein Seufzen. »Ach ja. Die 25er-Regel.« Wer in England jünger als fünfundzwanzig aussah, musste immer dazu bereit sein, nachzuweisen, dass er schon achtzehn war. An sich eine vernünftige Vorschrift, aber auf Dauer ziemlich nervig.
Ich hatte meinen Geldbeutel noch offen, zog meinen Perso daraus hervor und hielt ihn meinem Gegenüber hin. Anstatt nur einen Blick darauf zu werfen, nahm er ihn mir ganz aus der Hand, als wollte er ihn eingehend studieren.
Eine prickelnde Scham stieg in mir auf. Ich hatte das biometrische Foto Hals über Kopf in einer Drogeriefiliale knipsen lassen, weil ich kurz vor der Deadline meiner Bewerbung an der Uni Birmingham festgestellt hatte, dass mein alter Personalausweis und Reisepass abgelaufen waren. Ich war an diesem Tag völlig durch den Wind gewesen, und o Mann, sah man mir das an!
»Luna«, las er meinen Namen ab, und plötzlich wurde ich das Gefühl nicht los, dass er hauptsächlich deshalb nach meinem Ausweis gefragt hatte. »Wie der Mond.«
Ich lächelte zaghaft. »Genau.«
Er gab mir meinen Perso zurück, und ich steckte ihn ein. »Ich bin William. Wie Williams Christ.«
Belustigt schnaubte ich und quetschte meinen Geldbeutel zurück in meine Tasche. »Es gibt so viele Williams, mit denen du dich hättest vergleichen können, und du nimmst den Alkohol?«
William grinste. »Erstens«, entgegnete er mit erhobenem Zeigefinger, »ist Williams Christ eine Birne. Was sagt das über dich aus, dass du zuerst an den Schnaps denkst?«
Ich blinzelte verdutzt. »D-dass ich keine Ahnung von Birnen habe?« Und genauso wenig von Schnaps.
»Und zweitens – was soll's?« Locker zuckte er die Achseln. »Alkohol ist schließlich mein Job.«
Ich musste lächeln. »Und wie ich sehe, brennst du dafür.«
»Ist das nicht das Wichtigste im Leben?«, gab er zurück und schob mir die Tassen zu. »Für das zu brennen, was man macht?«
Unschlüssig betrachtete ich die zwei Tassen Glühwein vor mir, doch der vertraut-würzige Geruch, der in meine Nase stieg, tat sein Übriges, damit ich mich entspannte. Ich hatte erfolgreich bestellt! War das nicht der ultimative Erfolg, um dieses Semester abzuschließen?
Doch Williams Worte gaben mir zu denken. »Ich schätze schon«, beantwortete ich seine Frage und drohte zugleich den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Ich bekam den Gedanken, den er in mir heraufbeschworen hatte, nicht rechtzeitig zu fassen, als er bereits fragte: »Was führt dich hierher? Studierst du?«
Meine Tasse in der Hand, nickte ich. »Ja, Jura an der Uni Birmingham.« Ich zuckte die Achseln. »Ist aber nur ein Auslandssemester. Und du? Studierst du auch?«
»Was?« Er grunzte. »Nein, niemals! Da könnten mich keine wilden Pferde hinziehen.«