Cousine und Cousin - Armin A. Alexander - E-Book

Cousine und Cousin E-Book

Armin A. Alexander

0,0
12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein kleiner Ort in Thüringen, nahe des »Eisernen Vorhangs«, Anfang der 1980er Jahre. Ulrich Bernow muß schon früh erfahren, welche Nachteile es mit sich bringt, in einem Staat wie der DDR eine nonkonforme Meinung vor den falschen Leuten zu äußern, was ihn zwei Jahre vor der Wende zu einem naiv vorbereiteten Fluchtversuch veranlaßt. Birte, seine Cousine, die sicherlich auch Chemie studieren darf, weil ihr Vater ein international anerkannter Chemiker und somit dem Staat nützlich ist, ist einige Jahre älter und eine weitgehend unpolitische junge Frau, die sich neben etwas mehr Meinungsfreiheit vor allem mehr - westlichen - Luxus wünscht. Ulrichs Fluchtversuch öffnet ihr aber die Augen. Im Sommer '89 schließt sie sich, wenn auch etwas »unfreiwillig«, den Bürgerbewegungen an. Hoffnung auf eine neue Zeit macht sich breit. Doch als kurz nach der Wiedervereinigung die Treuhand sich mit marktwirtschaftlich kühler Logik der ehemaligen Staats-Betriebe annimmt, auch dem, in dem Birte Laborleiterin ist, sehen sich immer mehr Bürger in ihren Erwartungen getäuscht, zumal auch die Wendehälse überall vertreten sind.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ein kleiner Ort in Thüringen, nahe des ›Eisernen Vorhangs‹, Anfang der 1980er Jahre. Ulrich Bernow muß schon früh erfahren, welche Nachteile es mit sich bringt, in einem Staat wie der DDR eine nonkonforme Meinung vor den falschen Leuten zu äußern, was ihn zwei Jahre vor der Wende zu einem naiv vorbereiteten Fluchtversuch veranlaßt. Birte, seine Cousine, die sicherlich auch Chemie studieren darf, weil ihr Vater ein international anerkannter Chemiker und somit dem Staat nützlich ist, ist einige Jahre älter und eine weitgehend unpolitische junge Frau, die sich neben etwas mehr Meinungsfreiheit vor allem mehr – westlichen – Luxus wünscht. Ulrichs Fluchtversuch öffnet ihr aber die Augen. Im Sommer ’89 schließt sie sich, wenn auch etwas ›unfreiwillig‹, den Bürgerbewegungen an. Hoffnung auf eine neue Zeit macht sich breit. Doch als kurz nach der Wiedervereinigung die Treuhand sich mit marktwirtschaftlich kühler Logik der ehemaligen Staats-Betriebe annimmt, auch dem, in dem Birte Laborleiterin ist, sehen sich immer mehr Bürger in ihren Erwartungen getäuscht, zumal auch die Wendehälse überall vertreten sind.

Armin A. Alexander

CousineundCousin

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 Armin A. Alexander

1. Auflage Februar 2020

Umschlag, Umschlagfoto und Satz:

Armin A. Alexander

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783750467866

http://blog.arminaugustalexander.de

1.

Für die neunte Klasse der Allgemeinen Polytechnischen Oberschule von Waldeneck, einem kleinen Ort in Thüringen unweit der Zonengrenze, war Staatsbürgerkunde die letzte Unterrichtsstunde an diesem Tag. Dieses Fach besaß für die meisten Schüler in der DDR denselben Stellenwert wie Religion für ihre Altersgenossen ›Drüben‹. Zwischen beiden Fächern bestanden nur marginale Unterschiede. Bei beiden ging es um die Vermittlung einer Ideologie, die man zu glauben hatte und die Zweifel verbot. Und trotzdem war dieses Fach für die Waldenecker Schüler das mit Abstand unangenehmste, denn sie hatten es beim Schulleiter Sukow.

Sukow, gleichermaßen vom Kollegium und den Schülern gefürchtet, war ein ›Einhundertundzehnprozentiger‹, der das Parteiabzeichen wie einen Orden trug und wie eine Mischung aus Walter Ulbricht und Erich Honecker wirkte. Bei der Einweihung eines örtlichen Plattenbaus in den späten ’60er Jahren war der Genosse Ulbricht persönlich zugegen gewesen. Er hatte dabei dem frisch in den Schuldienst eingetretenen Junglehrer Sukow persönlich die Hand geschüttelt und soll feierlich gesagt haben: »Auf jungen Genossen wie Ihnen ruht die Zukunft unserer geliebten DDR.« Seit dem Tag war es Sukows Traum nach Berlin ins Ministerium zu kommen. Die Schnelligkeit, mit der nach diesem denkwürdigen Tag zum Schulleiter aufstieg, gab nicht nur Außenstehenden Rätsel auf. Da sich niemand erklären konnte, wer ihn protegiert haben könnte – aus seiner Verwandtschaft bekleidete nicht einer irgendein einigermaßen einflußreiches Amt innerhalb der Partei – kursierte die Legende, daß Ulbricht persönlich sich seiner angenommen hatte, weil er einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen haben soll. Sukow, der als einziger den Grund seines schnellen Aufstiegs kannte, kannte natürlich diese Legende, die ihn in keiner Weise störte, sondern die er zur Hebung seines Nimbus unauffällig zu fördern wußte.

Der ganze Ort begegnete ihm mit Respekt, da er auch im Rat der Gemeinde eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Innerhalb der letzten fünf Jahre war er vom Genossen Honecker zweimal empfangen worden, beide Male soll er sich lobend über ihn geäußert haben. Viele sahen ihn darum schon in der Volkskammer sitzen, die Kühnen in ihm sogar ein neues Mitglied des Politbüros, aber alle hätten ihn am liebsten weit weg von Waldeneck gesehen.

Auch an einem derart warmen Tag wie diesen trug er einen schlichten grauen Anzug mit weißem Hemd und einer Krawatte von undefinierbarer Farbe. Die frühsommerliche Wärme schien ihm nichts auszumachen. Nicht die kleinste Schweißperle war auf seiner hohen Stirn zu sehen. Gemessenen Schrittes ging er, sich der Würde seines Amtes bewußt seiend, den Gang entlang. Seine schwarze Aktentasche, ohne die er innerhalb des Schulgebäudes nur selten gesehen wurde, trug er wie einen Marschallsstab unter dem linken Arm. Seine Schuhe mit den dicken Gummisohlen quietschten laut bei jedem Schritt auf dem alten Linoleum.

Das Klingeln zu Beginn der letzten Unterrichtsstunde an diesem Tag war kaum verhallt, da betrat er auch schon den nach Norden hinausliegenden Klassenraum, in dem alle Fenster geöffnet waren, um den Geruch nach gewachstem Linoleumboden, der stets penetrant über dem gesamten Gebäude lag, wenigstens etwas mit der frischen Frühsommerluft zu überdecken.

Militärisch stramm erhob sich die Klasse wie ein Mann, wie Sukow es erwartete und es ihn milde stimmte. Sogar die Vögel in den Ästen der großen Eiche vor den Fenstern schienen für einen Moment mit ihrem Gesang innezuhalten.

»Guten Morgen, Genosse Schulleiter«, grüßte die Klasse unisono und blickte dabei auf das Foto des derzeitigen Staatsratsvorsitzenden der DDR, das über der Tafel hing.

Niemand traute sich, sich ohne Sukows Erlaubnis wieder zu setzen.

Dieser ging zum Pult, als schreite er eine Kompanie ab, die zum morgendlichen Appell angetreten war. Dort angekommen, legte er die Aktentasche auf das stumpfgescheuerte Pult. Einen Moment ließ er den Blick wohlwollend über die Klasse wandern, die ihrerseits noch immer auf des Staatsratsvorsitzenden Konterfei sah.

»Setzen«, befahl Sukow kurz.

Für wenige Augenblicke war der Raum von lautem Stühlerücken erfüllt. Währenddessen nahm er die altmodische Hornbrille ab, holte ein weißes Taschentuch aus der rechten Hosentasche und putzte gemächlich die Gläser. Aufrechtsitzend, fast zur Bewegungslosigkeit erstarrt, schaute ihm die Klasse dabei zu.

Niemand im Raum, Sukow eingeschlossen, hätte sich in diesem Augenblick träumen lassen, welchen Verlauf diese Stunde nehmen sollte. Im Nachhinein konnte – oder wollte? – sich keiner mehr so recht an den genauen Ablauf der Ereignisse erinnern.

Nachdem er die Brille wieder aufgesetzt und das Taschentuch umständlich in die Hosentasche zurückbefördert hatte, begann er, wohl durch das schöne warme Wetter ›inspiriert‹, einen seiner flammenden Vorträge über den ›Antiimperialistischen Schutzwall‹, der nur wenige Kilometer von den Toren ihrer kleinen Stadt entfernt verlief.

Zu Anfang redete er ruhig mit seiner leicht näselnden Stimme, als setzte er ihnen den Aufbau des Rates der Gemeinde auseinander, schwang sich aber im Verlauf seiner Ausführungen immer mehr auf. Bald schilderte er ihnen voll Inbrunst, daß dieser ›Antiimperialistische Schutzwall‹ der Garant der Freiheit seiner geliebten DDR und ihrer Bewohner bedeutete. Immer wieder hob er hervor, unter welchen Opfern und welch beherzte Handlung es seinerzeit gewesen war, ihn zu errichten, wie damit ein wichtiger Beitrag für die innere und äußere Sicherheit geleistet worden war, dem der Weltfrieden einiges, wenn nicht ALLES zu verdanken hatte. Verschwenderisch überschüttete er die ›Heroen‹ mit Lob, die Tag für Tag und Nacht für Nacht sich unermüdlich aufopferten, um zu verhindern, daß irgendwelche ›zwielichtigen Individuen‹ sich daran zu schaffen machten. Doch auf welche Art sich jene Personen daran zu schaffen machen und woher sie kommen könnten, darüber verlor er kein Wort.

Sein Wortschwall, der wie üblich selbst für vorbehaltlos staatstreue Gemüter unerträglich vor falschem Pathos und Theatralik überquoll, vereinnahmte fast die gesamte Schulstunde.

Weil sich niemand traute, auch nur die kleinste Regung zu zeigen, sie innerlich längst abgeschaltet hatten, mit ihren Gedanken bereits im Schwimmbad waren, glaubte Sukow, daß ihm uneingeschränkte Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Wie alle Mächtigen war auch er umgebungsblind und verwechselte Fatalismus mit Ergebenheit.

Am Ende einer solchen Rede herrschte noch mehr gebannte Stille als bei seinem ›gewöhnlichen‹ Unterricht. War er gut gelaunt, entließ er seine Schüler noch vor dem Klingeln. War er dagegen schlecht gelaunt, griff er sich einen heraus, dessen Nase ihm nicht gefiel und unterzog ihm einer, einem Verhör gleichenden Befragung über den Inhalt des vorangegangenen Vortrages. Dann konnte der ›Delinquent‹ nur hoffen, daß ihm auf Anhieb die richtige Antwort einfiel, ansonsten war ihm ein absolut vernichtender Kommentar sicher.

An diesem Tag jedoch, wohl durch das schöne Wetter begünstigt, befand er sich irgendwo zwischen beiden Gemütszuständen – daran, ihn jemals tatsächlich gut gelaunt erlebt zu haben, konnte sich niemand wirklich erinnern – denn er forderte seine Schüler auf, Fragen über diesen ›Garant‹ zu stellen. Daß sie Fragen stellen sollten, kam nach einem solchen Vortrag nur höchst selten vor und verunsicherte die Klasse nicht wenig. Sollte er am Ende doch nicht so milde gestimmt sein? Es erschlossen sich nämlich zwei Varianten. Bei der ersten war die Aufforderung ausschließlich unverbindlich gemeint und er erwartete keine Reaktion. Bei der zweiten jedoch, der ernsthaft gemeinten, war es äußerst wichtig, daß die richtige Frage gestellt wurde, ansonsten konnte sich der ungeschickte Fragesteller auf etwas gefaßt machen, das mit Standpauke nur milde umschrieben war. Doch in dieser Stunde traf ersteres zu, denn er blickte zu ihrer Erleichterung mit dem Wohlwollen eines Herrschers, dessen widerstandsloses Volk ihm gläubig zu Füßen lag, über die Klasse.

Die Erleichterung, ihn in wenigen Augenblicken bis zur nächsten Stunde in Staatsbürgerkunde nur noch aus der Ferne sehen zu müssen und bald im Schwimmbad sein zu können, hatte von ihnen schon Besitz ergriffen, da meldete er sich und überraschte damit nicht nur seine Mitschüler gehörig. Sukow sah sich entgegen seinem Vorhaben gezwungen, ihm das Wort zu erteilen, wollte er seine Glaubwürdigkeit nicht dauerhaft in Frage stellen.

»Bitte, Ulrich Bernow«, forderte er einen Schüler aus der dritten Reihe auf, der am Fenster saß und die Hand fast schüchtern gehoben hatte. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel zu, daß er eine kurze, schnell zu beantwortende Frage wünschte.

Im Nachhinein konnte Ulrich Bernow nicht einmal mehr ansatzweise sagen, was ihn veranlaßt hatte, sich zu melden. Vielleicht war alles nur ein großes Mißverständnis gewesen. Hatte er am Ende geglaubt, Sukow hätte ihn angesehen und somit aufgefordert? Das machte er nämlich oft, wenn er seinen gewöhnlichen Unterricht hielt und Aussagen von seinen Schülern verlangte. Vielleicht hatte er aber auch zum ersten Mal in seinem Leben den Mut aufgebracht, eine eigene Meinung zu äußern. Schließlich wußte jeder, wie sehr eine Aussage, die sich nicht mit Sukows Überzeugung vertrug, nicht mit der Anschauung des Systems konform ging – was ein und dasselbe war – verheerende Folgen nach sich ziehen konnte.

»Wenn uns dieser Wall vor den Imperialisten aus dem Westen schützen soll, warum wird dann mit einer derartigen Akribie darauf geachtet, daß keiner von hier hinaus kann? Denn wenn bei uns alles so viel besser ist, wie immer behauptet wird, wieso stürmen dann die armen, ausgebeuteten Werktätigen aus dem Westen nicht unsere Grenzen?«

Diese Frage besaß vom Tonfall kaum im Ansatz einen provokativen oder gar ironischen Beiklang, vielmehr einen recht naiven, unüberhörbar schüchternen, frei von jedwedem Hintergedanken. Ulrichs Stimme hatte sogar leicht gezittert. Vermutlich war er sich als einziger im Raum der Tragweite seiner Frage nicht bewußt.

Die Klasse hielt den Atem an. Seine Frage war für sie dermaßen gewagt, da sie offenkundig alles in Zweifel zu ziehen beabsichtigte, daß es ihnen ungeheuerlich erschien, so etwas überhaupt zu denken, geschweige denn auszusprechen, selbst wenn viele in ihrem tiefsten Inneren ähnlich empfanden.

Sukow wollte erst nicht glauben, was er da aus dem Mund eines Schülers von gerade einmal fünfzehn Jahren hatte vernehmen müssen. Eine solche Dreistigkeit war ihm bisher noch bei keinem seiner Schüler untergekommen. Wie konnte ein so dummer Junge es überhaupt wagen, die Werte eines ganzen Volkes auch nur im Ansatz in Zweifel zu ziehen?

Die Schüler beobachteten, wie sich Sukows Gesicht langsam rötete, einen heftigen Ausbruch ankündigte. In dieser angespannten Stille hätte der Fall einer Stecknadel ein explosionsartiges Geräusch verursacht. Sie wagten kaum zu atmen.

Und dann wetterte Sukow los.

An den genauen Wortlaut konnte sich Ulrich später nicht mehr erinnern. Sukow hatte ihn mit fast überschlagender Stimme niedergemacht, ›renitenter Aufwiegler‹ war noch die harmloseste Beschimpfung, die ihm in Erinnerung geblieben war.

Eine Viertelstunde erbrach Sukow seine Worte. Er redete nicht, er schleuderte sie nicht hinaus, er erbrach sie, eines nach dem anderen über den mißliebigen Schüler.

Nachdem Sukow seinen ganzen Ekel über des Schülers Ulrich Bernows renitente Frage in Worten erbrochen hatte, wirkte die darauf einsetzende Stille, die nur durch die schweren Atemzüge, des sich verausgabten Schulleiters durchbrochen wurde, noch beklemmender als der heftige, scheinbar endlose Wortschwall zuvor. Nach ihrer Überzeugung mußte Sukow in der ganzen Schule gehört worden sein. Sie hielten die Blicke gesenkt, wagten weder zu Sukow aufzusehen und schon gar nicht einen verstohlenen Blick nach ihrem Mitschüler Ulrich, dem Urheber dieser peinlichen Szene zu werfen, um nur ja jeden Verdacht einer stillen Übereinkunft von sich zu weisen. Sie waren nur froh, daß nicht einer von ihnen diese Tortur verursacht hatte.

Nach einer Pause, während der er neue Kräfte gesammelt hatte, fügte Sukow mit einer Ruhe hinzu, erschreckender als seine Heftigkeit zuvor, begleitet von einer offenen Drohung, daß es dem Schüler Ulrich Bernow wohl einleuchten müsse, wie er mit seiner zersetzenden Äußerung seine Zukunft, wenn schon nicht gänzlich zerstört, so doch nicht unerheblich beeinträchtigt habe. Man würde ihn von nun an strengstens im Auge behalten müssen, damit er nicht Gefahr lief, ein Volksfeind zu werden, denn er habe ja durch seine Frage gezeigt, in der zwar noch die Unwissenheit der Jugend mitsprach – die einzige Entschuldigung für sein Handeln – daß er den Keim des Konterrevolutionärs bereits in sich trage. Ferner sehe er sich gezwungen, Ulrichs Eltern vom aufmüpfigen Verhalten ihres Sohnes in Kenntnis zu setzen. Nach diesen Worten nahm er seine Aktentasche und verließ ohne ein weiteres Wort die Klasse.

Kaum hatte er den Klassenraum verlassen, ergriffen alle ihre Taschen und flohen fast aus dem Raum, ohne auch nur ein einziges Wort mit Ulrich zu wechseln, ja ihn fast schon wie eine Persona non grata behandelnd, froh, selbst glimpflich davon gekommen zu sein und zugleich ängstlich, ob die ganze Sache nicht auch für sie noch ein Nachspiel haben könnte.

Ulrich blieb betreten zurück. Er verstand die Welt nicht mehr. Innerlich zitterte er noch immer. Nur langsam konnte er sich dazu aufraffen, seine Tasche zu packen. Irgendwie erschien ihm alles wie ein schlechter Traum. Sukow hatte ihm nicht einmal die Möglichkeit gegeben, sich irgendwie zu rechtfertigen. Alles hätte er ertragen können, selbst wenn er wie der alte Schröder reagiert hätte, der auf jede Frage, die in seinen Augen ein zu großes Maß an Dummheit verkörperte, von oben herab und mit beißendem Spott antwortete, den Fragesteller der Lächerlichkeit preisgab, doch außer einer vielleicht etwas schlechteren Note und daß sich der Betreffende beim nächsten Mal seine Frage gründlicher überlegen würde, hatte es keine weiteren Folgen – allerdings gab Schröder bei ihnen Mathematik und Physik, beides keine ›politischen‹ Fächer – doch nicht Sukows selbstherrliches Auftreten und seine offenen Drohungen.

Nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, machte sich Ärger in ihm breit. Ärger über sich selbst, weil er so unvorsichtig gewesen war und überhaupt gefragt hatte, und vor allem Ärger über Birte, seine Cousine, und ihre verdammten Meinungen und Zweifel, die einen nur in Schwierigkeiten brachten.

2.

Birte hatte vor fast einem Jahr ihr Studium in Leipzig aufgenommen. Sie beabsichtigte in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten, einem promovierten Chemiker, der auch im Westen einiges Ansehen genoß, was ihm manche Vergünstigungen verschaffte. Darum war es für ihn nicht sonderlich schwierig gewesen, seiner Tochter eine kleine Zweizimmerwohnung mit bescheidenem Komfort zu besorgen, deren tatsächlicher Vorteil darin bestand, daß sie nicht weit von der Uni und dem Stadtzentrum entfernt lag, daher störte es kaum, daß es in einem eher trostlosen Plattenbau war.

Sie ahnte nicht einmal, was sie mit ihren Zweifeln, die sie einige Wochen zuvor ihrem Cousin gegenüber äußerte, angerichtet hatte. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß er sie ausgerechnet vor seinem linientreuen Schulleiter wiederholen könnte. Das wäre ja fast so, als hätte seinerzeit eine Frau vor einem Inquisitor, der sie am allerwenigsten verdächtigte, sich selbst der Hexerei bezichtigt. Ihr Vater hatte ihr von klein auf eingeschärft, daß man stets zweimal überlegen sollte, bevor man gewisse Meinungen und Gedanken einer bestimmten Person mitteilte. Er hatte ihr gegenüber nicht geleugnet, daß er vieles im ›real existierenden Sozialismus‹ als unvereinbar mit dem Sozialismus hielt, wie ihn Marx und Engels gedacht hatten. Mit seiner Meinung war er nicht allein, das wußte er. Aber er kannte genug Leute, die mit ihren Ansichten nicht so vorsichtig umgingen wie er und darum Opfer von Repressalien geworden waren. Allerdings hatte er seinen persönlichen Opportunismus nie so weit getrieben, in die Partei einzutreten, obwohl es ihm mehr als einmal mit dem Hinweis nahegelegt worden war, daß es einer, seiner wissenschaftlichen Reputation angemessenen Karriere sehr förderlich wäre.

Als Ulrich die für ihn verhängnisvolle Frage stellte, stand Birte in ihrem leicht beengten Schlafzimmer vor dem Spiegel. Sie fand, daß ihr nordischer Name gut zu ihr paßte – groß, blond und mit sportlich schlankem Körper, auffallend hübsch, es gab nichts, was sie an sich auszusetzen hatte. Weniger zufrieden war sie dagegen mit der hiesigen Mode, besonders was Unterwäsche betraf – den Begriff Dessous wollte sie dafür nicht einmal als Euphemismus gelten lassen, obwohl sie damit der heimischen Textilindustrie etwas unrecht tat. Ganz so provinziell war das Angebot nun doch nicht, aber es war halt kein westlicher Chic.

Mit einem Seufzer über die Gewißheit, daß sich daran so schnell nichts ändern würde, zog sie sich an – kurzer Rock und bunte Bluse.

In einer halben Stunde kam Svenja vorbei. Sie beabsichtigen einen Bummel durch die Leipziger Innenstadt zu machen. Ihre Freundschaft beruhte in erster Linie darauf, daß sie als einzige ihres Semesters einen nordischen Vornamen trugen und unverkennbar nordisch aussahen.

Svenja war gebürtige Leipzigerin und kannte die Stadt wie ihre Westentasche. Ihr Vater war Dozent für anorganische Chemie an der Leipziger Uni, jedoch hatten sie bei ihm keine Vorlesungen. Er war natürlich in der Partei, doch laut Svenja auch nicht linientreuer als Birtes Vater. Ihre Eltern besaßen ein Haus in einem Vorort. Svenja wohnte jedoch in derselben Siedlung wie Birte und nutzte ihre Unabhängigkeit weidlich aus.

Sie klingelte wie gewohnt pünktlich bei Birte. Weit brauchten sie ja nicht zu gehen. Wie üblich war sie eleganter gekleidet, als es mit den üblichen Mitteln möglich war.

Nicht, daß die hiesige Mode trist gewesen wäre, aber wie allem DDR-Design haftete auch ihr etwas Hausbackenes an – ein Attribut, das zu jener Zeit ebenso auf das US-amerikanische Modedesign zutraf, doch davon wußten die Freundinnen nichts. Westen, Freiheit und modische Eleganz waren für sie Synonyme.

Daß ein Teil von Svenjas Kleidung von ›Drüben‹ stammte, unter anderem die elegante Bluse aus reiner Seide, die feinen Strümpfe und die hochhackigen Schuhe aus feinem Leder war unübersehbar. Birte hatte sie noch nie darauf angesprochen. Sie konnte sich an den fünf Fingern ihrer rechten Hand abzählen, daß die Freundin durch ihren privilegierten Vater oder gar Verwandten von ›Drüben‹ an die begehrte Westwährung kam, um damit in den Intershops einzukaufen, die gerade hier gut sortiert waren, schließlich war Leipzig eine international bedeutende Messestadt.

Nachdem Birte ihr einige pflichtschuldige Komplimente gemacht und die Gelegenheit genutzt hatte, den zarten Seidenstoff ihrer Bluse zu berühren, machten sie sich auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle, die nur wenige Schritte von ihrer Wohnung entfernt lag. Obwohl Neid nicht ihre Sache war, bedauerte sie doch, daß nicht auch sie eine Bluse aus reiner Seide tragen konnte, sondern mit einer aus Kunstfasern irgendeines Chemiekombinats bei Leuna oder sonstwo vorlieb nehmen mußte.

Der alte Straßenbahnzug ratterte gemächlich die wenigen Stationen bis zum Hauptbahnhof, wo die beiden jungen Frauen mit ihrem Spaziergang begingen wollten. Während der Fahrt redeten sie hauptsächlich über ihr Studium.

Ihr Spaziergang führte sie auch an einem Intershop vorbei. Die bald stattfindende internationale Messe der textilverarbeitenden Industrie hinterließ bereits ihre Spuren. Sie betrachteten die Auslage der Modeartikel, die sich der Normalbürger mangels Valuta kaum würde leisten können.

»Devisen müßte man haben. Es müssen ja nicht viele zu sein. Aber man würde doch gerne mal etwas anderes anziehen als unsere hausbackenen Entwürfe«, sagte Birte mehr zu sich selbst, der Seufzer, den sie dabei ausstieß, ließ Svenja aufhorchen.

»Kommt denn dein Vater nicht an welche? Ich meine, da er doch ein international renommierter Chemiker ist und Auslandsreisen machen darf?« war das Erstaunen der Freundin echt.

Es schien für sie schwer vorstellbar, daß jemand, der in diesem Staat über Privilegien verfügte – ins westliche Ausland reisen zu dürfen, war schließlich ein besonderes Privileg – nicht auch westliche Devisen besaß. Gewundert hatte sie sich schon, daß die Freundin sich nicht vermeintlich schicker kleidete, aber sie war zu rücksichtsvoll, sie darauf anzusprechen. Sie hatte ihre Vermutungen angestellt und ihr schließlich mangelndes modisches Bewußtsein unterstellt, doch auf den Gedanken, daß ihr schlicht das nötige Kleingeld fehlte, wäre sie zuletzt gekommen.

»Leider nein. Wenn er in der Partei wäre – vielleicht.«

Svenja ging nicht darauf ein, da sie in diesen Worten einen leichten Vorwurf ihrem Vater gegenüber zu hören glaubte, sondern fragte weiter:

»Hast du ›Drüben‹ denn keine Verwandten, die dir ab und zu mal was zustecken könnten?«

»Nicht direkt. Meine Tante hat eine Schwester in Frankfurt am Main. Sie ist kurz vor dem Mauerbau nach Westdeutschland rüber. Ihren Verwandten schickt sie jedes Weihnachten Pakete mit Leckereien. Mein Vater und ich haben aber nichts mit ihr zu tun. Und was ist mit dir?« sah sie die Freundin herausfordernd an.

Jetzt war für sie der Zeitpunkt gekommen, herauszufinden, woher Svenja das Geld für ihre West-Mode hatte.

»Bei mir sind die Verwandten ›Drüben‹ auch nicht sehr zahlreich. Mutter hat einen verwitweten Onkel in Dortmund, der schon Rentner ist. Er besucht uns ein oder zweimal im Jahr und bringt in der Regel guten Bohnenkaffee und echte Schokolade mit, nicht den Verschnitt, den man hier bekommt und manch andere Kleinigkeit. Sicher, er läßt auch immer ein paar West-Mark da, weil er weiß, daß sie uns lieber sind, und auch das meiste seines Zwangsumtauschs, was ja auch nicht schaden kann.«

»Dein Onkel scheint großzügig zu sein, wenn ich dich mir so anschaue«, war Birte sichtlich beeindruckt.

Svenja mußte über ihren Optimismus lachen, aber es war ein freundliches Lachen.

Sie gingen weiter, da sie des Stehens müde geworden waren.

»Nein, so großzügig ist er nun doch nicht. Könnte er auch gar nicht. Schließlich hat er ›Drüben‹ zwei Söhne und drei Enkel und die wollen ja auch beschenkt sein. Zwar bekommt er eine auch für Westverhältnisse großzügige Rente, immerhin ist er emeritierter Germanistikprofessor, aber dafür sind ›Drüben‹ auch die Lebenshaltungskosten weitaus höher als bei uns. Zumindest behauptet er es immer. In manchen Dingen, den öffentlichen Verkehrsmitteln und den Mieten beispielsweise wünscht er sich unsere Preise. Dabei besitzt er eine Eigentumswohnung in einer der besseren Gegenden von Dortmund!« Svenja schüttelte verständnislos den Kopf.

»Woanders ist das Gras immer grüner«, meinte Birte altklug, ließ jedoch keinen Zweifel daran, daß sie für sich auch spürbar grüneres Gras als das hiesige wünschte.

Svenja nickte zustimmend.

Sie gingen schweigend einige Schritte. Svenja warf einem jungen Mann, der ihnen ungeniert nachsah, einen aufmunternden Blick zu. Doch gerade das schien ihn abzuschrecken. Leicht errötend wich er ihrem Blick aus und ging schneller.

Es war stets das Gleiche mit den Männern, mit dem Mund immer vorne weg, aber wurden sie mal beim Wort genommen, kniffen sie den Schwanz ein, dachte Svenja mehr enttäuscht als verärgert.

Birte hatte davon nichts mitbekommen. Sie war mit ihren Gedanken woanders.

Svenja tat die hübsche Freundin leid. Sie hätte sie auch lieber ›besser‹ gekleidet gesehen.

»In einer Stadt wie Leipzig gibt es aber verschiedene Wege, an Westwährung zu kommen«, sagte Svenja mit gesenkter Stimme, worauf Birte sie fragend ansah, denn im Moment fühlte sie sich wie eine junge Frau aus der Provinz, die sie in gewisser Weise auch war, die vom ›richtigen‹ Leben kaum etwas wußte.

»Schau mal«, erklärte Svenja ruhig und auch leicht stolz, wenigstens in einem Punkt der anderen voraus zu sein, die in ihrem Jahrgang unbestreitbar die Beste war. »In Kürze findet doch wieder die große internationale Textilmesse statt.«

»Ja, weiß ich«, unterbrach Birte sie, schließlich stolperte man bereits über die Vorboten. »Aber was hat das mit uns zu tun?«

Svenja ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

»Die Firmen wollen ihre Kleider schließlich auch vorführen. Die suchen daher immer gutgewachsene junge Frauen, die ihre Kollektionen präsentieren.«

Birte nickte verstehend. Sie ahnte langsam, worauf die Freundin hinaus wollte.

»Bringen die aus dem Westen denn nicht ihre eigenen Mannequins mit?«

»Warum sollten sie? Abgesehen vom Honorar müßten die denen ja auch Kost und Logis zahlen, von den Einreiseformalitäten ganz zu schweigen. Auch im Westen ist es üblich, sie vor Ort anzuheuern.«

Birte schämte sich fast etwas für ihre Naivität. Natürlich hatte Svenja recht. Es war unsinnig, Dinge kostenträchtig von zu Hause mitzunehmen, die man ohne Probleme und vor allem günstiger vor Ort bekam.

»Es handelt sich auch um keine wirklich öffentlichen Modenschauen«, fuhr Svenja fort. »Es geht lediglich darum, den Einkäufern die eigene Kollektion zu zeigen.«

Aus irgendeinem Grund sah Birte etwas enttäuscht aus, weshalb Svenja sich beeilte zu sagen:

»Ich will damit nur sagen, daß es nicht so sehr ums Renommieren im eigentlichen Sinne geht, sondern darum, die Ware einem Käufer schmackhaft zu machen.«

»Schön und gut«, verstand Birte schon, was Svenja meinte. »Aber das läuft doch bestimmt alles über eine Art hiesiger Agentur. Und die bezahlen uns doch in Ost-Mark und nicht in West-Mark.«

»Ja, natürlich. Aber wichtiger ist doch, daß wir mit Leuten aus dem Westen in direktem Kontakt kommen. Die stecken dir von sich aus schon mal ein paar West-Mark zu. Nach ihren Maßstäben sind wir für die konkurrenzlos billig. Wenn du interessiert bist, kann ich dich empfehlen. Ich mache das seit ich achtzehn bin und es hat sich bisher immer gelohnt.«

»Wenn wir aber nicht an eine Westfirma, sondern beispielsweise an ein polnisches Kombinat vermittelt werden?«

»Könnte schon passieren«, räumte Svenja ein. »Ist mir aber noch nicht. Manchmal bringen die auch ihre eigenen mit, schließlich gelten polnische Frauen als sehr schön.« Sie versuchte sich zu erinnern, ob das schon mal geschehen war. Aber letztlich war es auch gleich, ob es der Wahrheit entsprach oder nicht, Birte sollte nur nicht entmutigt werden.

»Wir brauchen uns vor den polnischen Frauen jedenfalls nicht zu verstecken«, war Birte leicht in ihrem nationalen und vor allem persönlichen Stolz gekränkt.

»Wir sind ja auch etwas Besonderes«, meinte Svenja versöhnlich und zufrieden, die Freundin gewonnen zu haben. »Aber zumindest die Polinnen, die ich bei ähnlichen Gelegenheiten gesehen habe, sahen wirklich gut aus. Damit sie dich an eine Firma aus dem Westen vermitteln, ist eine Empfehlung und ein guter Leumund wichtig.«

War das nicht für jede Art Kontakt mit dem Westen wichtig, seufzte Birte innerlich.

»Die Empfehlung bekommst du von mir. Außerdem ist dein Vater ja nicht irgend jemand. Du bist nicht mal irgendwie aufgefallen?« In Svenjas Blick lag ungewollt etwas Skeptisches.

»Wie sollte ich? Wäre ich tatsächlich einmal ernstlich aufgefallen, dürfte ich wohl kaum studieren, auch bei einem Vater wie meinem nicht«, nahm Birte diese rhetorische Frage persönlich, worauf Svenja leicht betreten schwieg.

Wie jeder in diesem Staat wußte sie nur zu gut, welchen Schikanen man ausgesetzt wurde, wich man vom Vorgegebenen ab. Einer ehemaligen Mitschülerin beispielsweise war das Studium verweigert worden, nur weil ihr älterer Bruder einige Jahre zuvor aufgrund vermeintlich systemkritischer Äußerungen zu eineinhalb Jahren Bautzen verurteilt worden war und die Familie nicht glaubhaft genug versichern konnte, nichts davon gewußt zu haben, obwohl ihr nichts nachzuweisen war.

»Versuchen könnte ich es ja einmal.« Birte reizte die Vorstellung durchaus, als Mannequin West-Mode vorzuführen, aber vor allem reizte sie die Möglichkeit, scheinbar so leicht an Devisen zu kommen.

Die Aussicht, das tägliche Los in diesem Mangelstaat etwas verbessern zu können, ließ sie ›vergessen‹, ihrer Freundin die entscheidende Frage zu stellen: Warum sollten die Modeleute aus dem Westen ihnen soviel Devisen zustecken, daß es reichte, um in einem Intershop einkaufen zu können? Bezahlt wurden sie schließlich von der hiesigen Vermittlung. Für die anderen waren sie nur Fremde, denen man allenfalls einen Kaffee oder ein Essen spendierte. Sie waren keine Verwandten, die sich genötigt fühlten, ihren ›Schwestern und Brüdern im Osten‹ aus schlechtem Gewissen etwas zuzustecken, wie man es in der Regel gegenüber armen, unschuldig in Not geratenen Angehörigen macht, und sich damit letztlich nur zeigt, wie gnädig das Schicksal es doch mit einem gemeint hat. Was besonders leicht fiel, war man von den ›armen‹ Verwandten durch eine scheinbar unüberwindliche Grenze getrennt.

Sie verschwendete aber in den nächsten Tagen keinen Gedanken daran. So richtig beim Wort nahm sie Svenja nicht.

Doch Svenja hatte sich nicht bloß wichtig machen wollen. Bereits drei Tage später überraschte sie Birte mit der Nachricht, daß diese schon am übernächsten Tag ein Vorstellungsgespräch bei der staatlichen Agentur hatte.

Nachdem die erste Euphorie verflogen war, was relativ schnell geschah, kamen ihr rasch Zweifel, ob es richtig war, sich darauf einzulassen. Die Angst, keinen guten Eindruck zu machen, und dabei ging es ihr nicht um den äußerlichen, war noch die geringste. Sie ahnte, daß man für die begehrten Devisen gewisse Leistungen von ihr verlangen könnte, auch wenn sie es meisterlich vor sich selbst verdrängte.

Am Abend vor ihrem Termin schlief sie unruhig, doch ohne Alpträume. Mit staatlichen Stellen in Kontakt zu treten, hatte in diesem Land stets etwas Kafkaeskes, unabhängig davon, um was es ging. An sich harmlose Angelegenheiten gab es einfach nicht. Der Bürger war stets Bittsteller und der Staat stets im Recht, überspitzt formuliert.

Der Bilderbuchmorgen, der sich ihr beim Aufstehen bot, hob ihre Zuversicht, daß es sich bei dem Vorstellungsgespräch um eine reine Formalität handelte. Sie zog ihr bestes Sommerkleid an, dazu ein Paar feiner Strümpfe aus westlicher Produktion, die ihr Svenja gemeinsam mit einem Paar italienischer Schuhe unter der Auflage geliehen hatte, nur ja gut darauf aufzupassen. Nicht weniger Sorgfalt verwandte sie auf ihr Make-up und bürstete das Haar fast exzessiv. Nach einem abschließenden Blick in den Spiegel war sie überzeugt, daß sie auch vor der Vertreterin einer westlichen Modellagentur eine gute Figur abgeben würde. Fröhlich summend machte sie sich auf den Weg.

War das Gebäude an sich so düster oder nur die Atmosphäre, die Einstellung, die man zu allem Staatlichen in diesem Land unweigerlich bekam, die diesen Eindruck heraufbeschwor? Aber die langen sterilen Gänge waren auch alles andere als einladend. Ihr klangen ihre Schritte unnatürlich laut auf dem harten Boden.

Sie mußte einen Augenblick auf dem Gang auf einem unbequemen Holzstuhl warten, ehe sie zu der Frau, bei der sie sich melden sollte, hineindurfte. Sie war die einzige, die hier wartete. Sie war etwa zehn Minuten zu früh erschienen, aber sie hatte nicht den Eindruck, als gäbe es einen Grund, sie nicht schon jetzt hereinzubitten.

Die Sonne warf einen schmalen Streifen auf den stumpfen Linoleumboden. Sie bemühte sich, ihrer Nervosität Herr zu werden.

Als es sichtlich über die vereinbarte Zeit hinausging – fast immer mußte man warten, auch wenn es dafür keinen Anlaß gab – ertappte sie sich dabei, wie sie nervös die schlanken Finger knetete.

Nachdem weitere zehn Minuten verstrichen waren, wurde sie ins Zimmer gerufen. Sie war bemüht, sich die Unsicherheit nicht allzusehr anmerken zu lassen. Die Frau, die sich ihr als Frau Stiglitz und Leiterin dieser Abteilung vorstellte, war für eine hiesige Amtsperson sogar relativ freundlich. Sie reichte ihr die Hand und bat sie, Platz zu nehmen. Vor ihr lag auf dem Schreibtisch eine aufgeschlagene Akte, die einige mit Schreibmaschine geschriebene Blätter enthielt. Zwar konnte Birte nicht lesen, was auf dem obersten Blatt stand, dafür stand ihr Stuhl, der auch nicht bequemer als der draußen war, zu weit vom aufgeräumten Schreibtisch entfernt, daran, daß es sie betraf, zweifelte sie nicht einen Augenblick.

Frau Stiglitz, deren dezentes, aber trotzdem elegantes braunes Kostüm unübersehbar aus westlicher Produktion stammte, sprach im breitesten Sächsisch.

»Ich freue mich, die Tochter eines für unseren Staat so verdienstvollen Wissenschaftlers wie Herrn Doktor Bernow persönlich kennenzulernen«, sagte sie, während sie Birte über die aufgeschlagene Akte hinweg ansah.

Birte, die ihren Vater offen bewunderte, entspannte sich innerlich etwas. Aus dem Mund eines unmittelbaren Vertreters dieses Staates bedeutete eine solche Einleitung meist etwas Gutes.

»Und offenkundig machen Sie Ihrem Vater Ehre«, fuhr Frau Stiglitz nach einer Kunstpause fort, während der sie den Blick mit sichtlicher Zufriedenheit über sie wandern ließ. »Sie stehen im Ruf eine vorbildliche und vor allem die beste Studentin Ihres Jahrgangs zu sein. Nun, junge Menschen wie Sie sind bestens geeignet, die Tugenden unserer sozialistischen Gemeinschaft zu repräsentieren, vor allem im Umgang mit dem internationalen Ausland. Von dieser Seite spricht nichts gegen eine Tätigkeit als Messebetreuerin.«

Von Birte fiel ein beträchtlicher Druck. Die schwerste Hürde schien genommen. Alles Weitere würden nur noch unwichtige Formalitäten sein.

Frau Stiglitz schloß die Akte und sah sie direkt an.

»Auch darüber hinaus scheinen kaum Bedenken zu existieren«, fuhr sie fort. »Stehen Sie doch bitte einmal auf.«

Sie kam dem sofort nach, da in diesem Land die Aufforderung einer Amtsperson, ganz gleich wie freundlich und scheinbar unverbindlich sie – so wie in diesem Fall – auch vorgebracht sein mochte, stets den keinen Widerspruch duldenden Befehl implizierte.

»Drehen Sie sich mal langsam um die eigene Achse«, forderte sie Birte auf, während sie hinter dem Schreibtisch hervortrat. »Und nun gehen Sie einige Schritte auf und ab.« Frau Stiglitz stellte sich neben das Fenster.

Birte war froh, daß sie gestern mit Svenja ausgiebig das ›richtige‹ Gehen geübt hatte. Vor allem auf diesen hohen Absätzen war es nicht ganz leicht, sicher und vor allem würdevoll – Svenjas Lieblingsausdruck – zu gehen. Doch sie hatte es erstaunlich schnell gelernt. Am liebsten würde sie öfter elegante hochhackige Schuhe tragen. Sie fühlte sich wohl darin.

Weil sie so darauf konzentriert war, einen vorteilhaften Eindruck zu hinterlassen, entging ihr, daß Frau Stiglitz sie nicht nur länger als nötig auf- und abschreiten, sondern den Blick auf eine offen begehrliche Weise auf ihr ruhen ließ.

»Sehr gut«, lobte sie, nachdem sie sich vorerst an dieser, in ihren Augen wirklich hübschen jungen Frau sattgesehen hatte. »Sie können sich wieder setzen, Frau Bernow.«

Birte kam dem erleichtert nach. Auch die Stiglitz setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch.

»Es ist erfreulich, eine junge Frau zu sehen, die nicht nur äußerst attraktiv ist, sondern sich auch zu bewegen weiß.« Birte wuchs auf ihrem Stuhl um einige Zentimeter. »Viele, die zu mir kommen, meinen, daß ein guter Leumund und ein leidlich hübsches Gesicht allein schon ausreichen. Doch wenn sie schließlich einige Schritte gehen, sich gerade halten sollen, möchte man am liebsten wegschauen, weil sie zu vergessen scheinen, daß sie ja nicht nur – im wahrsten Sinne des Wortes – eine gute Figur machen, sondern auch unseren Staat repräsentieren sollen. Schließlich schauen – wie bereits gesagt – Vertreter aus dem internationalen Ausland auf sie. Immerhin sind wir eine bedeutende Messestadt mit jahrhundertelanger Tradition, das verpflichtet. Und außerdem«, hier lächelte Frau Stiglitz süffisant, »können wir denen ›Drüben‹ beweisen, daß unsere jungen Frauen leicht mit ihren mithalten.« Sie stand auf und zeigte Birte damit, die sich ebenfalls erhob, daß das Gespräch beendet war. »Sie werden innerhalb der nächsten Tage von uns hören. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie auf jeden Fall schon auf der kommenden Messe sein werden. Die Anfragen häufen sich bereits.« Frau Stiglitz reichte ihr zum Abschied die Hand. Ihr Händedruck war fest. Sie hielt Birtes Hand jedoch spürbar länger als nötig. Aber auch das entging ihr in der Aufregung.

Erleichtert schloß sie die Tür hinter sich. Sie bekam den enttäuschten Blick, mit dem die Stiglitz ihr nachsah, weil sie offenkundig anders als ihre Freundin war, nicht mehr mit. Allerdings war die Stiglitz es auch gewohnt, nicht bei jeder jungen Schönheit, die zu ihr kam, landen zu können.

Mehr als zufrieden ging Birte nach Hause.

Dort informierte sie sofort Svenja. Doch sie schien nicht sonderlich überrascht. Sie freute sich aber mit ihr, vor allem aufgrund des reichhaltigen zukünftigen Gesprächsstoffes mit einer ›Komplizin‹. Mit Leuten, mit denen man im selben Boot saß, konnte man sich über bestimmte Erfahrungen unverfänglicher austauschen.

Die Stiglitz hielt Wort. Eine Woche später und eine Woche vor Beginn der Messe, erhielt Birte die Benachrichtigung, daß sie die Kollektion einer Düsseldorfer Firma, deren Namen sie verständlicherweise noch nie gehört hatte, auf der Messe vorführen sollte.

Fast wie eine Trophäe präsentierte Birte der Freundin die Benachrichtigung.

»Das ist ja wunderbar«, freute sich Svenja mit ihr, »vor allem, weil wir beide derselben Firma zugeteilt sind.«

»Was für ein schöner Zufall«, entfuhr es Birte freudig.

Doch über ihre Freude entging ihr, daß Svenja leicht gequält lächelte. Auch schien sie nicht mehr dieselbe Begeisterung für ihren Nebenerwerb zu haben, wie noch wenige Tage zuvor. Den Grund dafür sollte Birte erst Jahre später erfahren.

3.

Der erste Messetag war vorüber. Seit wenigen Minuten waren die Hallen für Besucher geschlossen. Svenja und Birte waren allein im abgetrennten hinteren Teil des Standes, der sowohl als Lager wie auch als Umkleidekabine und Ruheraum diente. Vollgepackte Kleiderständer, Kartons mit noch in Zellophan eingepackter Wäsche und unzählige Schuhe beanspruchten fast den ganzen Platz. Auf einem kleinen, leicht wackligen Tisch stand eine Kaffeemaschine, die fast den ganzen Tag im Betrieb gewesen war, weshalb der Raum vom Kaffeeduft erfüllt war. Unter dem Tisch standen rund ein Dutzend vakuumverpackte 500g-Pakete West-Kaffee. Die beiden Frauen und die beiden Männer der Düsseldorfer Firma, für die die Freundinnen die Kollektion vorführten und die im Augenblick im vorderen Teil des Standes ihren ersten erfolgreichen Tag feierten, waren passionierte Kaffeetrinker.

»So oft wie heute, habe ich mich in meinen ganzen Leben noch nicht umgezogen.« Birte ließ sich erschöpft auf einen der drei Hocker sinken und streifte die Schuhe kraftlos von den leicht brennenden Füßen.

»Ich habe nie behauptet, daß es leicht verdientes Geld sei«, meinte Svenja, die auf einem anderen Hocker saß, nur noch in Unterwäsche, die nackten Beine ausgestreckt. Auch sie war froh, daß der Tag vorüber war. »Der erste Tag ist immer der schwerste«, versicherte sie im Tonfall des Routiniers. »Für deinen ersten Tag hast du dich ganz gut gehalten.«

Birte massierte sich nicht sehr überzeugt den rechten Fuß.

»So toll ich es auch finde, diese schicken hochhackigen Schuhe zu tragen, ist es eine Qual, darin den ganzen Tag immer dasselbe kurze Stück auf und ab gehen zu müssen«, sagte sie mehr zu sich selbst und schielte mit leichtem Bedauern auf die braunen Wildlederpumps, die sie gerade ausgezogen hatte und die ihr ausnehmend gut gefielen.

Es waren Schuhe für eine kultivierte Dame, so wie sie im Westfernsehen zu sehen waren. Birte liebte die Serien und Filme, in denen modisch elegante Frauen, vorzugsweise über Pariser Boulevards schlenderten oder in eleganten großen bürgerlichen Wohnungen lebten. Wie gerne würde sie nach erfolgreicher Promotion eine ähnliche Wohnung beziehen. Doch leider war das in diesem Land extrem schwierig bis unmöglich. Nicht daß es an großen bürgerlichen Wohnungen etwa mangelte. Davon gab es mehr als genug, schließlich war auch die DDR nicht über Nacht aus einem jungfräulichen Boden emporgewachsen, auch wenn manche den Eindruck vermitteln wollten. Doch viele der alten bürgerlichen Häuser der Jahrhundertwende und der Gründerzeit waren nur noch ein fader Abklatsch ihrerselbst. Die Zeugnisse einer verachteten bourgeoisen Epoche wurden von offizieller Seite wenig gepflegt. Vielleicht hätte etwas von der Zeit und dem Geld, das in die Erstellung dieser häßlichen Plattenbauten gesteckt wurde, in die Erhaltung vorhandener Bausubstanz investiert werden sollen, war sie überzeugt.

»Du gewöhnst dich schon daran«, riß Svenja sie aus ihren wehmütigen Gedanken. »Du mußt deinen Fuß entspannen und stets mit dem Ballen auftreten.«

Birte verzog pikiert das Gesicht, aber so, daß die andere es nicht sah. Als ob sie nicht wüßte, wie man auf hohen Absätzen ging! Für wie unbedarft hielt man sie eigentlich?

Svenja zog die gestellten Dessous aus und die eigenen an. Birte knöpfte ihre Bluse auf und blickte etwas neidisch zu Svenja, denn sie besaß nur Unterwäsche aus heimischer Produktion. Zwar nicht gerade Doppelfeinripp Modell Kloster, aber auch nicht wirklich sexy und aus heimischer Kunstfaser, die mit reiner Seide nun wirklich nicht konkurrieren konnte. Daß ein Teil der West-Dessous, die sie heute getragen hatte, auch aus Kunstfasern bestand, überging sie geflissentlich.

»Sie sind jedenfalls zufrieden mit uns«, fuhr Svenja fort und zog ihr helles Sommerkleid über.

Birte stieg aus dem Rock und suchte nach ihrer Unterwäsche, bevor sie den Rest auszog. Sie war skeptisch.

»Na, ich weiß nicht, so wie mich die Chefin – wie heißt sie noch …«

»Müller-Seelscheidt«, half Svenja freundlich und kämmte sich.

»Also, wie die mich immer ansieht – als hätte ich nichts anderes im Sinn als ihre besten Stücke mitgehen zu lassen.«

»Das würde ich nicht persönlich nehmen. Sie ist schließlich die Designerin. Es ist ihre Kollektion und da ist es nur verständlich, daß sie will, daß wir sie so präsentieren, wie sie sich das vorstellt.«

»Jedenfalls sind die Sachen sehr chic.« Birte zog sich fertig an und mit einem Seufzer des Bedauerns fuhr sie fort: »Leider werden wir die hier nie zu kaufen kriegen.«

Svenja, die in ihre neuen italienischen Schuhe schlüpfte, achtete nicht darauf.

Birtes Zweifel, daß die Freundin ihren westlichen modischen Luxus allein von gelegentlichen Geldgeschenken in Valuta finanzieren konnte, nahmen langsam zu, da mußte noch etwas anderes sein – aber noch immer scheute sie sich, den Gedanken zum Ende zu bringen. Nicht weil ihr die Fantasie fehlte, sondern weil sie ihr nichts Zweifelhaftes unterstellen wollte.

»Die andere, die Schneiderin, ist dagegen sehr nett«, fuhr sie fort, während sie die Bluse zuknöpfte. »Wußtest du, daß sie eine Tante in Karl-Marx-Stadt hat?«

Svenja schüttelte teilnahmslos den Kopf. Die Schneiderin war ihr weitgehend gleichgültig. Ihr Interesse galt den beiden Männern.

»Auf ihr lastet schließlich nicht der Erfolgsdruck der anderen«, sagte sie leicht herablassend, was Birte aber entging. »Sie soll ja auch nur dafür sorgen, eine offene Naht oder dergleichen zu schließen.«

»Diese Müller-Seelscheidt scheint aber allen gegenüber grimmig zu sein, außer zu der Schneiderin.«

»Ist dir nicht aufgefallen, daß die beiden etwas miteinander haben?« grinste Svenja breit.

»Gedacht habe ich mir so etwas schon. Ich bin ja schließlich nicht blind. Doch es fällt mir nicht leicht zu glauben. Die große ernste hagere elegante Müller-Seelscheidt und die kleine mollige immer fröhliche Schneiderin – also, ein ungleicheres Paar kann ich mir kaum vorstellen.«

»Gegensätze ziehen sich halt an«, meinte Svenja achselzuckend. »Glaubst du, daß es bei denen anders ist als beim normalen Rest der Menschheit? Zumal für die die Auswahl ohnehin kleiner ist. Da müssen nun einmal Abstriche gemacht werden. Abgesehen davon, daß ich es mir mit einer Frau sowieso nicht vorstellen kann, könnte mich weder die eine noch die andere in irgendeiner Weise anmachen.«

In diesem Moment kam die Schneiderin herein und die Freundinnen sahen leicht verlegen zur Seite, besonders Birte, die durch ihren Vater eine liberalere Einstellung auch in diesen Dingen besaß. Hoffentlich hatte sie nichts von ihrem Gespräch mitbekommen. Selbst wenn es Fall war, ließ sich die nette Schneiderin nichts anmerken.

»Wenn die Damen wollen, mache ich noch einen Kaffee zum Abschluß«, fragte sie freundlich.

»Danke, nein«, lehnte Birte höflich aber entschieden ab und Svenja nickte beipflichtend. »Aber soviel Kaffee trinken wir sonst nicht. Unserer hiesiger ist nicht so stark.«

»Ich weiß«, entgegnete die Schneiderin leicht mitfühlend. »Ich hatte einmal das ›Vergnügen‹ den Ihren bei meiner Tante zu kosten. Ansonsten kommen Sie zurecht?«

»Ja, wir sind nur etwas erschöpft.«

»Das kann ich nachfühlen«, nickte sie teilnahmsvoll und nahm ihre Tasche und die ihrer Freundin an sich. »Ich mache diese Messen eigentlich nur, um andere Länder und Städte zu sehen. Allerdings beschränkt es sich oft nur auf die diversen Hotels und die Wege zur Messe und zurück. Na ja, vor allem aber wegen meiner Freundin. Wir würden uns sonst noch seltener sehen«, lächelte sie verliebt und ließ sie wieder allein.

»Habe ich es dir nicht gesagt? Die beiden sind ein Paar«, kicherte Svenja leise.

»Svenja, manchmal bist du unmöglich«, konnte auch Birte nicht ganz ernst bleiben, doch wurde sie das Gefühl nicht los, daß die Schneiderin es in erster Linie erwähnt hatte, weil sie den Rest ihres Gesprächs mitbekommen und selbstbewußt allen weiteren Spekulationen den Nährboden entziehen wollte.

»Jetzt aber nichts wie nach Hause und die Füße hochgelegt«, entschied Birte, nachdem sie sich wieder gefangen hatten.

»Du willst doch nicht etwa schon nach Hause«, entfuhr es Svenja überrascht.

»Warum nicht? Die Messe ist doch aus?«

»Also, Birte, manchmal frage ich mich, ob eine Frau mit deiner Intelligenz wirklich so naiv sein kann? Jetzt fängt es doch erst an! Es würde mich wundern, wenn uns die beiden Männer nicht noch zum Essen einladen.«

»Viel Hunger habe ich aber nicht.« Sie begriff noch immer nicht, was die Freundin meinte.

»Mensch, Birte«, verlor diese fast schon die Geduld, »bei denen geht alles auf Spesen! Das heißt, die bezahlen nichts aus eigener Tasche und alles in Westwährung. Dort wo die hingehen, kannst du mehr als nur zwischen Braten mit Kartoffeln, Soße und Apfelkompott oder Kartoffeln mit Braten, Soße und Apfelkompott wählen.«

»Jetzt übertreibst du aber, Svenja! So karg ist es bei uns nun doch nicht.«

»Schon«, lenkte diese ein und schämte sich in einem Anflug von Patriotismus sogar für ihre Worte. »Aber im Vergleich zu dem, was du in einem Interhotel bekommst, stimmt das. Da hat man einfach Hunger zu haben!«

»Falls sie uns aber nicht einladen«, blieb Birte skeptisch, die durchaus Lust auf ein opulentes Mahl hatte, aber immer noch an Svenjas Worte von der Freigebigkeit der Westler zweifelte.

»Der Vertriebsleiter und der PR-Mann laden uns bestimmt ein. Sie sind schließlich allein hier und bestimmt kein Paar wie die Müller-Seelscheidt und die Schneiderin«, fügte Svenja unüberhörbar ironisch hinzu. »Die haben sicherlich keine Lust darauf, allein in der Hotelbar oder auf dem Zimmer zu sitzen und über Geschäfte zu reden. Sich dort eine Begleitung für den Abend zu suchen, ist nicht jedermanns Sache. Bei uns wissen sie wenigstens, woran sie sind. Außerdem … ist dir nicht aufgefallen, wie der PR-Mann dich immer ansieht?«

Tatsächlich hatte er seine Augen von keiner von ihnen lassen können und war einige Male ganz schön ungeniert hereingekommen, während sie sich umgezogen hatten. Birte war an ihrem ersten Tag als Mannequin viel zu nervös gewesen, um darauf zu achten, daß er sie mit eindeutigen Absichten angesehen hatte. Er war dabei zwar nicht unangenehm aufdringlich gewesen, hatte sich durchaus charmant ihnen gegenüber verhalten, aber wie jemand, der genau wußte, warum die beiden hübschen jungen Frauen hier arbeiteten. Er war schon zu oft auf Messen in Osteuropa gewesen, um nicht zu wissen, daß durch den dortigen chronischen Mangel an so gut wie allem bei den einheimischen Schönheiten mit Valuta einiges erreicht werden konnte. Beging man(n) jedoch den Fehler und ließ es am nötigen Charme und Respekt fehlen, zeigten sie einem schnell die kalte Schulter, denn lediglich käuflich war kaum eine. Svenja hatte bereits den Vertriebsleiter im Visier. Er war älter und sicherlich freigiebiger, das sagte ihr die Erfahrung.

»Gefallen würde er mir schon«, war Birte durchaus nicht abgeneigt. »Er hat etwas Jungenhaftes, trotz seines Alters.« Er war zweiunddreißig! »Aber, was bedeutet eigentlich dieses ›PR‹?«

»›Public Relations‹, wenn ich nicht irre«, sprach Svenja es relativ flüssig aus, schließlich hatte sie als zweite Fremdsprache Englisch gehabt und gab gerne damit an.

»Ah ja«, meinte Birte, um keinen Deut klüger geworden. »Und was heißt das genau? Du weißt doch, daß ich außer Russisch nur Französisch hatte.«

»Irgend etwas mit ›öffentlich‹ und ›Beziehung‹ oder so«, meinte Svenja achselzuckend. »Du kannst ihn ja selbst fragen.«

Beide wußten, daß sie es nicht machen würde, schon aus Stolz, um nicht als unbedarftes Landei dazustehen.

»Aber der Vertriebschef«, Birte schüttelte wenig begeistert den Kopf. »Da sieht mein Vater aber deutlich besser aus, denn viel jünger kann er nicht sein.«

»Du tust gerade so, als wäre er ein Greis. Sicher, er ist kein Adonis mit seiner Halbglatze und seinem leichten Bauch. Aber er ist gepflegt und verfügt über Manieren.«

Das konnte Birte nicht in Abrede stellen und wollte sie auch nicht. Aber sie konnte sich nun einmal für beleibte Männer mit Halbglatze, die mindestens doppelt so alt waren wie sie nicht erwärmen, selbst wenn sie noch so sympathisch wirkten. Sie hätte immer das Gefühl mit ihrem Vater auszugehen. In zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren, wenn sie selbst nicht mehr so jugendlich frisch war, würde sie das vielleicht anders sehen.

Svenja seufzte diesmal laut. Es ging über ihr Verständnis, wie sich jemand an Äußerlichkeiten stoßen konnte, wenn das Innere einigermaßen stimmte und sich die Möglichkeit bot, etwas von dem Luxus genießen zu können, der einem hiesigen Bürger, der keine Devisen besaß, verschlossen war. Darum erklärte sie großmütig:

»Also gut, ich übernehme den ›Dicken‹ und lasse dir dafür den PR-Mann.« Sie hatte längst bemerkt, daß er sich für Birte entschieden hatte, ihm war nicht entgangen, daß Svenja eine Spur zu erfahren für ihn war. »Aber nur, weil es für dich das erste Mal ist. Beim nächsten Mal mußt du mir einen vergleichbaren Gefallen tun. Ich versichere dir noch mal, daß die in der Regel ganz nett sind. Die wollen in der Regel nur etwas Gesellschaft. Und wenn wir ihnen ein bißchen entgegenkommen, zeigen sie sich gerne erkenntlich. Wie schon gesagt, sitzt selten gerne jemand abends allein auf seinem Hotelzimmer in einer fremden Stadt.«

Nun konnte Birte es nicht mehr vor sich verschleiern, wie Svenja an ihre Devisen kam. Nun, bei dem PR-Mann würde es sie sicherlich keine große Überwindung kosten, wenn es sich ergab, vorausgesetzt, er blieb so charmant wie bisher. Da sie bereits seit drei Monaten mit keinem Mann mehr gevögelt hatte – für sie fast eine kleine ›Ewigkeit‹, was sie schon leicht an ihrer Anziehungskraft auf Männer zweifeln ließ – der PR-Mann nett war, jedenfalls netter als ihr letzter Liebhaber, würde sie die Gelegenheit wahrnehmen. Sie hatte sowieso sehr gerne Sex und mochte gelegentlich flüchtige Affären. Ein Gebiet, auf dem man hier ohnehin unverkrampfter als im Westen zu sein schien. Nur gleich am ersten Abend wollte sie noch nicht mit ihm vögeln.

Bevor sie noch irgend etwas sagen konnte, kamen Karl-Heinz, der Vertriebsleiter, und Uwe, der PR-Mann, herein. Karl-Heinz als der ältere fragte sie freundlich und mit durchaus weltmännischen Charme, ob sie sie zum Essen in ihr Hotel einladen dürften. Sie hätten nach diesem langen und anstrengenden ersten Tag sicherlich Hunger, zumal man die ganze Zeit über ja so gut wie keine Gelegenheit gehabt hatte, etwas zu sich zu nehmen. Zudem wäre es eine gute Möglichkeit, sich etwas besser kennenzulernen. Schließlich müsse man noch drei Tage miteinander arbeiten. Zumal sie sich so auch etwas für den guten Eindruck revanchieren könnten, den die jungen Damen bei ihnen hinterlassen hätten.

Die Freundinnen lächelten daraufhin nicht nur pflichtschuldig, wobei sich Svenjas Lächeln aufmunternd an Karl-Heinz richtete, der sich in seiner Einschätzung bestätigt sah. Das, was seinen jungen Kollegen sich gegen sie hatte entscheiden lassen, nahm ihn wiederum für sie ein, schließlich war er seit über fünfzehn Jahren verheiratet und vermied jede Komplikation auch nur als vage Möglichkeit, obwohl der ›Eiserne Vorhang‹ die Wahrscheinlichkeit, daß eine ostdeutsche Schöne plötzlich vor seiner Tür stehen und Ansprüche stellen könnte, gegen null tendieren ließ, während Uwe in keiner Weise gebunden war. Svenja zögerte der Form halber etwas, bevor sie einwilligte. Birte bestätigte durch ein entschlossenes Nicken und ein an Uwe gewandtes freundliches, unbewußt leicht verlegenes Lächeln, was wiederum diesen in seiner Einschätzung bestärkte.

Die Designerin und die Schneiderin waren bereits gegangen. Sie wollten verständlicherweise allein sein. Die Männer fuhren sie im Firmenwagen, einer geräumigen Westlimousine, zum Hotel. Sie hatten ihnen galant die Fondtüren aufgehalten und sich nach vorne gesetzt. Karl-Heinz chauffierte. Für die Freundinnen war es ein neues Gefühl auf diese Weise durch die Stadt zu fahren. Das war etwas anderes, als in einem engen und lauten Trabant oder einer der schon leicht betagten Straßenbahnen zu fahren. Hier fühlte man sich, als säße man auf einem bequemen Sofa zu Hause und schwebte scheinbar lautlos über die Straßen. Für Svenja war es vielleicht nicht so neu wie für Birte, aber auch nicht so selbstverständlich, daß es nichts Besonderes mehr für sie war.

Sie erreichten das Interhotel relativ schnell, obwohl Karl-Heinz sich streng an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielt. Als ihn vor einigen Jahren während seiner ersten Dienstreise in den Osten eine Vopo-Streife angehalten hatte, weil er nur zehn(!) Kilometer pro Stunde zu schnell gefahren war, ging er kein Risiko mehr ein. Eine Prozedur dieser Art hatte ihm gereicht. Schlimmer konnte die Gestapo seiner Meinung nach auch nicht gewesen sein. Nicht nur er fragte sich, wer in totalitären Staaten selbstherrlicher war, die momentan Herrschenden oder die einfachen Beamten?

Birte hatte diese Paläste des Luxus, die primär für Besucher aus dem Westen gedacht waren, schon allein, weil dort alles in Westwährung bezahlt werden mußte, bisher nur von außen betrachten können und jetzt sollte sie einen solchen von innen sehen. Mit klopfendem Herzen stieg sie aus und war froh, als Uwe galant ihren Arm nahm. Er bemerkte die Unsicherheit der jungen Schönen neben sich sofort. Das machte sie ihm erst recht sympathisch. Svenja dagegen hakte sich deutlich gelassener bei Karl-Heinz ein.

Beim Betreten der Hotelhalle glaubte Birte in eine andere Welt zu wechseln. Hier war nichts von dem Jugendherbergscharme der Hotels zu spüren, in denen sie mit ihrem Vater während mehrerer Ferienreisen an die Ostsee, nach Ungarn oder Prag abgestiegen war. Dort hatte sie sich oft mehr geduldet denn als zahlender Gast gefühlt. Hier war alles ›prachtvoller‹ – vermeintlicher Weststandard eben.

Zuerst fürchtete sie, vom Hotelpersonal scheel angesehen zu werden, schließlich konnte sie, und schon gar nicht in dieser Umgebung, verleugnen, daß sie eine von ›Hier‹ und nicht von ›Drüben‹ war. Doch sie wurde behandelt wie alle anderen Gäste. Man war es offenkundig gewohnt, daß bei Messe Männer von ›Drüben‹ sich in Begleitung gutaussehender einheimischer Frauen befanden.

Sie gewöhnte sich zu ihrer eigenen Überraschung schnell an die neue Umgebung. Sie entspannte sich und begann ausgiebig mit Uwe zu flirten, der sich als angenehmer Gesellschafter erwies und ihr freundlich erklärte, was Public Relations bedeutete, obwohl sie ihn nicht direkt danach gefragt hatte.

Zum Essen trank sie zum ersten Mal in ihrem Leben Frascati. Später in der Hotelbar, wo die offiziell ›verpönte‹ Musik aus dem Westen bei gedämpften Licht gespielt wurde, sogar ein Glas Champagner. Mehr als Scherz und aus Übermut hatte sie auf Uwes Frage, was sie trinken wollte »Champagner. Eine Dame von Welt trinkt ihn doch in der Regel« geantwortet. Bevor sie sagen konnte, was sie tatsächlich wollte, hatte er mit einem Lächeln und als sei es das selbstverständlichste von der Welt gesagt: »Dann ein Glas Champagner für die junge Dame«, und ihr eines bestellt. Ihr war es etwas peinlich, aber keiner, weder Svenja, die einen Cocktail, noch Karl-Heinz, der ein Glas Wein bestellt hatte, sahen darin etwas Ungewöhnliches. Leicht ehrfurchtsvoll, als enthalte das langstielige Glas eine außergewöhnlich kostbare Flüssigkeit, führte sie es unter Uwes aufmunterndem Lächeln, Svenja und Karl-Heinz waren bereits ausgiebig miteinander beschäftigt und achteten gar nicht mehr auf sie, zu den feuchtschimmernden Lippen. Vorsichtig, als nippe sie an einem kochendheißen Getränk, nahm sie einen Schluck. Er schmeckte gut, sicher, doch wirklich schlechter war der einheimische Rotkäppchensekt auch nicht. Auf Uwes Frage, wie ihr der Champagner schmecke, antwortete sie halb ehrlich, halb pflichtschuldig, daß er ganz gut schmecke und nahm zur Unterstreichung einen kräftigeren Schluck, den sie sich auf der Zunge zergehen ließ. Sie trank aber nur das eine Glas, später wählte sie wie ihr Begleiter Wein, der ihr sowieso lieber war.

Karl-Heinz zog sich mit Svenja relativ früh zurück, was Birte gar nicht und Uwe nur am Rande mitbekam. Er fühlte sich in ihrer Gesellschaft wohl, mochte ihre Natürlichkeit. Sie plauderten angeregt miteinander, tanzten immer wieder einmal. Die Bar war gut besucht, viele Paare. Ihr war zwar nicht entgangen, daß einige Frauen überwiegend in ihrem Alter, die eindeutig keine Messegäste waren, zuerst allein an der langen Bar gesessen, aber schnell männliche Gesellschaft gefunden hatten, doch dachte sie sich nichts dabei. Schließlich gab es hier offiziell so etwas wie Prostitution nicht. Da jeder Arbeit hatte und es für die einheimischen Währungen letztlich keine sogenannten Luxusartikel gab, war es auch nicht sinnvoll, für Liebesdienste bei Landsleuten Geld zu nehmen. Zwar gab es Frauen, die sich auf Kontakte zu Leuten aus dem Westen in Interhotels spezialisiert hatten, aber sie waren Ausnahmen und wohl keiner konnte sagen, wie viele auf eigene Rechnung und wie viele letztlich inoffizielle Mitarbeiter vom MfS waren. Junge Frauen wie Birte und Svenja, die sich neben ihrem Messejob auf diese Weise etwas Westwährung verdienten, gab es anscheinend häufiger. Sie boten sich nicht wirklich an, überlegten aber auch nicht lange, war ihnen ein Westler sympathisch.

Birte und Uwe tanzten eng umschlungen miteinander. Sie spürte die leichte Ausbeulung in seinem Schritt und er ihren beschleunigten Herzschlag, der nicht allein vom Wein und Champagner herrührte. Auf zaghafte Küsse folgte schnell intensives Zungenspiel. Forsch und vergessend, daß sie von Uwe kaum etwas anderes außer ein paar schöne Stunden erwarten wollte, drückte sie leicht aber bestimmt ihren Schoß gegen seinen, damit seine Erektion intensiver wurde. Es war schön, sie zu spüren.

Er war nicht allzu überrascht über ihr forsches Vorgehen. Es war unübersehbar, daß es bei ihr aus Spaß an der Sache und nicht aus Berechnung geschah. Sie wollte ihn nicht bloß aufgeilen, um einen üppigeren Obolus von ihm verlangen zu können. Sie war lediglich eine lebenslustige junge Frau, die sich von einem sympathischen Mann erotisch angezogen fühlte.

Er hielt sie zärtlich fest, küßte sie auf den Hals und flüsterte ihr ins Ohr, während er es leicht mit der Zungenspitze berührte: »Laß uns nach oben gehen.«

Sie nickte nur, sah ihn aus feuchtglänzenden Augen lächelnd und leicht beschwipst an. Ihren Vorsatz, nicht gleich am ersten Abend mit ihm aufs Zimmer zu gehen, hatte sie längst vergessen.

Am nächsten Morgen war sie zwar etwas übernächtigt, fühlte sich aber prächtig. Irgendwann nach Mitternacht ließ Uwe sie im Taxi nach Hause fahren – für ein üppiges Trinkgeld in West-Markt konnten die heimischen Taxifahrer sehr freundlich sein. Sein Vorschlag, doch bei ihm zu schlafen, lehnte sie höflich aber entschlossen ab. Sie blieb nach dem ersten Mal prinzipiell nicht bei einem Mann über Nacht. Ihr war das Risiko, daß man sich am nächsten Morgen verschlafen anödete, einfach zu groß. Das sagte sie ihm natürlich nicht, sondern begnügte sich mit der knappen Erklärung, daß sie die wenigen Stunden, die die Nacht noch dauerte, lieber allein schlafen wollte. Immerhin müßte sie morgen wieder ausgeruht auf der Messe erscheinen.

Er gab sich damit zufrieden. Letztlich war es ihm auch lieber so. So konnte er ebenfalls ein paar Stunden ruhig schlafen, obwohl er gerne neben dieser blonden Schönheit geschlafen hätte und erst recht aufgewacht wäre.

»Wie war’s gestern mit Uwe«, fragte Svenja neugierig, während sie sich für die erste Vorführung umzogen, obwohl es mit Leichtigkeit von Birtes Gesicht abzulesen war. Auch die Blicke, die Uwe und sie kurz zuvor getauscht hatten, waren beredt genug.

»Bestens«, strahlte sie von einem Ohr zum anderen. »Er küßt einfach wunderbar. Und auch sonst versteht er es, mit der Zunge umzugehen. Zudem ist er ausdauernd. Na ja, mit einem erfahrenen Mann ist es doch etwas anderes als mit einem Jungen in unserem Alter.«

»Von Wolf sagtest du vor einiger Zeit noch etwas ganz anderes«, lachte Svenja und schüttelte leicht den Kopf.

»Ach, Wolf«, meinte sie mit einer wegwischenden Geste, an dieses kurze Kapitel aus ihrem Liebesleben wollte sie derzeit nicht erinnert werden. »Machst du mir mal das Kleid zu? Und bei dir?«

Da sie ihr den Rücken zuwandte, sah sie nicht, daß Svenja leicht mit den Achseln zuckte, als sie antwortete, während sie ihre Bitte erfüllte:

»Nicht übel. Na ja, wie Männer in dem Alter ebenso sind.«

Birte stand noch so unter dem positiven Eindruck des gestrigen Abends, daß sie nicht bemerkte, wie die Freundin sich von ihrem Verehrer mehr versprochen hatte.

Sie hatte schnell herausgefunden, daß Karl-Heinz verheiratet war, obwohl er keinen Ehering trug und seine Frau mit keinem Wort, ob offen oder versteckt, erwähnte. Doch seine Art zu lieben, war einfach zu eingefahren. Sie zeigte einen Menschen, für den Sex einen untergeordneten Stellenwert eingenommen, der es sich im Leben behaglich eingerichtet und der es einfach nicht mehr nötig hatte, seine Frau zu verführen, sich übermäßig um sie zu bemühen. Abgesehen von den üblichen Präsenten zu den einschlägigen Anlässen, die in einer langjährigen Ehe üblich waren. Man respektierte sich, man verstand sich, aber es war mehr Freundschaft als Leidenschaft vorhanden, Sex war zur Routine verkommen. Man kannte sich scheinbar zu gut. Man genoß ihn vielleicht noch auf eine verhaltene Weise, aber er bot anscheinend nichts Neues mehr. Man hatte dieses Verhalten so verinnerlicht, daß man sich bei einem anderen Menschen kaum anders verhielt als bei seinem langjährigen Lebenspartner. Sie war letztlich zwar irgendwie auf ihre Kosten gekommen, aber wirklich Spaß hatte es ihr nicht gemacht.

Die Abende der verbleibenden Messetage verbrachten Birte und Uwe auf dessen Hotelzimmer und »vögelten, als würde es morgen verboten«, wie Birte sich Jahre später lachend erinnerte. Sie schlief vielleicht vier, fünf Stunden in der Nacht während dieser Zeit, fühlte sich aber dennoch keineswegs erschöpft. Tagsüber auf dem Messestand beschränkten Uwe und sie sich mit dem Austausch von begehrlichen Blicken, die aber beredt genug waren, von den anderen jedoch ignoriert wurden.