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Simon Hexham, Viscount Ingleford, hält die Wette, die sich seine Freunde für ihn ausgedacht haben, für leicht zu gewinnen. Auf einem Ball eine ausgewählte Dame zu verführen, ist für den attraktiven Lord ein Kinderspiel. Die Wette kommt nur zur unpassenden Zeit, denn Simon muss sich um familiäre Probleme kümmern, statt Ladys zu umgarnen. Mitten in seine wohldurchdachten Pläne stolpert niemand anderes, als Emma Falworth, eine Waise, die er einmal eine wandelnde Katastrophe genannt hat, und stellt seine sonst so geordnete Welt auf den Kopf. Bis Simon herausfindet, ob sie Grund oder Lösung seiner Probleme ist, befindet er sich schon auf dem Weg nach Gretna Green … Kann Simon die Kontrolle über sein Leben behalten, verliert er die Wette oder gewinnt er gar die Liebe? Opposites attract - Gegensätze ziehen sich an! Band 1 der neuen Regency-Reihe ist eine prickelnde Romance für alle, die gerne von rauschenden Ballnächten, verruchten Lords und liebenswerten Ladys lesen.
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Fortuna’s Lovers
Band 1
Verführung
Impressum
1. Ausgabe Februar 2023
© Felicity D’Or 2023
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: Holly Perret, The Swoonies Romance Art
Korrektorat: Sabine Klug
Herausgeberin:
Veronika Prankl
Auenstraße 201
85354 Freising
Sämtliche Texte und das Cover dieses Buches sind urheberrechtlich geschützt. Eine Nutzung oder Weitergabe ohne Genehmigung des jeweiligen Urhebers oder Rechteinhabers ist nicht zulässig und daher strafbar.
Fortuna’s Lovers
Band 1
Verführung
Prolog
London, April 1810
„Wir sollten eine Wette eingehen, meine Freunde! Etwas Unerhörtes, noch nie Dagewesenes!“
Im opulenten Privatsalon des exklusiven Herrenclubs Salter’s regte sich nicht viel als Antwort auf diesen so enthusiastisch vorgebrachten Vorschlag. Vier Gentlemen hielten sich in dem Raum mit seinen tannengrünen Samtvorhängen, dunkler Täfelung und cognacfarbenen Ledersesseln zu dieser späten Stunde auf. Die verhaltene Reaktion mochte an der Uhrzeit liegen – etwa zwei Uhr morgens – oder daran, dass alle vier zu viel getrunken hatten. Einer starrte gedankenverloren in das Kaminfeuer, den Ellbogen auf den marmornen Sims darüber gestützt. Ein anderer fuhr mit einem Finger über den Rand seines Brandyglases und erzeugte einen schrillen Ton. Nicht einmal das ließ den Dritten aufsehen. Er schien in dem bequemen Sessel vor sich hin zu dösen.
Der Sprecher wiederholte seine Aufforderung. „Wirklich. Diese Rennen langweilen mich. Wir sollten uns etwas Neues einfallen lassen. Das schulden wir unserem Ruf!“ Er fläzte in einem Ledersessel, ein Glas Rotwein in der Hand, und wartete auf Antwort.
Der Gentleman im Ohrensessel öffnete die Lider über stahlgrauen Augen, hob den Kopf, gähnte und entfernte einen imaginären Krümel von seiner Seidenweste. „Es langweilt dich, weil du immer verlierst, Digby!“
Charles-Henri Digby, der Herr, der den Vorschlag angebracht hatte, richtete sich aus der halb liegenden Position auf, die er eingenommen hatte. Sein Blick suchte die anderen. „Ingleford hat recht, genau das ist es“, erklärte er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Mann zeigend, der ihn einen Verlierer genannt hatte. „Du bist der Beste auf dem Kutschbock! Das wissen wir nun alle, nachdem du nicht nur das Rennen nach Newcastle und jenes nach Brighton, sondern auch das nach Dover gewonnen hast. Trent kann aufgrund seiner vortrefflichen Tiere mit dir mithalten und dir so immerhin Paroli bieten, aber Sidwell und ich fahren jedes Mal nur hinterher. Ehrlich, es langweilt mich.“
Ingleford, ein langgliedriger, perfekt gekleideter Gentleman um die dreißig, winkte ab. Ein Siegelring blitzte an seinem kleinen Finger. „Glaube mir, ich finde es ebenso wenig herausfordernd, gegen euch meine Pferde über die Straßen rasen zu lassen, wie du.“
Trotz Digbys auffordernden Blickes schwiegen die anderen ein paar Minuten. Sidwell lockte wieder Töne aus seinem Glas hervor.
„Ich verkaufe dir einfach keine Pferde mehr aus meiner Zucht. Oder wir könnten ein Wettschießen veranstalten“, meldete sich Trent, der blonde Hüne, der bisher völlig regungslos am Kamin gestanden und in die Flammen gestarrt hatte. Ob er den Vorschlag anbrachte, um seinen Freund mit dem Glas davon abzuhalten, sie mit schaurigen Geräuschen zu quälen, war nicht erkennbar. Dennoch erzielte es diesen Effekt.
„Ein Wettschießen! Trent, das ist doch was für grüne Jünglinge und Landjunker.“ Sidwell, ein Herr mit wilden kastanienbraunen Locken, trank aus und erhob sich. Dann trat er zu einer Anrichte, wo er das Glas auffüllte, bis es beinahe überschwappte.
„Nicht wenn wir es anspruchsvoll machen, Sid. Große Distanz, bewegliches Ziel!“ Baron Trent zuckte mit den Achseln, da von den anderen nur ein gelangweiltes Kopfschütteln als Reaktion kam. „Mir gleich, ich habe genug zu tun. Digby hier langweilt sich.“
„Wir könnten dir einen Apfel auf den Kopf legen, Digby, und dann schießen!“ Sidwell lachte, aber die anderen ignorierten den Scherz.
„Ich habe nun mal keine Baronie mit Zuchtbetrieb zu leiten, Trent. Und selbst wenn es so wäre, kann ich mir nicht vorstellen, dass es meine Zeit erfüllend beanspruchen würde.“ Digby stand auf, leerte seinen Wein in einem Zug und stellte das Glas auf den Esstisch, wo es sich zu Tellern und Speiseresten gesellte. Hier hatte unübersehbar ein Gelage stattgefunden. Zwischen den Knochen verschiedener gebratener Vögel lagen Reste herzhafter Pies und standen halb geleerte Rotweingläser.
Digby war der Kleinste der Gruppe, wirkte jedoch nicht weniger viril als die anderen. Von eleganter und schmaler Statur glichen seine Bewegungen einem Raubtier auf Samtpfoten. „Parbleu! Es muss doch etwas geben, das den Hauch des Abenteuers wieder in unser Leben bringt.“
Er zog eine kostbare, bemalte Schnupftabaksdose aus seiner Jackentasche und öffnete sie, um sich eine Prise davon zu nehmen.
„Dein gallisches Blut geht mit dir durch, Charles-Henri“, erklärte Ingleford, der immer noch unbeweglich im Sessel saß, mit Betonung des französischen Vornamens seines Freundes.
Digby ignorierte den Seitenhieb auf seine Abstammung mütterlicherseits. Er starrte auf die Tabaksdose, bevor er sich den anderen zuwandte. In seinen Augen glänzte der Schalk. „Sidwell, was ist mit dir? Du kannst sicher eine Ablenkung gebrauchen!“
Der Lockenkopf hob das Glas. „Ich kann immer eine Ablenkung gebrauchen. Bin dabei, was auch immer du vorhast, mon cher ami! Alles ist besser als ...“ Seine Stimme klang bereits etwas verwaschen, was bei der späten Stunde nicht verwunderlich war. Sein Halstuch war längst verschwunden, die silbernen Westenknöpfe geöffnet und sein durchtrainierter Oberkörper nur noch von einem Hemd bedeckt. Bald brach der Morgen an.
„Eine nie da gewesene Wette? Was soll das sein?“, brummte Trent, der mit seinem goldenen Bartschatten und den im Nacken zu einem Zopf gebundenen langen, blonden Haaren eher einem Wikinger aus alten Zeiten glich als einem englischen Baron.
„Dir fehlt für so etwas die Fantasie, mein Lieber. Bist zu angelsächsisch!“ Digby richtete sich zu seiner vollen Größe auf und fügte eine theatralische Pause ein, um sicherzustellen, dass ihm die Aufmerksamkeit seiner Freunde galt. Die Tabaksdose in der Hand erklärte er: „Diese wundervolle Dose hat mich inspiriert. Wir werden einen erotischen Wettstreit austragen!“
Den Herren waren die frivolen Innenseiten der Schnupftabaksdosen ihres Freundes wohlbekannt, besaßen sie doch selbst solche Preziosen. Von außen harmlos, fand sich im Inneren des Deckels stets eine pikante, erotische Szene. Manchmal mehr als frivol. Wo außen sittsam die Röcke unten blieben, hoben sie sich im Inneren und enthüllten Geschlechtsteile. Digby grinste und zeigte ihnen das Bild einer Schäferin, die sich lustvoll auf den Stab ihres Schäfers setzte.
Es herrschte für einen Moment Stille, bevor Trent schnaubte: „Erotische Wetten? Du meinst, weil Franzosen angeblich bessere Liebhaber sind als Engländer, oder wie? Damit du auch eine Chance hast? Da wirst du dich wundern!“
Digby rollte mit den Augen. „Es hat nichts mit der Nationalität zu tun.“ Mit einem Klacken schloss er die Dose wieder und hob erwartungsvoll die Augenbrauen. „Ingleford, Sidwell, seid ihr bereit für die ultimative Wette?“
„Franzose oder Engländer – ist doch völlig gleich. Ich habe keine Lust, Jungfrauen zu schänden oder euch beim Rammeln zuzusehen. Das langweilt nun wiederum mich!“ Endlich bewegte sich Ingleford. Er erhob sich und sah auf seine goldene Taschenuhr. Das gute Stück war spiegelnd poliert und harmonierte mit der glänzenden, aber dezenten Stickerei auf der Weste ihres Besitzers. „Wenn das alles ist, begebe ich mich nach Hause und bedanke mich für das Rennen dieses beziehungsweise des gestrigen Tages.“
Digby stellte sich ihm in den Weg. „Uns wird etwas Herausfordernderes einfallen als Jungfernschänden und Dauerrammeln! Mon dieu! Was ist nur mit euch los? Man nennt uns nicht umsonst Fortuna’s Lovers, die Lieblinge der Schicksalsgöttin! Wollt ihr zu lahmen Enten werden, die sich lieber mit ihren Rechnungsbüchern beschäftigen als mit den Freuden des Lebens, und am Ende gar eine Ehe eingehen, die euch an eure Häuser fesselt? Ist es so weit gekommen mit uns?“
Ingleford seufzte und ordnete die Falten seines schneeweißen, noch immer perfekt gebundenen Halstuchs. „Nun gut, Digby. Was hast du dir vorgestellt? Beeile dich, ich bin müde.“
Digby schnaubte. Er wartete, bis ihn die drei anderen erwartungsvoll ansahen. Dann klappte er seine Tabaksdose mit einem eleganten Schwung seines Daumens auf und nahm eine delikate Prise. Trent rollte mit den Augen, Sidwell grinste und Ingleford zog ob dieser Darbietung süffisant eine Augenbraue hoch.
Endlich ließ sich Digby dazu herab, zu erklären: „Erotische Herausforderungen. Jeder von uns lässt sich eine Wette einfallen und wir ziehen dann die Aufgaben.“
In Sidwells betrunkenen braunen Augen spiegelte sich übermütiger Glanz. „Ich habe eine Idee! Ingleford muss eine Lady im Theater verführen!“ Er sah nicht, dass Trent sich ein Lachen verkniff.
„Sieh die Wette als verloren an“, erklärte Ingleford trocken.
„Wen hast du im Theater gehabt?“ Der Gentleman unterdrückte ein Aufstoßen. Zeichen, dass er wirklich genug getrunken hatte.
„Ach, kommt schon, das führt doch nirgendwohin!“ Ingleford sah sich nach seinem Hut um.
„Wer war es, Simon?“, insistierte Sidwell.
Ingleford seufzte. „Lady Brethwaite. Ist einige Zeit her.“
„Und wie ...“
„Sidwell! Ein Gentleman genießt und schweigt.“
„Etwas einfallsreicher darf es schon werden, meine Herren!“, erklärte Digby, der während des Wortwechsels Papier und Tinte aus einem Sekretär geholt hatte. „Ich schlage vor, jeder schreibt eine Wette auf und dann losen wir aus.“
„Wie wäre es, wenn sich jeweils drei eine Wette für den Vierten ausdenken?“, schlug Sidwell vor.
Trent griff sich ein Blatt. „Also gut, ich bin dabei. Die Schützlinge von Madame Jeannette sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.“
Sidwell trat ebenfalls an den Tisch. „Du kennst Jeannettes neue Zwillinge noch nicht!“
„Zwillinge?“ Trent sah von seinem Blatt abgelenkt hoch.
„Mhm. Nicht schlecht, mein Lieber.“ Er formte mit den Händen Rundungen in die Luft. „Solltest du ausprobieren, bevor sie in einem dieser ‚Führer durch das erotische London‘ auftauchen und Hinz und Kunz mal zwei Paar identische Brüste haben will.“ Ein Schluckauf schüttelte Sidwell.
Digby unterbrach das Gespräch. „Huren gelten nicht! Wir müssen ausschließen, dass die Damen bezahlt werden.“
„Das alleine dürfte die Herausforderung erhöhen. Außer man hat bei den Witwen einen Stein im Brett wie du, Digby.“ Ingleford hatte die Suche nach dem Hut aufgegeben. „Also gut, wenn es unbedingt sein muss. Ich will ja kein Spielverderber sein. Trotzdem brauchen wir Regeln. Keine bezahlten Damen und keine Jungfrauen!“
„Natürlich keine Jungfrauen!“ Digby war empört. „Ich verstehe nicht, was der Reiz an Mädchen sein soll, die nicht wissen, was mit Mund und Möse zu tun ist! Wirklich! Das Jungfrauenschänden überlassen wir gefälligst den Widerlingen vom Satan’s Club!“
„Liebend gerne!“, pflichtete ihm Ingleford bei. „Sie können ihre Jungfrauen und ihre hässlichen Kapuzenmäntel behalten.“ Er schüttelte sich. „Nichts, wobei man einen unförmigen Umhang mit Kapuze tragen muss, ist es wert, auch nur in Erwägung gezogen zu werden.“
Sidwell war in seinen weinseligen Gedanken immer noch bei den Zwillingsprostituierten, aber Trent war diesem Austausch kopfschüttelnd gefolgt. „Gentlemen! Wenn ich euch nicht so gut kennen würde wie mich selbst, wäre ich jetzt entsetzt. Also halten wir fest: Keine Huren, weil es Betrug wäre. Keine Jungfrauen, weil man diese respektiert!“
Sie beratschlagten in Gruppen, bestellten noch eine Karaffe Brandy und waren erst fertig, als draußen die Sonne aufging. Schließlich faltete Ingleford den letzten Zettel. „Unterhaltsam sollte das allemal werden, obgleich mir Kutschenrennen sicherer erscheinen.“
„Genau deshalb veranstalten wir das ja – damit du deine Komfortzone verlassen musst.“ Digby legte die gefalteten Papiere in Umschläge und Sidwell streckte sogleich seine Hand nach demjenigen mit seinem Namen darauf aus.
„Halt!“ Trent zog ihn zurück. „Welchen Sinn hat eine Wette ohne Einsatz?“
Beifälliges Gemurmel und nachdenkliche Blicke erfüllten den Raum.
„Der Sieger ...“
„Was, wenn es uns allen gelingt, die Bedingungen zu erfüllen?“, fuhr Trent Sidwell über den Mund.
„Ja, wir sollten uns auf den oder die Verlierer konzentrieren. Ich sage, wer verliert, finanziert und organisiert eine Jagdwoche vom Feinsten!“, schlug Ingleford vor. „Für den Fall, dass mehr als einer von uns glücklos sein sollte, jagen wir eben länger oder in den Folgejahren.“
„Pah! Wir gehen so oder so auf die Jagd und keiner von uns hat ein Problem damit, die anderen eine Woche lang einzuladen. Ich sage, wir brauchen etwas Spannenderes als Einsatz. Etwas, das wehtut!“
„Ja, Trent! Ingleford kann seine grauen Kutschpferde verwetten!“
„Nicht gegen deine lahmen Rappen, Sid!“, wehrte sich der Angesprochene.
„Nein, meine Herren, nichts dergleichen.“ Digby schüttelte den Kopf.
Über Trents Gesicht zog ein Lächeln, dessen Anblick schon so manche Dame mit Herzklopfen zurückgelassen hatte, versprach es doch Lust und Abenteuer. „Wer seine Wette verliert, muss auf einem Ball, den die anderen auswählen, mit allen Mauerblümchen tanzen!“
„Nicht die Mauerblümchen! Alles, nur das nicht! Was auch immer es kostet, ich werde es tun und die Wette gewinnen!“ Sidwell streckte die Hand aus. „Schlagt ein!“
Ingleford nickte zustimmend. „Etwas in der Art, ja. So wird das gleich viel amüsanter. Allerdings denke ich, dass jeder zu seiner individuellen Wette auch einen passenden Einsatz von uns allen vorgegeben bekommen sollte!“
Wieder sammelten sich die Grüppchen, es wurde getuschelt, gelacht und gekritzelt, bis für jeden von ihnen die perfekte Wette samt Preis, den es bei Nichterfüllung zu entrichten gab, feststand. Jeder erhielt Aufgabe und Wetteinsatz fein säuberlich auf Büttenpapier geschrieben in einem Umschlag, ohne zu wissen, was sich die Freunde für ihn überlegt hatten.
„Parbleu! Das sollte die nächsten Monate für Amüsement sorgen! Noch etwas? Nein? Dann lasst uns einschlagen!“
Trent legte seine Pranke auf die Hand von Digby. Sidwell folgte.
„Auf eine anregende Saison!“ Inglefords Finger komplettierten den Handschlag der vier Liebhaber der Schicksalsgöttin.
Ob Fortuna es für gut befand, dass sich ihre treusten Jünger anderen Damen zuwenden wollten?
Kapitel 1
April 1810, London, zehn Minuten später
„Das ist nicht euer Ernst!“
Simon Hexham, Viscount Ingleford, dazu zu bewegen, Gefühle zu zeigen, gelang nur selten. Äußerst selten. Wenn er ein Rennen mit seinem Vierergespann gewann, bedankte er sich höflich bei den Konkurrenten. Siegesjubel erwartete man bei ihm vergeblich. Nach einem Fechtkampf mit dem Degen, der seinen Kontrahenten schweißüberströmt zurückließ, sah Ingleford aus, als wäre er mit seiner Mutter zum Tee verabredet. Nicht einmal die Damen, die ihm Vergnügen verschafften, kamen in den Genuss von Simons Gefühlen. Die Befriedigung ihrer Lust musste ihnen Lohn genug sein.
Die drei Freunde Inglefords, die sich die Wette auf diesem Zettel ausgedacht hatten, zeigten daher ein höchst zufriedenes Grinsen, hatten sie es doch vollbracht, dass er die perfekten Brauen zusammenzog und sogar laut wurde.
„Da ich die Wette gewinnen werde, könnt ihr euch das Lachen verkneifen!“, erklärte der Viscount, nachdem er seinen üblichen stoischen Gesichtsausdruck wieder aufgesetzt hatte. Er war verärgert, weil sie ihn so kalt erwischt hatten.
Es musste daran liegen, dass er müde war. Man sah es ihm nicht an, aber die Sonne ging bald auf und seit dem Rennen vom Vortag hatte er nicht geschlafen.
Dabei hielt er die Wette keineswegs für unerfüllbar. Was ihm Verdruss bereitete, war, dass die Freunde seine Schwachstelle so perfide für den Wetteinsatz nutzten.
Da sie alle ihre eigenen Aufgaben lasen, war die Entgleisung des Viscounts schnell vergessen. Jeder der vier Gentlemen runzelte die Stirn, Sidwell trank entgeistert direkt aus der Rotweinkaraffe und Digby war blass geworden.
Simon war Mitautor ihrer Wetten und beinahe empfand er ein wenig Mitleid. Seine Aufgabe war deutlich leichter zu bewältigen als das, was den Freunden bevorstand. Er verabschiedete sich knapp und schritt durch die marmorne Halle des Herrenclubs Salter’s, in dem sie einen eigenen Salon unterhielten, in den kalten Frühlingsmorgen hinaus.
Niemand, der ihn so durch den Morgennebel von St. James nach Mayfair spazieren sah, wäre auf die Idee gekommen, dass der feine Herr in der makellosen Jacke, den polierten Stiefeln und dem akkurat sitzenden Zylinder ein Wagenrennen und ein darauffolgendes, die ganze Nacht dauerndes Gelage hinter sich hatte. Simon fuhr sich mit der Hand über das Kinn.
Stoppeln.
Wie unangenehm.
Ob er sich von seinem Kammerdiener noch rasieren lassen sollte, bevor er sich ein wenig schlafen legte? Nach vierundzwanzig Stunden war mehr als ein Bartschatten sichtbar. Inglefords keltisch schwarzes Haar wollte sich leider nicht so einfach handhaben lassen wie seine Kleidung.
„Barnes, kann ich Sie nicht doch überreden, mit mir im Club zu bleiben, solange ich mich dort aufhalte?“, erkundigte er sich bei seinem Diener, als dieser ihm im Ankleideraum des imposanten Stadthauses der Familie Hexham aus Jacke und Weste half. Es war eine rhetorische Frage, denn Barnes verneinte, wie üblich. Das war die Krux an einem Kammerdiener, um den ihn ganz London beneidete. Der Mann wusste um seinen Wert.
„Eure Lordschaft können sich hier so oft wie Sie belieben rasieren lassen, aber in einem Clubhaus biete ich meine Dienste nicht an.“
„Was, wenn ich dort eine Suite mieten würde?“
Barnes schlug ungerührt die Rasierseife zu Schaum. „Wollt Ihr mir auch eine Kutsche zur Verfügung stellen, um Euch zu folgen?“
Simon erkannte selbst, wie lächerlich es wäre, seinen Kammerdiener auf Schritt und Tritt durch London hinter sich herlaufen oder fahren zu haben. Sein Perfektionismus, was Aussehen und Kleidung betraf, mochte überzogen, ja exzentrisch sein, aber so etwas ginge vermutlich sogar für ihn zu weit. Am Ende hielte man ihn noch für einen Macaroni. Einen jener übertrieben gekleideten Gecken, die jegliche Mode exzessiv mitmachten und dabei keine Lächerlichkeit ausließen, die für ihre verrückte Ausstattung und Accessoires vor nichts haltmachten. Sie stöckelten auf hohen Absätzen herum, verbrachten Tage mit der Auswahl von Seide in Grasgrün oder Zitronengelb und neuerdings hielten sie sich Schoßhündchen.
Nein, um Mode ging es dem Viscount nicht. Er war lediglich ein Mensch, der es ordentlich und elegant mochte. Simon Hexham ordnete Dinge gerne, erwartete, alles an seinem Platz zu finden, dass seine Kleidung von bester Qualität war und entsprechend gepflegt wurde. Dazu gehörte es, falls nötig, zweimal am Tag rasiert zu werden.
Haltung und Disziplin waren alles, was für ein erfolgreiches Leben notwendig war. Man konnte es vermeiden, sich zu beschmutzen oder Falten in die maßgeschneiderten Jacken und Kniehosen zu drücken, wenn man genau wusste, wie Aufgaben zu erledigen waren. Weil er der beste Kutscher des Landes war, reichten ein paar sparsame Bewegungen und die perfekte Haltung auf dem Bock aus, um jedes Rennen zu gewinnen. Kein Grund, zu schwitzen oder in Pfützen zu springen wie Trent letzten Mittag. Nein, ein vortrefflicher Kutscher hielt seine Tiere nicht neben Schlamm an. Der beste Mann fuhr voraus, sodass ihn der Staub der anderen nicht traf.
Ein perfektes Aussehen war zugleich Antrieb und Beweis seines Strebens nach Exzellenz.
Frisch rasiert stieg der Viscount ins Bett, um noch zwei Stunden zu schlafen, bevor er sich dem Tagwerk widmete.
Die Wette war in den Hintergrund geraten, als er sein Frühstück einnahm. Steak und Ei stärkten ihn, während der Kaffee für die nötige Frische sorgte, die Ingleford erlaubte, sich seinen Aufgaben zuzuwenden, als hätte er eine volle Nacht lang geruht. Seit dem Tod seines Vaters kümmerte er sich um die Liegenschaften des Marquessats von Lipton. Der Marquess, Simons Großvater, lebte zwar noch, war jedoch zu gebrechlich, um Ländereien und Besitztümer zu verwalten. Das behauptete er zumindest. Mehr als einmal war Simon der Verdacht gekommen, dass sein Großvater ein Hypochonder war. Ihm sollte das recht sein. Blieb der alte Mann auf der Burg, so störte er Simon nicht bei den Geschäften. Niemand redete ihm in die Arbeit. Seit vier Jahren wurden alle Bitten, Forderungen und Probleme von Familie, Pächtern und Geschäftspartnern an Simon herangetragen.
Aufgaben, die er mit dem ihm eigenen Anspruch an Perfektion erledigte.
„Mylord!“, störte ihn ein Lakai. „Verzeihung. Ihre Ladyschaft wünscht, Euch nach dem Frühstück zu sehen.“
Simon legte den Brief, den er eben überflogen hatte, erstaunt beiseite und sah auf die goldene Louis-XV-Uhr am Kaminsims. Es hatte noch nicht einmal die elfte Stunde geschlagen. Seine Mutter blieb normalerweise bis zur Mittagszeit im Bett. Vornehme Damen brauchten ihren Schönheitsschlaf, erklärte sie gerne. Nur gewöhnliches Volk habe es nötig, beim Morgengrauen auf den Beinen zu sein. Simon kümmerten die Ansichten Lady Inglefords genauso wenig wie die Krankheiten des Marquess. Solange seine Mutter ihre Routine aus Partys und Gesellschaften hatte, ließ sie ihn in Frieden.
Der Wunsch nach seiner Anwesenheit um diese Uhrzeit war daher umso verwunderlicher.
„Ist Lady Ingleford denn schon zu sprechen?“
„Ihre Ladyschaft hat bereits gestern Abend darum gebeten, Euch die Nachricht mitzuteilen, Ihr möget so bald als möglich erscheinen.“
Simon runzelte die Stirn. Es musste wichtig sein, wenn sich Charlotte Hexham persönlich bemühte, ihren Sohn zu sprechen. Er erhob sich und legte die Schreibfeder in einen rechten Winkel zum Tintenfass und glättete den Brief, den er eben angefangen hatte. „Lady Ingleford ist doch nicht etwa krank?“
„Soweit ich weiß, nein, Eure Lordschaft.“ Der Lakai blickte ihn stoisch an. Wie bei jedem Beschäftigten in diesem Haushalt war sein Verhalten vorbildlich. Nur die Besten arbeiteten für Simon.
„Nun denn.“ Widerwillig machte sich der Viscount auf den langen Weg durch die Korridore des opulenten Stadtpalais zu den Räumen seiner verwitweten Mutter.
„Simon! Wo hast du dich bloß herumgetrieben?“ In der Tat empfing ihn die Dame des Hauses um diese Uhrzeit, wenn auch im Negligé im Bett sitzend und Schokolade trinkend. Sie hatte ihm das schwarze Haar vererbt, das bei ihr erste silberne Strähnen aufwies. Lady Ingleford war auch am Ende ihres vierten Jahrzehntes eine schöne Frau und genoss diese Tatsache ausgiebig. Sie hatte fünf Kinder ausgetragen, wovon drei überlebt hatten, doch sich die Figur einer jüngeren Dame bewahrt. Darauf war sie stolz und sie zeigte ihren Körper gerne in tief dekolletierten Roben auf den so heiß geliebten Bällen und Soireen.
Was sie seit dem Ende der Trauerzeit um den seligen Viscount Ingleford so alles trieb, wollte Simon gar nicht wissen, weshalb er ihr, wenn möglich, aus dem Weg ging.
Vater und Mutter hatten ihm den Geschmack an riskanten Eskapaden und dekadenten Vergnügungen vererbt. Das konnte er nicht leugnen. Mit einem sehr gewichtigen Unterschied: Simon hatte nicht vor, wie sein seliger Vater daran zu sterben.
„Nach dem Rennen war ich im Club. Aber seit wann vermisst du mich? Wolltest du nicht mit Christine ins Theater und hinterher zu Sally Jersey?“ Seine Schwester kam nach den Eltern und ließ keine Gelegenheit aus, sich zu amüsieren, wenn sie in London weilte. Sie verkehrte in den angesagtesten Kreisen und wurde häufig in den Klatschblättern erwähnt. Lady Jerseys Feste endeten selten vor dem Morgengrauen, was dazu führte, dass Lady Ingleford an solchen Tagen normalerweise erst zum Tee im Haus gesichtet wurde.
Sie winkte ihn mit einer eleganten Handbewegung zu sich und ignorierte seine Fragen. „Dein Großvater hat geschrieben!“
„An dich, Mama?“ Das versprach nichts Gutes. Der alte Marquess konnte seine Schwiegertochter nicht leiden. Er gab ihr die Schuld für die Ausschweifungen, die seinen Sohn das Leben gekostet hatten, genau wie für den berüchtigten Ruf des Enkels.
„Der Alte wird immer wunderlicher! Eine wahre Predigt hat er gesendet. Ich konnte es kaum lesen.“ Sie legte theatralisch eine Hand an ihre Stirn. „Mich so zu belästigen!“
„Was hat das mit mir zu tun?“ Er wünschte, sie käme zum Punkt, damit er sich wieder seiner Arbeit zuwenden konnte.
„Lipton hat kein Verständnis für lebhafte Menschen, Simon! Ständig beschwert er sich über dich und deine Freunde. Fortuna’s Lovers! Wie sehr das deinem Vater gefallen hätte!“ Bei der Erwähnung ihres seligen Gattens zog ein sehnsuchtsvolles Lächeln über ihr Antlitz. Die beiden waren wie füreinander gemacht gewesen. Sie hatten zusammen gefeiert, jede Mode mitgemacht und das Leben in vollen Zügen genossen, ohne auf die Konsequenzen zu achten.
„Gewiss. Aus dem gleichen Grund, weshalb Großvater diese Bezeichnung hasst.“ Der selige Viscount hatte sein Ende gefunden, als er während einer Feier auf seinem Landsitz nachts betrunken vom Dach des Pavillons im Park gefallen war. Lady Ingleford hatte den Tod ihres Gatten betrauert, doch nur kurz. Ihr verstorbener Ehemann habe seine Zeit auf dieser Erde in vollen Zügen gelebt und hätte nicht gewollt, dass sie Trübsal blies, erklärte sie nach wenigen Wochen der Trauerzeit und nahm ihr altes hedonistisches Leben wieder auf. So skandalös das war, sie hatte damit vermutlich recht. Simons Vater hatte alles gehasst, was anstrengend, traurig oder unschön war.
„Ich bin froh, dass du nach deinem Vater kommst, Simon. Die Liebhaber der Schicksalsgöttin!“ Ein schwärmerischer Ton schlich sich in ihre Stimme.
„Es ist nur ein dummer Name, den die Skandalblätter uns gegeben haben. Mit Glück hat es gewiss nichts zu tun, wenn ich ein Rennen gewinne!“ Wie üblich kümmerte es Lady Ingleford nicht, wie er lebte oder wie viel Mühe er in seine Unternehmungen steckte. Das Einzige, was für sie zählte, war sein Ruf als Draufgänger und Hasardeur. „Vater und du, ihr habt euch nie Gedanken gemacht. Alles oder nichts war eure Devise!“ Weder der Großvater noch die Mutter machten sich die Mühe, mehr zu sehen als seinen Ruf. Der eine verachtete ihn dafür, die andere überhöhte ihn.
„Wir haben uns amüsiert, Simon! Genau wie du und deine Freunde. Wozu sonst sollte man waghalsige Pferderennen unternehmen und Wetten abschließen? Um das Leben zu feiern natürlich! Was habe ich davon, wie dein Großvater hundert Jahre alt zu werden, wenn ich nur immer zu Hause sitze und mich frage, ob dort unter der Tür etwa ein Luftzug weht, der sich als Hauch des Todes erweisen könnte?“
„Er ist vierundsiebzig Jahre alt, keine hundert.“
„Ganz gleich. Du liebst das Abenteuer genau wie deine Eltern, mein Sohn, das weiß ich.“
„Nein“, dachte Simon, behielt es aber für sich. Es gab einen Grund für seinen Lebensstil. Es ging darum, die Kontrolle zu behalten, sich zu beweisen, dass man das Schicksal beherrschen konnte, dass er das Leben in der eigenen Hand hatte. Simon biss sich auf die Zunge. Er wusste, dass es sinnlos war, seiner Mutter den Unterschied zwischen ihm und seinem gedankenlosen Vater zu erklären, der sich nicht nur den Hals gebrochen, sondern auch beinahe das gesamte Vermögen der Familie verspielt hatte. Neigte man zum Zynismus, so wäre man fast dazu geneigt zu behaupten, dass sein Vater gerade rechtzeitig das Zeitliche gesegnet hatte, um die Hexhams nicht völlig in den Bankrott zu treiben.
„Wie auch immer! Was mich nicht amüsiert, sind diese Beschwerden über dich! Dein Großvater besteht darauf, dass du endlich heiratest!“
Das war nun wirklich nichts Neues. „Großvater wartet seit Papas Tod darauf, dass ich einen Nachkommen zeuge.“
Sie hielt sich eine Hand an das spitzengesäumte Dekolleté. Eine Geste, die bei ihren Verehrern für Mitleid sorgen mochte, aber bei ihm wirkungslos war. „Doch nun erhalte ich fast vierzehntägig Briefe mit Vorschlägen und Ermahnungen. Dieser Sekretär schreibt folgsam alles auf, was der alte Langweiler diktiert. Es amüsiert mich nicht, Simon!“
Das schien ernst. Wenn Lady Ingleford die Tiraden des Marquess nicht mehr mit einer flapsigen Handbewegung ignorierte, dann lag etwas im Argen.
Der alte Mann verließ die Burg von Lipton nur in Notfällen. Er hatte seinen Sohn weder verstanden, noch zu kontrollieren vermocht. Nun lebte er in der Annahme, dass der Enkel genauso verschwenderisch und rücksichtslos sei wie dessen Vater. Simons zweifelhafter Ruf als einer der vier Fortuna’s Lovers half da kaum, das Gegenteil zu beweisen.
Er überflog das Schreiben. Der Marquess bestand auf einer Ehe mit einem Mädchen, das er selbst ausgewählt hatte. Er hoffte, dass diese Frau den jungen Mann dazu bewegen könnte, sich zu zügeln. Wie unangenehm!
Eine schnelle Ehe war unnötig. Simon war nicht sein Vater und sicherlich würde er sich keine Frau aufdrängen lassen, die Unordnung in sein Leben brachte. Aber das verstand der Großvater nicht. Ganz gleich, dass Simon die Finanzen nach Jahren der Misswirtschaft in Ordnung gebracht hatte, sich um die Pächter kümmerte und in diesem Zuge alle Gebäude modernisieren ließ. Der Marquess war davon überzeugt, dass sein Enkel sich zu Tode trinken, rennen oder duellieren würde. Deshalb musste vor Simons unvermeidlichem schlimmen Ende für einen Nachfolger gesorgt werden.
Immer ging es nur um den Erben.
„Ich heirate, wen und wann ich es für richtig halte!“
„Oh bitte, Simon! Du hast seit Jahren die freie Wahl und keine willst du? Du schaust dir die Debütantinnen doch nicht einmal an. Was auch immer man über mich und deinen Vater sagen mochte, wir sind unserer Pflicht, Nachkommen zu zeugen, nachgekommen. Die Inglefords sind fruchtbar! Christine ist übrigens wieder guter Hoffnung! Dumm nur, dass sie vermutlich die Saison abbrechen muss. Wer soll mich denn zu Lady Brethwaites Hausgesellschaft begleiten?“
„Ich werde Christine meine Glückwünsche zukommen lassen.“ Das wäre dann das dritte Kind seiner jüngeren Schwester. „Großvater kann ja einen seiner Urenkel als Nachfolger einsetzen lassen.“
„Als ob das so leicht machbar wäre!“ Dann schloss sie die Augen und fuhr mit fast tonloser Stimme fort. „Aber es kommt noch schlimmer. Dein Großvater droht, meinen Unterhalt zu kürzen, falls du nicht bis August verheiratet bist! Das werde ich nicht akzeptieren!“ So frivol Lady Ingleford sein konnte, sobald es um ihre finanzielle Ausstattung ging, wurde sie hart wie Granit.
„Wunderbar! Erkläre ihm das und alles ist in Ordnung. Wozu brauchst du mich?“ Simon stellte sich dumm.
Die Lady lachte bitter. „Natürlich werde ich nichts dergleichen zum Marquess sagen. Ich streite nicht mit diesem Mann. Du wirst dafür sorgen, dass es nicht so weit kommt, Simon!“
Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden war Simon sprachlos.
Er sorgte dafür, dass die Finanzen der Hexhams in Ordnung waren. Er arbeitete den ganzen Tag, damit Lipton gut dastand, und da wollte sein Großvater ihnen den Geldhahn zudrehen? Nicht ihm, verbesserte er sich, sondern seiner Mutter, die mit ihrer Witwenrente niemals zurechtkäme. Und die sich niemals offen mit dem Marquess anlegen würde.
„Ich werde dich finanzieren, falls er seine Drohung wahr macht.“ Niemand erpresste ihn. Das ließ er nicht zu.
„Natürlich wirst du das, Simon! Aber es ist so schrecklich vulgär, über Geld zu sprechen! Dein Vater war sich bewusst, was sich unserer Stellung geziemt!“ Sie griff nach einem Umschlag auf ihrem Nachtkästchen.
„Mein Vater hat sich den Hals gebrochen, weil er einer Wette wegen betrunken von einem griechischen Pavillon sprang, und hat dabei außerdem noch eine Jagdhütte verloren!“, entwich es Simon. Der selige Lord Ingleford war nicht nur gedankenlos gewesen, sondern hatte jeglichen Respekt vor Mensch und Besitz vermissen lassen.
„Das reicht Simon!“ Die Stimme Lady Inglefords klang scharf. Sie hielt ihm den Umschlag hin.
„Was ist das?“
„Ein paar Schuldscheine. Ich hatte Pech im Spiel, aber die Kartenabende bei Lady Dumfries sind immer grandiose Unterhaltung.“
„Mutter, hör auf zu spielen! Ich kann nicht ewig deine Schulden begleichen.“ Er wollte gar nicht wissen, wie viel sie schon wieder verloren hatte.
Wie immer trafen seine Ermahnungen auf taube Ohren. „Ich habe dich hiermit wissen lassen, was dein Großvater im Schilde führt und dass ich erwarte, dass du das Problem löst! Du kannst dich nun zurückziehen. Ich bin mit deiner Schwester verabredet. Sie braucht neue Kleider.“
Simon bebte vor Ärger und stürmte für seine Verhältnisse schnell zur Tür, wo sie ihn noch mal mit Worten aufhielt. „Und du wirst anstelle von Christine zu dieser Hausgesellschaft reisen.“
Darauf konnte sie lange warten. Lady Brethwaite hatte ihn eingeladen – es war offensichtlich, was sie von ihm wollte – und er hatte abgesagt.
Auf dem Weg in sein Arbeitszimmer warf er einen Blick in den Umschlag. Verflucht! Diese Frau wäre noch sein Ruin. Von dem, was sie verspielte, konnte ein ganzes Dorf einen Winter lang essen. Und nun ging sie einkaufen. Nicht nur Christine, die Countess of Crighton, würde neue Kleidung bestellen. Der Illusion gab er sich nicht hin. Lady Ingleford lebte wie in Versailles in früheren Zeiten. Kein Kleid trug man zweimal. Keinen Hut putzte man neu auf. Es war dekadent, doch seiner Mutter nicht anders beizubringen.
In dieser Situation erwartete man von ihm also, ein weiteres Frauenzimmer in den Haushalt zu bringen. Eines, das Kinder gebären würde, die dann wiederum Kleider, Personal und sonstige Ausstattung benötigten.
Was denn noch?
Für seine sexuellen Bedürfnisse waren diskrete Affären mit Halbweltdamen deutlich leichter zu handhaben als eine Gattin. Dabei handelte es sich um einen schlichten Vertrag. Amouröse Dienste gegen Schmuckstücke.
Eine Frau im Haus wäre anstrengender und vor allem kostspieliger.
Frauen! Kaum saß er an seinem Schreibtisch, fiel ihm die Wette wieder ein.
Das war der denkbar schlechteste Zeitpunkt für so etwas. Warum nur hatte er sich darauf eingelassen? Aus einer Schublade zog er den kleinen Umschlag und öffnete ihn.
Auf dem Ball von Lord und Lady Dumfries eine Frau nach Vorgabe verführen.
Diese Halunken glaubten wohl, er würde verlieren, wenn er keinen Plan machen konnte und unvorbereitet war. Sie würden ihr blaues Wunder erleben.
So viel Aufwand, bloß weil Digby sich langweilte? Simon empfand diese Wette als lästig. Schließlich hatte er eine Mätresse. Die sich wiederholt beschwerte, weil er ihr zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Stirnrunzelnd sah Simon auf den parfümierten Umschlag, der oben auf dem Poststapel lag. Wann hatte er Stephanie das letzte Mal gesehen? Am Donnerstag nach der musikalischen Soiree – nein, verflixt, das war schon vorletzte Woche gewesen.
Er hatte es gar nicht bemerkt. Ihr Zusammensein nicht vermisst.
Simon schüttelte den Kopf und legte sich Briefpapier zurecht. Mit kräftigen Federstrichen schrieb er eine Nachricht, die er so schon ein Dutzend Mal verfasst hatte. Er bedankte sich für schöne Zeiten und bedauerte, dass das Arrangement sein Ende erreicht hatte. Anbei ein Dankeschön als Erinnerung.
Er versiegelte den Brief und rief nach dem Sekretär, der im Nebenzimmer arbeitete. „Reynolds!“
„Mylord, wie kann ich dienen?“ Reynolds war ein junger Mann, den Simon seinem Anwalt abgeworben hatte. Er war pflichtbewusst und vollkommen diskret.
„Besorgen Sie für Miss Lagrange eine Brosche. Sie wissen schon, das Übliche.“
Reynolds griff nach dem Brief. „Sehr wohl, Mylord. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
Nachdem Simon seinen Sekretär angewiesen hatte, die Schulden der Dowager Viscountess zu begleichen, kümmerte er sich um die Wette. Zuerst erstellte er eine Liste mit Namen von Damen, die auf besagtem Ball infrage kämen. So viele gab es nicht in der guten Gesellschaft Londons, die den Kriterien der Wetten entsprachen. Er würde sich auf alle passenden Ladys vorbereiten und so seinen Freunden den Wind aus den Segeln nehmen. Mrs Dudley zum Beispiel war erst kürzlich nach dem Trauerjahr für ihren Gatten in London aufgetaucht. Sie war gut aussehend, aber zugeknöpft. Ein paar wohldosierte Komplimente wären da angebracht. Frauen, die jahrelang vernachlässigt wurden, brauchten etwas Zuneigung am meisten. Für jede der Damen fände sich ein Ansatzpunkt. Verlieren stand außer Frage.
Je schneller er das hinter sich brachte, desto besser.
Nach dem Ball, sobald er diese Wette erledigt hatte, würde er sich um den alten Marquess und dessen Ehestiftungsbemühungen kümmern.
Kapitel 2
„Ich soll mit ins Theater?“ Emma Falworth sah mit großen Augen auf ihre Tante. Die Stickerei in ihren Händen war vergessen.
„Nun, du kannst nicht ewig hier sitzen und uns auf der Tasche liegen, Emma!“ Lady Clara Ramsey schürzte die schmalen Lippen. „Was geschehen ist, ist geschehen und wir können es nicht ändern.“
Emma war verwirrt. „A... aber was ist mit Lucille?“ Sie zerknüllte geistesabwesend den Stoff und pikste sich prompt an einer vergessenen Nadel. „Au!“ Schnell steckte sie den Finger in den Mund und saugte, um zu verhindern, dass Blut auf den Kissenbezug tropfte. Warum musste sie immer so ungeschickt sein?
Ihre Cousine blickte so stur auf ihr eigenes Stickzeug, dass es verdächtig wirkte.
„Lucille hat heute Baron Tetherhams Antrag angenommen. Nun wird es Zeit, dass du unter die Haube kommst.“
„Meinen Glückwunsch, Lucille.“ Emmas Herz drohte vor Panik zu zerspringen. Sie hatte nicht gewusst, dass die Tochter der Ramseys den Baron so gern hatte. „Das kommt überraschend.“
„Gönnst du deiner Cousine ihr Glück etwa nicht, Emma?“ Tante Claras missbilligender Blick hatte sich noch vertieft.
„Doch, doch, natürlich. Ich bin nur überrascht.“
„Dass Lucille trotz deiner Eskapaden eine gute Partie macht? Sie weiß eben, was sich gehört. Und nun bist du dran.“
Emma sah hilfesuchend zu Lucille. „Aber, Lucille, wir hatten doch abgemacht, dass ich bei dir wohnen werde, wir wollten doch ...“
Endlich sah die Cousine auf. Aus Lucilles Augen sprachen Mitleid und ein schlechtes Gewissen. „Der Baron möchte es nicht.“
Ob Lucille den Baron heiraten wollte, interessierte vermutlich niemanden, aber wenn es sein Wunsch war, dass die beiden Cousinen sich trennten, so musste dem natürlich nachgekommen werden.
„Emma!“ Die Stimme der Tante war scharf. „In Anbetracht der Tatsache, dass es dein Skandal war, der Lucilles Chancen so geschmälert hat, bist du die letzte Person, die Ansprüche geltend machen darf. Also wirklich, als ob sich Tetherham eine alte Jungfer ans Bein binden würde. Was für Flausen du im Kopf hast, Kind!“
Das schmerzte. Emma hatte nichts Schlimmes getan und doch galt sie als skandalös. Was konnte sie dafür, dass Lady Brethwaite damals just in dem Moment die Terrasse betrat, als Emma stolperte und auf den Neffen der Lady fiel. Dass Lucille keine drei Meter entfernt stand, hatte die boshafte Frau gekonnt ignoriert. Am nächsten Tag hieß es überall, dass Emma dem jungen Mann Avancen gemacht habe. Tags darauf flüsterte man, sie habe ihn in eine kompromittierende Situation gebracht. Weitere vierundzwanzig Stunden später war in der gesamten Gesellschaft bekannt, dass Emma Falworth kompromittiert war, weil sie versucht habe, den jungen Lord Brethwaite zur Ehe zu bewegen, indem sie sich ihm schamlos an den Hals warf.
All das nur wegen einer dummen Pfütze, in der Emma ausgerutscht war. Feine Ballschuhe auf verschüttetem Champagner und ihr Hang zur Ungeschicklichkeit hatten sie für die gute Gesellschaft untragbar gemacht.
Aber so war der Ton.
Emma hatte es längst akzeptiert und mit Lucille vereinbart, dass diese sie als Gesellschafterin mit sich nehmen würde, falls sie heiratete. Zwei volle Saisons hatte die scheue Lucille gebraucht, bis sie einen Ehemann fand. Emma hatte all die Monate, wenn sie in London weilten, im Haus verbracht. Sie hatte gestickt, gelesen und sich auf Lucilles Berichte von den Partys und Gesellschaften gefreut, bis sie am Ende der Saison wieder zurück nach Lincolnshire übersiedelten. Ein Leben aus zweiter Hand, aber immer noch besser, als von Blicken verspottet und von den feinen Herrschaften geschnitten zu werden.
Dass Lucille in diesem Frühjahr so fix einen Antrag erhielt, war nicht abzusehen gewesen.
Und nun sollte Emma sich wieder hinauswagen unter die Leute? Natürlich. Weil sie keine Gefahr mehr für die Ehepläne der Tochter darstellte, konnte Tante Clara sich daran machen, Emma loszuwerden.
Sie suchte eine Ausrede. Das ging zu schnell. Zumindest ein paar Tage brauchte sie, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie von den Menschen angestarrt und beurteilt wurde. „Natürlich freue ich mich sehr, Tante Clara. Ich ... war nur überrascht. Ich habe gar keine angemessene Garderobe!“ Sicher würde Tante Clara für sie kein weiteres Geld ausgeben wollen.
„Du dummes Ding! Du brauchst keine prächtigen Roben zu tragen, damit du akzeptabel aussiehst. Niemand erwartet von dir, wie eine große Lady ausstaffiert zu sein. Die bestehenden Kleider reichen völlig aus.“
Emma war erstaunt. Ihre Garderobe war schlicht gehalten, nur ein hübsches Abendkleid befand sich darunter, für den Fall, dass die Ramseys Gäste einluden. Aber die Tante fuhr bereits fort. „Mr Grant hat uns informiert, dass er seit dieser Woche auch in London weilt. Er wird uns begleiten. Ist das nicht wunderbar?“
„Oh, aber ich dachte, Mr Grant habe in Lincolnshire zu tun?