Cyankali - Friedrich Wolf - E-Book

Cyankali E-Book

Wolf Friedrich

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Beschreibung

"Cyankali" von Friedrich Wolf ist ein eindrucksvolles Drama, das die brutale Realität der illegalen Abtreibungen in den 1920er Jahren beleuchtet. Dieses Stück zeigt die verzweifelte Situation der Frauen, die zwischen Armut und moralischer Verurteilung gefangen sind. Im Zentrum steht die junge Hete, die in einem von Not und Ausweglosigkeit geprägten Umfeld lebt und schließlich zu drastischen Maßnahmen greift. Mit ungeschönter Ehrlichkeit und schmerzhafter Intensität wirft Wolf Fragen nach Gerechtigkeit, menschlicher Würde und sozialer Verantwortung auf. Dieses Drama ist nicht nur ein Zeugnis seiner Zeit, sondern auch ein Mahnruf, der in unserer heutigen Gesellschaft nachhallt.

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Impressum

Friedrich Wolf

Cyankali

Ein Schauspiel

ISBN 978-3-68912-032-0 (E–Book)

Das Schauspiel wurde am 6. September 1929 am Berliner Lessingtheater in der Regie von Hans Hinrich uraufgeführt.

Das Titelbild wurde mit der KI erstellt.

© 2024 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E–Mail: verlag@edition–digital.de

Internet: http://www.edition-digital.de

Personen

mutter fent, Arbeiterwitwe

hete,ihre Tochter

paul, Heizer

prosnik, Hausverwalter

kuckuck,Zeitungsverkäufer

max,Metallarbeiter

frau klee, Arbeiterfrau

DR. MÖLLER, Arzt

MADAME HEYE

KRIMINALKOMMISSAR

KRIMINALWACHTMEISTER

EINE DAME

EINE ARBEITERIN

Geschrieben 1929 in Eltville und Stuttgart

Vorwort zur ersten Auflage 1929

„Am Abend des 6. Juni warf eine Frau M. Pr. ihre zweijährige Tochter Marie und ihren halbjährigen Sohn Reinhold in die Spree. Passanten verhinderten, dass den drei ältesten Kindern das gleiche geschah.“ Dr. Alice Vollnhals, die Leiterin der Schwangerenfürsorge der Krankenkassen Berlins, kommt in einem Bericht über diesen Fall zu dem Ergebnis: „Die Verzweiflungstat hat die Öffentlichkeit aufgewühlt; aber wie oft sind Mütter, gute sanfte Frauen, ebenfalls am Rande eines Abgrundes! Gibt es da wirklich keine Hilfe? Doch! Geburtenregelung im weitesten Sinne des Wortes, Zerstörung der Unwissenheit in diesen Dingen!“ („Berliner Tageblatt“ vom 26. Juni 1928.)

„Hier starb unter auffallendenUmständen ein siebzehnjähriges Mädchen innerhalb einer Stunde. Eine amtliche Untersuchung ergab einen unerlaubten Eingriff zur Abtreibung der Leibesfrucht. Die Mutter der Verstorbenen wurde unter Verdacht der Beihilfe in Haft genommen.“ („Schwäbische Tagwacht“, Stuttgart, vom 21. Mai 1929.)

„… dort lernte er die Kassiererin M. F. kennen. Als nun die F. wieder in anderen Umständen war, machte er auf deren eigenes Betreiben einen Abtreibungsversuch. Dabei wollte er von dem Sanitätssergeanten A. den Rat erhalten haben, er solle die Abtreibung mit Cyankali bewerkstelligen. Die F. ist dann an dem Gift nach schwerem Todeskampf gestorben!“ („Süddeutsche Arbeiterzeitung“ vom 1. März 1929, Bericht über die Verhandlung des Schwurgerichts Augsburg, Mordprozess G.)

Der 45. Deutsche Ärztetag in Eisenach schätzt die Zahl der jährlichen Abtreibungen in Deutschland auf 500 000 bis 800 000, darunter 10 000 Todesfälle und 50 000 Erkrankungen. „Man rechnet in Deutschland jährlich mit 50 000 Erkrankungen nach Fehlgeburten.“ (Berichterstatter Lönne im Preußischen Landesgesundheitsamt 1928.)

*

„Ich verstehe nicht, dass die armen arbeitenden Menschen ein so schreckliches Leben führen müssen, während die Reichen, die Kinder haben können, entweder keine oder nur ein paar haben. Ich wollte, ich könnte mich auf die Dächer stellen und den armen Frauen verkünden, was sie tun müssen.“ (Brief einer New Yorker Arbeiterin 1928 an die Fürsorgerin von New York, Margaret Sanger, aus „Zwangsmutterschaft“.)

Stuttgart, Sommer 1929 Fr. W.

Erstes Bild

Küche bei Mutter Fent: Tisch, Bank, Hocker, Herd. An der Rückwand eine alte Chaiselongue; darüber Vergrößerung eines Fotos von Vater Fent mit Medaille „Für 25-jährige treue Dienste“. Ausgänge zum Flur und zur Kammer. Abend. Eine elektrische Birne brennt. Hete, zwanzigjährig, kocht am Herd, nimmt dann drei bis vier Paar Kinderstiefel und beginnt sie zu reinigen. – Frau Klee, dreißigjährig, mit sackartig hochgebundener Schürze, sitzt auf der Bank.

frau klee schnuppernd: Dachhase oder Hottehü?

hete: ’n Hammelstück.

frau klee: Wie vornehm du das sagst: „’n Hammelstück“ ; davon laufen einem ja allein schon die Appetitsstrippen zum Munde raus. Hete, sag mal, spielt ihr in der Lotterie?

hete: Wir arbeiten.

frau klee: Das klingt auch wieder so nobel, Hete; alles an dir ist nobel; bist ’ne Sondernummer: wo du jetzt ruffgerutscht bist vom Packraum übers Sortierband zum Büro … Mensch, dir steht noch Großes bevor! Das lass dir von der Minna Klee sagen, die es nicht so weit gebracht hat, sondern nur zu drei kleinen Ratten und zu ’nem Siphon von Mann, der säuft, weil ihm ’s Elend zum Halse raushängt, und der keinen Kies hat, weil er stempeln muss.

hete: Hast du denn keinen Einfluss auf ihn, Minna?

frau klee: „Einfluss auf ihn …“, das klingt alles so vornehm, Hete. Aber du verstehst ja nichts vom Leben. Sieh mal, Hete, wenn du die Büros flimmern darfst, so ist das ’ne absolut sichre Sache. Ob Streik oder Aussperrung, auf den Büros ist immer Betrieb. Du bist also Dauerverdiener! Warum? Weil die Herren vom Büro …

hete: Wen Zuverlässiges brauchen.

frau klee: Ich sage: weil die Herren vom Büro was Sauberes brauchen für die Pupille …

heteaufstehend: Ach Quatsch!

frau klee: Tu nicht so, Mädchen! So ’ne Visage wie deine, so ’ne Figur, das ist ’n Kapital. Aber du merkst ja gar nicht, was die Männer für Stielaugen machen, wenn du abends heimgehst. Du, mir wird ganz schwach … von dem Bratenparföng … Hete legt ihr ein Stück mit ein paar Kartoffeln auf. Ah, das schmilzt einem direkt auf der Zunge … Isst mit ganzer Wucht, hat, während Hete sich herumdreht, schnell Brotstücke, Kartoffeln und ein Ei in den Schürzensack gesteckt. Großartig bei euch, Hete, der reinste Konsum!

hete: Weil der Paul für Mutter ’nen Braten gebracht?

frau klee: Der Paul, ja der Paul, der ist richtig, hat wohl immer Schicht?

hete: Na, der ist doch gelernter Heizer. Die Öfen blasen sie so schnell nicht aus, auch wenn mal zwei Wochen gefeiert wird.

frau klee: Habt ihr Dusel, Kinder! Wenn mein Oller nur so wäre; aber nur saufen und Bälger machen, und nun kommt schon ’s vierte …

Schritte, es kommt Paul, ein kräftiger fünfundzwanzigjähriger Arbeiter, mit Paket und Heizerrolle. Er wirft das Paket auf den Tisch.

frau klee: Paul! Mensch! Betriebsstoff!

paul wirft Sachen auf den Tisch: Los, tanken, tanken, tanken!

frau klee: Junge, Junge! Knuffig! Schlackwurst, Edamer! Woher?

paul: Kantine. Gibt ihr. Da, Minna, aber für die kleinen Ratten! Hau ab jetzt! Zu Hete. Was macht Mutter?

Rollmöpse, Bohnenkaffee, Büchsenmilch … bin nebenbei Vertrauensmann im Werk geworden, Kantinenbulle.

frau klee: So ’n Schweinedusel; jetzt wird wohl ausgeteilt, was wir ringezahlt?

paul: Pause, Minna! Die Kantine ist uns anvertraut, halbe … halbe, da machen wir keinen Saustall draus! Da haste noch was Zucker und Mehl. Stimme aus der Kammer: „Paul! Paul! Gib nicht alles weg!“ Keine Bange, Mutter! Für deine vier bleibt auch noch genug! Los, Hete! Nimmt einige Sachen, mit Hete in die Kammer.

frau klee will hinaus, bleibt unentschlossen stehen, steckt schnell noch eine Dose Büchsenmilch zu sich: Für die kleinen Ratten, Paul, hörste? Schnell ab.

Hete und Paul aus der Kammer.

hete: Das bringt Muttern wieder auf die Beine.

paul: Die ist ja vor lauter Hunger schlapp, weil sie für die Bälger sich alles vom Munde abknapst. Vor der Bank, nimmt ein Paar kleine Stiefel. So vier Paar, und die Minna hat drei … Du, Hete, es werden manche bald ihr Brot drei- und viermal durchbrechen müssen …

hete: Schluss, Paul; jetzt biste nicht in ’ner Versammlung.

paul: Richtig! Setzt sich mit ihr. Du, Hete, unten bei den Stahlwerken, da wackelt’s, die Gewerkschaft hat den Tarif gekündigt … mir kann ja nichts passieren, keine Bange, ich bin Spezialarbeiter, verstehste, „werkständig“; drum haben sie mich ja auch in die Kantinenkommission gewählt. – Du, kann ich die Stiefel runtertun?

hete: Klar. Fasst an.

paul: Weg – lachend –, Genossin! zieht sie aus, streckt sich. Junge, das ist dufte … so auf Strümpfen, auf dem kühlen Boden, fast wie auf Gras … Geht auf und ab. Das richtige Vergnügen, wenn man den ganzen Tag auf den heißen Stahlplatten geklebt hat … und der Radau von der Fabrik, verstehste … hier ist mal Ruhe, Hete … Zieht sie zu sich.

Schritte. Man hört eine Stimme, die singt: „ Wenn alle Vöglein schweigen, dann ruft der Kuckuck immer noch: Tagblatt! Illustrierte! Das Magazin! Elegante Welt! Das große Los ist hier zu ziehn …“ Der Kuckuck, ein fünfundvierzigjähriger Mann mit einer Soldatenmütze, Litewka und Zeitungsmappe ist eingetreten.

kuckuck: Da lachen selbst die Blattläuse: Hurra! Der Kuckuck ist da! Ablegend, ’n Abend, fromme Gemeinde!

paul: So früh, Kuckuck?

kuckuckauf seine Mappe: Ausverkauft! Leergepickt wie ’n Ei! Stand auch was drin in den Blättern, wartet mal: In Mexiko die Aufständischen bei Tampico eingeschlossen, bei Mukden japanische Flugzeuggeschwader an der Grenze massiert … Bird und Raillay haben neue Goldlager am Südpol entdeckt…

hetesetzt ihm Kaffee mit Brot und Kartoffeln vor: Mahlzeit, Kuckuck, wir wollen in die Klappe.

kuckuckessend: So eilig heute die jungen Leute, na ja … verständlich … aber es kommen noch andere Sachen: Im Simplontunnel ein Zug in Brand geraten, Schreckensszenen, fünfzehn Tote … Li da Gita bricht den achtundsechzigstündigen Dauertanzrekord zwischen zwei Klavieren … Krupka, der Stier von Hamburg, zieht Schönrath schon im ersten Gang Blut aus der Nase, schließt ihm im zweiten das linke Auge und schickt ihn mit einem klaren Kinnhaken ins Traumland.

paul: Blöde.

kuckuck: Muss wohl Paprika bringen? Liest essend. „In Hull gigantische Gasexplosion, ganze Straßenzüge eingestürzt, bis jetzt einhundertzwanzig Tote gemeldet …“ Na was … übrigens ist die Eckert mit ihren zwei Bälgern ins Wasser gegangen, das dritte war unterwegs …

hete: Die Eckert … wo der Alte stempeln geht?

kuckuck: Was soll sie machen? – Willst du mit fünf Mäulern leben bei zwanzig Mark die Woche? Nicht für ’nen Wald voll Affen! Stille. Kuckuck steht auf, nimmt seine Mappe. Den „Sportbericht“, Paul?

paul haut es ihm aus der Hand: Scheißblätter!

kuckuck: Nicht solche Bogen gespuckt, Paul … gute Pension, hier … eßt mehr Obst, habt mehr Durchfall; morgen wieder!

Singt im Abgehen: „ Wenn alle Vöglein schweigen, dann ruft der Kuckuck immer noch: Tagblatt, Illustrierte, Das Magazin, Elegante Welt, das große Los ist hier zu ziehn! Da lachen selbst die Blattläuse.“ – Stille. – Paul ist nach links gegangen, kommt wieder zurück.

paul: Kommt heut niemand mehr?

hete: Nee.

paul: Schlafen die Würmer schon?

hete: Schon lange.

paul: Schön stille ist’s jetzt hier …

hete: Biste gern bei mir?

paul: Ausgeschlossen! Küsst sie.

hete: Paul, ich weiß ja; aber sag mir’s doch noch mal …

paul: Nicht für ’n Groschen! Presst sie an sich. Du … Dass unsereins nirgends allein ist, überall tritt man auf Menschen, auf Kinder, auf Werkzeug … das macht uns so schlapp und feige, dass wir uns alles stehlen müssen, alles, auch das bisschen Leben …

hete: Ich kann schon nicht mehr denken … mach’s Licht aus!

paul: Ja. Geht zum Schalter. Nee, das merkt der drunten, der Prosnik; der sah mich raufgehn.

hete: Haste auch Mores vor dem Herrn Verwalter? Leise. Du, Paul …

faul: Was ist denn?

hete: Paul, ich bin letzte Zeit so müde, so kaputt … du – es ist nicht mehr gekommen.

paul: Wie?

heteleise: Schon sechs Wochen ist’s weggeblieben; das war noch nie … mir ist so schlecht.

paulerschrocken: Ausgeschlossen!

hete verletzt: So seid ihr …

paul: Unsinn, Hete; ich komm doch dafür auf.

hete: Und wo soll’s hin?

paul: In den Stall hier …

hete: Wo keine Luft, kein Platz, keine Ruhe ist, wo sie mit scheelen Augen auf jeden Bissen gucken.

paul schweigt, dann hoch: Viecherei auf dieser Scheißwelt! Die andern haben Platz und Ruhe und wissen’s, wie man’s macht; aber uns hängt so ’n verfluchter Balg …

hetehält ihm den Mund zu: Du sollst es nicht verfluchen, Paul!

paul schaut sie an: Heiliges Kanonenrohr, du hast’s wohl schon gerne?

hete: Frag nicht so blöde! Hör mal, Paul, ich glaube, wir können’s doch behalten, wo wir zwei beide jetzt verdienen.

paulgutmütig lachend: Wo wir zwei „in gehobener Stellung“ sind.

Schritte die Treppe herauf. Beide horchen nach links.

hetereißt sich los: Der Prosnik, der Verwalter!

Paul: Verdammt …

Klopfen. Dann Stimme vom Flur: „Machen Sie auf! Ich weiß genau, wer bei Ihnen ist!“ – Stille. – Stimme vom Flur: „Ich rufe die Polizei!“ – Stimme aus der Kammer: „Mach auf, Hete!“ – Hete öffnet. – Von links kommt der Hausmeister Prosnik, ein etwa vierzigjähriger, hinkender Mann; er bleibt stehen, hat seine Uhr gezogen und schaut in verhaltener Erregung auf Paul.

prosnik: Na?

paul: ’n Abend.

prosnik: Zehn nach zehn. Um zehn ist die Haustür geschlossen. Verlassen Sie die Wohnung!

paul: Sonst ist’s Ihnen wohl?

hete: Haben Sie die Küche gemietet oder wir?