Kann ein Lord denn Sünde sein? - Felicity D'Or - E-Book

Kann ein Lord denn Sünde sein? E-Book

Felicity D'Or

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Beschreibung

Was soll eine Lady tun, wenn ihr das Schicksal einen Ehemann vor die Füße wirft? Hunde sind verlässlicher als Männer, Pferde bessere Gesellschaft als Society-Ladys, und Hühner interessanter als Debütantinnen. Davon ist Lady Annabell Vaugh überzeugt. Zu lange hat sie versucht, sich den Konventionen anzupassen. Sie möchte sich zu ihren Tieren aufs Land zurückziehen und der Gesellschaft den Rücken kehren. Da Annabell reich ist und aus gutem Hause stammt, ist es nicht leicht, diesen Plan umzusetzen. Mitgiftjäger, eine zu allem entschlossene Tante, eine spitzzüngige junge Dame sowie der Gentleman mit dem schlechtesten Ruf Englands vereiteln ihre Pläne. Erweist sich Annabells eigenes Herz als das größte Hindernis für ihr Glück?

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Kann ein Lord denn Sünde sein?

 

Enterprising Ladies 5

 

 

Felicity D’Or

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright © 2021 Felicity D‘Or

Alle Rechte vorbehalten.

 

Covergestaltung:

Coverdesign: Giusy Ame / Magicalcover.de

Bildquelle: iStock 476175459, PeriodImages, Freepiks

 

Korrektorat: Sabine Klug

 

Herausgeberin:

Veronika Prankl

Auenstraße 201

85354 Freising

[email protected]

 

Sämtliche Texte und das Cover dieses Buches sind urheberrechtlich geschützt. Eine Nutzung oder Weitergabe ohne Genehmigung des jeweiligen Urhebers oder Rechteinhabers ist nicht zulässig und daher strafbar.

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

Kapitel 14

Kapitel 29

Kapitel 315

Kapitel 422

Kapitel 529

Kapitel 634

Kapitel 739

Kapitel 846

Kapitel 951

Kapitel 1057

Kapitel 1163

Kapitel 1273

Kapitel 1379

Kapitel 1485

Kapitel 1590

Kapitel 1695

Kapitel 17101

Kapitel 18107

Kapitel 19112

Kapitel 20119

Kapitel 21124

Kapitel 22129

Kapitel 23136

Kapitel 24145

Kapitel 25150

Kapitel 26155

Kapitel 27160

Kapitel 28164

Kapitel 29170

Kapitel 30175

Kapitel 31180

Kapitel 32185

Kapitel 33191

Kapitel 34196

Epilog201

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Stratham Abbey, September 1817

 

„Warum nicht? Soll ich ewig auf Stratham Abbey bleiben, als alte Jungfer und Tante?“ Lady Annabell Vaugh verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihren Bruder an. „Hast du nicht genug damit zu tun, dich um deine Frau und dein Kind zu kümmern?“

Zwischen den Brauen ihres Bruders, des Earls of Stratham, entstand eine Falte. „Es ist für mich keine Belastung, dich hier zu haben, Annabell. Das weißt du genau!“ Er sprach mit ihr wie mit einem kleinen Kind. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren! „Versteh doch – du kannst nicht alleine leben, geschweige denn ein ganzes Landgut führen!“

„Ach nein? Ist Bess auch dieser Meinung?“ Wenn sie ihn provozieren musste, um ihr Ziel zu erreichen, dann nahm sie das in Kauf.

„Lass meine Frau aus dem Spiel!“ Sie sah, wie der Nerv unter seinem linken Auge zuckte, und wusste, auch ohne dass er es zugab, dass sie einen Treffer gelandet hatte. „Ich bin das Familienoberhaupt und es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es dir gut geht. Du kannst mir vertrauen, dass ich nur dein Wohl im Sinn habe.“

Immer wenn er diesen gönnerhaften Tonfall anschlug, juckte etwas in Annabell, als müsste sie unbedingt kratzen, obwohl sie wusste, dass man manche Dinge besser sein ließ. Auch jetzt gelang es ihr nicht, dagegen anzukämpfen. „Wenn ich Bess also frage, ob sie es in Ordnung findet, dass du mir nicht zutraust, ein Gut zu führen, dann wird sie dir zustimmen?“ Natürlich drängte sie ihn in die Enge, aber dort war sie selbst schon viel zu lange, um Mitleid mit ihrem Halbbruder empfinden zu können.

„Verflixt, Annie! Wie stellst du dir das denn vor? Ich kaufe Fennings und du spielst dort Gutsherrin? Beschäftigst dich tagaus, tagein mit deinem Rudel von Promenadenmischungen und den Hühnern?“ Die Erwähnung seiner Gattin, die selbst mehrere Fabriken führte, brachte ihn aus dem Tritt. Natürlich würde Bess einer anderen Frau niemals die Fähigkeit absprechen, ein Gut zu leiten.

Genau an dieser Stelle wollte Annabell ihren Bruder haben. Deshalb hatte sie ihn in der Bibliothek des großen Stammsitzes der Earls of Stratham abgefangen. Die Countess war mit der Haushälterin beschäftigt und sie wusste, dass er jetzt keinen Termin hatte und sich für sie Zeit nehmen musste. Sie blockierte die Tür, als sie sah, wie sein Blick dorthin glitt. Jetzt oder nie, hatte sie sich gesagt, und sie würde das durchziehen. Sie überging die despektierliche Bemerkung zu ihrer Wahl von Haustieren. Das war sie gewöhnt und sollte nur ablenken.

„Nein, Damien! Ich kaufe Fennings und ich bewirtschafte es. Mit meinem Geld, das Vater mir vermacht hat!“ Sie hatte ein Anrecht darauf.

„Und das du an deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag erhältst, sofern du zuvor nicht geheiratet hast. Das steht in Vaters Testament und ich halte mich daran.“ Wieder versuchte er, sich rauszureden, aber dieses Mal würde sich Annabell nicht abspeisen lassen.

„Du glaubst, ich wäre nicht in der Lage, mich um ein Landgut zu kümmern! Gib es zu! Du hältst mich für ein verwöhntes Mädchen, dem man nicht zugestehen kann, ein eigenes Leben zu führen!“ Das mochte ein klein wenig übertrieben sein, aber welche Wahl blieb ihr denn? Sie näherte sich erst ihrem einundzwanzigsten Jahrestag. Noch mal vier Jahre warten, bis sie finanzielle Freiheit genoss, war zu lange.

Er trat zu ihr, umfasste ihre Oberarme. „Annie, ich glaube sehr wohl, dass du das kannst. Ich sehe doch, wie du dich um die Tiere kümmerst, und ja, Fennings ist ideal für die Pferdezucht. Deine Stute Clorinda wird vielversprechenden Nachwuchs bringen. Aber ..., versteh doch, es ist nicht einfach in der Welt dort draußen für eine alleinstehende Frau. Männer werden versuchen, dich zu übervorteilen, dich als leichte Beute sehen. Frag Bess! Sie wurde entführt, weil dieser Schurke ihr Vermögen wollte! Willst du das? Alleine in einem großen Haus! Mir graut davor, wie angreifbar du wärst. Jeder Mitgiftjäger hätte es auf dich abgesehen!“

Das war der schwierigste Teil der Verhandlungen. Damien sorgte sich ehrlich um ihr Wohl. Er war kein Tyrann. Und dafür war sie dankbar. Dennoch musste sie ihm begreiflich machen, dass es Zeit war, diese Sorge loszulassen.

„Ich erwehre mich seit Jahren der Mitgiftjäger, falls du es bisher nicht bemerkt hast.“ Ihr Blick war ernst und eindringlich. „Ja, auch ich habe Respekt vor dieser Aufgabe, aber die Furcht darf nicht gewinnen. Ich will meinen Traum nicht aufgeben, nur aus Angst vor dem, was geschehen könnte.“

„Du bist noch jung, Annie, vielleicht ...“

Sie unterbrach ihn kopfschüttelnd. „Ich könnte heiraten, meinst du? Warten, bis sich ein Mann findet, der meine Marotten erträgt und mir erlaubt, das zu tun, was ich kann?“

Der Earl presste die Lippen aufeinander. War sie zu weit gegangen? „So war das nicht gemeint. Du weißt das genau, Annie! Ich würde dich nie in eine Ehe zwingen. Alles, was ich verlange, ist, dass du es in Erwägung ziehst. Nicht weil du musst oder zu schwach bist alleine, sondern weil ein guter Mann dir viel im Leben vereinfachen würde.“

Annabell machte sich los. Sie war es so leid. Ein guter Mann, der sie sah anstelle der Mitgift, die sie brachte? Der sich in die Frau verliebte, die streunende Hunde aufnahm und ihre Hühner beim Namen nannte? Sie war die Lady, die kein Interesse an der Londoner Gesellschaft hegte, nie um Geld spielte und sich nur unter Zwang neu einkleidete.

Denn die schönste Robe konnte ihre Narben nicht verstecken.

Sie hatte es versucht, aber war gescheitert. Zwei Saisons lang hatte sie sich in der Stadt präsentiert, das Getuschel über ihre entstellte Haut ertragen, genau wie das Desinteresse derjenigen, die behaupteten, sie ehelichen zu wollen.

So einen Mann, wie Damien ihn für sie erhoffte, gab es nicht und sie war es leid zu warten.

Der einzige Mann, mit dem sie eine Verbundenheit gefühlt hatte, war verstorben.

Wie lange hatte sie gewartet, dass Lucius Harford zurückkehrte? Und das, wo sie nicht einmal verstand, warum er fortgegangen war. Er hatte ihr nur eine kurze Nachricht hinterlassen, dass er einen Auftrag für das Ministerium annehme. Erst Monate später hatte sie erfahren, dass man ihn nach Indien geschickt hatte. Er hätte ablehnen können. Bleiben, sie heiraten und in Frieden von ihrem Geld leben. Dass er sie trotzdem verlassen hatte, bewies doch nur, wie dumm die Männer waren.

In ihrer Enttäuschung hatte sie sich auf den Hochzeitsmarkt in London gestürzt. Es war ernüchternd gewesen. Niemand dort hatte sich wirklich für sie als Mensch interessiert. Die Tochter eines Earls und ihre üppige Mitgift hatten zwar ein paar Angebote erhalten, aber sie wollte als Annabell geschätzt werden, nicht als Finanzspritze oder Aristokratin mit hervorragenden Verbindungen.

Trotzdem hatte sie weitergemacht, Soireen besucht und venezianische Picknicks. Sie hatte auf Landgütern Kricket gespielt und Laientheater aufgeführt. All die Vergnügungen, die organisiert wurden, damit junge, heiratswillige Menschen sich kennenlernen konnten.

Erst die Nachricht von Harfords Tod hatte ihr die Augen geöffnet. Zwei Monate war das nun her. Eine Ewigkeit und wie gestern zugleich.

Lucius Harford hatte sie verlassen, um einen Auftrag in Indien anzunehmen. Statt sie zu heiraten, war er fortgezogen in ein fernes Land, um dort an einer elenden Krankheit zu sterben. Weil er sie nicht genug geliebt hatte, um zu akzeptieren, dass sie reich war und er nicht.

Eines hatte sie daraus gelernt. Nie wieder würde sie zulassen, dass ihre Gefühle unter der Dummheit anderer zu leiden hatten.

Ihre gesamte Familie hatte sich darüber ausgelassen, wie heldenhaft Lucius Tod gewesen war, dass er im Dienst für das Vaterland seinen Wert bewiesen hatte. Sie hatten ihn betrauert und sie mitleidig angesehen.

Nur Annabell, die ihn geliebt hatte, für die sein Wert in seiner Anwesenheit gelegen hatte, war wütend gewesen statt traurig. Das sollte Liebe sein? Dass man den geliebten Menschen zurückließ, um sich in Gefahr zu begeben? Dass man eine gesicherte Zukunft sausen ließ, weil er ihre Mitgift nicht anrühren wollte?

In ihren Augen war das nicht Liebe, sondern das Gegenteil.

Wenn also die einen sie nur wegen ihres Geldes haben wollten und der andere sie aufgrund ihres Vermögens verlassen hatte, dann würde sie sich eben selbst genügen und mit ihren Tieren leben. Pferden, Hunden und Hühnern war gleich, wie sie aussah oder wie viel Geld auf ihrem Bankkonto lag.

Allerdings brauchte sie Letzteres, um dieses Leben zu verwirklichen.

Jetzt. Nicht erst in vier Jahren.

„Damien, ich habe zwei volle Saisons hinter mir. Wenn es jemanden gäbe, der für mich infrage käme, dann müsste ich diesen Mann mittlerweile kennen.“

Ein neuer Ausdruck war in das Gesicht des Earls getreten, hatte die Entschlossenheit verscheucht. Sie kannte diesen Blick nur zu gut.

„Annie, wenn ich gewusst hätte, was er dir bedeutet, dann hätte ich nie zugelassen, dass Harford nach Indien geht.“

Sie hob eine Hand und unterbrach ihn. „Darum geht es nicht!“

„Du bist unglücklich und denkst, nie mehr lieben zu können, Annie, aber ...“

„Halt! Maße dir nicht an zu wissen, wie ich fühle! Und bevor du weitersprichst, weil ich dich kenne, wisse: Du trägst keine Schuld daran und hast kein Recht, diese Schuld auf dich zu nehmen. Es war Mr Harfords Entscheidung fortzugehen. Dass er dort verstorben ist, ist traurig, aber nicht zu ändern. Selbst, falls er als gemachter Mann zurückgekommen wäre, bin ich nicht sicher, dass ich ihm verziehen hätte.“

Der Earl schien sich ihre Worte zu Herzen zu nehmen. Das Leben mit Bess zeigte Früchte. Genau deshalb wollte sie es ja versuchen, seine Zustimmung zu erhalten. Der Mann, der eine skandalöse Fabrikantin geheiratet hatte, war nicht mehr der pflichtbesessene Earl von früher, der die Ansichten der Gesellschaft über alles stellte. Seine Sorge rührte sie, doch sie war unangebracht.

Fennings war ein Landgut, dessen nördliche Weiden im Süden an die Ländereien des Earls grenzten. Sie blieben immer noch Nachbarn, wenn sie dort lebte. Nach dem Tod des Vorbesitzers war es an einen entfernten Verwandten gegangen, der in Boston wohnte und daher den Gutshof zur Auktion brachte. Er war nicht groß genug für Schafzucht und Ackerbau, aber verfügte über Weideflächen, um dort eine kleine Pferdezucht aufzubauen und Annabells Tiere unterzubringen. Fennings war perfekt für sie.

„Es ist wirklich hochgradig unüblich, Annie.“ Sein Widerstand schmolz.

„Fennings ist nur einen Ritt über deine Ländereien entfernt, Bruder. Außerdem könnten Mama und Mrs Quigley mit mir dort leben. Dann wäre ich nicht alleine. Und wir könnten dir Mamas Menagerie abnehmen.“

„Mich stören die Vögel und Hunde der Dowager Countess nicht.“ Sie sah, wie er mit sich kämpfte. Seit er verheiratet war, zeigten sich immer öfter Risse im Bild des perfekten Aristokraten und Diplomaten. Ein zerknautschtes Halstuch, eine Locke, die nicht sitzen wollte, oder sogar Hemdsärmel. Wenngleich Letztere wirklich nur im privaten Bereich zum Vorschein kamen.

Es musste einfach gelingen! Annabell sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Ihre Knöchel verkrampften und traten weiß hervor, so sehr drückte sie die Hände.

„Also gut! Wenn deine Mutter und ihre Gesellschafterin bereit sind, dorthin überzusiedeln, werde ich den Kauf für dich abwickeln.“

Erleichterung wallte in ihr auf. Sie hatte es geschafft. Mit einem Jauchzen fiel sie ihrem Bruder um den Hals. „Du bist der Beste!“

„Unter einer Bedingung!“ Damien schon sie ein Stück zurück und sah sie an. Ein Mundwinkel zuckte. Was hatte er vor?

Egal, worum es sich handelte, sie würde es tun für ihre Eigenständigkeit. „Alles, was du willst, wenn ich nur Fennings erhalte.“

„Cousin Fitz hat uns zur Jagd eingeladen. Du wirst mich begleiten.“

Annabell stöhnte auf. „Muss das sein? Ich kann die Jagd nicht ausstehen, wie du wohl weißt.“ Damit hatte sie zwar nicht gerechnet, aber zwei Wochen würden schnell vorübergehen.

„Bess und der Kleinen ist die Reise zu beschwerlich. Also dachte ich, du könntest mich begleiten. Fitz ist unser Cousin. Tante Maud wäre sehr ungehalten, wenn ich ohne weibliche Gesellschaft dort auftauche.“ Damien wartete auf ihre Antwort.

„Tante Maud ist über alles ungehalten, was Menschen machen, die jünger sind als sie.“

„Julia würde sich auch freuen, dich zu sehen, Annie. Nun komm schon, es sind nur zwei Wochen.“

Vierzehn Tage in Yorkshire mit Tante Maud erschienen Annabell ein geringer Preis für ihre Freiheit. „Das verstehe ich. Und selbstverständlich komme ich mit dir“, sagte sie zu. „Aber nur, weil ich Cousine Julia und die Kinder so gernhabe. Und ich werde nicht jagen!“

 

 

 

Kapitel 2

 

 

Das Licht war hier im Norden anders als in Gloucestershire oder London. Die Heidelandschaft Yorkshires faszinierte Annabell jedes Mal wieder, wenn sie hierherkamen. Die Farben änderten sich im Spiel der Wolken manchmal innerhalb kürzester Zeit. Aus lieblichem Rosa wurde dann dramatisches Violett, der Himmel wechselte von hellem Blau zu stürmischem Grau. Jetzt, im Oktober, wo die Blätter der Bäume zusätzlich leuchteten, war es wie durch ein Kaleidoskop schöpferischer Glorie zu reisen.

Es war auf eine ganz eigene Art unzivilisiert und wild.

Zum Glück konnte man das nicht vom Haushalt ihrer Verwandten sagen. Der Marquess of Bligh lebte mit seiner Familie in einem riesigen Herrenhaus im Stil des vorigen Jahrhunderts. Im Gegensatz zu Stratham Abbey, das verschiedene Anbauten aus allen möglichen Epochen aufzeigte, war Bligh Manor nach einem Brand vor zwei Dutzend Jahren komplett neu erbaut worden und ermangelte keines Komforts.

Die Dowager Marchioness, Maud, war eine Schwester des verstorbenen Earls of Stratham und eine steife, alte Lady. Sie hielt nichts von der Jugend und war bekannt für ihre spitze Zunge. Ihr Sohn Fitzgerald Merton, Marquess of Bligh, war wohl der einzige Mensch, der es mit ihr aushielt. Weil er die meiste Zeit draußen verbrachte mit seinen Hunden. Zum Glück hatte er eine Frau geheiratet, die ebenso gutmütig war wie er. Julia Merton beherrschte die Kunst, die alte Dame zu ignorieren. Da sie für genügend Nachwuchs gesorgt hatte, war sie den größten Teil der Zeit mit ihren fünf Kindern beschäftigt. Bis auf Tante Mauds spitzzüngige Bemerkungen hatte Annabell die Besuche dort immer genossen.

Dies war ihre erste Einladung zu einer größeren Gesellschaft, die sie nicht damit zubringen musste, einen Ehemann zu finden. Gut möglich, dass es auch die letzte Veranstaltung dieser Art sein würde. Zweifellos blieben Einladungen der Aristokratie aus, wenn sie ihren Plan umsetzte und als unverheiratete Frau ein Landgut führte. Ihre engen Freunde und die Familie würden sie nicht aufgeben, darauf konnte sie sich verlassen. Der Rest des Tons konnte sich getrost ohne sie amüsieren. Trotzdem – oder gerade deshalb – hatte sie sich fest vorgenommen, die Gastfreundschaft ihrer Verwandten in vollen Zügen zu genießen.

„Cousine Julia!“ Annabell stieg aus der Kutsche und ergriff freudig die ausgestreckten Hände der Marchioness.

„Liebste Annabell! Wie sehr wir uns freuen, dass du Stratham begleitest. Zu lange haben wir uns nicht mehr gesehen.“ Lady Bligh war eine kleine mollige Person mit gewitzten Augen und nicht enden wollender guter Laune. In ihrer Gegenwart konnte man gar nicht anders, als sich wohlzufühlen.

Die Begrüßung durch die Tante später beim Tee auf der Terrasse fiel allerdings deutlich frostiger aus. Trotz der warmen Herbstsonne schienen in der Umgebung der alten Dame die Temperaturen zu sinken.

„Annabell, lass dich ansehen!“ Die Witwe des letzten Marquess musterte die Nichte, die pflichtbewusst knickste.

„Guten Tag, Tante. Wie geht es dir?“

Das Lorgnon der alten Lady richtete sich unbarmherzig auf die junge Frau. „Hmpf. Lass dir von der Zofe einen Schal bringen. Wenn du die hässliche Narbe verdeckst, bist du eine ordentliche Partie und kannst dir hier noch einen Gatten angeln.“ Annabell wollte antworten, aber die Tante fuhr schon fort. „Mein Sohn hat ein paar annehmbare Gentlemen zur Jagd geladen, die sich dankbar zeigen dürften, die Tochter eines Earls zu ehelichen.“

„Ich bin nicht auf der Suche nach einem Ehemann, Tante Maud.“ Natürlich würde die alte Dame Annabells Pläne nicht gutheißen und sie wollte keinen Streit provozieren, weshalb sie sich auf die Zunge biss und alle weiteren Erklärungen zurückhielt.

„Papperlapapp, natürlich bist du das. Du kannst schließlich nicht unverheiratet bleiben. Verdecke diese Narbe, dann brauchst du dich nicht zu sorgen. Deine anderen Vorteile wiegen eine körperliche Deformierung auf.“

Annabell ballte die Hände unter dem Tisch zu Fäusten, dass sich die Nägel in die Haut gruben. Die Brandnarbe zog sich von ihrem Hals an der linken Seite bis zur Schulter. Früher hatte sie immer versucht, diesen Makel mit Schals und hohen Krägen zu verstecken. Mittlerweile war es ihr gleich. Es half ja nichts. Irgendwann würde ein Ehemann davon erfahren. Ihr war es lieber, dass jeder wusste, wie sie aussah, dass die Fakten auf dem Tisch lagen.

Anfangs dachte sie, es wäre eine Möglichkeit, festzustellen, welche Herren sich ernsthaft für sie interessierten. Wer hinter der Narbe die Person sah. Leider überschattete ihre Mitgift alles. Sogar ihr Aussehen. Tante Maud hatte recht – es fände sich immer jemand, der eine Frau ihres Standes und Vermögens trotz Narbe nehmen würde. Was sie keinen Schritt weiterbrachte.

In ihrer Familie sprach längst niemand mehr darüber und Fremde wagten es nicht, sie darauf anzusprechen. Trotzdem ärgerte es Annabell, dass Tante Maud sie auf ihren Körper reduzierte. Doch bevor sie ihre Erziehung vergaß und der Tante ins Gesicht schleuderte, was sie von deren Vorschlägen hielt, stürmten die Kinder auf sie zu.

„Annabell, spielst du mit uns?“, bat die fünfjährige Mary sie mit einem Lächeln im pausbäckigen Gesicht.

„Mary, sag doch erst mal Guten Tag, wie es sich für eine Lady geziemt!“ Ihre um ein Jahr ältere Schwester Madeleine knickste vor Annabell.

„Meine Güte, seid ihr groß geworden, seit ich euch zuletzt gesehen habe! Dabei ist es nur ein Jahr her!“

Mary wartete ungeduldig, bis auch ihre Brüder William und Henry sich verbeugt hatten, und warf ihrer Großmutter einen vorsichtigen Blick zu. Diese rümpfte die Nase und murmelte etwas von ungezogener Brut, bevor sie sich ihrem Tee widmete.

„Kinder, ihr dürft eure Cousine nicht so überfallen!“ Die Marchioness winkte die Kinderfrau herbei, die, mit der kleinen Marigold auf dem Arm, gerade die Terrasse betrat. „Zuerst gibt es Tee. Wenn ihr artig seid und beweist, dass ihr keine Horde kleiner Wilder seid, dann dürft ihr Annabell fragen, ob sie mit euch spielt. Sie ist aber möglicherweise von der Reise sehr erschöpft und möchte sich ausruhen.“

Während der Nachwuchs mit seiner Kinderfrau den Tee einnahm und sich dabei von seiner Schokoladenseite zeigte, setzte sich Lady Bligh zu Annabell und ihrer Schwiegermutter. „Bitte entschuldige ihren Überschwang. Sie haben dich so gerne, Annabell.“

„Kinder soll man sehen, aber nicht hören! Zu meiner Zeit hätte es so etwas nicht gegeben“, brummte die Tante.

„Ich kann mir vorstellen, dass die lebhaften Kleinen dir zu viel werden, Mama. Wenn die Kinder dich stören, kannst du jederzeit ins Witwenhaus ziehen. Fitz hat es sehr komfortabel renovieren lassen und es liegt sehr ruhig.“

Tante Maud brummte etwas Unverständliches und erhob sich ein paar Minuten später, um sich zurückzuziehen. Mit durchgestrecktem Rückgrat und hochgereckter Nasenspitze begab die alte Dame sich ins Haus.

„Sie wäre schrecklich einsam im Witwenhaus“, erklärte Lady Bligh mit einem Schmunzeln. „Obwohl sie sich permanent beschwert, hat sie die Kinder insgeheim sehr gerne um sich. In ihrem privaten Salon gibt es eine Keksdose, die immer gefüllt ist.“

„Wirklich? Es überrascht mich, dass Tante Maud zu den Personen gehört, die Kindern Süßigkeiten zustecken.“ Annabell war erstaunt, war doch die Tante in der ganzen Familie als Drachen bekannt.

Lady Bligh lächelte verschwörerisch. „Sie ahnt nicht, dass ich davon weiß. Das Geheimnis im Umgang mit Mama liegt darin, sich nicht von ihr erschrecken zu lassen. Du darfst sie nicht merken lassen, dass ihr Genörgel dich trifft. Wenn ich dir einen Rat geben darf, Annabell?“

„Sicher, meine Liebe.“

„Ich habe gehört, was sie vorhin gesagt hat. Möchtest du vermeiden, jedem Squire der Gegend in den nächsten Tagen als potenzielle Braut vorgestellt zu werden, musst du sie ignorieren. Mit meiner Schwiegermutter zu diskutieren, reizt sie nur.“

So hatte Annabell sich diese Tage nicht vorgestellt. Sie seufzte und stellte die leere Teetasse beiseite. „Ich möchte nicht heiraten, Julia. Dieser Besuch dient wirklich nur dazu, euch zu sehen, meine Liebe, das musst du mir glauben.“

Da die Kinder nun angelaufen kamen, um mit ihr zu spielen, hatte die Marchioness keine Möglichkeit, diesen Plan zu kommentieren.

Annabell war das nur recht. Sie war es leid, sich zu erklären oder für eine Frau mit gebrochenem Herzen gehalten zu werden. Denn obwohl sie ihre Jugendliebe verloren hatte, fehlte ihr nach so langer Zeit nichts mehr. Lucius hatte entschieden, sein Glück in Indien zu versuchen. Ohne sie zu konsultieren. Ihre Gefühle für ihn hatten seither jedes Stadium, von Verliebtheit über Verwirrung und Wut bis hin zur Trauer, durchlaufen. Wie könnte sie nicht über den Verlust eines solchen Freundes trauern? Aber dennoch ... Lucius wollte sein Glück machen auf die Art und Weise, wie es ihm richtig erschienen war. Das hatte sie mittlerweile akzeptiert. Ihre junge Liebe war nie darauf ausgerichtet, zu dauern. Sie hatte damit abgeschlossen und entschieden, nach vorne zu blicken.

Nun war sie an der Reihe.

Noch war zum Glück niemand außer ihnen angekommen, doch das würde sich schnell genug ändern. Für die nächsten beiden Wochen waren nicht nur Jagdpartien angesetzt, sondern auch Vergnügungen für die Damen und sogar ein Ball.

Beim Dinner kam das Gespräch auf die anderen Gäste, die erwartet wurden.

„Tante Prudence wird mit Giles und Gertrude morgen ankommen“, antwortete Lady Bligh auf Damiens Nachfrage.

„Lady Kinnock erfreut sich guter Gesundheit?“

„Die Schwester meines seligen Gatten ist immer krank, Stratham! Ich habe noch keinen Tag erlebt, an dem sie nicht leidend war. Seltsamerweise hindert sie das nicht, ihre Familie herumzukommandieren!“, rief Tante Maud, die bekanntermaßen seit ihrem Hochzeitstag einen Kleinkrieg mit ihrer Schwägerin führte. „Aber sicher hat sie wieder einen wohltätigen Fall im Schlepptau.“

„Sie wird von einer jungen Dame begleitet, die zu Besuch ist bei den Kinnocks. Eine Miss Darnell“, erklärte Julia.

Annabell meinte, den Namen schon einmal irgendwo gehört zu haben, verwarf den Gedanken aber wieder. Zu Schotten hatte sie kaum Kontakt. Mit Ausnahme von Lord Kinnock. Giles und Gertrude Kinnock waren ihr natürlich nicht fremd. Der Earl würde sich niemals eine Jagd auf Bligh Manor entgehen lassen, lebte er doch für diesen blutrünstigen Sport. Und seine altjüngferliche Schwester begleitete ihn und ihre Mutter überallhin.

„Giles sollte besser auf Brautjagd gehen als auf Fuchsjagd!“, brummte die alte Lady. „Kinnocks Erbe ist ansonsten seine Schwester. Nicht, dass das irgendetwas ändern würde. Die schottischen Gesetze, die einer Frau erlauben, den Titel zu erben, bringen nichts, wenn diese Frau selbst nicht heiratet. Gertrude wird ganz sicher keinen Erben mehr gebären!“

Der nächste Gang wurde aufgetragen, wodurch die Schmährede der Dowager Marchioness über ihre angeheirateten Verwandten beendet wurde. Lord Kinnock war ein gutes Stück älter als Damien, und seine Schwester befand sich auch bereits in ihren Dreißigern. Gertrude Kinnock mochte eine ungelenke, stille Person sein, die darin aufging, für die Bequemlichkeit ihrer Mutter und ihres Bruders zu sorgen, aber sie war kein schlechter Mensch. Wieso musste man jede Frau danach beurteilen, ob und wen sie heiratete? Womöglich war Gertrude glücklich mit ihrem Leben.

„Wenn alle Stricke reißen, kannst du Kinnock nehmen, Annabell“, nahm die Tante den Faden wieder auf.

Annabell erschrak ob dieses Vorschlags so sehr, dass sie sich beinahe verschluckte. Doch bevor sie antworten konnte, meldete sich ihr Bruder zu Wort. „Weshalb sollte Annabell Kinnock heiraten? Grundgütiger! Sie passen überhaupt nicht zueinander. Er ist zwanzig Jahre älter als sie und liebt die Jagd, während meine Schwester es nicht über das Herz bringt, ein Huhn zu töten.“

„Irgendwen wird sie heiraten müssen, oder willst du, dass sie wie Gertrude endet? Kinnock ist zumindest nicht auf ihre Mitgift angewiesen.“

Julias Vorschlag, Tante Maud zu ignorieren, war ja gut und schön, aber wie sollte das möglich sein, wenn sie derartige Dinge sagte?

„Wer sagt, dass Gertrude unglücklich ist?“, entgegnete Annabell daher und sah ihrer Tante herausfordernd in die Augen.

Diese schüttelte fassungslos den Kopf. „Das ist doch ... natürlich möchte jede Frau lieber ihr eigenes Haus führen, als der Familie zur Last zu fallen!“

„Warum bist du noch nicht ins Witwenhaus gezogen, Tante, wenn das so ist?“ Annabell hatte genug davon, wie eine Zuchtstute behandelt zu werden. Respekt den Älteren gegenüber war ja gut und schön. Doch war sie nicht gewillt, sich alles gefallen zu lassen.

Auf dem runzligen Gesicht der Dowager Marchioness zogen Gewitterwolken auf.

„Fitzgerald, hat unser neuer Nachbar mittlerweile auf die Einladung geantwortet?“, wechselte Julia Bligh das Thema und hielt dadurch ihre Schwiegermutter davon ab, sich weiter mit Annabell zu streiten.

„Sir Caspian wird übermorgen an der Jagd teilnehmen. Für den Ball hat er noch nicht zugesagt.“

„Doch nicht etwa Sir Caspian Rougemont?“ Der Earl of Stratham beging vor Erstaunen beinahe den Fauxpas, seine Gabel fallen zu lassen.

„Ich fürchte, ja.“

„Seit wann ist er hier? Und wie kommt Rougemont auf deine Gästeliste, Bligh?“ Damien sah fragend zu seinem Cousin. Gespannt beobachtete jeder am Tisch den Austausch. Annabell hatte diesen Namen noch nie vernommen. Doch aus der Reaktion der anwesenden Personen war deutlich zu erkennen, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Landjunker handelte.

„Ja, Sohn, wie kommt es, dass du diesen ... Mann ... in unser Haus einlädst?“, ließ sich die Dowager Marchioness vernehmen.

Cousin Bligh beachtete den scharfen Ton seiner Mutter nicht und erklärte lediglich, dass Rougemont im Frühjahr ein benachbartes Anwesen gekauft habe und die Höflichkeit unter Nachbarn es gebot, ihn einzuladen.

„Solche Menschen schneidet man, mein Sohn. Man lädt sie ganz sicher nicht zu Veranstaltungen ein, die auch von der unschuldigen Jugend besucht werden!“

Was dieser Sir Caspian wohl verbrochen hatte? Annabell wagte nicht, nachzufragen. Wahrscheinlich war es irgendeine unbedeutende Sache, die der alten Lady aufstieß. Tante Maud fand schließlich an jedem ihrer Bekannten etwas auszusetzen.

Stratham wechselte einen Blick mit seinem Cousin und machte sich wieder über den Fasan auf seinem Teller her. Dass ihr Bruder beunruhigt die Stirn runzelte, verursachte Annabell größere Sorgen als die Tiraden der Tante. Bevor sie versuchen konnte, etwas mehr über den mysteriösen Nachbarn zu erfahren, griff allerdings Julia ein.

„Möchtest du noch mehr Süßspeisen, Mama? Die Köchin hat ein Beerencrumble gemacht.“ Sie ignorierte die gehässigen Bemerkungen und lächelte ihre Schwiegermutter so liebreizend an, dass diese lediglich die Nase rümpfte und sich eine Portion auflegen ließ.

 

 

 

Kapitel 3

 

 

„Annabell, was hältst du davon, deinen Bruder und meinen Gatten zum Markt nach Pickering zu begleiten?“ Lady Bligh sah ihre Cousine über den Frühstücksraum entschuldigend an. „Ich habe hier zu tun, wenn die anderen Gäste eintreffen, und bin dadurch unabkömmlich. Du könntest deine Zofe mitnehmen.“

„Das ist ein vortrefflicher Vorschlag, Julia. Mir ist bewusst, wie aufreibend es ist, das Haus voller Gäste zu haben. Du hast sicher noch sehr viel zu erledigen. Selbstverständlich mache ich mich gerne nützlich.“

Die Marchioness winkte ab. „Das ist sehr aufmerksam von dir, jedoch nicht nötig. Nach der langen Fahrt hast du dir etwas frische Luft und freie Zeit verdient.“

„Möchtest du reiten, Annabell, oder lieber die Kutsche nehmen?“, erkundigte sich der Marquess über die Zeitung hinweg.

„Ich würde euch sehr gerne zu Pferd begleiten, Cousin, wenn es keine Umstände macht. Nach den Tagen in der Kutsche kann ich heute etwas Bewegung vertragen.“

„Natürlich. Ich veranlasse, dass ein Pferd für dich bereitsteht. In einer Stunde?“

Annabell aß auf, bedankte sich und zog sich zurück, um in ihr Reitkostüm zu wechseln. Ihre Zofe war froh, Zeit zu haben, sich um die Kleider zu kümmern, die nach der Reise aufgebügelt werden mussten. Sie hatte am Vortag ausgepackt, aber noch war Annabells Garderobe nicht in dem gewünschten Zustand. „Mylady, es tut mir schrecklich leid, der handbemalte Fächer hat unter dem Transport gelitten. Es ist mir unbegreiflich, wie das geschehen konnte.“

„Was ist passiert, Molly?“ Das Mädchen fungierte als Annabells Zofe, wenn sie unterwegs war. Normalerweise war sie allerdings Dienstmädchen auf Stratham Abbey, weshalb sie mit dem Vornamen angesprochen wurde.

Sie zeigte mit peinlich gerötetem Gesicht auf das feine Stück, dem ein Glied abgebrochen war. „Er hatte sich in den Fransen einer Stola verheddert und brach ab.“

„Mach dir keine Sorgen, Molly. Das kann schon mal passieren. Pass in Zukunft besser auf, dass solche Gegenstände gut in Baumwolle gewickelt werden oder in ein Kästchen gepackt, wenn ich verreise. Ich werde sehen, ob ich in Pickering Ersatz finde. Ansonsten muss es diesmal der andere Fächer tun.“

Der Ritt in den Ort war zauberhaft. Annabells Reitkünste konnten mit denen der Herren durchaus mithalten und der Galopp über die Heide ging viel zu schnell vorüber. Pickering war ein Marktflecken mit einer hübschen normannischen Kirche, den sie von früheren Besuchen bereits kannte. Eine Reihe ordentlicher Steinhäuser mit Geschäften gruppierte sich um den zentralen Platz, der am Markttag lebhaft besucht war.

„Annie, ich möchte mit Fitz einen Hengst ansehen, der heute verkauft wird. Es soll sich um einen Prachtkerl handeln. Hast du etwas dagegen?“ Damien half ihr aus dem Sattel und übergab dem Reitknecht ihre Tiere, um sie trockenzureiben und ihnen Wasser zu bringen.

Sie hakte sich bei ihrem Bruder ein. „Da bin ich sehr gerne dabei.“

Der Hengst erwies sich als Enttäuschung, aber das verdarb Annabell nicht den Spaß. Die Bauern und Händler mochten nicht ihrer Klasse angehören, doch sie waren allesamt freundlich und zuvorkommend. „Mylady, bitte probieren Sie einen Apfel!“ Ein kleines Mädchen hielt ihr schüchtern eine auf Hochglanz polierte, rotbäckige Frucht hin und knickste.

„Ich danke dir! Dieser Apfel sieht sehr verlockend aus.“ Annabell nahm das Obst an und entschädigte das Kind mit einem Penny. Mit vor Aufregung geröteten Wangen lief das Mädchen zum Stand seiner Mutter.

Nach einer Weile schlugen die Herren vor, im Gasthaus einzukehren, wo sie einige Gentlemen treffen wollten, die zur hiesigen Jagd gehörten. Annabell fand die Fuchsjagd eine barbarische Institution. Mit einer Reihe Herren im Gasthaus darüber zu sprechen war wenig reizvoll für sie.

„Ich möchte noch zum Kurzwarenhändler, Damien, weil ich einen neuen Fächer benötige.“

„Selbstverständlich begleite ich dich.“

„Lass nur“, erwiderte Annabell. „Es ist doch nur ein kurzes Stück die Straße hinab. Ich kann das Haus von hier aus sehen. Du sollst nicht meinetwegen auf das Treffen mit den Herren verzichten.“

Der Marquess sah sich suchend um. „Wenn du uns zu den Ställen begleitest, kann ich John mitschicken, Annabell.“

„Macht euch doch keine Umstände. Sobald ich fertig bin, stoße ich im Gasthof zu euch. Damien, bitte! Was soll mir denn in Pickering inmitten all dieser guten Leute passieren?“

„Na schön!“ Was ihren Bruder überzeugt hatte, konnte Annabell nicht sagen. Möglicherweise hatte er mittlerweile verstanden, dass er ihr ein gewisses Maß an Selbstständigkeit zugestehen musste. Möglicherweise war aber die Unterhaltung mit den anderen Jägern einfach verlockender, als Kurzwaren zu begutachten.

Ihr war es einerlei und so spazierte sie vergnügt auf die gegenüberliegende Seite des Marktplatzes, wo sich der Laden des Händlers befand. Es wäre wirklich ärgerlich, zu ihrem schönsten Ballkleid keinen passenden Fächer zu haben. Schließlich wusste sie nicht, ob sich jemals wieder die Gelegenheit fände, es zu tragen. Sobald sie ihr neues Leben auf Fennings begann, würden die Einladungen zu eleganten Bällen vermutlich ausbleiben. Außer für Gelegenheiten innerhalb der Familie gäbe es für sie keinen Grund, sich auszustaffieren und an sozialen Ereignissen teilzunehmen. Sie verließ mit diesem Schritt endgültig den Status einer Debütantin und damit auch den Hochzeitsmarkt.

Der Händler erinnerte sich an sie von früheren Besuchen. „Mylady! Ich wünsche einen guten Morgen. Wie kann ich Ihnen dienlich sein?“

Annabell bat um eine Auswahl an Fächern und fand nach kurzer Zeit einen, der zum Kleid passte. Da sie sich bezüglich der Farbe nicht sicher war, entschied sie sich für ein weißes, mit Goldfäden besticktes Exemplar. Er wäre auf jeden Fall passender als der gelbe Fächer, den sie noch dabeihatte. Der Händler verpackte ihren Einkauf sorgfältig, und sie bezahlte mit ein paar Münzen aus ihrem Retikül.

Als sie den Laden verließ, kitzelte sie die warme Oktobersonne. Sie sollte unverzüglich zum Gasthof gehen, doch die Aussicht auf die jagdversessenen Gentlemen lockte sie gar nicht. Was wäre dabei, noch ein wenig durch den Ort zu spazieren und den angenehmen Herbsttag zu genießen?

Hinter der Kirche verlief sich die Menschenmenge. Die ersten Karren traten den Heimweg an, aber sie bog am Friedhof ab, von wo sie wusste, dass man über die Obstwiesen an der Nordseite des Ortes wieder zum Marktplatz gelangte.

Sie war ein freier Mensch. Ein befriedigendes, wenn auch seltsames Gefühl. Würde es so sein, sobald sie die Herrin ihres Gutes wäre? Selbstständig Entscheidungen zu treffen, aber gleichzeitig alleine zu sein? Vieles würde sich ändern, doch sie wankte nicht in dem Weg, den sie einzuschlagen plante. Sie war bereit, die Bälle und Veranstaltungen zu opfern, um ihre Eigenständigkeit und Freiheit zu erhalten.

Hinter einer Reihe Häuser bog Annabell ab und spazierte unter den Obstbäumen entlang. Es roch nach reifen Äpfeln und die letzten Bienen des Jahres summten emsig vorbei. Das Läuten der Kirchturmglocke brachte ihr die fortgeschrittene Zeit in Erinnerung, worauf sie sich beeilte, ins Dorf zurückzugehen. Der schnellste Weg zum Gasthof führte durch eine schmale Gasse. Sie bog beherzten Schrittes ein und bemerkte den Lärm aus einem Hinterhof erst, als es schon zu spät war.

Etliche Menschen drängten sich lauthals um etwas, das im Hof vor sich ging. Annabell blieb am Torbogen stehen und überlegte, was zu tun war. Durch die Gasse kamen ein paar wenig vertrauenerweckend aussehende Gesellen auf sie zu. Der direkte Weg zum Marktplatz war ihr daher versperrt. Sie müsste umkehren und über den Gottesacker zurückgehen.

In dem Moment, wo sie sich umdrehte, stürmten Männer aus dem Hof. Sie trat hektisch zur Seite und fand sich gegen den Torbogen zum Hinterhof gedrängt. Die Leute rochen ungewaschen und der Lärm irritierte sie. Erschrocken drückte sie sich an die feuchte Steinmauer. Was ging hier vor sich?

Im etwa zwei Meter breiten Durchgang diskutierten die Neuankömmlinge mit den anderen. Allesamt sahen sie nicht wie Gentlemen aus oder wie die freundlichen Leute vom Markt. Auch war außer ihr keine Frau zu sehen. In was war sie hier nur geraten? Annabells Finger umklammerten das Retikül und das Paket mit dem Fächer. Sie sah sich mit einem schnellen Blick um. Hinter ihr traten die Gesellen von der Gasse in den Hof. Sie drückte sich so tief es ging in den Schatten des geöffneten großen Tors. Vor ihr feuerten die Männer im Hof irgendwen an, klatschten und schrien.

Die Situation war alles andere als anständig. Sie musste schnellstmöglich verschwinden.

Die Männer hatten sie nicht beachtet. Noch nicht. Sie atmete hektisch und schob sich langsam zurück in die Gasse. Hoffentlich sorgte, was immer in diesem Hof vorging, dafür, dass man sie nicht bemerkte. Die Männer brüllten und gestikulierten wild.

Sie hatte es fast geschafft!

„Na, was haben wir denn hier?“ Der ekelhafte Hauch von Ale drang zu ihr und ein Kerl musterte sie unverblümt. Schon packte er ihren Arm, und Annabell wollte ihm etwas Wütendes entgegenschleudern, da wurde er von seinen Kumpels fortgezogen. „Na komm schon, Gill, sonst ist der Spaß ohne uns vorbei! Ein Mädel kannst du dir nach dem Kampf auch noch suchen!“

Die Erleichterung, als die schmutzige Pranke ihren Arm losließ, war nur kurz. Sie musste von hier verschwinden!

Sie lief die paar Schritte in die Gasse. Geschafft!

Nichts wie fort von hier. Erleichtert atmete sie auf, als sie ein weiteres Mal angerempelt wurde. Beinahe wäre sie gestürzt, aber eine Hand ergriff ihren Arm und hielt sie aufrecht.

„Vorsicht, Miss!“, rief eine ärgerliche Stimme.

Wirklich, was fiel diesen Männern ein, sie einfach zu packen? Annabell sah auf und fand sich einem Herrn gegenüber, der sie stirnrunzelnd ansah. Er war nicht mehr jung, wie die Fältchen um seine grünen Augen bezeugten, aber er war sicher der schönste Mann, den sie je getroffen hatte. Perfekte klassische Gesichtszüge, ein voller Mund und ein Kinn mit einem Grübchen. Augen umrahmt von Wimpern, so lang und fächerförmig, dass jede Debütantin dafür töten würde, blickten ihr verächtlich entgegen. Er war nicht so heruntergekommen wie die anderen dort im Hof. Ganz im Gegenteil, sein flaschengrüner Rock war aus feiner Wolle und ein hoher Hut krönte die kastanienbraunen Locken.

Er ließ sie los und sah verdutzt von ihr zu ihrer Umgebung. „Sind Sie etwa alleine hier? Sie müssen sofort verschwinden!“

„Das würde ich ja gerne, wenn Sie die Güte besäßen, mich loszulassen, Sir!“

Also war ihm aufgefallen, dass sie nicht hierher passte. Ihre Anwesenheit an einem solchen Ort war unschicklich. Das schlechte Gewissen meldete sich, aber sie wollte dem nicht nachgeben. Annabell ärgerte sich über seinen schockierten Gesichtsausdruck. Sie war ja nicht absichtlich in diese Situation geraten. „Ich bin kurz vom Markt spazieren gegangen, um den schönen Tag zu genießen, und wurde hier auf dem Weg zum Gasthof aufgehalten. Wo kommen wir hin, wenn man sich nicht mal die Beine vertreten darf, ohne belästigt zu werden?“

Kopfschüttelnd musterte er sie. „Sie sind nicht von hier, was? Sind Sie ihrer Zofe weggelaufen?“

Was fiel ihm ein, sie so herablassend zu behandeln? Sie war keine dumme Miss, die man herumschubsen konnte. Das war ihre Gelegenheit zu beweisen, dass sie mit jeder Situation klarkommen konnte. „Das geht Sie gar nichts an, Sir!“

Sie drehte sich weg und wollte zurückgehen, aber der Herr ließ sich nicht abschütteln. „Auf jeden Fall hat eine Lady nichts bei einem Hahnenkampf zu suchen.“

Annabell blieb abrupt stehen. Ihr Kopf schnellte zum Tor zurück. „Hahnenkampf? Sie hetzen dort arme Tiere aufeinander?“

Tierliebe war schon immer ihr Verhängnis gewesen. Wenn es etwas gab, das Lady Annabell Vaugh noch wichtiger war als ihre Zukunftspläne, dann waren das misshandelte Kreaturen. Sie drehte um und trat einen Schritt auf die lärmende Menge zu, die Lippen zusammengepresst. Ihr graute es vor den Männern da drin. Aber jemand musste etwas für die armen Tiere tun und die Quälerei beenden.

„Wo wollen Sie hin?“ Wieder hielt der Fremde sie fest.

„Ich werde das unterbinden! Das ist Tierquälerei! Haben Sie eine Ahnung, was man den Hähnen dort antut?“ Sie versuchte, seinen Griff abzuschütteln.

„Das werden Sie nicht, Miss! Sind Sie verrückt? Diese Männer würden nur ... Sie bringen sich in Gefahr!“

Annabells Gesicht wurde weiß, als sie an die groben Kerle dachte, deren Gegröle noch zugenommen hatte. „Aber man muss doch was tun! Ich werde nicht danebenstehen und zusehen, wie Tiere zum Vergnügen misshandelt werden!“

„Es ist nicht verboten, selbst wenn es geschmacklos ist“, widersprach er.

„Geschmacklos?“, zischte sie empört. „Es ist barbarisch!“

„Das mag sein, aber niemand dieser Männer wird auf eine Jungfer mit guten Absichten hören. Stattdessen wird Sie jemand erkennen. Und schon sind Sie der Gegenstand jedes Gespräches der nächsten Wochen im gesamten North Riding. Sie wären nur ein weiteres Hühnchen, das gerupft wird! Kommen Sie!“ Er ließ ihren Ellbogen nicht los und Annabell blieb nichts anderes übrig, als seinen großen Schritten die Gasse hoch und zurück zu folgen.

Sie war ja nicht wirklich begierig darauf, sich in die Meute der Zuseher zu stürzen. Mit Grausen dachte sie an den lauernden Blick dieses Gill.

Aber mit einem Fremden um das Dorf zu schleichen, war ebenso unschicklich.

„Lassen Sie mich! Ich finde schon zurück, Sir!“, rief sie und versuchte ein weiteres Mal vergebens, sich loszumachen. So viel zu ihrer Eigenständigkeit. Nur, was sollte sie tun, wenn jeder dahergelaufene Mann glaubte, ihr Befehle erteilen und sie herumschubsen zu dürfen, weil sie eine Frau war? Pah! Da konnte er noch so gut aussehen!

„Nichts da! Ich begleite Sie, bis Sie in Sicherheit sind!“

In der Tat fühlte sie sich sicher im festen Griff seiner Hand. Hier draußen, am Ortsrand, verstummte der Lärm und es waren kaum Menschen unterwegs. Die Händler mit ihren Karren nahmen die Straße, nicht den Pfad hinter den Häusern. Ein paar Kinder liefen tuschelnd davon, doch sonst herrschte Frieden. Sie hatte nun mehr Muße, ihn zu betrachten. Warum kannte sie diesen Gentleman nicht? Er war äußerlich so perfekt, dass man ihn nicht vergessen konnte. Annabell war in den letzten beiden Jahren beinahe der gesamten Aristokratie des Landes vorgestellt worden, galt sie doch als großer Fang auf dem Heiratsmarkt. Von diesem Herrn hätte sie doch wenigstens hören müssen! Sie ertappte sich dabei, wie sie auf sein klassisches Profil starrte, und plötzlich spürte sie nur noch diese eine Stelle, an der er sie festhielt. Allerdings nicht in einem bedrohlichen Sinne, sondern mehr, als wäre da eine Verbindung.

Wie irritierend!

„Sie können mich jetzt wirklich loslassen, Sir!“

Der feste Griff seiner Hand um ihren Arm ließ nicht nach. „Erst wenn ich Sie in Sicherheit weiß!“

Was fiel ihm ein, so mit ihr umzugehen? Wer sagte denn, dass er wirklich vorhatte, sie in Sicherheit zu bringen, und nicht ganz andere Dinge plante?

Seltsamerweise war Annabell davon überzeugt, dass der Gentleman wirklich nur auf ihr Wohlergehen bedacht war. Sie konnte nicht sagen, weshalb. Lag es daran, dass er ansonsten kein Interesse an ihr zeigte? Die Narbe konnte ihn nicht abschrecken, denn die wurde von ihrem Reitkostüm verdeckt. Vermutlich wollten nicht einmal Sittenstrolche etwas mit rothaarigen Frauen anfangen.

Oder er war einfach nur ein anständiger und besorgter Gentleman.

Sie erreichten die Friedhofsmauer, wo er sie zögerlich losließ. „Finden Sie von hier zurück? Dieser Weg ist frei von angetrunkenen Männern.“

Sie nickte. Ihr Handgelenk fühlte sich kalt und zart, beinahe nackt, an, ohne seinen festen Halt. Wie seltsam.

„Haben Sie Dank, Sir!“ Annabell war insgeheim froh, unbescholten den Kampfplatz verlassen zu haben. Dennoch konnte sie die armen Tiere nicht aus ihrem Gedächtnis streichen. „Können Sie den Kampf beenden, Sir?“ Autoritär genug wirkte er mit seiner großen, breitschultrigen Gestalt und der gut geschnittenen Kleidung.

Er ignorierte ihre Bitte und sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Was haben Sie vor? Bevor Sie dahin zurücklaufen, Miss, bringe ich Sie lieber direkt an Ihr Ziel. Unpassend, aber es wäre das kleinere Übel!“

Was für ein sturer Mensch! Warum mussten Männer durch diese Art der Bevormundung immer alles zerstören? „Ich finde meinen Weg. Haben Sie Dank und helfen Sie jetzt bitte den armen Tieren, Sir. Diese Barbarei gehört verboten!“

Der Gedanke an den Hahnenkampf brachte ihr mit verblüffender Deutlichkeit das Bild der Zuseher ins Gemüt. Die grobschlächtigen Kerle waren größtenteils angetrunken gewesen und der Hof schmutzig und heruntergekommen. Das war in der Tat kein Ort für eine Dame. Aber wie hätte sie wissen sollen, dass so nah am respektablen Marktplatz eine derartige Quälerei stattfand? Ein prüfender Blick aus grünen Augen traf sie. Er sah wirklich gut aus, wenn auch etwas müde. Ihretwegen hatte er Zeit verloren und war aufgehalten worden. Das schlechte Gewissen regte sich leise in Annabell.

„Ich wollte Ihnen wirklich keine Umstände machen, Sir!“ Schließlich hatte sie nicht um seine Begleitung gebeten.

Der Gentleman winkte ab. „Es war mir eine Ehre, einer Dame zu helfen.“

„Helfen Sie jetzt den Tieren?“

Er seufzte ob ihrer Hartnäckigkeit. „Nun gut, ich werde sehen, was ich tun kann, da ich dort noch etwas zu erledigen habe, aber ich kann nichts garantieren. Allerdings nur, wenn Sie mir Ihrerseits versprechen, sich direkt an Ihr Ziel zu begeben, Miss. Kein Herumspazieren durch den Ort mehr.“ Der zynische Ausdruck seines schönen Mundes verstärkte sich.

„Sie haben mein Wort, dass ich keine Umwege mehr nehme, Sir!“

Er nickte, tippte an seinen Hut und machte kehrt.

Annabell schüttelte den Kopf und verscheuchte den Gedanken an den Herrn. Sie sollte sich wirklich beeilen und nichts von dieser seltsamen Begegnung erwähnen. Wenn es schon als unschicklich galt, mit einem fremden Gentleman ein paar Worte zu wechseln, was würde dann erst diese Eskapade anrichten, sollte sie bekannt werden? Damien würde wiederholt über die Gefahren predigen, die auf unschuldige junge Frauen lauerten, und dafür sorgen, dass sie nie ihre Ruhe hätte. Am Ende würde er sein Versprechen gar noch zurückziehen! Es war besser, ihr Bruder erfuhr nichts.

Sie musste zukünftig vorsichtiger sein.

Allerdings wüsste sie nur zu gerne, wer der Herr gewesen war.

Der Marquess und der Earl kamen ihr am Gasthof entgegen. „Das hat aber gedauert! Ich dachte schon, wir müssten dich suchen, Annabell.“ Damien runzelte die Stirn.

Sie winkte ab, bemühte ein harmloses Lächeln und erklärte ihrem Bruder: „Du weißt doch, wie schwer wir Frauen uns tun, wenn es darum geht, die richtige Farbe auszuwählen. Und dann habe ich mir noch Bänder für einen Hut angesehen.“

Wie erwartet, langweilte das Thema die Herren, und sie beeilten sich, zu ihren Pferden zu gelangen und aufzusitzen.

Zu gerne hätte Annabell ihren Cousin auf den Hahnenkampf angesprochen und ihn gebeten, diese Barbarei zukünftig zu unterbinden. Nur hätte sie sich damit leider verraten. Sie wusste von den Praktiken, Hähne bestimmter Rassen für den Kampf auf Leben und Tod zu züchten. Einmal hatte ihr ein Kind aus dem Dorf weinend einen ehemals stolzen grauen Hahn gebracht. Er hatte ein Auge verloren und einen gebrochenen Flügel. Dem Tier war nicht mehr zu helfen gewesen, vor allem, weil es sich in seiner Angst nicht anfassen ließ. Es war ihnen nichts weiter geblieben, als der armen Kreatur den Gnadenstoß zu versetzen.

Auf Stratham und Umgebung wurden ihres Wissens seither keine Kämpfe abgehalten, aber wer erzählte Frauen schon von diesen Dingen?

Ob der attraktive Unbekannte den Kampf beendet hatte?

 

 

 

Kapitel 4

 

 

Sir Caspian Rougemont wusste genau, dass sich Ritterlichkeit gegenüber unbescholtenen Jungfern nicht lohnte. Im besten Fall erhielt man im Gegenzug eine lebenslange Verpflichtung, als Ehemann ihren Launen zu dienen. Im schlimmsten Fall bezahlte man mit allem, was einem lieb und teuer war.

Er fügte den unzähligen Verfluchungen seiner anerzogenen Werte eine weitere hinzu. Wenn nicht einmal die Erfahrung der Vergangenheit ihn davon abhielt, sich einzumischen, sobald sich eine solche Jungfer in Gefahr befand, dann musste er wohl damit leben, ein Dummkopf zu sein.

Glücklicherweise war niemandem aufgefallen, dass er die junge Lady begleitet hatte. Das hätte gerade noch gefehlt!

Es sollte nicht sein Tag sein.

Zuerst war er im Gasthof, wo er das Gig abgestellt hatte, auf den Marquess und den Earl of Stratham getroffen.

„Rougemont? Ich habe gehört, Sie haben sich hier niedergelassen?“

„Stratham? Mir war nicht bewusst, dass Sie in dieser Gegend leben!“

Der Earl hatte ihn informiert, dass er mit Bligh verwandt war und noch mal die Einladung seines Cousins zur Jagd und zum Ball bekräftigt.

„Ihr kennt euch? Wie kapital!“, rief der Marquess und orderte eine Runde Ale.

„Wir hatten auf dem Kontinent miteinander zu tun.“ Rougemont hatte keine Zeit, Smalltalk zu machen, sondern war in den Ort gekommen, um etwas zu erledigen.

„Wie lange bleiben Sie hier?“ Strathams Frage war schlicht genug, aber der Blick, mit dem er ihn bedachte, sagte etwas anderes aus.

---ENDE DER LESEPROBE---