Golos Erbe - Armin A. Alexander - E-Book

Golos Erbe E-Book

Armin A. Alexander

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Beschreibung

Ein junger, auf sympathische Weise leicht versponnener Schriftsteller und Übersetzer erbt zur Hälfte das große, alte Haus seines Patenonkels, dem er viel zu verdanken hat. Er erfährt erst, wer der Miterbe ist, wenn dieser sich ihm vorstellt. Er verbringt die Wartezeit in dem Haus und tritt somit auch eine Reise in die Vergangenheit an. Dabei begegnet er einer schönen Frau, von er der sofort fasziniert ist, was zu seiner Freude auf Gegenseitigkeit beruht. Eine leidenschaftliche Affäre beginnt. Sie zieht zu ihm. Eines Tages verschwindet sie plötzlich. Wird er sie jemals wiedersehen? Und was ist mit dem Miterben, der sich ja auch noch nicht vorgestellt hat?

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Ein junger, auf sympathische Weise leicht versponnener Schriftsteller und Übersetzer erbt zur Hälfte das große, alte Haus seines Patenonkels, dem er viel zu verdanken hat. Er erfährt erst, wer der Miterbe ist, wenn dieser sich ihm vorstellt. Er verbringt die Wartezeit in dem Haus und tritt somit auch eine Reise in die Vergangenheit an. Dabei begegnet er einer schönen Frau, von er der sofort fasziniert ist, was zu seiner Freude auf Gegenseitigkeit beruht. Eine leidenschaftliche Affäre beginnt. Sie zieht zu ihm. Eines Tages verschwindet sie plötzlich. Wird er sie jemals wiedersehen? Und was ist mit dem Miterben, der sich ja auch noch nicht vorgestellt hat?

Armin A. Alexander

Golos Erbe

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 Armin A. Alexander

1. Auflage Juli 2020

Umschlag, Umschlagfoto und Satz:

Armin A. Alexander

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783751988254

http://blog.arminaugustalexander.de

1.

Der Zug fuhr in den idyllischen Kleinstadtbahnhof ein. Daß dieser nicht wie viele andere einem unpersönlichen Haltepunkt weichen mußte, war dem bürgerschaftlichen Engagement unter Federführung seines Patenonkels zu verdanken, die dem historisch erhaltenswerten Gebäude den Status eines Baudenkmals verschaffen konnten. Statt es abzureißen, wurde es ebenso wie die Bahnsteige behutsam modernisiert.

Mit einem leisen Seufzer nahm Falk die beiden Reisetaschen und den Rucksack auf und ging zum Ausstieg. Es war das erste Mal, daß er weder von Golo noch von ›Tante‹ Martha oder beiden gemeinsam abgeholt wurde, seit er alt genug war, allein zu verreisen, und doch hielt er unwillkürlich nach ihnen Ausschau, während der Zug langsam zum Stehen kam.

Auf dem Bahnsteig stehend blickte er sich unschlüssig um, während sich hinter ihm zischend die automatischen Türen des Zugs schlossen. Obwohl ihm alles zutiefst vertraut war, fühlte er sich doch eigentümlich fremd. Als wäre er aus einer anderen Zeit hierher versetzt worden und niemand, den er von früher kannte, mehr existent. Wehmütig wurde ihm bewußt, daß er weder vom Patenonkel noch von ›Tante‹ Martha jemals wieder abgeholt würde.

Außer ihm hatten lediglich drei junge Männer den halbvollen Zug verlassen, die sich angeregt miteinander unterhielten, während sie auf den Ausgang zugingen. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig saß eine Frau mittleren Alters in einer Zeitung lesend auf einer Bank, ein älterer Mann schlenderte gemächlich auf und ab. Ein leichter Wind wehte von den Feldern herüber, die sich hinter den Gleisen anschlossen. In der Ferne näherte sich ein Güterzug.

Er gab sich einen Ruck, nahm das Gepäck wieder auf und verließ den Bahnhof.

Gemächlich überquerte er den kleinen, wenig belebten Bahnhofsvorplatz. Die jungen Männer warteten an der Bushaltestelle. Er blickte sich um, als müsse er erst alles neu erfassen, doch letztlich zögerte er nur, das Haus wiederzusehen. Er überlegte, ob er den Bus nehmen sollte, entschied sich aber für ein Taxi und nicht nur, weil er befürchtete, einem Bekannten seines Onkels zu begegnen.

Das Taxi, das ihn zum Haus gefahren hatte, entfernte sich.

Er sah zu beiden Seiten dieser ruhigen Straße hinunter, in der sich seit seiner Kindheit offenbar nur wenig verändert hatte, wurde von zwei Einfamilienhäuser abgesehen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor über zehn Jahren neu errichtet worden waren, aber auch sie wirkten längst als stünden sie schon eine halbe Ewigkeit dort, sah die hohe Mauer aus dunkelroten, rohen Ziegelsteinen entlang, auf deren Krone seit eh und je dick das Moos wuchs. Die Wipfel der hohen, kräftigen, verwachsenen Sträucher, die unmittelbar dahinter wuchsen, beschatteten fast den ganzen Gehweg. Das schwere, schmiedeeiserne, von Patina überzogene Tor war verschlossen.

Zu Golos Lebzeiten war der rechte, kleinere Flügel stets halb geöffnet gewesen, um zu zeigen, daß es ein gastliches Haus war. Er gab sich einen Ruck, stand er noch länger mit dem Gepäck zu Füßen vor dem geschlossenen Tor, wurde man von den gegenüberliegenden Häusern noch aufmerksam auf ihn und sah man sich womöglich zu Beileidsbekundungen genötigt, die er von Golos Freunden und Nachbarn im Augenblick nicht ertragen konnte. Vorerst mußte er allein sein. Er befand sich schließlich auch auf einer Art Pilgerfahrt in die Vergangenheit, erst nach deren Abschluß wäre er emotional bereit, dergleichen anzunehmen.

Er holte die Schlüssel, die ihm der alte Notar übergeben hatte, aus der Tasche und schloß das Tor auf, das sich leicht öffnen ließ. Die Angeln waren von jeher gut geölt. Er nahm die Reisetaschen und den Rucksack wieder auf und schritt hindurch. Das Tor schloß er sogleich wieder und auch ab, als wollte er die Welt und somit die Gegenwart – zumindest vorläufig – aussperren.

Auf den ersten Blick wirkte alles unverändert. Noch immer beschattete das ausladende Geäst der beiden großen alten Buchen die Vorderseite des Hauses, die dafür sorgten, daß es auch an heißen Sommertagen im Inneren erträglich blieb. Der Kies, der abgesehen von zwei großen Beeten rechts und links, den Vorplatz bedeckte, war wie gewohnt gepflegt. Die rötlichen, rauhen Ziegel der Fassade vermittelten den Eindruck von Unverwüstlichkeit. Wären die Fensterläden nicht geschlossen, deren Farbe an manchen Stellen abgeblättert war, wenn er sich recht erinnerte, hatten sie vor über zehn Jahren ihren letzten Anstrich erhalten, Golo war mit zunehmendem Alter nachlässiger geworden, hätte es ihn nur wenig überrascht, wäre die Haustür aufgegangen und Martha herausgekommen, um ihn zu begrüßen. Doch die Tür blieb geschlossen und das Gefühl von Verlassenheit verstärkte sich.

Er gab sich erneut einen Ruck und ging auf den Eingang zu. Das Knirschen seiner Schritte auf dem Kies erschien ihm unnatürlich laut, das in diesem Augenblick vorbeifahrende Auto nahm er dagegen gar nicht wahr, obwohl in dieser ruhigen Seitenstraße nur wenig Verkehr war.

Er schloß die Haustür auf, ließ sie geöffnet und nicht nur, um Frischluft hineinzulassen. Er konnte sich täuschen, aber die Luft im Inneren schien weniger abgestanden als erwartet. So weit er den alten Notar verstanden hatte, hatte ›Tante‹ Martha ihre restlichen Sachen vor etwa zwei Wochen abgeholt. Vermutlich hatte sie irgendwo im Haus doch ein oder zwei Fenster geöffnet gelassen, schließlich konnte sie davon ausgehen, daß er so bald wie möglich dem Haus einen Besuch abstattete, nachdem er vom alten Notar über die Erbschaft informiert worden war.

Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnten. Die Reisetaschen und den Rucksack stellte er vor einer alten Kommode mit einer bunten Keramikschale darauf ab.

Er atmete tief durch. Er erinnerte sich, wie er als Kind bei seiner Ankunft zuerst in den großen Garten gelaufen war. Für den Augenblick war er versucht, es auch jetzt zu tun, verschob es jedoch auf später und entschied sich für einen Rundgang durchs Haus, um die Läden und die Fenster zu öffnen, damit Luft und Licht ungehindert hereindringen und somit das Gebäude ›beleben‹ konnten.

Zuerst betrat er die große Küche zugleich der erste Raum linker Hand. Nachdem er die Fenster und die Fensterläden geöffnet hatte, sah er sich um.

Der große blankgeputzte Kohleherd war schon in seiner Kindheit nur noch Zierstück und der schwere Holztisch an dem bequem ein Dutzend Personen Platz fanden mit seiner stumpfgescheuerten Platte waren nicht nur die ältesten Einrichtungsgegenstände, sondern auch diejenigen, die den Raum beherrschten. Die Schränke, ein Sammelsurium unterschiedlichen Alters, nahmen sich dem gegenüber fast bescheiden aus, wie auch der moderne Herd mit großem Cerankochfeld, der erst vor wenigen Jahren seinen Vorgänger nach über zwanzig Jahren abgelöst hatte und auf den Martha so stolz gewesen war.

Er drückte die Klinke der Tür nieder, die in den Garten führte und sobald es die Witterung zuließ, stets geöffnet war. Natürlich war sie verschlossen. Er sah zum Bord links neben der Tür. Der Schlüssel hing am gewohnten Platz. Während er ihn ins Schloß steckte, erinnerte er sich an den zum altmodischen Schloß aus der Kindheit, von dem Martha gesagt hatte, daß es für einen halbwegs gewieften Menschen war, als hätte die Tür kein Schloß, bis Golo es schließlich gegen ein Sicherheitsschloß austauschen ließ. Für ihn gab es in diesem Haus nichts, was des Stehlens lohnte und in ihrer friedlichen kleinen Stadt und ihrer noch friedlicheren Straße gab es so etwas wie Einbruch nicht. Tatsächlich konnte Falk sich nicht erinnern, jemals von einem zumindest in diesem Teil der kleinen Stadt gehört zu haben. Martha hätte ihm sicherlich ausführlich darüber berichtet. Mit einem Schmunzeln drehte er den Schlüssel zweimal im Schloß, ließ ihn stecken und öffnete die Tür. Ein Aroma von Frühling strömte herein. Er wandte sich wieder um. Sein Blick fiel auf den großen Tisch. Wie oft hatte er daran gesessen, Martha beim Kochen und Backen zugesehen und dabei einen kleinen von ihr nur für ihn zubereiteten Imbiß oder frischen Obstkuchen mit Sahne oder irgendeiner der vielen Kuchen gegessen, die sie gebacken hatte und dazu Kakao getrunken?

Mehr aus Gewohnheit warf er einen Blick in den Kühlschrank, der zwar leer aber in Betrieb war, als wartete er nur darauf, so bald wie möglich wieder befüllt zu werden. In den Schränken standen ordentlich gestapelt Töpfe und Geschirr. Die Vorratsschränke waren bis auf eine Handvoll Gewürze und einige Obst- und Gemüsekonserven leer. Er mußte morgen als erstes einkaufen.

Er verließ die Küche und betrat den größten Raum, der wie das ganze Haus stilvoll eingerichtet war, mehr als die Hälfte des Erdgeschosses einnahm und Wohnzimmer und Eßzimmer in einem war.

Auch hier öffnete er die Läden und die Terrassentür und gewährte Tageslicht und Frischluft ungehinderten Zugang. Obwohl der große Eßtisch und die ausladende Ledergarnitur – die, was ihm erst später auffiel, seit seinem letzten Besuch neu bezogen worden war – an sich fast erdrückend wirkten, verlor sich ihre Voluminösität in der Weite des Raums. Auf den schweren Kommoden vor den Wänden, die zugleich die Schränke ersetzten, standen geschmackvolle Vasen und lackierte chinesische Kästchen. Die Wände zierten wie in fast allen Räumen gerahmte Radierungen, Lithographien und Zeichnungen von befreundeten Künstlern. Golo zog zeit seines Lebens die Grafik der Malerei vor.

Lediglich das dumpfe, bedächtige Ticken der großen alten Standuhr durchbrach die Stille. Obwohl sie mehrere Tage lief, bevor sie aufgezogen werden mußte, konnte das erst vor kurzem geschehen sein, was auch zur kaum abgestandenen Luft paßte. Dennoch verschwendete er keinen Gedanken daran, wer sie zwischenzeitlich aufgezogen hatte, sondern verglich deren Zeit mit der seiner Taschenuhr – ein Geschenk Golos zu seinem zehnten Geburtstag. Die Wanduhr ging wie üblich leicht vor, für eine alte mechanische Uhr aber recht präzise.

Martha hatte das letzte Zimmer im Erdgeschoß bewohnt. Nachdem er auch dort den Fensterladen geöffnet hatte, sah er zum ersten Mal die Illusion zerstört, daß die Bewohner nur für kurze Zeit abwesend waren. Der große Schrank wie die Regale waren leer, die Matratze unbezogen, die hellen Stellen an den Wänden zeugten davon, wo einst Bilder gehangen hatten, nirgends mehr etwas Persönliches.

Um ein erneut aufkommendes Gefühl der Verlassenheit zu unterdrücken, schloß er leise die Tür als könne er jemanden stören, und ging die blanken, noch immer an denselben beiden Stellen leicht knarrenden Holzstufen der Treppe hinauf in den ersten Stock, dessen langer stets im Halbdunkel liegender Flur mit einem schweren, jeden Schritt bis zur Lautlosigkeit dämpfenden Kokosläufer ausgelegt war. Dieser hatte selbst Marthas forschen, kraftvollen Schritt, der grundsätzlich weithin zu vernehmen war, unhörbar werden lassen. Nicht selten konnte sie daher den kleinen Falk überraschen, wenn er nachts heimlich im Bett gelesen hatte. Der Not sich beugend, hatte er es irgendwann aufgegeben, so sehr er auch seine jungen Ohren angestrengt hatte, er hatte sie nie gehört.

Auch das Arbeitszimmer, das größte Zimmer auf der Etage, mit den schier vor Büchern überquellenden und bis unter die Decke reichenden, dunklen Regalen, wirkte fast, als käme sein Besitzer jeden Moment zurück, sah man vom leeren Schreibtisch ab.

Er ging bedächtig an den Bücherwänden vorbei, las einige Titel auf den Buchrücken, unter denen einige seltene Erstausgaben waren. Wenn seine Leidenschaft für Literatur an einem Ort geweckt worden war, dann hier. Er konnte kaum lesen, da war er während der ersten Schulferien, die er in diesem Haus verleben durfte, fasziniert an ihnen entlang gegangen, den Geruch von Leder und oft altem, teilweise sehr altem Papier tief einatmend, neugierig zu erfahren, was sich hinter diesen hohen Büchermauern für Welten verbargen. Die Eltern hatten ihm zwar schon seinem Alter entsprechende Bücher geschenkt und er diese auch begierig gelesen, doch die überwiegend alten Buchrücken faszinierten ihn mehr, denn dahinter mußten sich Geheimnisse verbergen, die erst noch entdeckt werden wollten.

Golo hatte diese erwachende Leidenschaft früh erkannt und gefördert. Zwar befanden sich in seiner Bibliothek keine Kinderbücher im modernen Sinne – schließlich gibt es vorrangig für Kinder und Jugendliche verfaßte oder adaptierte Literatur erst als zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die Kindheit als eigenständige Lebensphase ›entdeckt‹ wurde – aber zahlreiche Bücher, die auch für Kinder jeden Alters interessant waren. Märchen aus aller Herren Länder beispielsweise, von denen er einige mehrmals gelesen hatte und die ihn in faszinierende fremde Welten und Kulturen geführt hatten, nicht zu vergessen Hauffs Märchen-Almanach, der in unterschiedlichen Ausgaben vorhanden war und den er noch immer gerne las.

Er riß sich von den Erinnerungen los und stellte den Band mit orientalischen Märchen, einer Übersetzung aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert – er wunderte sich immer noch, wie schnell er seinerzeit Frakturschrift lesen gelernt hatte – von einem leichten Seufzer begleitet wieder an seinen Platz zurück. Daß die von ihm bewunderte Bibliothek ja jetzt sein Besitz war – laut Testament zumindest zur Hälfte – war ihm noch nicht so recht bewußt.

Nach einem kurzen Blick aus dem Fenster in den Garten verließ er das Arbeitszimmer.

Golos gegenüber liegendes Schlafzimmer bot dasselbe Bild wie Marthas Zimmer – leere Schränke und nackte Matratzen. Allein die fünf Radierungen eines lediglich lokal bekannten Künstlers aus dem frühen 19ten Jahrhundert, Impressionen der kleinen Stadt, verhinderten, daß es ähnlich verlassenen wirkte.

In den beiden Gästezimmer öffnete er lediglich Läden und Fenster, ebenso im geräumigen Bad, in dem auch nichts mehr war, das auf die ursprünglichen Bewohner hinwies.

Ohne sich dessen bewußt zu sein, zögerte er den Zeitpunkt hinaus, an dem er das Zimmer betrat, das er während seiner zahlreichen Besuche bewohnt hatte und das immer noch seine überwiegend aus Kindertagen stammenden Sachen beherbergte. Es lag am Ende des Gangs und sah nach vorne hinaus. Es hatte ihm aus einem unerfindlichen Grund besser gefallen als das Gästezimmer, das zum Garten hinausging, obwohl er den Garten liebte, und das man ihm als erstes angeboten hatte. Aber irgendwie mochte er es bereits als Kind nach dem Aufwachen einen Blick durch die Sträucher vor der Mauer auf die Straße, in den Vorgarten zu werfen, vielleicht, weil auch Golos Schlafzimmer nach vorn hinauslag mit dem geräumigen Bad dazwischen.

Er gab sich einen inneren Ruck und betrat sein Zimmer. Hier fühlte er, nachdem er nicht nur die Fensterläden, sondern auch das Fenster geöffnet hatte, die Verlassenheit weniger und sich wieder mehr wie nach Hause zurückgekehrt. Hier schien es ihm, als wäre er nur für kurze Zeit abwesend gewesen, dabei lag sein letzter Besuch mit Übernachtung fast drei Jahre zurück. Lediglich die nackte Matratze widersprach dem Eindruck, früher hatte Martha vor seiner Ankunft frische Wäsche aufgezogen.

Er öffnete den Kleiderschrank, der bis auf einige frische Handtücher und zwei Garnituren Bettwäsche leer war. Auf dieser lag ein Zettel mit ihrer klaren Handschrift. »Für den Fall, daß Du keine Handtücher und Bettwäsche mitgebracht hast, mein Junge.« Für einen Moment war er gerührt und dachte wehmütig daran, daß dies die letzte Fürsorge war, die er von ihr in diesem Haus erhalten würde.

Er legte den Zettel beinahe andächtig ins leere Fach darüber und ging wieder nach unten, wo er die Haustür schloß. Dann ging er mit dem Rucksack, der einige Lebensmittel enthielt, in die Küche und räumte sie in den Kühlschrank. Anschließend trug er ihn und die Reisetaschen hinauf in sein ›altes‹ Zimmer. Er bezog das Bett, räumte den Inhalt der Reisetaschen in den Schrank, stellte sie darauf und den Rucksack in die Ecke daneben. Nun wirkte das Zimmer tatsächlich als sei er erst vor kurzen hier gewesen.

Er stellte sich ans Fenster, stützte sich mit den Armen auf die Fensterbank auf und sah hinaus. Von den gegenüberliegenden Häusern waren durch die hohen Sträucher wie in seiner Kindheit nur die oberen Hälften der ersten Etagen und die Dächer zu sehen. Als das Haus gebaut worden war, grenzten an die gegenüberliegende Straßenseite noch Felder und endete die Straße nur wenige Meter hinter dem Haus. Doch das war schon lange her, noch vor Golos Geburt.

Ein Hungergefühl, er hatte zum Frühstück nur eine Tasse Tee und etwas Zwieback gegessen, mehr war ihm durch die Aufregung nicht möglich gewesen, trieb ihn hinunter in die Küche, wo er Wasser für den Tee aufsetzte. Er nahm aus einer mitgebrachten Tüte mit Tee zwei gehäufte Teelöffel und tat sie ins Sieb der alten Teekanne, die unverändert mitten auf dem Küchentisch auf einem Stövchen stand. Während er darauf wartete, daß das Wasser heiß wurde, trat er in den geliebten Garten hinaus, der mit seinen üppigen Sträuchern, den uralten, knorrigen Rosenstöcken und der großen Buche, die mit ihrem ausladenden Geäst fast die Hälfte des Rasens beschattete, immer halb verwildert gewirkt hatte, was aber seinen besonderen Charme ausmachte. Er hatte sich allen Bemühungen, ihn zu einem Hort strenger, geometrischer Gartenarchitektur zu machen, erfolgreich widersetzt – was aber auch nie ernsthaft, sondern mit einer gewissen Nonchalance betrieben worden war. Während des Frühlings war es ein Genuß zu beobachten, wie das Leben Tag für Tag mehr in ihm erwachte, wie er den vielfältigsten Insekten und Wildpflanzen Raum und Heimat bot. Im Sommer floß er vor Leben fast über, wurde man beinahe betäubt vom süßlich herben Aroma der Flora. Die Spitzen der Äste bogen sich dann unter der Last ihrer Blüten und ihres Laubes fast bis auf den Boden hinunter. Nach einem heftigen Sommerregen intensivierte die warme, vom nassen Gras und der regengetränkten Erde aufsteigende und die Luft erfüllende Feuchte das Aroma der Pflanzen, berauschte die Sinne und durchströmte das Innere des Hauses, dessen Fenster während der warmen Jahreszeiten stets geöffnet waren, bis in die letzten Winkel. Aufgrund der örtlichen klimatischen Verhältnisse konnte er sich nur an sehr wenige Winter erinnern, in denen der Garten mehr als einen oder vielleicht zwei Tage einen verschneiten Anblick geboten hatte. Unter der großen Buche hatte er, sobald es die Witterung zuließ, auf einer Decke liegend gelesen. Es gab nur wenig, das ihn in solchen Momenten ablenken konnte. Wenn es seine Arbeit erlaubt hatte, hatte Golo unweit von ihm gesessen und selbst gelesen oder ihn lediglich beobachtet. Des Nachmittags hatten für eine oder zwei Stunden Martha und eine Kaffeetafel ihre Gesellschaft geteilt und Onkel und Neffe ihren Backkünsten gehuldigt.

Offensichtlich schien in den letzten Jahren noch weniger im Garten gemacht worden zu sein. Das Gras wirkte, als wäre es das letzte Mal im vergangenen Herbst gemäht worden, bei den Sträucher lag der letzte Beschnitt sicherlich noch länger zurück. Die Gartenarbeit hatte meist Martha erledigt, Golo hatte ihr gelegentlich geholfen. Ob es den alten Spindelmäher aus seiner Kindheit noch gab? Von benzinbetriebenen hatte Golo nie etwas gehalten, die waren ihm unerträglich laut und stanken zudem noch fürchterlich. Auch von Elektromähern hielt er nicht mehr. Seines Erachtens tat der gute alte Spindelmäher ebensogut seine Dienste, wenn man ihn regelmäßig wartete und außerdem verschaffte er einem Bewegung. Tatsächlich hatte er meist den Rasen gemäht und als Falk groß und kräftig genug war, hatte er diese Aufgabe übernommen. Das leise Surren, wenn man damit über den Rasen fuhr, hatte ihm gefallen. Er war immer gut gewartet und die Messer sogar ekelhaft scharf. So scharf, daß man aufpassen mußte, sich nicht zu schneiden, wenn man ihn nach dem Mähen reinigte, was man besser nur mit robusten Gartenhandschuhen tat. Einmal hatte er sich ganz schön daran geschnitten und die Wunde mußte genäht werden. Das war ihm eine Lehre gewesen. Dann fiel ihm ein, daß der alte vor mehr als zehn Jahren gegen einen neuen ausgetauscht worden war, der Zahn der Zeit holt schließlich auch den Robustesten ein.

Das Pfeifen des Wasserkessels holte ihn in die Gegenwart zurück. Er ging in die Küche zurück und goß das heiße Wasser über den Tee. Während dieser zog, ging er in die Waschküche hinunter, wo den Winter über die Gartenmöbel untergestellt waren. Auch hier roch es nicht so feucht und muffig, wie es eigentlich müßte, obwohl das vergitterte Fenster geschlossen war. Überhaupt hatte er bisher kein Fenster geöffnet gefunden, worüber er sich aber keine Gedanken machte. Er schloß die Außentür auf und trug nacheinander den Klapptisch und zwei Gartenstühle die schmale Außentreppe hinauf. Zuerst wollte er sie auf den Rasen stellen, dort wo sie früher oft gestanden hatten, doch dann stellte er fest, daß das Gras doch höher war, als es den Anschein hatte und somit stellte er sie auf die Terrasse. Den Rasen würde er als erstes mähen.

Er ging in die Küche zurück, holte Teekanne, Tasse und seinen nicht angerührten Reiseproviant nebst der Zeitung, für die er noch keine Zeit gefunden hatte, stellte alles auf den Tisch und setzte sich. Er schenkte sich Tee ein, nahm die Zeitung zur Hand und aß eines der mitgebrachten Brote. Er hatte kaum eine Spalte gelesen, da hob er den Blick und dachte an früher, ans gemeinsame Frühstück bei schönem Wetter hier im Garten.

Schon bald faltete er die Zeitung zusammen, in der er doch nicht mehr lesen würde, und legte sie achtlos auf den anderen Stuhl, wo der leichte Wind mit ihr spielte. Er trank seinen Tee, aß, lauschte dem Rauschen des Laubes im leichten Wind, dem Gesang der Vögel und beobachtete das Schattenspiel, das das durch das im Laub der Buche gebrochene Sonnenlicht auf den Rasen warf.

Es erinnerte ihn an die ruhigen Sommernachmittage, während er von leichter Schläfrigkeit befallen im Schatten der Buche auf einer Decke lag, ein Buch neben sich, aber zu träge, um darin zu lesen. Dafür waren seine Gedanken um so lebhafter gewesen. Er spann die Geschichten, die er gelesen hatte, oft weiter, stellte sich vor, wie er ein Teil davon wurde, seinen Helden in heiklen Situationen half und sich dadurch vor ihnen bewährte. Je häufiger er seine Phantasie auf diese Weise schweifen ließ, desto eigenständiger wurden die Geschichten, die er erfand.

Er seufzte tief bei dem Gedanken an diesen idyllischen Abschnitt seiner unwiederbringlich vergangenen Kinderzeit.

Von nun an brauchte er nicht mehr abzuwarten, bis Golo ihn einlud, wobei er auch nichts dagegen gehabt hatte, wenn er sich selbst eingeladen hatte, sondern konnte, wann es ihm beliebte, seine Zeit es erlaubte und die Witterung es zuließ, in diesem Garten sitzen. Je mehr er sich bewußt wurde, daß er nicht mehr lediglich Gast in diesem Haus war, dem Haus seines geliebten und bewunderten Patenonkels, desto wehmütiger erschienen ihm die Erinnerungen. Es war jetzt sein Haus – zumindest zur Hälfte.

2.

Beim ersten Besuch war er vier und in Begleitung der Eltern. Sie hatten sich und ganz besonders ihn herausgeputzt. Es war ein warmer Sonntag kurz vor Pfingsten.

Er hatte die Eltern stets in einem äußerst respektvollen Tonfall über den Patenonkel reden gehört, von dessen vermeintlich zurückgezogener Lebensweise, seiner Belesenheit, seinem Renommee als Philologe und seiner Großzügigkeit – letzteres betonten sie mehr als alles andere!

In seiner kindlichen Vorstellung wurde er somit zu einer mythischen Person, einem gütigen Greis mit schlohweißem Haar und langem Bart, der in einem großen alten Haus inmitten unzähliger, alter, schwerer vom Wissen überquellenden Büchern und flinken und gelehrigen Helfern und Schülern lebte. Hier hatten Darstellungen von Gelehrten auf einschlägigen Abbildungen in Büchern seiner Eltern seine kindliche Phantasie beflügelt, obwohl Golo damals erst Anfang Fünfzig war. Jedoch dürften in den Augen eines Vierjährigen so ungefähr alle Personen, die deutlich älter als die Eltern sind, weitgehend den Status von ›Greisen‹ besitzen.

Schon Tage vor jenem Besuch wurde der kleine Falk mit Ermahnungen überhäuft, insbesondere daß er sich Onkel Golo gegenüber wie ein artiger kleiner Junge verhalten solle. Aber verhielt er sich denn nicht meist wie ein artiger kleiner Junge? Er war dadurch verständlicherweise verunsichert und rutschte während der mehr als eineinhalbstündigen Fahrt nervös auf dem Rücksitz des Autos hin und her, was seine Mutter veranlaßte ihn wiederholt zum Stillsitzen zu ermahnen, da er Gefahr lief, seinen neuen Sonntagsstaat nachhaltig in Unordnung zu bringen, jedoch von der ihr eigenen mütterlichen Strenge begleitet, die zuviel Nachsicht enthielt, als daß sie ihn wirklich zum Stillsitzen veranlaßt haben könnte. Sein Kinderherz pochte heftig vor Aufregung.

Dann baute sich zum ersten Mal das große alte Haus vor ihm auf, das ihm riesig erschien, das Reihenhaus der Eltern wirkte dagegen wie ein Puppenhaus auf ihn. Die Sonne schien von einem nahezu wolkenlosen Himmel herab. Ein leichter Wind strich durch seinen Blondschopf. Er war dankbar für diese leichte Erfrischung, denn ihm war warm unter seinen neuen Sachen. Er drückte fest und schutzsuchend die Hand der Mutter, als sie vor dem Eingang standen. Der Vater betätigte, etwas zögerlich wie ihm in der Erinnerung schien, die altmodische Klingel. Die Eltern ermahnten ihn ein letztes Mal, sich doch ansprechend zu benehmen. Alles schien auf einen steifen Besuch hinauszulaufen.

Geöffnet wurde ihnen von einer matronenhaft wirkenden Frau unbestimmbaren Alters – obwohl sie damals erst Ende dreißig war – die die Besucher mit Herzlichkeit empfing und dem kleinen Falk so freundlich zulächelte, als hätte man seinen Besuch schon lange erwartet, was ihm doch etwas die Angst nahm. Sie führte ihn und die Eltern durch eine blitzsaubere, im Schachbrettmuster geflieste, im leichten Dämmerlicht liegende Diele ins große Eß- und Wohnzimmer, wo der kleine Falk zum ersten Mal seinem Patenonkel begegnete.

Zuerst fiel ihm schwer zu glauben, daß dieser Mann jener sagenumwobene Patenonkel sein sollte, denn er besaß in keiner Weise Ähnlichkeit mit dem Bild aus seinen kindlichen Phantasien. Er war ein großer, eher hagerer Mann mit schütterem an den Schläfen bereits ergrautem, dunklen Haar, stets freundlich gegen jeden und für die Probleme seiner Mitmenschen immer ein offenes Ohr besitzend. Darum verstand Falk auch nicht – letztlich konnte er es nie nachvollziehen – weshalb die Eltern ihm mit derart großem Respekt, ja fast schon mit schüchterner Ehrfurcht gegenübertraten, zumal sein Vater beruflich eine Position bekleidete, wo ihm gleichfalls Respekt entgegengebracht wurde. Soviel er in späteren Jahren auch über diese Eigentümlichkeit spekulierte – gerade weil er nie den leisesten servilen Anflug bei den Eltern bemerkt hatte – manchmal ganze Nächte darüber wach lag und unmißverständliche Andeutung den Eltern gegenüber fallen ließ, die sie aber geflissentlich übergingen, als hätte er sie niemals geäußert, erfuhr er nie den Grund. Aus Achtung vor dem Patenonkel und den Eltern stellte er mit den Jahren die Bemühungen ein.

Die Ehrfurcht und die Bescheidenheit, die die Eltern Golo gegenüber an Tag legten, beantwortete dieser mit höflicher Distanziertheit, jedoch ohne jeden Anflug von Herablassung und mit einem deutlichen Gefühl der Wärme, so wie ein Schuldirektor ganz besonders vorbildlichen und herausragenden Schülern begegnet. Er richtete nur wenige Worte an sie, ging dann vor Falk in die Hocke, so daß er sich mit ihm auf Augenhöhe befand. Falk hielt noch immer die Hand der Mutter fest und blickte den Patenonkel aus großen Kinderaugen an. Freundlich und sanft sagte dieser:

»Endlich sehe ich mein Patenkind einmal wieder. Das letzte Mal war es bei deiner Taufe, als ich dich über das Becken hielt. Groß bist du geworden. Ich begrüße dich herzlich in meinem Haus«, dabei reichte er ihm die Hand.

Falk zögerte, war verunsichert, sah Hilfe suchend zur Mutter auf. Nun mache schon, sei ein braver Junge, schien sie ihm mit den Blicken sagen zu wollen und drückte ihm ermunternd die Hand.

»Lassen Sie ihn ruhig«, wandte sich Golo nachsichtig an die Mutter. »Es ist alles noch sehr neu für ihn. Man muß schließlich bedenken, daß ein kleiner Junge viel länger benötigt, um sich an eine fremde Umgebung zu gewöhnen. Ich bin aber überzeugt, daß wir uns verstehen werden. – Nicht wahr, junger Mann?« sprach er weiterhin freundlich und mit großer Wärme zu ihm, worauf er ihm dann doch noch, wenn auch zögerlich, die Hand gab.

Golo kümmerte sich an diesem Nachmittag rührend um sein Patenkind, das seine anfängliche Scheu vor ihm schnell verlor. Er zeigte ihm das Haus vom Keller bis zum Dachboden, der ebenso aufgeräumt und sauber war wie alles hier, aber trotzdem nicht steril, sondern belebt und gemütlich wirkte. Zwei einander gegenüberliegende große Fenster, die einen herrlichen Ausblick boten, erhellten ihn. Falk sollte sich hier noch oft bei Regen zwischen alten Körben und Kisten aufhalten und vor dem Fenster, das nach dem Garten hinauszeigte und von dem aus man in die Krone der alten Buche blickte, mit einem spannenden Buch sitzend, seinen kindlichen Phantasien nachhängen. Er führte ihn auch durch den Garten, schien alle Pflanzen zu kennen und wußte über jede etwas zu erzählen. Er lauschte gerne seiner angenehm klingenden Stimme. Während all den Jahren und der Zeit, die er in diesem Haus verbrachte, war er nie müde geworden, ihm zuzuhören.

Die Eltern waren sehr zufrieden und – wie er glaubte – auch erleichtert über den Erfolg dieses Besuchs. Er dagegen war traurig, als sie gehen mußten. Nur das Versprechen, daß er Onkel Golo so bald wie möglich wieder besuchen dürfe, ließ ihn den Abschied etwas leichter fallen.

Anfänglich fielen seine Besuche nur spärlich aus, er war ja noch relativ klein und eine längere Abwesenheit von zu Hause erlaubten ihm die Eltern nicht, so sehr er sie auch darum bat, fast schon quengelte.

Doch nachdem er eingeschult worden war, verbrachte er bald die gesamten Ferien bei ihm. Das Haus wurde ihm vertrauter und mit den Jahren bestand der Patenonkel darauf, daß er ihn nicht mehr ›Onkel‹ Golo, sondern nur noch beim Vornamen rief – ein Privileg, das er zu würdigen wußte.

Golos Haushälterin, die er bereits vom ersten Tag an ›Tante‹ Martha nennen sollte, sorgte sich so rührend um sein leibliches Wohl, daß er sich nicht selten wie eine Mastgans fühlte. Aber sie kochte wirklich gut und zum Glück hinterließ ihre Küche bei ihm kaum sichtbare Spuren.

3.

Die Schatten waren erheblich länger und durchsichtiger geworden. Er mußte wohl leicht auf dem bequemen Gartenstuhl eingenickt sein. Ihm fiel ein, daß er ja noch zum Friedhof wollte, um Golos Grab einen Besuch abzustatten.

Eilig räumte er das Geschirr in die Küche. Tisch und Stühle ließ er stehen, wo sie waren, er nahm nur das Polster von seinem Stuhl, obwohl für die Nacht kein Regen zu erwarten war, und legte es auf der Couch ab. Er holte die etwas ungeschickt angefertigte Lageskizze, die ihm der alte Notar gegeben hatte, aus einer mitgebrachten Mappe mit dem Erbe betreffenden Schriftstücken. Vermutlich hätte er das Grab nach einigem Suchen auch ohne sie gefunden, allzu groß war der alte Friedhof ja nicht, wenn auch ziemlich langgestreckt.

Sorgfältig schloß er das Haus ab, trat durch das Tor, das er nur zuzog, aber nicht abschloß, auch nicht daran dachte, auf die Straße hinaus und ging gemächlichen Schrittes zum Friedhof, der kaum fünfzehn Minuten Fußweg entfernt lag.

Auf den vielen Spaziergängen, die Golo mit ihm unternommen hatte, waren sie häufig daran vorbeigekommen. Aus seiner gelegentlich halb im Scherz gemachten Bemerkung, eines Tages würde er ihn dort besuchen, war nun traurige Realität geworden. Die halbhohe Mauer aus roten Ziegeln, die bei vielen der alten Häuser der kleinen Stadt Verwendung gefunden hatten, die den Friedhof umfriedete, die kleine aus den gleichen Ziegeln erbaute mit bunten Glasfenstern versehene Kapelle, die akkurat angelegten und gepflegten Kieswege, die vom breiten, schnurgerade ausgeführten, asphaltierten Hauptweg abzweigten, hatten auf ihn schon immer wie Zeugen der Ewigkeit gewirkt, als wären sie schon immer hier gewesen und würden bis zum Ende aller Zeiten existieren.

Er trat durch das offenstehende Tor, von dem aus man ungehindert das gegenüberliegende sehen konnte, das auf einen breiten asphaltierten Feldweg führte, ging an der Tafel mit den Öffnungszeiten und Winterpflegehinweisen nebst einer Kurzfassung der Friedhofsordnung achtlos vorbei und holte die Lageskizze aus der Jackentasche. Nach dieser mußte er die Kapelle rechter Hand liegen lassen und den Hauptweg mehr als die Hälfte entlanggehen, dann sich links halten und ein Stück geradeaus gehen, vorbei an zwei schmalen Seitenwegen und sich dann nach rechts wenden. In der Nähe einer großen, alten Eiche sollte es schließlich sein. Es gab hier mindestens ein halbes Dutzend großer, alter Eichen.

Er steckte die Lageskizze wieder in die Jackentasche und sah auf.

Hatte er zuvor, während er kurz den Hauptweg entlanggeblickt hatte, niemand gesehen, so schrak er fast zusammen, da ihm in vielleicht zwanzig Metern Entfernung eine junge Frau von allenfalls Mitte dreißig entgegenkam, die Hände in den Taschen ihrer langen dunkelroten taillierten Lederjacke vergraben. Sie schritt entschlossen aus, scheinbar nicht darauf achtend, was um sie herum geschah. Sie fiel ihm nicht allein auf, weil sie relativ groß war, einen leichten Hang zum Molligen besaß, was ihr aber sehr gut stand und auch nicht aufgrund ihrer städtischen Eleganz – sie trug ferner einen knielangen Bleistiftrock aus einem mattglänzenden, schwarzen Stoff, zarte, hautfarbene, schwarze Strümpfe und elegante, schwarze Schuhe mit halbhohen Absätzen. Sie hatte ein seidenes, dezent buntes Tuch um den Kopf geschlungen, unter dem mittellanges, dichtes, leicht struwwelig wirkendes mehr rotes als braunes Haar hervorschaute und eine große dunkle Sonnenbrille aufgesetzt. Sie war perfekt geschminkt, einem Friedhofsbesuch entsprechend dezent, obwohl sie vom Typ her kräftige Farben vertrug. Sie wirkte trauriger als die meisten, besuchten sie das Grab eines nahen Angehörigen. Sie ging relativ dicht an ihm vorüber, ohne ihn offenbar zu bemerken, dabei wehte ihm ihr dezentes, fruchtiges Parfum, dessen Note ihm unbekannt war, in die Nase. Er verstand zwar nicht viel von Parfums, aber daß es kein preiswertes war, war ihm bewußt, überhaupt war nichts preiswert, was diese unbekannte Schöne am Körper trug.

Kaum war sie an ihm vorüber, blieb er einen Augenblick stehen und sah ihr nach, wie sie zielstrebig auf den Ausgang zuging.

Irgend etwas war eigenartig an dieser Frau, ohne daß er es hätte näher bestimmen können. Wie eine Einheimische wirkte sie nicht auf ihn.

Nachdem sie das Tor passiert und sich nach rechts gewandt hatte, in die Richtung aus der er gekommen war, und somit aus seinem Blickfeld verschwand, folgte er, sich noch über diese Begegnung wundernd, wieder der Lagekizze und mußte – wie nicht anders erwartet – etwas suchen, worüber er die schöne Unbekannte vorübergehend vergaß.

Lange stand er vor Golos Grab. Die Sonne stand bereits tief über dem Horizont. Myriaden von Insekten schwirrten in ihren letzten Strahlen. Die Schatten waren dünn und sehr lang geworden. Ein leichter Wind trug vom angrenzenden Wald Tannenduft herüber. Die meisten der bereits verwelkten Kränze waren entfernt worden. Darüber daß eine Vase mit frischen Blumen und ein Grablicht, das erst vor kurzem angezündet worden war, mitten auf dem Grab stand, machte er sich keine Gedanken. Golo besaß im Ort schließlich genug Freunde und Bekannte, die dafür verantwortlich sein konnten. Morgen vormittag würde er einen Kranz in der Gärtnerei unweit des Friedhofs bestellen. Dabei wunderte er sich erneut über Golos ›Laune‹, ihn und die Eltern und laut dem alten Notar auch viele der Freunde und Bekannte, die nicht im Ort lebten, erst nach der Beisetzung von seinem Dahinscheiden zu informieren. Aber so war er auch zu Lebzeiten gewesen, er hielt nie mehr als sechs bis sieben Leute gleichzeitig im Haus aus, Martha und ihn eingeschlossen. Bei mehr war er überzeugt, daß er nicht mehr jedem gleichermaßen seine Aufmerksamkeit widmen konnte.

Falk setzte sich für einige Minuten auf eine in der Nähe stehende Bank, halb im Schatten der ausladenden Äste der alten, großen Eiche, die Sonne im Rücken, die kaum noch nennenswerte Schatten warf. Die Vögel läuteten mit ihrem abendlichen Abschlußkonzert die bevorstehende Dämmerung ein. Er hatte das Gefühl, allein auf dem Friedhof zu sein. Er ließ den Blick über die Gräber in seiner Nähe wandern. Sie waren alle gepflegt und das jüngste bereits über zehn Jahre alt. Dabei fiel ihm wieder ein, was er längst vergessen hatte. Golo hatte diese Grabstätte bereits vor über fünfzehn Jahren erworben, weil ihm dieser Teil des Friedhofs besonders gefiel. Er hatte ihm sogar schon die Stelle gezeigt. Es war während eines Besuchs kurz nach dem Abitur. Er war voller Tatendrang und Zuversicht gewesen, schließlich begann ein neuer Abschnitt in seinem Leben. Er war kein Schüler mehr. Eine Universität war etwas ganz anderes als eine Schule, zumindest dachte er das damals noch. Cécile hatte ihn begleitet, die Golos und Marthas Herz gleichermaßen gewonnen hatte. In der Euphorie der Jugend war er überzeugt, daß es noch viele Jahre dauerte, bis Golo die Grabstätte in Besitz nahm. Daher hatte er sie einfach vergessen. Nun saß er hier, wo er seinerzeit gemeinsam mit Golo und Cécile gesessen hatte. Wenn er sich nicht täuschte, war das damals eine andere Bank, eine aus Holz, diese war eine moderne aus lackiertem Stahl, auf der man durch die Formgebung spürbar bequemer saß. Beim Gedanken an Golo und Cécile überfiel ihn gleichermaßen Wehmut. Beide waren Teil einer der schönsten Zeit in seinem Leben. Zumindest mit Cécile konnte er noch sprechen und, wenn er wollte und sie auch, sich treffen. Aber es war dennoch auch mit einer anderen Cécile. Obgleich er sie heute, mit Mitte dreißig und einigen, wenigen Kilos mehr, hübscher fand, zumindest auf dem Foto, daß sie ihm vor einem halben Jahr geschickt und das ein mit ihr befreundeter Fotograf aufgenommen hatte.