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"Selbst die tugendhafteste Frau stolpert einmal. Oder sind es gerade die mustergültigen Damen, die eines Tages aus ihrem Korsett ausbrechen?“ In einer stürmischen Nacht sucht Lady Constance Zuflucht in einer schäbigen Taverne. Als sie am nächsten Tag auf einer einsamen Küstenstraße erwacht, erinnert sie sich nur an einen Mann mit strahlend blauen Augen, den sie als Traum abtut. Während sie noch versucht, in der Einsamkeit der englischen Südküste einen Gedichtband zu schreiben und zur Ruhe zu finden, ist Constance längst inmitten einer Schmugglergeschichte gelandet. Der blauäugige Schurke steht eines Nachts vor ihr und bedroht nicht nur ihre Existenz sondern auch ihr Herz. Plötzlich ähnelt das sonst so geregelte Leben der Aristokratin einem Schauerroman. Ist der geheimnisvolle Raphael de la Villette ihr Held oder doch der Schurke? Constance kann sich seiner Anziehungskraft nicht entziehen und lässt sich auf ein gefährliches Spiel ein. Fest entschlossen, nicht zum Spielball mysteriöser Verbrecher, ruchloser Soldaten und intriganter Frauen zu werden, stellt sie den Schmugglern selbst eine Falle. Abenteuerlich, sinnlich und leidenschaftlich. In Band 2 der Reihe über die Lamberth Familie kehren wir mit Lady Constance Dewitt zurück nach Ayreton, wo sich ein Jahr zuvor ihr Bruder Jack und seine Elinor gefunden haben. Kann in dieser idyllischen Gegend auch Constance ihr Happy End finden?
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Constance und der Schmuggler
Lamberth-Familie 2
von
Felicity D'Or
Impressum
Copyright © 2022 Felicity D‘Or
Alle Rechte vorbehalten.
Coverdesign: Giusy Ame / Magicalcover.de
Bildquelle: shutterstock
Lektorat: Margaux Navara Korrektorat: Sabine Klug
Illustrationen: depositphotos
Bestellung und Vertrieb:
Nova MD GmbH, Vachendorf
Druck:SOWA Sp. z o.o. 05-500 Piaseczno ul. Raszyńska 13:
Herausgeberin:
Veronika Prankl
Auenstraße 201
85354 Freising
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Constance und der Schmuggler
Lamberth-Familie 2
Von
Felicity D'Or
Inhaltsverzeichnis
Stürmische Begegnung9
In der Schmugglerhöhle13
Böses Erwachen17
Unter Gaunern22
Der Geisterpirat25
Inkognito29
Nächtliche Beobachtung34
Spionage38
Verdächtigungen42
Gefesselt46
Wahrheit oder Dichtung?50
Der Rest der Vernunft55
Nachwehen60
Eine neue Bekanntschaft64
Morgenbesuch68
Tee mit einem Liebhaber72
Alte Freunde und Bücher76
Eine Pistole und ein Kuss80
Die Gefangene des Geisterkapitäns84
Kamingespräch88
Nächtliche Gedanken92
Gelbe Bänder und ein Dinner96
L’Amour Toujours101
Hausdurchsuchung106
Schreckensnachricht109
Familiengeheimnisse113
Ein letzter Abschied117
Verlockende Falle120
Nach dem Regen123
Ein Antrag und ein Begräbnis126
Im Angesicht der Trauer131
Ein nächtlicher Unfall136
Damenbesuch auf Westerling139
Eine verführerische Einladung144
Jetzt oder nie147
Männergespräche und ihre Folgen150
Angriff aus dem Hinterhalt153
Ein heißes Bad157
Der Schurke und seine Opfer161
Epilog164
Prolog
London im Juni 1808
„Du solltest dich umsehen, Raphael“, ermunterte ihn Sir Geoffrey. „Es ist an der Zeit, dass du dir eine Braut suchst.“
Raphael de la Villette ließ seinen kalten Blick über den Ballsaal schweifen. Die Leute feierten, als gäbe es keine Menschen, die ihre Kinder verkaufen mussten, weil sie sie nicht durchfüttern konnten, als existiere keine Bedrohung durch Napoleon, als hätten sie ein Recht darauf, sich zu amüsieren. Die englische Wesensart, hatte er gelernt, war nach außen hin oft zugeknöpft, um dann, wenn sich die Türen schlossen, umso hemmungsloser zu sein. Dieser Ball unterschied sich kaum vom Hedonismus, den er als Jüngling im französischen Adel gesehen hatte.
In England sah er sich Tag für Tag mit den Diskrepanzen zwischen der herrschenden Klasse und den Armen und Arbeitenden konfrontiert. Würde auch hier nur ein Funken reichen, damit das Pulverfass explodierte? Die üppigen Feste, prächtigen Kleider und das verschwenderische Essen erinnerten ihn an die Zeit davor. Bevor er sein Heimatland und seine Familie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen musste. Er hatte Glück gehabt bei seiner Ankunft in England als Junge von fünfzehn Jahren, mit einer Empfehlung von Sir Geoffrey mit offenen Armen aufgenommen worden zu sein. Sir Geoffrey Landon und seine Frau Monique hatten das Kind ihrer Freundin Aurélie de la Villette mit Tränen willkommen geheißen und ihn wie ihren eigenen Sohn behandelt.
„Ich weiß nicht“, erwiderte er daher, obwohl er sicher war, dass er keine Ehefrau suchte. Sein Ziehvater wollte unbedingt den Wunsch seiner Gattin erfüllen, weshalb Sir Geoffrey sich überhaupt die Mühe machte, Raphael auf derartige Veranstaltungen zu schleppen. Es war Moniques größter Traum, dass Raphael einen Platz in der Gesellschaft einnahm, weil sie selbst vom französischen Adel abstammte.
Meist hatten Raphael und sein Ziehvater keine Zeit für Frivolitäten. Sir Geoffrey hatte sich seinen Titel durch harte Arbeit erworben. Raphael hatte nach seiner Ausbildung die Gelegenheit, sich für die Freundlichkeit der Landons zu revanchieren, freudig ergriffen, indem er in die Fußstapfen des Ziehvaters getreten war. Es gab viel zu tun und er trug sein Scherflein bei.
Ein sinnloses Leben als Aristokrat wollte er niemals führen. Überdies besaß er kein Land, das er bestellen oder verwalten konnte. Der Besitz seiner Familie wurde mittlerweile von einem Getreuen Bonapartes gehalten. Weinberge und Güter der de la Villettes waren auf ewig verloren.
Was ihm noch blieb, waren die Arbeit und die Liebe zu den Landons. Vermutlich sollte er sich also zumindest ein wenig Mühe geben und die Damen anschauen, die hier tanzten.
„Die Blonde dort im rosa Kleid, sie ist hübsch!“
Raphael folgte dem Blick Sir Geoffreys. „Sie ist doch noch ein Kind.“ Was sollte er mit einem Schulmädchen anfangen? „Ich drehe eine Runde durch den Ballsaal und treffe dich dann beim Kartenspiel, in Ordnung?“
Sir Geoffrey Landon war ein Mann, der für seine undurchschaubare Miene in der Truppe berüchtigt war, aber Raphael erkannte die Anzeichen von Erleichterung im Antlitz des alten Herrn. Sie wären für jemanden, der nicht sein halbes Leben mit ihm verbracht hatte, niemals zu sehen. Im Wissen darum, Sir Geoffrey eine Freude zu gewähren, machte sich Raphael auf und hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau. Da er nie die Gesellschaft der geflohenen Exil-Franzosen gesucht hatte und Sir Geoffreys Titel noch jung war, fand sich kaum jemand, mit dem er mehr als einen Gruß austauschen konnte und wollte. Ein paar Bekannte aus Oxford umfassten seine Berührungspunkte mit dem Ton, wie man die höhere Gesellschaft Londons nannte.
Viele der Männer befanden sich in der Vorbereitung eines Krieges. Zumindest jene, die nicht als Erben von Titeln und Ländereien im Land zurückblieben. Seit Napoleon Bonaparte seinen Bruder vor ein paar Wochen zum König des besetzten Spaniens ausrufen ließ, herrschte in Whitehall eine Mischung aus Panik und Erregung. Zwar hatten die Briten den Konflikt mit den Franzosen nie für beendet erklärt, aber man hatte doch eine Zeit des vorsichtigen Waffenstillstandes genossen. Bald sähe alles anderes aus.
Ob die Damen sich bewusst waren, dass viele Galane demnächst in den Krieg nach Portugal ziehen würden? Dass viele nicht wiederkehren würden?
„De la Villette!“ Eine Stimme unterbrach seine morbiden Gedankengänge.
„Salford, lange nicht gesehen.“
Der Earl of Salford war in jungen Jahren in den Besitz seiner Grafschaft gekommen. Raphael hatte ihn seit Oxford nur wenige Male getroffen.
„Kommen Sie, de la Villette, dort drüben gibt es einen ordentlichen Drink, und erzählen Sie mir, was Sie hier machen! Ich habe Sie noch nie auf einem Ball gesehen.“ Der Earl war ein gut aussehender Mann, dem allerdings die Sorgenfalten deutlich ins Gesicht gezeichnet waren. Es hieß, sein finanzieller Status sei mehr als prekär. Was konnte es schaden, diese Bekanntschaft zu erneuern?
„Verflixte Sache, was euer Napoleon da in Spanien anrichtet, was?“
„Ich kämpfe genauso für England wie Sie, Salford.“ Raphael war daran gewöhnt, aufgrund seiner Herkunft schräg angesehen zu werden. Er konnte es den Briten noch nicht einmal verdenken. Zu viele französische Spione waren im Land, zu viele Männer getötet durch den Größenwahn Bonapartes, der in seiner Geltungssucht nicht besser war als der alte König.
„Nix für ungut. Ich weiß, dass Sie auf unserer Seite stehen. Dieser wahnsinnige Bonaparte. Man könnte meinen, dass er aus Trafalgar gelernt habe, aber nun versucht er wieder unsere Handelsrouten zu blockieren, indem er Portugal, einen unserer wichtigsten Partner, auch noch haben möchte.“
„Immerhin machen es ihm die Spanier nicht leicht. Die Aufstände im Land gegen die Besetzung werden die Franzosen noch eine Weile beschäftigen. Lange genug, um unsere Armee dorthin zu bringen und den Portugiesen zu helfen. Werden Sie ein Offizierspatent erwerben, Salford?“
„Ich bin der Erbe und habe noch keinen Nachfolger.“ Der junge Earl schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, ich muss hierbleiben. Aber mein jüngerer Bruder wird vermutlich in den Krieg ziehen. Was ist mit Ihnen?“
„Ich arbeite für Whitehall und werde sehen, wo man mich einsetzt.“ Raphael blieb absichtlich vage und erzeugte das Bild, ein Diplomat zu sein.
Sie tranken einen vorzüglichen Cognac. Raphael schluckte und zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
Salford teilte sein Erstaunen. „Oh, das ist ein wahrlich feiner Tropfen.“
„Natürlich geschmuggelt. Niemand fragt heutzutage danach, wo die Sachen herkommen.“ Raphael wusste das genau und tat sich dennoch schwer, den Ärger aus seiner Stimme zu halten. „Dadurch schaden die Menschen dem Königreich. Es gibt einen Grund, weshalb französische Waren blockiert werden.“ Mittels eines Handelskrieges durch Seeblockade versuchten beide Länder dem jeweils anderen wirtschaftlich Treffer zuzufügen. Nach England durften kein Champagner, keine Seide oder andere französische Güter eingeführt werden. Sehr zum Ärger der an ausländische Luxusgüter gewöhnten britischen Aristokratie.
„Sagen Sie das einer Mutter, die Seide braucht für ihre debütierende Tochter, oder einer Gastgeberin, die sich nicht als geizig titulieren lassen möchte.“ Salford zuckte nur mit den Achseln.
Raphael hatte miterlebt, was geschah, wenn die Menschen ihren Luxus über das Wohl des Landes stellten, der Cognac schmeckte bitter in seinem Hals. „Was werden diese Leute machen, wenn sie einen Angehörigen an diesen Krieg verloren haben? Was sind Branntwein und teure Stoffe gegen ein Leben?“
Salford stellte sein leeres Glas beiseite. „Natürlich haben Sie recht, aber bedenken Sie auch, dass für viele die Erinnerung an sorglosere Zeiten irgendwann lebenswichtig sein wird.“
Raphael sagte nichts dazu. Wie sollte er erklären, dass er die Dekadenz seiner Kindheit hassen gelernt hatte, weil ihm diese egoistische Sorglosigkeit die Familie genommen hatte? Wer könnte das hier verstehen? Salford war ein guter Kerl, aber Raphael wollte ihn nicht mit den Schrecken der Revolution belasten. Stattdessen erkundigte er sich, was den Earl auf diesen Ball brachte.
„Was glauben Sie wohl? Ich muss mir eine Countess suchen.“
„Ah. Irgendjemanden im Auge?“
Salford schüttelte den Kopf. „Ich hatte es mir leichter vorgestellt. Zwar gibt es genügend junge Damen, deren Mütter einen Earl mit Handkuss nehmen würden, aber es widerstrebt mir, ein Mädchen zu heiraten, das ich kaum kenne. Nur, wie soll man sich im Beisein eines Wachhundes in Form von Müttern oder Gouvernanten kennenlernen? Gestern habe ich mich mit Miss Hortense Thornhill eine geschlagene halbe Stunde über das Wetter unterhalten, weil ihre Mutter kein anderes Thema erlaubte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, etwas über die Dame selbst zu erfahren, wich sie aus und fragte mich, ob ich auch denke, es würde bald regnen.“
Eine resolut aussehende Matrone kam mit einer jungen Lady im Schlepptau auf sie zu. „Lord Salford! Hortense und ich freuen uns, Sie zu sehen.“
Salford stellte Raphael vor, doch die Mutter, Lady Thornhill, verlor bei der Nennung eines französischen Namens schnell das Interesse. Die geflohenen Aristokraten waren überwiegend arm, dankbar, ihr Leben gerettet zu haben, und abhängig von wohlmeinenden Verwandten. Ein Franzose war ein sehr viel unpassenderer Gatte für die Tochter eines Viscounts als ein armer Earl. Letzterer besaß immerhin Titel und Ländereien.
Ihm war es recht und sobald Salford Miss Thornhill auf die Tanzfläche geleitete, machte sich Raphael auf den Weg in Richtung Terrasse. Er war drauf und dran, sich in den Garten des Anwesens zurückzuziehen, als sein Weg von einer Gruppe Damen blockiert wurde.
„Wirklich, Constance, dein Bruder und seine Gattin könnten sich mal wieder in der Stadt blicken lassen!“, erklärte eine Lady mit stechendem Blick.
„Elinor erwartet ein Kind, Mary. Das weißt du doch“, entgegnete die andere, von der er nur erkannte, dass sie sehr groß war, weil ihr dichter schwarzer Haarschopf ihm den Blick zur Terrassentür versperrte. So hochgewachsene Damen waren selten.
„Nun, dann könnte dein Bruder doch alleine kommen? Ich bin nicht so dumm, das Gerede von der großen Liebe zu glauben, Constance. Niemand heiratet eine Bürgerliche aus Liebe!“
„Mary, schlag dir den Duke aus dem Kopf und lass deine Bosheiten. Und nun entschuldige mich bitte. Dort ist meine Schwester.“
Raphael schüttelte innerlich den Kopf. Was für sinnloses Gerede. Er wollte an der dunkelhaarigen Lady mit dem verliebten Bruder vorbei, als sie sich kurz umdrehte, um eine Dame zu begrüßen, die hinzugetreten war.
Sie war ... interessant. Nein, das traf es nicht. Etwas an ihr ließ ihn fasziniert innehalten und sie weiter beobachten. Raphael sah ein blasses Gesicht, das von einem spitz zulaufenden Haaransatz gekrönt wurde. Schwarz wie Ebenholz, weiß wie Schnee und Lippen so rot wie Blut. Es musste die Ähnlichkeit mit dem Märchen sein, was ihn bleiben ließ. Graue Augen und ein wohlgeformter Mund lächelten die ankommende Dame an. Das sollte die Schwester sein? Die dunkelhaarige Lady – „Constance“ hatte die andere sie genannt – war sicher nicht älter als fünfundzwanzig, während die neu hinzugetretene Frau gut und gerne ihre Mutter sein konnte.
„Elizabeth! Seit wann seid ihr in London?“ Ihr Lächeln ließ sie menschlich erscheinen. Es lag so viel Herzlichkeit darin wie gegenüber der vorigen Dame Kälte. Sie war schön, aber nicht im traditionellen Sinn oder nach dem geltenden Ideal. Raphael konnte sich nicht davon losreißen, das Gespräch zu beobachten und zu belauschen. Er stand im Schatten einer Topfpflanze und niemand beachtete ihn. Etwas, das er perfektioniert hatte.
„Wir haben Tess für den Sommer von der Schule abgeholt und ich hatte ihr versprochen in London einzukaufen und die Sehenswürdigkeiten zu besuchen.“
„Sie wird dich hassen, weil du sie nicht auf den Ball mitgenommen hast“, erklärte Constance. Sie trug ein rotes Kleid, das auf den ersten Blick schlicht wirkte, aber bei näherer Betrachtung einen raffinierten Schnitt vorwies, der sich elegant um ihre statuenhafte Figur legte. Lange Gliedmaßen und deutliche Rundungen dort, wo sie eine Frau haben sollte. Raphael überlegte, ob er sie zum Tanz auffordern sollte. Zum ersten Mal überhaupt verspürte er auf einem Ball Interesse an einer Lady. Aber da sie einander nicht vorgestellt wurden und der Einzige, der das übernehmen könnte, nämlich Salford, gerade selbst tanzte, würde er das sein lassen. Tante Monique hatte an diesem Abend mit Migräne abgesagt.
„Tess wird erst im nächsten Frühjahr bei Hofe vorgestellt. Das hat sie mittlerweile akzeptiert. Wenn ihre liebe Tante Constance allerdings ein wenig Zeit für sie erübrigen könnte, ...“ Die Ältere lächelte. Sie war fast ebenso hochgewachsen wie ihre jüngere Schwester. Was war das für eine Familie? Raphael war selbst kein kleiner Mann. Wie sein Vater auch war er groß und schlank und überragte die meisten Franzosen. Selbst in England gehörte er zu den größeren Gentlemen. Die Frauen reichten ihm normalerweise gerade mal zum Kinn.
„Das mache ich natürlich sehr gerne. Ich bin noch ein paar Tage in London, bevor ich nach Ayreton reise, wo ich Elinor versprochen habe nach dem Rechten zu sehen.“ Sie würde London also verlassen. Vielleicht war es besser so. Er hatte ja überhaupt keine Zeit, eine Lady zu hofieren.
„Ich beneide dich, dass du ein paar Tage ans Meer fahren kannst. Ayreton ist wirklich zauberhaft.“ Die Damen verhakten ihre Arme und gingen weiter, ohne Raphael beachtet zu haben. Er sah ihnen kurz nach, bevor er die Terrasse betrat, wo der Lärm der Gespräche und der Tanzmusik lediglich zu einem Hintergrundrauschen wurde. Wer diese Ladys wohl waren?
Elizabeth und Constance. Und ein Bruder, der ein Duke war. Das war nicht seine Liga.
Die beiden Schwestern hatten sich so natürlich in dieser Gesellschaft bewegt, als wären sie in den Ton hineingeboren. Und doch vermeinte Raphael etwas in ihnen gesehen zu haben, das sie hervorstechen ließ. Der Erfolg seiner Missionen hing oft davon ab, dass er Unstimmigkeiten rechtzeitig bemerkte. Mitunter verdankte er sein Leben seiner außerordentlichen Beobachtungsgabe.
Was hatte dieses Interesse an den Damen in ihm geweckt? Keine von beiden würde als Ballschönheit durchgehen. Auch war die jüngere – Constance – nicht von Verehrern umzingelt gewesen, man hatte sie nur nach Klatsch gefragt, dem sie kein Futter bot. War es ihre Körpergröße, die sie abhob von den anderen? Der Instinkt des Jägers regte sich. Oder war es ihre Anziehung als Frau?
Das war beunruhigend.
Dieses Gefühl kannte Raphael nur, wenn er einen Auftrag ausführte. Auf einem Ball der Aristokratie hatte es nichts zu suchen.
Als eine Gruppe junger Damen in pastellfarbenen Ballkleidern die Terrasse betrat und ihn neugierig musterte, beschloss er, seinem Ziehvater am Kartentisch Gesellschaft zu leisten.
September 1808, Küstenstraße in Sussex
„Au!“ Constance unterdrückte einen undamenhaften Fluch und griff sich an den Kopf. Das würde eine Beule geben. Mit der anderen Hand hielt sie sich an der Halteschlaufe der Kutsche fest und riskierte einen Blick nach draußen. Es war so dunkel, dass man meinen könnte, die Nacht sei hereingebrochen. Dabei waren es noch mindestens zwei Stunden, bis der Mond aufging.
Verflixtes Unwetter.
Warum war sie nicht in Brighton geblieben? Sie hätte dort übernachten und abwarten sollen, bis ihre eigene Kutsche repariert wurde. Aber nein, sie wollte unbedingt heute noch ankommen. Außerdem hatte sie in der Poststation einen Wagen mit dem Wappen des Marquess of Dale gesehen. Ihm wollte sie heute nicht begegnen. Er war ein netter Mensch, aber ein derartiger Dummkopf, dass ihm nichts die Laune verhageln konnte.
Was auf Constance nicht zutraf. Sie war in letzter Zeit ständig übel gelaunt. Nicht einmal die Geburt ihrer Nichte hatte die seltsame Melancholie vertreiben können, die sie immer wieder überfiel und ihren Gleichmut beeinträchtigte.
Auf Ayreton wollte sie sich ihren Projekten widmen und endlich schreiben. Wenn sie dort nicht die Muse wiederfand, dann wusste sie nicht mehr weiter.
Die Kutsche, die bisher noch durch den Sturm getaumelt war, hielt an. Hatten sie ihr Ziel erreicht?
Als der Kutscher, den Constance in Brighton engagiert hatte, den Schlag öffnete, sah sie, dass dem nicht so war. Kein Herrenhaus war in Sicht, nur ein geducktes altes Gebäude wurde von einem Blitz erleuchtet. Sie erkannte in dem kurzen, erhellten Moment das Schild einer Taverne. Es war so verwittert, dass man außer Fischschuppen nicht sehen konnte, was darauf dargestellt war.
Es war unheimlich.
Der Kutscher schrie durch den tobenden Sturm: „Miss, wir müssen hier Schutz suchen! Eines meiner Kutschpferde lahmt.“ Sie hatte ihm nicht erklärt, wer sie war, nur darum gebeten, heute noch ihr Ziel zu erreichen. Sie korrigierte ihn auch jetzt nicht, dass sie eigentlich als Lady anzusprechen war.
Ein lahmes Pferd hatte ihr gerade noch gefehlt!
Das Gasthaus sah alles andere als vertrauenerweckend aus. Zweifelnd sah Constance hinaus. Der Kutscher war durchnässt, und der Sturm schien nicht nachlassen zu wollen, blies Feuchtigkeit ins Innere der Mietkarosse. Mit einem Seufzen schlug sie die Kapuze des Reisemantels über ihren Kopf. Sie hatte sich das selbst zuzuschreiben. Sich und ihrer Ungeduld, von den Menschen ihrer Umgebung fortzukommen.
Kutscher und Rosse verdienten eine Pause.
Die hölzerne Tür knarzte, als sie den Schankraum betrat, hinter sich Regen und Böen. In weiser Voraussicht hatte Constance den Reisemantel so umgelegt, dass ihr teures Kleid nicht zu sehen war. Dieses Haus war kein respektables Gasthaus, wie sie es normalerweise frequentierte. Im Raum standen grob gezimmerte Tische und hinter dem Tresen starrte der Wirt sie aus kleinen Äuglein an. Ein ungepflegter Bart verdeckte seine Gesichtszüge. Doch es war warm und trocken.
„Herr Wirt, meine Kutsche wurde vom Sturm überrascht. Dürfen mein Kutscher und ich uns hier wohl aufwärmen, bis die Straßen wieder passierbar sind?“ Sie hielt dem Mann ein Zehnshillingstück hin, um zu beweisen, dass sie ihn dafür entlohnen würde.
Der Wirt zögerte und sah in eine Ecke hinter ihr. Constance kämpfte das Bedürfnis, sich umzudrehen, nieder. Keine Schwäche zeigen.
Schließlich nickte der Mann und nahm das Geld. „Ich kann nur Ale oder Gin anbieten, Ma’am.“
Da öffnete sich eine Tür ins Hausinnere und eine hagere Frau trat schimpfend herbei. „Was denkst du bloß, du Dummkopf. Man bietet einer Dame kein Ale an.“ An Constance gewandt fuhr sie fort. „Ich mache Ihnen einen heißen Tee, Ma’am. Setzen Sie sich doch dort ans Feuer!“
Erleichtert bedankte sich Constance. Die Frau war zwar ebenso ungepflegt wie ihr Gatte, aber Tee wäre jetzt wirklich eine Wohltat. Sie hatte zuletzt in Brighton eine Fleischpastete gekauft und diese im Wagen verzehrt. Hunger hatte sie keinen, doch selbst der kurze Weg von der Kutsche ins Gasthaus hatte sie frieren lassen. Der erste Herbststurm hätte wirklich noch einen Tag warten können, bis sie gemütlich und komfortabel im Sommerhaus ihrer Schwägerin angekommen war.
Mit einem stillen Seufzer ließ sie sich am Tisch vor dem Kamin nieder. Außer ihr und dem Kutscher – wie war nochmal sein Name? – waren nur zwei weitere Gäste anwesend. Da das Wegstück von Brighton nicht mehr sehr lang war und sie nicht gerechnet hatte, seine Dienste jemals wieder zu benötigen, hatte sie nicht aufgepasst, als er sich vorgestellt hatte. Billy, meinte sie. Er sah zweifelnd zu ihr. Als wolle er etwas sagen. „Haben Sie etwas zu essen für meinen Kutscher?“
Die Wirtin, die mit einer Teekanne herbeikam, erklärte, es sei noch Stew da.
„Bitte“, deutete Constance dem Kutscher. „Stärken Sie sich.“
„Ich muss mich um die Pferde kümmern.“
Natürlich. „Dann nachher.“
Er verschwand nach draußen in das Inferno. Wieder überfiel Constance das schlechte Gewissen, dass sie den Mann in die Sache hineingezogen hatte. Er musste Blitz, Donner und Regen trotzen, weil sie nicht warten konnte.
„Hier. Ihr Tee!“
Das Gebräu dampfte. Es musste erst noch abkühlen, bevor sie davon trinken konnte. Constance sah sich unauffällig um. Es war dunkel in der Stube. Nur auf dem Tresen waren zwei Kerzen entzündet, und das mickrige Feuer des Kamins spendete Helligkeit. Draußen krachte der Donner direkt auf den Blitz und erleuchtete kurz die armselige Stube. Wie in einem Schauerroman.
Die beiden anderen Gäste saßen im Schatten. Sie konnte ihre Gesichter nicht erkennen, nur dass sie die Köpfe zusammengesteckt hatten und etwas besprachen. Das Prasseln des Regens und der Lärm des Donners sorgten dafür, dass man kaum ein Wort verstand. Sie wirkten sinister. War es nur ihre Fantasie, die ihr Streiche spielte, oder war die Situation gefährlicher, als sie dachte?
Constance beschloss, auf keinen Fall ihren echten Namen zu nennen, falls man sie danach fragte. Es musste niemand erfahren, dass sie die Schwester eines Dukes war, der zu den reichsten Männern des Landes gehörte.
Hoffentlich war der Kutscher bald fertig. Irgendwie hatte sie sich in seiner Gegenwart etwas weniger unsicher gefühlt. Constance pustete auf den heißen Tee. Zur Hölle mit der Etikette! Sie musste ihre Hände beschäftigen.
Einer der Männer in der Ecke erhob sich. Sie sah nur, dass er mittelgroß war, aber einen Nacken wie ein Stier hatte. Er beugte sich zum Wirt und flüsterte ihm etwas zu. Wo war die Wirtin? Eine weitere weibliche Person würde viel zu Constances Wohlergehen beitragen.
Stiernacken verließ die Gaststube durch die Hintertür. Vielleicht hatte der Mann hier ein Zimmer genommen? Sie versuchte, sich zu entsinnen, was auf dem Schild der Taverne geschrieben war, wie dieser Ort sich nannte. Der Moment, in dem der Blitz das alte Gebäude erhellt hatte, war so kurz gewesen. Das Bild hatte einen Fisch gezeigt, meinte sie.
The Herring?
Als sich ein Schatten über sie legte, sah sie auf. Billy, dachte sie, aber es stand ein Fremder vor ihrem Tisch. Er hatte sich mit dem Rücken zum Feuer gedreht, sodass sie seine Züge nicht ausmachen konnte. Groß und schlank war er, mit schmutzigen Stiefeln und einer Weste, die mal safranfarben gewesen sein mochte, nun aber undefinierbar braun aussah. Auch er war unrasiert und ein Dreispitz tauchte sein Antlitz noch tiefer ins Dunkel. Constance war froh, dass ihr Gesicht ebenfalls zum Teil von der Kapuze verdeckt war.
„Was macht eine Lady wie Sie an einem Ort wie diesem?“, erklärte er mit einem Lallen in der Stimme. Seltsam, er roch gar nicht nach Alkohol.
„Wie ich dem Wirt sagte, ich brauche Unterschlupf vor dem Gewitter.“ Sie beschloss, so einsilbig wie möglich zu sein. Wo blieb Billy nur? Der Tee hatte langsam Trinktemperatur. Sie rührte den Zucker um und schwieg in der Hoffnung, dass der Mann sich trollen würde.
„Und Sie haben keine Zofe dabei, Miss ...?“
„N....“ Was sollte das? „Ich habe keine Zofe!“
„Haben Sie einen Namen, Miss?“ Schwankte der Kerl?
„Mary Fox. Aber ich habe keine Lust, mich zu unterhalten, Sir!“ Das sollte deutlich gewesen sein. Sie nahm einen Schluck vom Tee und registrierte erstaunt, dass sich der Mann ihr gegenüber niederließ.
„Bah!“ Constance verzog das Gesicht.
„Schmeckt Ihnen Sallys Tee nicht, Miss Fox?“ Etwas war seltsam an dem Mann. Und damit meinte sie nicht seine Dreistigkeit, sich ungebeten an ihrem Tisch niederzulassen. Sie sah auf und blickte in zwei hellblaue Augen in einem scharf geschnittenen, beinahe schönen Antlitz. Für den Bruchteil eines Moments glaubte sie, Erstaunen darin zu sehen. Doch das nächste Blinzeln zeigte ihr nur undurchsichtige Kälte. Dann drehte er sein Gesicht wieder in den Schatten.
„Es ist gefährlich für eine Frau, so ganz alleine zu reisen.“
„Ich bin nicht alleine. Mein Kutscher ist hier.“ Da Billy immer noch nicht zurück war, kam ihr das selbst ein wenig fadenscheinig vor. Sie tastete mit der linken Hand in die Rockfalte, in der sie eine kleine Pistole aufbewahrte. Dummerweise war die Waffe nicht geladen. Trotzdem fühlte sich der Griff tröstlich an. Sie war nicht wehrlos. Jack hatte ihr beigebracht, sich zu verteidigen, falls Verehrer oder Mitgiftjäger übergriffig wurden. „Im Übrigen werde ich erwartet. Vermutlich wird, sobald das Gewitter vorüber ist, jemand nach mir Ausschau halten.“ Das sollte ihm klar machen, dass man sich besser nicht mit ihr anlegte.
„Schmeckt der Tee nicht?“
Die Wirtin war neben Constance aufgetaucht. Ihre gute Erziehung übernahm sofort. „Doch, doch, natürlich, Mrs ...“
„Sally.“
„Natürlich, Sally.“ Constance zwang sich, das Gebräu zu schlucken. Das war der bitterste Tee, den sie je getrunken hatte. Aber vermutlich hatten diese Leute nichts anderes.
Sally räumte den Tee ab und der Mann an ihrem Tisch sagte etwas, das Constance nicht verstand. Warum hörte sie nichts mehr? Irgendetwas stimmte mit ihr nicht.
„... reicht jetzt.“
Die Wirtin deutete auf Constance, der seltsam schwindelig wurde. Sie versuchte, die Pistole zu ziehen, aber hatte kein Gefühl mehr in den Fingern.
Etwas musste in ihrem Tee gewesen sein!
Das Letzte, was sie bemerkte, war das Gefühl kräftiger Arme, die sie hochhoben und wegtrugen.
„Sollen wir sie nicht ins Meer werfen, Hunter?“
„Seid ihr verrückt? Diese Frau wird vermisst werden. Wollt ihr etwa, dass Hawthorne und seine Männer hier jeden Stein umdrehen und noch wachsamer werden?“ Er legte seine Last auf die schmale Bettstatt im Hinterzimmer und versuchte, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen. „Sie hat nichts gesehen und wird sich an nichts erinnern. Was ist mit dem Kutscher?“
„Liegt bewusstlos im Heu.“
„Bevor sie aufwacht, bringe ich sie und ihre Kutsche ein Stück den Weg hinab. Ich kippe das Gefährt, und sie werden denken, einen Unfall gehabt zu haben.“ Schnellstmöglich musste sie von hier verschwinden. Und zwar ohne dass ein Suchtrupp nach ihr ausgesandt wurde.
„Was, wenn sie wach wird, während die Lieferung kommt?“
„Wie viel von dem Zeug hast du in den Tee gegeben, Sally?“
Die Wirtin zuckte mit den Achseln. „Ein paar Tropfen.“
Rafe Hunter blickte auf die bewusstlose Dame vor sich. Man stelle sich vor, wie geschockt er gewesen war, als er sie als Aristokratin erkannte. Das war die Frau vom Ball, die mit einem Duke verwandt war und deren Gesicht ihm in den Monaten seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Die Männer durften nicht erfahren, mit wem sie es zu tun hatten. Was, wenn sie sie für Lösegeld hierbehalten oder sie gänzlich aus dem Weg räumen wollten? Beide Möglichkeiten würden ihr schaden und ihnen das Militär auf die Fersen hetzen. Das durfte er nicht riskieren.
Rafe war erst seit Kurzem bei der Bande und konnte sie nicht einschätzen. Insbesondere, weil er den Kopf der Schmuggler noch nie getroffen hatte. Ohne ihren Anführer war die Gruppe von Halsabschneidern wertlos.
Fürs Erste musste es reichen, dass Sally die Frau betäubt hatte.
„Wenn der Boss erfährt, dass Fremde hier waren ...“
„Er muss gar nichts erfahren. Morgen früh sind sie und der Kutscher fort und werden sich an nichts erinnern. Wenn Hawthorne ihretwegen Verstärkung anfordert, wird der Boss auch nicht glücklich sein.“ Captain Hawthorne hatte sich auf die Fahnen geschrieben, die Schmuggler an dieser Küste zu stellen. Bisher hatte er allerdings weder Beweise noch Zeugen finden können.
Die Drohung mit den Soldaten bewirkte, dass die anderen drei sich grummelnd in den Schankraum begaben. Erleichtert stieß Rafe die Luft aus. Rafe Hunter kannte keine Ladys. Seine Mission wäre verloren, wenn er das hier nicht delikat steuerte. Es war schwierig genug gewesen, sich das Vertrauen der Bande zu erarbeiten. Er musste unbedingt verhindern, dass sein Plan gestört wurde.
Diese Nacht sollte eine Lieferung eintreffen und er würde endlich den Boss kennenlernen. Er hatte keine Zeit, auf noble Damen aufzupassen, die so dumm waren, bei Gewitter ohne Dienerschaft durchs Land zu reisen. Das brachte ihn zur Frage, was sie bei diesem Wetter auf einer Küstenstraße machte. Es handelte sich um die Lady, die er vor ein paar Wochen auf dem Ball gesehen hatte, da war er sich ganz sicher.
Laut Sam, dem Wirt, kam sie mit einer Mietkutsche aus Brighton. Eine Aristokratin, die ohne Zofe und eigene Diener durch die Gegend fuhr?
Sein Blick fiel auf die reglose Frau vor ihm.
Er hatte sie sofort erkannt. Ein Gesicht wie das ihrige vergaß man nicht so leicht. Selbst jetzt, wo ihre so aussagekräftigen grauen Augen geschlossen waren, strahlte sie aus, etwas Besonderes zu sein. Er zog ihre Kapuze tiefer über sie. Besser, die Schmuggler sahen sie nicht zu genau und hielten sie für irgendeine Frau.
Es wäre besser, sie bliebe ein Schatten, der am Morgen so schnell verschwand, wie er gekommen war.
Seltsam.
„Wer bist du, ma belle? Und was suchst du gerade hier?“, murmelte er.
Einem Rätsel hatte er noch nie widerstehen können. Bisher hatte er alle bis auf eines gelöst. Dieses eine Geheimnis, von dem sein Vater ihm nicht mehr erzählen konnte, weil er den Sohn mit einem Brief und einem Bündel Sachen auf ein Fuhrwerk an die Küste setzte, damit er nach England floh. Kurz darauf war seine gesamte Familie in die Kerker der Revolutionäre geworfen worden. Er hatte keinen von ihnen wiedergesehen.
Er schüttelte sich und verscheuchte die Erinnerungen. Das Familiengeheimnis war ebenso begraben wie die Körper seiner Eltern, Onkel und Tanten und Cousins. Sein Leben war in England. Die französische Aristokratie hatte sich ihren Niedergang selbst zuzuschreiben.
Er prüfte den Puls seiner Gefangenen.
Ganz vorsichtig berührte er den weißen Hals, den lediglich ein goldenes Kettchen zierte. Der Kontakt sandte einen Blitz durch ihn. Sofort zog er den Finger zurück. Fast erwartete er, ein Brandmal zu sehen, wo er auf sie getroffen war. Doch nichts störte die blasse Perfektion ihres Halses, die in ein wohlgerundetes Dekolleté überging.
Was war das gewesen? Sicher bildete er es sich nur ein. Ihr Mantel war beiseite gerutscht, als er sie in das Hinterzimmer getragen hatte, sodass er das rote Kleid freilegte. Es war viel zu kostbar für einen Ort wie diesen. Und zu tief ausgeschnitten für sein Seelenheil. Im Licht der Kerze konnte er sehen, dass sich ihre Brust hob und senkte. Diese Frau war schön auf eine Art, die beängstigend wirken könnte. Sie war keine hilflose Prinzessin aus dem Märchen, sondern die Königin, die die Geschicke leitete. Schön und imposant.
Kurz überlegte er, ob ihr jemand das Mieder öffnen sollte in diesem Zustand. Würde ihr die Bewusstlosigkeit schaden? Die Vision ihrer weißen Brüste unter dem Kleid verursachte eine Schwellung in seiner unteren Region.
Verflucht!
Rafe sprang auf, rückte seine Hose zurecht und zog den Mantel über das Kleid. Was war nur mit ihm los? Nach einer bewusstlosen Lady zu gieren und sich vorzustellen, dass ihre Nippel dasselbe dunkle Rot besaßen wie ihre Lippen, das entsprach nicht seinem Wesen.
Und er war nicht der Prinz, der eine bewusstlose Frau küsste und sie dadurch erweckte.
Eine Nacht und er würde sie in ihre Welt zurückbringen.
Unversehrt.
Er nahm die Kerze mit und gesellte sich zu den anderen in den Schankraum. Der Regen trommelte unvermindert gegen Fensterläden und Türen. Sam, der Wirt, drückte ihm einen Becher Ale in die Hand. „Verfluchter Mist. Was müssen die gerade heute hier anhalten?“
Barks, der sich um den Kutscher gekümmert hatte, grummelte zustimmend: „Wir sollten sie abmurksen, bevor sie uns verraten. Wer kann schon sagen, ob es ein Unfall war, bei diesem Wetter.“
„Die Frau redete wie ’ne Lady, Barks. Wenn man sie vermisst, dann werden wir Hawthorne nie mehr los.“ Zumindest Sally zeigte Vernunft.
Rafe sagte nichts dazu, sondern zog seine Pistole hervor und begann sie zu putzen. „Wann soll die Lieferung da sein?“
Sam schüttelte den Kopf. „Bei diesem Sturm schwer zu sagen. Li’l Tom hat sich noch nicht gemeldet.“
„Vielleicht sollten wir zum Strand ...“
Der Wirt unterbrach ihn. „Unser Befehl lautet, hier zu warten, Hunter. Der Boss kümmert sich darum, dass alles entladen wird, wir transportieren die Ware nur weiter.“
Verflixt. So würde er den mysteriösen Boss nie treffen. Rafe verspürte eine Unruhe in sich, die ihn irritierte. Seit zwei Wochen war er nun schon hier. Geduld hatte ihm bisher noch nie gefehlt, wenn er auf Mission war.
Seine Informanten hatten diesen Gasthof als verdächtig ausgemacht und so hatte er sich eines Abends in den Schankraum begeben und Gin bestellt. Dann hatte er lautstark gegen die Regierung und die Franzosen und den arroganten Mistkerl von Fuhrwerker gewettert, der ihn wegen eines gestohlenen Fässchens Branntwein auf die Straße gesetzt hatte. „Ein verflixtes Fässchen und ohne Zeugnis wurde ich entlassen. Hab’ mein Lebtag alles getan, was der Alte wollte. Seine Lieferungen in Rekordzeit zum Kunden gebracht. Jawoll! Rafe Hunter kann ein paar Pferde antreiben wie kaum einer.“
„Und du suchst hier nach Arbeit, Rafe Hunter?“, hatte der Wirt gefragt. „Hier ist nichts zu kriegen. Musst schon in die Stadt gehen.“
Er hatte gegrummelt und was von einer Frau erzählt. „Dienstmädchen in Brighton, aber als ich dann kam, hat sie mich fortgeschickt. War nicht gut genug für die feine Mamsell!“
Um mit fremden Männern ein gutes Verhältnis zu erreichen, funktionierte der Trick jedes Mal. Ein Kerl, der von einer Frau hereingelegt wurde, erzeugte in gleichem Maße Mitleid und Solidarität. Immer. Egal ob im noblen Herrenclub oder einer Schmugglerschenke. Tatsächlich meinte der Wirt, man könne für besondere Aufgeben jemanden gebrauchen, der ein Fuhrwerk handhaben konnte und bereit war, für sein Geld zu schweigen.
Also durfte er bleiben und wurde mit einer Ladung Fässer, die der Wirt als Ale deklarierte, zu einem anderen Gasthof im Landesinneren gesandt, wo er einen Blick auf ein umfangreiches Lager erhaschte.
Diese Aktion hatte seinen Verdacht bestätigt, dass diese Gruppe auf einem größeren Niveau operierte, als bloß ein paar Fässchen Brandy für eine Aufbesserung ihres Lebens zu verkaufen. Da stand eine Organisation dahinter.
Warum sonst hätte man ihn so fern vom Boss gehalten.
Diese Nacht sollte er endlich Erfolg haben. Er hatte sorgfältig geplant, was zu tun war, sobald er den Kopf der Bande identifizieren konnte.
Und nun wurden ihre Pläne vom Wetter gestört.
Und von einer Frau, die hier nichts zu suchen hatte, die so fehl am Platz war, dass es beinahe verdächtig wirkte. Trotzdem würde er nicht zulassen, dass sie getötet wurde.
Rafe traute Barks, dem Knecht, nicht. Noch reichte das Schreckensbild der Soldaten aus, um ihn davon abzuhalten, die Frau und ihren Kutscher zu töten. Er ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen. Der Grobian pulte mit dem Messer an seinen Fingernägeln herum. Der Wirt spuckte Kautabak aus, und die Wirtin schürte das Feuer. Die Spannung im Haus war beinahe greifbar.
Constance erwachte mit einem Stöhnen, weil sie fror. Ihre Kleidung war feucht. Ah ja, sie erinnerte sich, dass sie nass geworden war, als sie in den Sturm geraten waren. Aber da war auch ein Feuer gewesen und Tee. Blaue Augen blitzten vor ihrem Geist auf. Ein Mann ..., aber keiner, den sie kannte. Ein Fisch und Hände, die sie zart berührten.
Alles war durcheinander.
Sie schlug die Augen auf und brauchte einen Moment, sich zu orientieren. Gras. Feuchtes Gras und das Geschrei von Möwen. Sie war in der Nähe des Meers. Natürlich. Ayreton! Constance richtete sich auf und sah vor sich die Küste Südenglands im Licht des anbrechenden Morgens. Ihr schwindelte, aber nach ein paar Atemzügen ging es ihr besser. Sie war unterwegs nach Ayreton, so weit erinnerte sie sich, aber das hier war ein einsamer Abschnitt der Küstenstraße. Weit und breit war nur der matschige Weg zu sehen und windumtoste Landschaft. Ein paar Bäume, die krumm im Wind standen, bevor die Straße einen Hügel hinabtauchte. Ein Geräusch ließ sie umdrehen und da sah sie die umgestürzte Kutsche im Graben.
„Grundgütiger!“ Sie mussten im Sturm einen Unfall gehabt haben.
Billy!
Woher kannte sie den Namen des Kutschers?
Egal, sie taumelte die paar Schritte zum Wagen und fasste sich an den Kopf. Ein dumpfer Schmerz lauerte dort.
Der Mann kauerte neben dem Kutschsitz im Schmutz und hielt sich ebenfalls den Kopf. Als sie herantrat, blinzelte er und zog sich hoch. Jetzt, wo er seine Hand wegnahm, konnte Constance eine blutige Beule erkennen.
Das war alles ihre Schuld, weil sie den Regen nicht abwarten wollte. Das schlechte Gewissen überfiel sie hinterrücks.
„Miss ... sind Sie wohlauf?“, krächzte der junge Mann.
„Ja, ich ... mir geht es gut. Lassen Sie mich Ihren Kopf sehen.“
Er winkte ab. „Geht schon, Miss.“ Dann sah er zweifelnd auf den Wagen. „Wie zur Hölle ist das passiert?“, entwich ihm ein Fluch, bevor er sich die Hand gegen den Mund schlug. „Verzeihung. Wie kommen wir hierher?“
Constance runzelte die Stirn, ehe sie antwortete: „Ich habe Sie in Brighton angeheuert, um nach Ayreton zu fahren, wissen Sie nicht mehr?“ Irgendetwas entzog sich ihr.
Der Kutscher schüttelte zweifelnd den Kopf. „Eben war ich noch im Fox and Goose und nun bin ich hier. Ayreton sagen Sie? Ich entsinne mich dunkel an Sie.“ Er sah den Weg entlang. „Ja, das ist die Straße nach Bognor.“
„Sie haben eine Kopfwunde. Vermutlich ist die Kutsche ins Schlingern geraten“, meinte Constance.
„Ich versteh nur nicht, wie, Miss! Haben Sie etwas gesehen?“
Diese Frage konnte sie auch nicht beantworten. Eine kalte Bö sandte ihr einen Schauer über den Rücken. „Können wir den Wagen aufrichten und weiterfahren?“
Billy kratze sich am Kinn, als überlege er, dann zuckte er die Achseln. „Mal sehen. Obwohl ich nicht verstehe, wie das passieren konnte, sollten wir zusehen hier fortzukommen, Miss.“
Er stemmte sich gegen die Kutsche, die mit einem Rad im Graben hing und sich leider nicht bewegte. Constance trat hinzu und schob mit. „Sie ... Sie sollten nicht so schwer ...“, stöhnte er.
Aber das war ihr einerlei. Sie wollte endlich ankommen.
„Da!“ Die Kutsche hatte sich bewegt.
Leider in die falsche Richtung. Schnell sprangen beide beiseite, ehe der Wagen noch weiter kippte.
„Das wird so nix. Ich gehe Hilfe holen“, erklärte der Kutscher. „Es sind nur wenige Meilen bis Bognor.“
Constance war nicht wohl beim Gedanken, alleine zurückzubleiben. „Ich komme mit.“
Sie suchte im Wagen nach ihrem Retikül und der Tasche mit den Wertsachen. Es war alles dort, über die Sitzbank verstreut. Sie hob ein Buch hoch, klappte es auf und steckte es zufrieden in die Tasche zurück. Sie verstaute ihren Schmuck auf Reisen immer in einer ausgehöhlten Ausgabe von Fordyces Predigten.
Der Kutscher spannte die Pferde aus und band sie am Wagen fest. „Oh, können wir nicht reiten?“, wollte Constance wissen.
„Nein, die Stute lahmt und der Wallach lässt sich zwar fahren, aber rebelliert gegen einen Sattel.“
Jetzt sah sie auch, dass eines der Tiere an der Fessel verletzt war. „Nun denn, machen wir uns auf den Weg.“ Immerhin würde sie die Bewegung warm halten.
Sie waren nicht lange unterwegs, da hörten sie Hufgetrappel.
Ein Blick zurück zeigte Constances eigene Kutsche mitsamt ihrem Reisegepäck und einem Diener.