Das Darwin-Virus - Greg Bear - E-Book

Das Darwin-Virus E-Book

Greg Bear

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Beschreibung

In uns schlummert der Tod

In unserem Erbgut schlafen tödliche Krankheiten, die nur darauf warten, wieder zum Leben zu erwachen - so die umstrittene Theorie der Molekularbiologin Kaye Lang. Als in Georgien ein Massengrab gefunden wird, in dem nur schwangere Frauen liegen, in den Alpen eine mumifizierte prähistorische Familie mit verwirrenden biologischen Merkmalen entdeckt wird und in den USA eine rätselhafte Seuche ausbricht, die nur werdende Mütter befällt, scheint sich ihre These zu bewahrheiten ...

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GREG BEAR

DAS DARWIN-VIRUS

Roman

TEIL 1 HERODES-WINTER

1

Österreichische Alpen, nahe der italienischen Grenze ● August

Mit der Farbe trüber, irrer Hundeaugen breitete sich der blasse Nachmittagshimmel wie eine Theaterkulisse über den schwarzgrauen Bergen aus.

Mitch Rafelsons Knöchel schmerzten und sein Rücken war wund gescheuert von dem schlecht angebrachten Nylonseil. Er folgte der flinken weiblichen Gestalt Tildes entlang der Grenze zwischen dem weißen Firn und einer Fläche neuen Pulverschnees. Zwischen den Eisbrocken vom letzten Herbst standen Scharten und Spitzen aus altem Eis, die der Sommer zu milchigen, flintsteinscharfen Messern geformt hatte.

Links von Mitch erhoben sich die Berge über dem Gewirr schwarzen Gerölls beiderseits der vom Eisabsturz zerklüfteten Böschung. Rechts, im gleißenden Sonnenlicht, stieg das blendend leuchtende Eis zur großartigen Kettenlinie des Kars auf.

Etwa zwanzig Meter weiter südlich, für Mitch durch den Rand der Schneebrille verborgen, stand Franco. Mitch konnte ihn hören, aber nicht sehen. Ein paar Kilometer hinter ihnen und jetzt ebenfalls außer Sichtweite befand sich das leuchtend orangefarbene, runde Biwakzelt aus Aluminium und Fiberglas, in dem sie die letzte Rast gemacht hatten. Wie weit sie schon von der Hütte entfernt waren, wusste er nicht, und auch ihren Namen hatte er vergessen; aber die Erinnerung an die strahlende Sonne und den heißen Tee in der Gaststube verliehen ihm ein wenig Kraft. Wenn diese Tortur hinter ihnen lag, würde er wieder mit einer Tasse starkem Tee dort sitzen und Gott danken, dass er es warm hatte und am Leben war.

Sie näherten sich der Felswand und einer Schneebrücke, die über eine vom Schmelzwasser gegrabene Kluft führte. Diese mittlerweile gefrorenen Wasserläufe bildeten sich vom Frühjahr bis zum Sommer und fraßen sich in die Kante des Gletschers. Jenseits der Brücke hing von einer U-förmigen Vertiefung in der Wand etwas hinab, das so aussah, als hätte man die Burg eines Berggeistes auf den Kopf gestellt – oder eine Orgel aus dem Eis gemeißelt: ein gefrorener Wasserfall, der zu vielen dicken Säulen erstarrt war. Um das schmutzige Weiß an seinem Fuß hatten sich Eisbrocken und Schneeverwehungen gesammelt, das leicht gelbliche Weiß an seiner Spitze hatte die Sonne glatt poliert.

Als tauche er plötzlich aus einem Nebel auf, kam Franco in Sicht und schloss zu Tilde auf. Bisher hatten sie sich auf relativ ebener Fläche bewegt, doch jetzt wollten Tilde und Franco offensichtlich an den Orgelpfeifen hochklettern.

Mitch blieb einen Augenblick stehen und griff hinter sich, um den Eispickel herauszuziehen. Er schob die Brille hoch, kauerte sich hin und ließ sich mit einem Grunzen auf den Hintern fallen, um seine Steigeisen zu überprüfen. Die Eisbrocken zwischen den Spitzen mussten seinem Messer weichen.

Tilde kam ein paar Meter zurück, um mit ihm zu reden. Als er zu ihr aufsah, bildeten seine buschigen, dunklen Augenbrauen eine Brücke über der Himmelfahrtsnase, während die runden grünen Augen wegen der Kälte zwinkerten.

»Damit sparen wir eine Stunde«, sagte Tilde und zeigte auf die Orgel. »Es ist schon spät. Deinetwegen sind wir langsam vorangekommen.« Das Englisch kam präzise und mit einem verführerischen österreichischen Akzent von ihren schmalen Lippen. Sie war schmächtig, aber gut proportioniert. Die hellblonden Haare hatte sie unter einer dunkelblauen Polartec-Mütze versteckt, und aus dem Elfengesicht blickten klare, graue Augen. Attraktiv, aber nicht Mitchs Typ; dennoch hatten sie kurz etwas miteinander gehabt, ehe Franco aufgetaucht war.

»Ich sag dir doch, ich bin seit acht Jahren nicht geklettert«, erwiderte Mitch. Franco stellte ihn mit Leichtigkeit in den Schatten. Der Italiener lehnte nahe der Orgel auf seinem Eispickel.

Tilde erwog und beurteilte alles, nahm nur das Beste, verwarf das Zweitbeste, zerriss aber niemals alte Bande – für den Fall, dass ihre früheren Verbindungen sich noch einmal als nützlich erweisen sollten. Franco besaß einen kantigen Unterkiefer, weiße Zähne, einen eckigen Schädel mit dickem schwarzen, seitlich rasierten Haar, eine Adlernase, mediterran-olivbraune Haut, breite Schultern, muskelbepackte Arme und feingliedrige Hände. Er war sehr stark. In Tildes Augen war er nicht allzu schlau, aber auch kein Dummkopf. Mitch konnte sich vorstellen, wie sie sich von der Aussicht, mit Franco ins Bett zu gehen, aus ihrem dichten österreichischen Wald hatte locken lassen; wie sich, Tortenschichten gleich, das Helle und das Dunkle übereinander gelegt hatten. Diese Vorstellung machte ihm seltsamerweise nur wenig aus. Tilde gab sich dem Sex mit einer mechanischen Gründlichkeit hin, die Mitch eine Zeit lang getäuscht hatte, bis ihm klar geworden war, dass sie die Bewegungen eine nach der anderen schlicht als eine Art geistige Übung vollzog. Genauso aß sie auch. Nichts berührte sie wirklich tief, aber manchmal war sie ganz schön gewitzt und zeigte ein reizendes Lächeln, das Linien in die Winkel ihrer dünnen, scharf konturierten Lippen grub.

»Wir müssen vor Sonnenuntergang unten sein«, erklärte Tilde. »Ich weiß nicht, wie das Wetter wird. Bis zur Höhle sind es noch zwei Stunden. Nicht weit, aber viel Kletterei. Wenn wir Glück haben, bleibt dir eine Stunde, um unseren Fund zu untersuchen.«

»Ich werde mein Bestes tun«, erwiderte Mitch. »Wie weit sind wir von den Touristenrouten entfernt? Seit Stunden habe ich keine rote Markierung mehr gesehen.«

Während Tilde die Schneebrille abnahm und sie putzte, schenkte sie ihm ein flüchtiges Lächeln, in dem jedoch keine Wärme lag. »Hier oben gibt es keine Touristen. Meistens kommen nicht einmal die guten Bergsteiger hier hinauf. Aber ich kenne den Weg.«

»Eine Göttin des Schnees«, bemerkte Mitch.

Sie nahm es als Kompliment. »Was hast du erwartet? Schon als kleines Mädchen bin ich hier herumgeklettert.«

»Du bist immer noch ein Mädchen«, erwiderte Mitch. »Fünfundzwanzig? Sechsundzwanzig?«

Sie hatte Mitch nie verraten, wie alt sie war. Jetzt taxierte sie ihn wie einen Schmuckstein, den sie nach längerem Abwägen vielleicht doch noch kaufen wollte. »Ich bin zweiunddreißig. Franco ist vierzig, aber er ist schneller als du.«

»Zum Teufel mit Franco«, sagte Mitch ohne Wut.

Tilde verzog amüsiert die Lippen. »Wir sind heute alle ein bisschen merkwürdig drauf«, sagte sie und wandte sich ab. »Das spürt sogar Franco. Aber noch so ein Eismensch … was wäre der wert?«

Schon der Gedanke daran ließ Mitch schwerer atmen, und das konnte er jetzt nicht gebrauchen. Seine Aufregung legte sich gleich wieder und mischte sich mit der Erschöpfung. »Weiß ich nicht«, sagte er.

Damals in Salzburg hatten sie ihn in ihre kleinen Krämerseelen blicken lassen. Sie waren ehrgeizig, aber nicht dumm; Tilde war sich völlig sicher, dass sie dieses Mal nicht einfach wieder einen toten Bergsteiger gefunden hatten. Sie musste es wissen. Mit vierzehn hatte sie beim Abtransport von zwei Leichen geholfen, die eine Gletscherzunge ausgespuckt hatte. Eine war über hundert Jahre alt gewesen.

Mitch fragte sich, was wohl geschehen würde, falls sie wirklich einen echten Eismenschen gefunden hatten. Auf lange Sicht würde Tilde mit Ruhm und Erfolg nicht fertig werden, da war er sicher. Franco besaß den nötigen Gleichmut, aber Tilde war auf eine bestimmte Art zerbrechlich. Zwar konnte sie wie ein Diamant Stahl zerschneiden, aber ein Schlag aus der falschen Ecke, und sie würde zerbrechen.

Mit dem Ruhm mochte Franco zurecht kommen, aber würde er auch mit Tilde fertig werden? Trotz allem mochte Mitch den Italiener.

»Noch drei Kilometer«, erklärte ihm Tilde. »Los!«

Gemeinsam mit Franco zeigte sie ihm, wie man an dem gefrorenen Wasserfall hochklettern konnte. »Der hier ist nur im Hochsommer flüssig«, sagte Franco. »Jetzt ist er schon seit einem Monat fest. Verstehst du, wie er gefriert? Hier unten ist er dick.« Er schlug mit seinem Pickel gegen die blassgrauen Orgelpfeifen. Das Eis klickte, ein paar Splitter lösten sich. »Aber weiter oben ist er dünn, voller Blasen, brüchig. Wenn man falsch dagegen schlägt, fallen große Brocken runter und können jemanden verletzen. Tilde könnte ein paar Stufen hineinhauen, aber du nicht. Du kletterst zwischen Tilde und mir.«

Tilde ging als Erste, ein ehrliches Eingeständnis von Franco, dass sie die bessere Bergsteigerin war. Als der Italiener die Seile knotete, bewies Mitch ihnen, dass er sich noch an die Schleifen und Knoten aus der Zeit erinnerte, als er in den Cascades im Staat Washington geklettert war. Tilde zog eine Grimasse und knüpfte ihm das Seil im Alpinstil um Taille und Schultern. »Du kannst den größten Teil der Strecke vorwärts gehen. Denk dran, ich schlage Stufen, wenn du sie brauchst. Ich möchte nicht, dass du Eis auf Franco runtertrittst«, sagte sie und übernahm die Führung.

Als Mitch die Hälfte der Säule hinter sich hatte und sich mit den Spitzen seiner Steigeisen eingrub, überschritt er eine Schwelle: Ihm war, als falle die Erschöpfung in wellenartigen Schüben von ihm ab, verlasse ihn auf dem Weg über seine Füße. Einen Augenblick lang war ihm schwindelig. Dann fühlte sein Körper sich sauber an, als habe reines Wasser ihn durchspült, und sein Atem ging leicht. Er folgte Tilde, rammte die Steigeisen ins Eis, beugte sich weit nach vorn und griff nach jedem verfügbaren Halt. Den Pickel setzte er nur sparsam ein. Die Luft war knapp über dem Eis tatsächlich wärmer.

Bis zur halben Höhe brauchten sie eine Viertelstunde, danach kletterten sie auf das leicht gelbliche Eis zu. Die Sonne schien hinter niedrigen grauen Wolken hervor, beleuchtete den gefrorenen Wasserfall im spitzen Winkel und schien Mitch an einer Mauer aus durchscheinendem Gold festzunageln.

Er wartete, bis Tilde ihm sagte, sie sei heil oben angekommen. Franco gab, wie so oft, eine einsilbige Antwort. Mitch bahnte sich den Weg zwischen zwei Säulen hindurch. Das Eis war hier tatsächlich unberechenbar. Er krallte sich mit den seitlichen Spitzen ein und schickte eine Wolke aus Splittern zu Franco hinunter. Franco fluchte, aber Mitch brach kein einziges Mal ein und stürzte nicht ins Seil; das war ein Segen.

Während er auf allen Vieren vorwärts über die unebene, abgerundete Kante des Wasserfalls kroch, glitten seine Handschuhe beängstigend leicht an den Eisrinnen ab. Er strampelte mit den Füßen, bekam mit dem rechten Stiefel eine Felskante zu fassen, krallte sich fest, fand auf weiterem Fels einen festen Punkt, wartete einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen, und zog sich, schwerfällig wie ein Walross, zu Tilde hinauf.

Schmutziggraue Brocken auf beiden Seiten ließen erkennen, wo sich das Bett des gefrorenen Baches befand. Er blickte auf das halb im Schatten liegende, enge Felstal, in dem früher ein kleiner Gletscher von Osten her heruntergeflossen war und die charakteristische, U-förmige Kerbe gegraben hatte. In den letzten Jahren hatte es nur wenig geschneit, und der Gletscher hatte sich auf seiner weiteren Wanderung aus der Kerbe zurückgezogen, sodass sie jetzt ein paar Dutzend Meter über seiner Hauptmasse lag.

Mitch wälzte sich auf den Bauch und half Franco herauf, während Tilde an der Seite stehen blieb, so nah am Rand, als kenne sie keine Angst. Völlig gleichmütig, schlank und schön anzuschauen stand sie da.

Mit gerunzelter Stirn sah sie Mitch an. »Es wird spät«, sagte sie. »Was kannst du in einer halben Stunde schon herausfinden?«

Mitch zuckte die Schultern.

»Wir müssen uns spätestens bei Sonnenuntergang auf den Rückweg machen«, sagte Franco zu Tilde. Dann grinste er Mitch an. »Gar nicht so teuflisch schwer, das Eis, wie?«

»War halb so schlimm«, erwiderte Mitch.

»Er lernt schnell«, sagte Franco zu Tilde, die jetzt den Blick hob. »Bist du schon mal im Eis geklettert?«

»So nicht«, sagte Mitch.

Sie gingen ein paar Dutzend Meter auf dem gefrorenen Bach entlang. »Noch zwei Mal klettern«, erklärte Tilde. »Franco, du gehst voraus.«

Mitch blickte durch die kristallklare Luft über die Kante der Kerbe auf die sägezahnartigen Spitzen der höheren Berge. Immer noch hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Franco und Tilde wollten ihn lieber im Unklaren lassen. Seitdem sie in der großen, steingefliesten Gaststube Tee getrunken hatten, hatten sie mindestens zwanzig Kilometer hinter sich gebracht.

Als er sich umdrehte, konnte er etwa vier Kilometer entfernt und Hunderte von Metern unter sich das orangefarbene Biwakzelt ausmachen. Es stand unmittelbar hinter einem Bergsattel und lag jetzt im Schatten.

Der Schnee wirkte sehr dünn. Die Berge hatten gerade den wärmsten Sommer der modernen Alpingeschichte erlebt – einen Sommer mit verstärkter Gletscherschmelze, plötzlichen Überschwemmungen der Täler aufgrund heftiger Regenfälle und nur wenig Altschnee. Die globale Erwärmung war in den Medien mittlerweile ein Gemeinplatz, aber von seinem jetzigen Standpunkt aus erschien sie ihm nur allzu real, auch wenn er kein Fachmann war. Vielleicht würden die Alpen in wenigen Jahrzehnten nackt und bloß daliegen.

Das relativ warme, trockene Wetter hatte die alte Höhle wieder zugänglich gemacht. Nur deshalb waren Franco und Tilde auf eine geheime Tragödie gestoßen.

Franco verkündete, er sei gut oben angekommen. Während Mitch sich den letzten Felsen hinaufarbeitete, spürte er den Gneis unter seinen Stiefeln bröckeln und rutschen. Das Gestein war hier brüchig und an manchen Stellen weich wie Staub; lange Zeit, vielleicht Jahrtausende, hatte in diesem Gebiet Schnee gelegen.

Franco reichte ihm die Hand, und zusammen sicherten sie das Seil, während Tilde sich hinter ihnen abstrampelte. Dann stand sie auf der Kante und blickte mit schützend über die Augen gelegter Hand direkt in die Sonne, die jetzt knapp über dem Horizont stand. »Weißt du, wo wir sind?«, fragte sie Mitch.

Der schüttelte den Kopf. »So hoch war ich noch nie.«

»Ein Flachlandindianer«, grinste Franco.

Mitch zwinkerte.

Sie starrten auf eine abgerundete, glitschige Eisfläche, den dünnen Finger eines Gletschers, der früher in mehreren eindrucksvollen Abstürzen zwölf Kilometer weit zu Tal geflossen war. Jetzt verlangsamte der Ausläufer seine Wanderung. Der Gletscherkopf weiter oben wurde kaum noch mit Schnee gefüttert. Die sonnenbeschienene Felswand über dem vereisten Riss des Bergschrundes stieg fast tausend Meter senkrecht in die Höhe, und der Gipfel lag höher, als Mitch zu blicken wagte.

»Da«, sagte Tilde und wies auf die Felsen gegenüber, unterhalb eines Grats. Mit ein wenig Mühe konnte Mitch vor dem düsteren Schwarz und Grau einen winzigen roten Fleck ausmachen: eine Fahne aus Stoff, die Franco bei ihrem letzten Ausflug aufgestellt hatte. Sie machten sich über das Eis auf den Weg.

Die Höhle war eine natürliche Felsspalte. Sie hatte eine kleine Öffnung von nur einem Meter Durchmesser, und die war künstlich hinter einer niedrigen Mauer aus kopfgroßen Steinen verborgen. Tilde holte die Digitalkamera heraus und fotografierte den Eingang aus mehreren Blickwinkeln. Während sie hin und her ging, baute Franco die Mauer ab, und Mitch überblickte den Eingang.

»Wie tief?«, fragte Mitch, als Tilde wieder bei ihnen war.

»Zehn Meter«, erwiderte Franco. »Sehr kalt da drin, besser als jede Gefriertruhe.«

»Aber nicht mehr lange«, sagte Tilde. »Ich glaube, das Gebiet war dieses Jahr zum ersten Mal so frei. Nächsten Sommer könnte es über Null gehen. Ein warmer Wind könnte hineinwehen.« Sie schnitt eine Grimasse und hielt sich die Nase zu.

Mitch packte seinen Rucksack aus und wühlte nach den Taschenlampen, der Schachtel mit den Messern, den Gummihandschuhen, alles Dinge, die er in den Läden im Ort aufgetrieben hatte. Er ließ sie in einen kleinen Plastikbeutel fallen, verschloss die Tüte, steckte sie in die Anoraktasche und sah zwischen Franco und Tilde hin und her.

»Alles klar?«, fragte er.

»Los«, sagte Tilde, tat so, als schiebe sie ihn nach vorn und schenkte ihm ein großzügiges Lächeln.

Er ließ sich auf alle Viere nieder und kroch als Erster in die Höhle. Ein paar Sekunden später kam Franco und unmittelbar nach ihm Tilde.

Die Halteschlaufe der kleinen Taschenlampe zwischen den Zähnen, schob und quetschte Mitch sich immer nur ein paar Zentimeter voran. Auf dem Höhlenboden lag eine dünne Decke aus Eis und feinem Pulverschnee. Die Wände waren glatt und bildeten ganz oben einen spitzen Winkel. Hier würde er nicht einmal kriechend vorankommen. »Es wird gleich breiter«, rief Franco von hinten.

»Gemütliches kleines Loch«, sagte Tilde; ihre Stimme klang hohl.

Die Luft roch nach gar nichts, völlig leer. Kalt war es, weit unter Null. Der Fels entzog ihm die Wärme, sogar durch die gefütterte Jacke und Skihose. Er überquerte eine milchige Eisader auf dem dunklen Gestein und kratzte mit den Fingern daran. Hart. Mindestens bis hierher mussten Schnee und Eis sich aufgetürmt haben, als die Höhle noch verschlossen gewesen war. Kurz nach der Eisader stieg der Höhlenboden an, und er spürte einen leichten Luftzug aus einer weiteren Felsspalte, die erst seit kurzem vom Eis befreit war.

Mitch hatte ein mulmiges Gefühl – nicht weil er an das dachte, was er gleich sehen würde, sondern wegen des durchaus ungewöhnlichen und sogar kriminellen Charakters seiner Untersuchung. Der kleinste falsche Schachzug – wenn nur ein Hauch davon durchsickerte, wenn bekannt wurde, dass er nicht auf legalem Weg vorgegangen war und dafür gesorgt hatte, dass alles seine Richtigkeit hatte …

Mitch hatte schon früher Probleme mit offiziellen Stellen gehabt. Ein halbes Jahr zuvor war er seine Stelle am Hayer Museum in Seattle los geworden, aber das war eine politische Angelegenheit gewesen, lächerlich und unfair.

Der Dame Wissenschaft selbst war er bisher nie zu nahe getreten.

Im Hotel in Salzburg hatte er stundenlang mit Franco und Tilde debattiert, aber sie hatten jedes Zugeständnis abgelehnt. Hätte er sich nicht entschlossen, mit ihnen zu gehen, hätten sie einen anderen gefunden – Tilde hatte sogar einen arbeitslosen Medizinstudenten ins Gespräch gebracht, mit dem sie einmal etwas gehabt hatte. Tilde, so schien es, verfügte über ein großes Repertoire von Exfreunden, alle viel weniger qualifiziert und weniger mit Skrupeln behaftet als Mitch.

Wie Tildes Motive und ethische Vorstellungen auch aussehen mochten: Er war nicht der Typ, der sie herumkriegen und beide unterbuttern konnte; jeder Mensch hat seine Beschränkungen, seine Grenzen in der Wildnis zwischenmenschlicher Beziehungen. Mitchs Grenze lag bei der Aussicht, frühere Freundinnen in Schwierigkeiten mit der österreichischen Polizei zu stürzen.

Franco zupfte an einer Spitze von Mitchs Stiefelsohle. »Probleme?«, fragte er.

»Kein Problem«, erwiderte Mitch und schob sich wieder fünfzehn Zentimeter vorwärts.

Plötzlich hatte er ein Flimmern vor dem Auge, als sehe er undeutlich einen großen Mond. Gleichzeitig schien sich sein Körper aufzublähen. Er schluckte heftig. »Scheiße«, murmelte er und hoffte, es möge nicht das bedeuten, was er glaubte. Das Flimmern verschwand. Sein Körper normalisierte sich wieder.

Die Höhle verengte sich hier zu einem engen Schlund, keine dreißig Zentimeter hoch und fünfzig bis fünfundfünfzig Zentimeter breit. Mit seitwärts gedrehtem Kopf bekam er eine Vertiefung knapp hinter der Engstelle zu fassen und robbte hindurch. Sein Anorak blieb hängen, und als er sich bemühte, ihn zu lösen und weiter zu kommen, hörte er ein reißendes Geräusch.

»Das ist der schlimmste Teil«, sagte Franco. »Den schaffe ich kaum.«

»Warum bist du so weit mitgekommen?«, fragte Mitch, der allen Mut zusammengenommen hatte und bis zum breiteren, aber immer noch dunklen, engen Raum vor Franco vorgedrungen war.

»Weil es hier war, oder?«, sagte Tilde mit einer Stimme, die wie der Ruf eines Vogels in der Ferne klang. »Ich habe Franco herausgefordert. Er hat mich herausgefordert.« Sie lachte, und ihr Kichern hallte im Dunkeln wider. Mitchs Nackenhaare sträubten sich. Der neue Eismensch lachte sie an, oder vielleicht aus. Er war lange tot. Er brauchte sich um nichts mehr zu kümmern und konnte sich über so manches amüsieren – über die vielen Menschen, die sich unglücklich machten, um seine sterblichen Überreste zu sehen.

»Wie lange ist es her, seit du zuletzt hier warst?«, erkundigte sich Mitch. Er wunderte sich, dass er die Frage nicht schon früher gestellt hatte. Vielleicht hatte er bis jetzt nicht richtig daran geglaubt. Sie waren bis hierher gekommen, und es gab keine Anzeichen, dass sie ihm einen Streich spielten – ohnehin hatte er seine Zweifel, ob Tilde von ihrer Veranlagung her dazu in der Lage war.

»Eine Woche, acht Tage«, erwiderte Franco. Der Durchlass war jetzt so breit, dass er sich neben Mitchs Beine schieben konnte, und Mitch konnte ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchten. Franco ließ mit mediterranem Lächeln die Zähne sehen.

Mitch blickte nach vorn. Er konnte etwas erkennen, dunkel, wie ein kleiner Aschehaufen.

»Seid ihr da?«, fragte Tilde. »Mitch, zuerst ist es nur ein Fuß.«

Mitch versuchte, diesen Satz zu deuten. Tilde drückte sich stets in metrischen Größen aus. Mit »Fuß«, das wurde ihm klar, war hier jedoch kein Abstand, sondern ein Körperteil gemeint. »Ich sehe ihn noch nicht.«

»Zuerst kommt die Asche«, sagte Franco. »Das hier könnte sie sein.« Er zeigte auf den kleinen schwarzen Haufen. Mitch spürte, wie die Luft vor ihm langsam niedersank, an seinen Seiten entlangströmte, den hinteren Teil der Höhle ungestört ließ.

Er bewegte sich mit ehrfürchtiger Langsamkeit vorwärts und besah sich alles. Jeden noch so geringen Anhaltspunkt, der auf einen früheren Besuch hinweisen mochte – Steinchen, Zweige oder Holzstücke, Spuren an den Wänden …

Nichts. Mit einem Gefühl großer Erleichterung ließ er sich auf Hände und Knie nieder und kroch vorwärts. Franco wurde ungeduldig.

»Es ist gleich da vorn«, sagte der Italiener und tippte wieder an die Steigeisen.

»Verdammt noch mal, ich lasse es langsam angehen, damit ich nichts übersehe, verstanden?«, gab Mitch zurück und unterdrückte dabei das Bedürfnis, wie ein Maultier nach hinten auszuschlagen.

»Schon gut«, erwiderte Franco versöhnlich.

Mitch konnte jetzt um die Ecke sehen. Der Boden wurde ein wenig flacher. Es roch nach Gras und Salz, wie nach frischem Fisch. Wieder sträubten sich seine Nackenhaare, und vor seinen Augen wallten Nebel. Das alte Leiden.

»Ich sehe es«, erklärte er. Über eine Kante ragte ein Fuß, zurückgebogen und klein wie von einem Kind, sehr runzelig und dunkelbraun, fast schwarz. Die Höhle wurde hier breiter, und auf dem Boden waren Stücke von getrockneten, geschwärzten Fasern verstreut – Gras vielleicht. Schilf. Ötzi, der Original-Eismensch, hatte eine Schilfmütze auf dem Kopf gehabt.

»O Gott«, sagte Mitch. Wieder ein weißes Leuchten, das langsam verblasste, und ein schmerzhaftes Flüstern in seiner Schläfe.

»Da drüben ist mehr Platz«, sagte Tilde. »Wir passen alle hinein, ohne die beiden zu stören.«

»Die beiden?«, fragte Mitch und leuchtete mit der Taschenlampe zwischen seinen Beinen hindurch.

Franco lächelte zwischen Mitchs Knien hindurch. »Das ist die eigentliche Überraschung«, bemerkte er. »Es sind zwei.«

2

Republik Georgien

Kaye kauerte sich im Beifahrersitz des jaulenden kleinen Fiat zusammen, den Lado durch die halsbrecherischen Kurven und Windungen der georgischen Militärstraße steuerte. Obwohl sie zu viel Sonne abbekommen hatte und erschöpft war, konnte sie nicht schlafen. Ihre langen Beine zuckten in jeder Kurve. Auf ein unflätiges Quietschen der fast blank gefahrenen Reifen hin strich sie sich mit den Händen durch die kurz geschnittenen braunen Haare und gähnte bedeutungsvoll.

Lado spürte, dass das Schweigen zu lange gedauert hatte. Er wandte Kaye das runzelige, sonnengebräunte Gesicht mit den sanften braunen Augen zu, hob seine Zigarette über das Lenkrad und streckte das Kinn vor. »In der Scheiße liegt die Rettung, was?«, fragte er.

Kaye musste trotz allem lächeln. »Bitte versuch nicht, mich aufzuheitern«, sagte sie.

Lado ging darüber hinweg. »Gut für uns. Georgien hat der Welt etwas zu bieten. Wir haben tolles Abwasser.« Er rollte elegant das r, und »Abwasser« klang wie »Abb-wa-serrr«.

»Abwasser«, murmelte sie. »Abb-wa-serrr.«

»Habe ich es richtig gesagt?«, fragte Lado.

»Vollkommen richtig«, erwiderte Kaye.

Lado Jakeli war leitender Wissenschaftler am Eliava-Institut in Tiflis. Dort gewannen sie Bakteriophagen – Viren, die nur Bakterien befallen – aus dem Abwasser der Stadt und der Krankenhäuser, aber auch aus Proben aus der ganzen Welt. Jetzt stand der Westen einschließlich Kaye demütig Schlange, um von den Georgiern etwas über die therapeutischen Wirkungen von Phagen zu lernen.

Mit dem Personal des Eliava-Instituts verstand sie sich prächtig. Nach einer Woche voller Tagungen und Laborbesichtigungen hatten ein paar jüngere Wissenschaftler sie eingeladen, mit ihnen zu den Hügeln und leuchtend grünen Schafweiden am Fuß des Kazbeg-Berges zu fahren.

Alles hatte sich so schnell verändert. Erst heute Vormittag war Lado die ganze Strecke von Tiflis zu ihrem Basislager bei der alten, einsam gelegenen orthodoxen Gergeti-Kirche gefahren. In einem Umschlag hatte er ein Fax vom Hauptquartier der UN-Friedenstruppen in der Hauptstadt Tiflis mitgebracht.

Im Lager hatte Lado einen Becher Kaffee hinuntergeschüttet und ihr dann – ganz Gentleman und nebenbei auch ihr Aufpasser – angeboten, sie nach Gordi zu bringen, einer Kleinstadt 120 Kilometer südwestlich des Kazbeg.

Kaye hatte keine Wahl gehabt. Unerwartet und zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt hatte die Vergangenheit sie eingeholt.

Die UN-Mannschaft war die Einreiselisten durchgegangen, um nichtgeorgische Medizinexperten mit einer gewissen Fachkenntnis zu finden. Dabei war ihr Name als einziger aufgefallen: Kaye Lang, 34, Partnerin ihres Ehemannes Saul Madsen in der Firma EcoBacter Research. Anfang der Neunzigerjahre hatte sie an der State University in New York Gerichtsmedizin studiert, weil sie in die Kriminalistik gehen wollte. Aber schon nach einem Jahr hatte sie es sich anders überlegt und auf Mikrobiologie mit Schwerpunkt Gentechnik umgeschwenkt; in Georgien war sie die einzige Ausländerin, die auch nur entfernt so etwas wie die von den UN benötigte Ausbildung besaß.

Lado fuhr mit ihr durch die schönsten ländlichen Gebiete, die sie in ihrem Leben gesehen hatte. Im Schatten des Zentralkaukasus waren sie an terrassenförmig angelegten Bergweiden vorübergekommen, an kleinen steinernen Bauernhäusern, steinernen Getreidespeichern und Kirchen, Häusern mit freundlichen, kunstvoll verzierten Vordächern, die sich auf enge Schotter- oder Erdstraßen öffneten, an Kleinstädten, die in loser Folge zwischen hügeligen Schaf- oder Ziegenweiden und dichten Wäldern auftauchten.

Aber wie alle Regionen, die sie in West- und jetzt auch in Osteuropa gesehen hatte, so waren selbst diese scheinbar leeren Weiten im Lauf der Jahrhunderte immer wieder überrannt und umkämpft worden. Manchmal fühlte sie sich erstickt durch die schiere Nähe ihrer Mitmenschen, durch das Zahnlückenlächeln alter Männer und Frauen, die am Straßenrand standen und dem Verkehr von und nach einer neuen, unbekannten Welt zusahen. Runzelige, freundliche Gesichter, knotige Hände, die dem kleinen Auto zuwinkten.

Die jungen Leute waren alle in den Städten, nur die Alten waren zurückgeblieben und bestellten das Land, außer in den Urlaubsorten im Gebirge. Georgien hatte vor, zu einem Land der Urlaubsorte zu werden. Die Wirtschaft des Landes wuchs jedes Jahr mit zweistelligen Raten; seine Währung, der Lari, wurde immer stärker und war längst an die Stelle des Rubels getreten; bald würde er auch den westlichen Dollar ersetzen. Man baute Ölpipelines vom Kaspischen zum Schwarzen Meer; und der Wein wurde für das Land, in dem er seinen Namen erhalten hatte, zu einem wichtigen Exportartikel.

In den nächsten Jahren würde Georgien ein neues, ganz anderes Gebräu exportieren: Phagenlösungen zur Heilung einer Welt, die im Begriff war, den Krieg gegen die Bakterieninfektionen zu verlieren.

In einer unübersichtlichen Kurve geriet der Fiat kurz auf die Gegenspur. Kaye schluckte heftig, sagte aber nichts. Lado hatte sich im Institut fürsorglich um sie gekümmert. Letzte Woche hatte sie ihn ein paar Mal dabei ertappt, wie er sie mit einem Ausdruck mürrischer, der alten Welt verhafteten Erwartungshaltung angesehen hatte, die Augen zu runzeligen Schlitzen verengt, wie ein aus Olivenholz geschnitzter, braun gebeizter Satyr. Unter den am Institut tätigen Frauen – insbesondere den jüngeren – stand er im Ruf, nicht immer vertrauenswürdig zu sein. Aber er hatte Kaye stets mit dem größten Anstand behandelt, ja sogar – wie jetzt – mit Besorgnis. Er wollte nicht, dass sie traurig war, aber er konnte sich auch keinen Grund vorstellen, warum sie fröhlich sein sollte.

Bei aller Schönheit hatte Georgien viele Schattenseiten: Bürgerkrieg, Attentate, und jetzt auch Massengräber.

Sie tuckerten in einen Regenvorhang. Die Scheibenwischer zogen schwarze Schlieren hinter sich her und reinigten etwa ein Drittel von Lados Gesichtsfeld. »Ein Hoch auf Jossif Stalin, er hat uns das Abwasser hinterlassen«, grübelte er. »Guter Sohn Georgiens. Unser berühmtester Exportartikel, besser als Wein.« Lado grinste sie unaufrichtig an. Er wirkte beschämt und abwehrend zugleich. Kaye konnte nicht umhin, ihn aus der Reserve zu locken.

»Er hat Millionen ermordet«, murmelte sie. »Er hat Dr. Eliava umgebracht.«

Lado starrte grimmig durch die Scheibe und versuchte zu sehen, was hinter der kurzen Kühlerhaube lag. Er schaltete herunter, bremste und umfuhr ein Loch, in dem eine Kuh Platz gehabt hätte. Kaye gab ein leises Stöhnen von sich und krallte sich an der Seite ihres Sitzes fest. Es gab auf diesem Stück keine Leitplanken, und neben der Straße gähnte ein steiler Abgrund von mindestens dreihundert Metern; unten floss ein Gletscherschmelzbach. »Es war Beria, der Dr. Eliava zum Volksfeind erklärte«, sagte Lado nüchtern, als erzähle er eine alte Familiengeschichte. »Beria war damals in Georgien der Leiter des KGB, Provinzarschloch und Kinderschänder, kein großes Tier in ganz Russland.«

»Er war Stalins Mann«, erwiderte Kaye und versuchte, nicht an die Straße zu denken. Sie begriff nicht, wie die Leute in Georgien noch auf Stalin stolz sein konnten.

»Alle waren Stalins Männer, oder sie kamen ums Leben«, sagte Lado. Er zuckte die Achseln. »Als Chruschtschow sagte, Stalin sei schlecht, gab es hier großen Stunk. Was wissen wir schon? Er hat uns so viele Jahre lang auf so vielfältige Art aufs Kreuz gelegt, dass wir dachten, er verhalte sich nicht anders als ein Ehemann.«

Das amüsierte Kaye. Lado nahm ihr Grinsen als Ermutigung.

»Manche wollen immer noch unter dem Kommunismus wieder zu Wohlstand kommen. Oder wir holen den Wohlstand aus der Scheiße.« Er rieb sich die Nase. »Ich bin für die Scheiße.«

Während der folgenden Stunden fuhren sie in weniger Furcht erregende Vorgebirge und Ebenen hinunter. Auf den Wegweisern in verschnörkelter georgischer Schrift sah man die rostigen Pocken Dutzender von Schusslöchern. »Noch eine halbe Stunde, mehr nicht«, sagte Lado.

Der strömende Regen ließ kaum die Grenze zwischen Tag und Nacht erkennen. Als sie an eine Kreuzung und die Abzweigung zu der Kleinstadt Gordi kamen, schaltete Lado die trüben Scheinwerfer des Fiat ein.

Vor der Kreuzung, beiderseits der Straße, standen zwei gepanzerte Mannschaftswagen. Fünf russische Friedensschützer mit Regenmänteln und runden Nachttopfhelmen bedeuteten ihnen mürrisch, sie sollten halten.

Lado brachte den Fiat in leichter Schräglage am Straßenrand zum Stehen. Ein paar Meter weiter, genau auf der Kreuzung, erkannte Kaye eine weitere Grube. Um sie zu umgehen, würden sie über die Böschung fahren müssen.

Lado kurbelte das Fenster herunter. Ein russischer Soldat mit rosigen Chorknabenwangen, höchstens neunzehn oder zwanzig Jahre alt, spähte ins Innere. Von seinem Helm tropfte Wasser auf Lados Ärmel. Lado unterhielt sich auf Russisch mit ihm.

»Amerikanerin?«, wollte der junge Russe von Kaye wissen. Sie zeigte ihm ihren Pass, ihre Gewerbelizenzen der EU und der Gemeinschaft der Blockfreien und das Fax mit der Bitte – oder eigentlich dem Befehl –, nach Gordi zu kommen. Der Soldat nahm das Fax, runzelte beim Versuch, es zu lesen, die Stirn und machte es gründlich nass. Dann zog er sich zurück und beriet sich mit einem Offizier, der in der Hecktür des am nächsten stehenden Transportwagens hockte.

»Die sind nicht gerne hier«, murmelte Lado, »und wir wollen sie auch nicht hier haben. Aber wir haben um Hilfe gebeten … Wem sollen wir einen Vorwurf machen?«

Der Regen hörte auf. Kaye starrte in das nebelige Dunkel vor ihnen. Durch das Winseln des Motors hörte sie Grillen und Vogelgezwitscher.

»Da runter, nach links«, sagte der Soldat, stolz auf sein Englisch, zu Lado. Er schenkte Kaye ein Lächeln und winkte sie weiter zu einem anderen Soldaten, der wie ein Zaunpfahl in der grauen Düsternis neben dem Loch stand. Lado kuppelte ein, und das kleine Auto zockelte um die Grube herum an dem dritten Friedensschützer vorbei in die Seitenstraße.

Lado kurbelte das Fenster ganz herunter. Kühle, feuchte Abendluft wehte durch den Wagen und ließ die kurzen Haare über Kayes Nacken in die Höhe wirbeln. An den Straßenrändern standen die Birken dicht bei dicht. Für kurze Zeit roch die Luft faulig. Hier waren Menschen in der Nähe. Dann kam Kaye der Gedanke, es seien vielleicht nicht die Abwässer der Stadt, die so stanken. Sie rümpfte die Nase, und ihr Magen drehte sich um. Aber das war unwahrscheinlich. Ihr Ziel lag etwa eineinhalb Kilometer außerhalb der Stadt, und bis nach Gordi waren es auf der Landstraße noch mindestens drei.

Sie kamen an einen kleinen Bach; langsam durchquerte Lado das schnell fließende, seichte Wasser. Die Räder versanken bis zu den Radkappen, aber der Wagen kam unbeschadet wieder heraus und fuhr noch hundert Meter weiter. Zwischen den rasch dahingleitenden Wolken blinzelten Sterne. Die Berge standen wie eine zerklüftete schwarze Leere vor dem Himmel. Der Wald rückte heran, zog sich wieder zurück, und dann sahen sie Gordi: Gebäude aus Stein, einige neuere, klobige Holzhäuser mit zwei Stockwerken und winzigen Fenstern, ein einzelner, schmuckloser Betonwürfel als Rathaus, Straßen mit löchrigem Asphalt und altem Kopfsteinpflaster. Kein Licht, schwarze, blinde Fenster. Der Strom war wieder einmal ausgefallen.

»Ich kenne diese Stadt nicht«, murmelte Lado. Er trat heftig auf die Bremse und holte Kaye mit einem Ruck aus ihren Träumen. Der Leerlauf des Wagens dröhnte auf dem kleinen, von zweistöckigen Gebäuden umgebenden Hauptplatz des Ortes. Über einem Gasthof namens »Rustaveli-Tiger« konnte Kaye ein verblichenes Intourist-Schild ausmachen.

Lado schaltete die winzige Leselampe ein und zog das Fax mit dem Lageplan hervor. Angewidert warf er das Papier von sich und stieß die Tür des Fiat auf. Die Scharniere gaben ein lautes, metallisches Knarren von sich. Er beugte sich hinaus und rief auf Georgisch: »Wo ist das Grab?«

Die Dunkelheit sprach für sich selbst.

»Na toll«, sagte Lado. Er musste die Tür zweimal zuknallen, damit das Schloss einschnappte. Während der Wagen vorwärts schlich, presste Kaye die Lippen zusammen. Mit quietschender Kupplung fuhren sie durch eine kleine Straße, deren dunkle Geschäfte mit rostigen Stahlrollos verschlossen waren. Als sie das Dorf am anderen Ende verließen, kamen sie an zwei verlassenen Baracken, Kieshaufen und verstreuten Strohballen vorüber.

Nach wenigen Minuten sahen sie Lichter – Taschenlampen und ein einziges kleines Lagerfeuer; kurz darauf hörten sie das Knattern eines tragbaren Generators und Stimmen, die laut durch die Leere der Nacht hallten.

Das Grab war näher, als es nach der Karte schien, noch nicht einmal eineinhalb Kilometer von der Stadt entfernt. Kaye fragte sich, ob die Dorfbewohner wohl das Schreien gehört hatten und ob es überhaupt Schreie gegeben hatte.

Jetzt war Schluss mit lustig.

Das UN-Team trug Gasmasken mit Filtern für industrielle Aerosole. Die nervösen Soldaten des Sicherheitsdienstes der Republik Georgien mussten sich mit Tüchern begnügen, die sie sich vor das Gesicht gebunden hatten. Sie sahen finster aus, und unter anderen Bedingungen hätten sie komisch gewirkt. Ihre Offiziere trugen chirurgische Gesichtsmasken.

Der Leiter des örtlichen sakrebulo, des Gemeinderates, ein untersetzter Mann mit großen Fäusten, einem gewaltigen Schopf schwarzer, drahtiger Haare und einer vorspringenden Nase, stand mit mürrischer, unglücklicher Miene neben den Sicherheitsoffizieren.

Der Kommandeur des UN-Teams, ein Colonel der US-Armee aus South Carolina namens Nicholas Beck, stellte Kaye eilig vor und gab ihr eine UN-Maske. Sie fühlte sich befangen, legte den Schutz aber an. Becks Adjutantin, eine Schwarze namens Hunter im Rang eines Corporal, reichte ihr ein Paar weiße Latex-Chirurgenhandschuhe, die ein vertrautes Klatschen an den Handgelenken von sich gaben, als Kaye sie überstreifte.

Beck und Hunter führten Kaye und Lado vom Lagerfeuer und den weißen Jeeps weg einen schmalen Pfad entlang. Durch verwildertes Wald- und Buschland gelangten sie zu den Gräbern.

»Der Ratsvorsitzende da drüben hat Feinde. Ein paar örtliche Oppositionelle haben die Gruben ausgehoben und dann das UN-Hauptquartier in Tiflis angerufen«, erzählte Beck. »Ich glaube nicht, dass die Leute vom Sicherheitsdienst der Republik uns gern hier haben. Wir finden in Tiflis keinerlei Unterstützung. So kurzfristig waren Sie die einzige fachkundige Person, die wir auftreiben konnten.«

Man hatte drei parallel nebeneinander liegende Gruben wieder geöffnet und mit Scheinwerfern auf hohen Masten ausgeleuchtet; sie steckten in dem Sandboden und bezogen Strom aus einem tragbaren Generator. Zwischen den Masten hingen lange, rot-gelbe Kunststoffbänder reglos in der stillen Luft.

Kaye umrundete die erste Grube und hob die Maske an. Mit erwartungsvoll gerümpfter Nase schnupperte sie. Außer Erde und Schlamm war nichts Besonderes zu riechen.

»Sie sind über zwei Jahre alt«, sagte sie. Dann reichte sie Beck die Maske. Lado blieb etwa zehn Schritte hinter ihnen stehen – es widerstrebte ihm, in die Nähe der Gräber zu kommen.

»Das müssen wir genau wissen«, sagte Beck.

Kaye ging zu der zweiten Grube, stieg hinunter und ließ den Strahl ihrer Taschenlampe über die Haufen aus Stoff, dunklen Knochen und trockener Erde wandern. Der Boden war sandig und ausgedörrt – er gehörte vermutlich zu einem alten Schmelzwasserfluss aus den Bergen. Die Leichen waren fast nicht zu erkennen, blassbraune, erdverkrustete Knochen mit runzeligem, braunem und schwarzem Fleisch. Die Kleidung hatte die Farbe des Bodens angenommen, aber die Flicken und Fetzen gehörten nicht zu Uniformen: Es waren Damenkleider, Hosen, Mäntel. Wolle und Baumwolle hatten sich noch nicht völlig aufgelöst. Kaye suchte nach bunteren Kunstfasern; sie konnten ein Indiz für das maximale Alter des Grabes sein. Auf den ersten Blick sah sie keine.

Sie ließ das Licht auf die Wände der Grube fallen. Die dicksten von den Spaten durchtrennten Wurzeln waren einen guten Zentimeter dick. Zehn Meter weiter standen die ersten Bäume wie große, schlanke Gespenster.

Ein Sicherheitsoffizier mittleren Alters mit dem eindrucksvollen Namen Vakhtang Chikurishvili, ein auf seine Weise gut aussehender, stämmiger Mann mit breiten Schultern und dicker, mehrmals gebrochener Nase, trat vor. Er trug keine Maske und hielt etwas Dunkles in die Höhe. Kaye brauchte ein paar Sekunden, um es zu erkennen: ein Stiefel. In konsonantenreichem Georgisch wandte Chikurishvili sich an Lado.

»Er sagt, die Schuhe seien alt«, übersetzte Lado. »Er sagt, die Leute hier seien vor fünfzig Jahre gestorben. Vielleicht noch früher.«

Chikurishvili wedelte verärgert mit dem Arm und ließ einen schnellen, aus Georgisch und Russisch gemischten Wortschwall auf Lado und Beck los.

Lado dolmetschte. »Er sagt, die Georgier, die das hier ausgegraben haben, sind dumm. Das ist nichts für die UN. Das stammt aus der Zeit lange vor dem Bürgerkrieg. Er sagt, das hier waren keine Ossetier.«

»Wer hat denn etwas von Ossetiern gesagt?«, fragte Beck trocken.

Kaye untersuchte den Stiefel. Er hatte eine dicke Ledersohle. Auch das Obermaterial war Leder. Die herunterhängenden Schnürbänder waren verrottet und dick mit Erdklumpen verkrustet. Das Leder fühlte sich steinhart an. Sie spähte hinein. Schmutz, aber weder Socken noch Stoff – den Stiefel hatte man nicht von einem verwesten Fuß gezogen. Chikurishvili erwiderte trotzig ihren forschenden Blick, zückte plötzlich ein Streichholz und zündete sich eine Zigarette an.

Eine Inszenierung, dachte Kaye. Sie erinnerte sich noch an die Lektionen, die sie in der Bronx gelernt hatte und durch die sie schließlich von der Gerichtsmedizin abgekommen war. Die Ortstermine an echten Mordschauplätzen. Die Schutzmasken gegen den Verwesungsgeruch.

Beck sprach in gebrochenem Georgisch und besserem Russisch beruhigend auf den Offizier ein. Lado übersetzte leise seine Sprachversuche. Dann griff Beck nach Kayes Ellenbogen und führte sie zu einem langen Segeltuchdach, das man ein paar Meter von den Gruben entfernt aufgebaut hatte.

Unter dem Dach lagen Leichen teile auf zwei ramponierten Klapptischen. Völlig laienhaft, dachte Kaye. Vielleicht hatten die Feinde des sakrebulo-Leiters die Leichen dort platziert und Fotos gemacht, um ihre Behauptungen zu belegen.

Sie umrundete den Tisch: zwei Rümpfe und ein Schädel. An den Körpern war noch ziemlich viel mumifiziertes Fleisch übrig, und an dem Schädel, um Stirn, Augen und Wangen, hingen ein paar seltsam aussehende Bänder. Sie suchte nach Spuren von Insektenpuppen und fand in dem verwesten Hals einige tote Schmeißfliegenlarven, aber viele waren es nicht. Die Leichen waren wenige Stunden nach dem Tod bestattet worden. Sie vermutete, dass man sie nicht gerade im tiefsten Winter vergraben hatte, denn dann gibt es keine Schmeißfliegen. Natürlich war der Winter in dieser Höhenlage in Georgien mild.

Sie griff nach einem kleinen Taschenmesser, das neben einem der Rümpfe lag, und hob damit einen Fetzen Stoff an – früher einmal war es weiße Baumwolle gewesen. Dann löste sie am Bauch einen steifen, gewölbten Hautlappen. In dem Stoff und der Haut über dem Beckenknochen waren Einschusslöcher. »Du lieber Gott«, sagte sie.

Im Becken, zusammengekauert in Schmutz und harten Gewebeschichten, lag ein kleinerer Körper; er war zusammengerollt, kaum mehr als ein Haufen winziger Knochen mit eingedrücktem Schädel.

»Colonel.« Sie machte Beck darauf aufmerksam. Sein Gesicht wurde zu Stein.

Die Leichen konnten ohne weiteres fünfzig Jahre alt sein, aber dafür waren sie in bemerkenswert gutem Zustand. Ein wenig Baumwolle und Wolle war noch erhalten, und alles war sehr trocken. Heute floss Abwasser durch das Gebiet. Die Gräben waren tief. Aber die Wurzeln …

Wieder sagte Chikurishvili etwas. Es hörte sich verbindlicher und fast ein wenig schuldbewusst an. Über die Jahrhunderte musste man mit einer Menge Schuld fertig werden.

»Er sagt, es sind beides Frauen«, flüsterte Lado in Kayes Richtung.

»Das sehe ich auch«, murmelte sie.

Sie ging um den Tisch und untersuchte den zweiten Rumpf. Hier war die Bauchhaut nicht mehr vorhanden. Als sie den Schmutz abkratzte, wackelte der Torso mit einem Geräusch wie von einem getrockneten Kürbis. Auch in seinem Becken lag ein kleiner Schädel, ein Fetus von etwa sechs Monaten, genau wie bei dem anderen. Die Gliedmaßen zu dem Rumpf fehlten; ob die Beine im Grab eng nebeneinander gelegen hatten, konnte Kaye nicht feststellen. Keiner der beiden Feten war durch den Druck der Verwesungsgase ausgetrieben worden.

»Beide schwanger«, sagte sie. Lado übersetzte ins Georgische.

Leise sagte Beck: »Wir haben über sechzig Personen gezählt. Die Frauen sind anscheinend erschossen worden. Und die Männer hat man entweder erschossen oder erschlagen.«

Chikurishvili deutete auf Beck und dann wieder auf das Lager; sein Gesicht leuchtete rötlich im Widerschein der Taschenlampen. »Jugashvili, Stalin.« Der Offizier sagte, die Gräber seien während der Säuberungen ausgehoben worden, wenige Jahre vor dem großen vaterländischen Krieg. Also Ende der dreißiger Jahre. Demnach wären sie fast siebzig Jahre alt, uralte Neuigkeiten, nichts was die UN etwas anging.

Lado sagte: »Er will, dass Russen und UN hier verschwinden. Er sagt, es sei eine innere Angelegenheit, nichts für Friedenstruppen.«

Wieder redete Beck auf den georgischen Offizier ein, dieses Mal weniger sanft. Lado gelangte zu dem Schluss, er wolle nicht im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung stehen, und ging hinüber zu Kaye. Sie beugte sich gerade über den zweiten Rumpf. »Üble Geschichte«, sagte er.

»Zu lange.« Kaye sprach leise.

»Was ist zu lange?«

»Siebzig Jahre sind viel zu lange«, erwiderte sie. »Worüber diskutieren die?« Sie stach mit dem Taschenmesser in die seltsamen Gewebebänder an den Augenhöhlen, die fast eine Art Maske bildeten. Hatte man ihnen vor der Exekution die Augen verbunden? Das glaubte sie nicht. Die Verbände waren dunkel, klebrig und widerstandsfähig.

»Der UN-Mann sagt, für Kriegsverbrechen gibt es keine Grenze«, erklärte ihr Lado. »Keine – wie sagt man – Verjährung.«

»Da hat er Recht«, erwiderte Kaye. Vorsichtig drehte sie den Schädel um. Der Hinterkopf war seitlich zertrümmert und drei Zentimeter tief eingedrückt.

Dann wandte sie sich dem winzigen Skelett zu, das zusammengerollt im Becken des zweiten Rumpfes lag. Im dritten und vierten Semester ihres Medizinstudiums hatte sie ein paar Kurse in Embryologie belegt. Der Knochenbau des Fetus sah ein wenig seltsam aus, aber sie wollte den Schädel nicht aus dem verbackenen Boden und trockenen Gewebe lösen, denn dabei hätte sie ihn beschädigt. Sie war schon weit genug vorgedrungen.

Kaye hatte ein ungutes Gefühl. Ihr war nicht nur übel von den eingeschrumpften, vertrockneten menschlichen Überresten, sondern auch von dem, was sie in ihrer Fantasie bereits rekonstruierte. Sie richtete sich auf und machte Beck durch Winken aufmerksam.

»Diesen Frauen hat man in den Bauch geschossen«, sagte sie. Tötet alle erstgeborenen Kinder. Grausige Ungeheuer. »Es war Mord.« Sie biss die Zähne zusammen.

»Wie lange ist es her?«

»Mit dem Alter des Stiefels könnte er ungefähr richtig liegen, wenn er von hier stammt, aber das Grab ist nicht so alt. Dazu sind die Wurzeln an den Grubenwänden zu klein. Nach meiner Schätzung sind die Opfer erst vor zwei oder drei Jahren gestorben. Die Erde hier sieht trocken aus, aber der Boden enthält vermutlich Säure, und darin lösen sich alle Knochen nach ein paar Jahren auf. Und dann der Stoff. Er sieht aus wie Wolle und Baumwolle, das heißt, das Grab ist höchstens ein paar Jahre alt. Wenn es Kunstfasern wären, könnte es älter sein, aber auch dann stammt es aus der Zeit nach Stalin.«

Beck kam näher und schob seine Maske hoch. »Können Sie uns helfen, bis die anderen hier sind?«, fragte er flüsternd.

»Wie lange?«, wollte Kaye wissen.

»Vier, fünf Tage«, erwiderte er. Chikurishvili stand ein paar Schritte entfernt und ließ den Blick zwischen ihnen hin- und herwandern, widerwillig und mit verkrampftem Unterkiefer, als hätten Polizisten sich in einen Familienstreit eingemischt.

Kaye ertappte sich dabei, wie sie den Atem anhielt. Sie wandte sich ab, trat zurück, sog ein wenig Luft ein und fragte: »Wollen Sie Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen einleiten?«

»Die Russen finden, wir sollten es tun«, sagte Beck. »Sie sind ganz scharf darauf, die neuen Kommunisten zu Hause in Misskredit zu bringen. Ein paar alte Gräueltaten könnten ihnen frische Munition liefern. Wenn Sie raten sollten, was würden Sie sagen: zwei Jahre, fünf, dreißig, oder wie viele?«

»Weniger als zehn. Vermutlich noch nicht einmal fünf. So etwas habe ich schon lange nicht mehr gemacht«, sagte sie. »Ich kann nur wenig tun. Ein paar Proben nehmen, Gewebestücke. Natürlich keine vollständige Obduktion.«

»Das ist tausend Mal besser, als wenn die Leute aus dem Ort hier herumpfuschen«, erwiderte Beck. »Von denen traue ich keinem. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob wir den Russen trauen können. Die haben alle dieses oder jenes Schäfchen ins Trockene zu bringen.«

Lado hörte unbewegt zu und sagte nichts, aber er übersetzte auch nicht für Chikurishvili.

Kaye spürte das kommen, was sie die ganze Zeit geahnt und gefürchtet hatte: Die alte, düstere Stimmung kroch in ihr hoch.

Sie hatte geglaubt, sie könnte durch die Reise und die Trennung von Saul die schlechten alten Zeiten, die schlechten Gefühle abschütteln. Als sie den Ärzten und Assistentinnen am Eliava-Institut bei der Arbeit zusah, hatte sie sich befreit gefühlt – sie taten mit so wenig Mitteln so viel Gutes und holten buchstäblich Gesundheit aus der Gosse. Das war die prächtige, glänzende Seite Georgiens. Und jetzt … die Kehrseite der Medaille. Papa Josip Stalin oder ethnische Säuberer, Georgier, die Armenier und Ossetier vertreiben wollen, Abchasen, die Georgier loswerden möchten, Russland schickt Soldaten, Tschetschenien mischt sich ein. Ein schmutziger kleiner Krieg zwischen alten Nachbarn mit altem Groll.

Es würde für sie nicht gut laufen, aber ablehnen konnte sie nicht.

Lado legte das Gesicht in Falten und starrte Beck an. »Es waren werdende Mütter?«

»Die meisten«, antwortete Beck. »Und ein paar waren vielleicht auch werdende Väter.«

3

Alpen

Das Höhlenende war sehr eng. Tilde lag mit angezogenen Beinen unter einem niedrigen Felsvorsprung und sah Mitch vor denen knien, deretwegen sie hergekommen waren. Hinter ihm kauerte Franco.

Mitch hatte den Mund halb offen wie ein erstaunter kleiner Junge. Eine Zeit lang brachte er kein Wort heraus. Hier hinten in der Höhle war es völlig still. Nur der Lichtstrahl bewegte sich, als er mit der Taschenlampe an den beiden Gestalten auf und ab leuchtete.

»Wir haben nichts angerührt«, sagte Franco.

Die geschwärzte Asche, die uralten Überreste von Holz, Gras und Schilf sahen aus, als würden sie beim ersten Lufthauch zerfallen, aber sie bildeten immer noch die Reste eines Feuers. Der Haut der beiden Körper war es besser ergangen. Einen so verblüffenden Fall von Tiefkühl-Mumifizierung hatte Mitch noch nie gesehen. Das Gewebe war hart und ausgedörrt – die trockene, eiskalte Luft hatte alle Feuchtigkeit herausgesogen. Unterhalb der Köpfe, wo sie einander zugewandt lagen, waren Haut und Muskeln kaum eingeschrumpft und sofort fixiert worden. Die Gesichtszüge wirkten fast lebendig, nur die Augenlider waren aufgerissen, und die Augen darunter, eingeschrumpft und dunkel, sahen unsagbar schläfrig aus. Auch die Körper waren gut erhalten; nur an den Beinen erschien das Fleisch runzelig und nachgedunkelt, vielleicht weil zwischendurch aus dem vorderen Teil des Schachtes ein Lüftchen hereingedrungen war. Die Füße waren verschrumpelt und schwarz wie getrocknete kleine Pilze.

Mitch konnte nicht glauben, was er hier sah. Ihre Haltung hatte vielleicht gar nichts Ungewöhnliches – sie lagen auf der Seite, ein Mann und eine Frau, die sich im Tod angesehen hatten und schließlich erfroren waren, als die Asche ihres letzten Feuers erkaltete. Es war nichts Überraschendes an den Händen des Mannes, die sich zum Gesicht der Frau ausstreckten, nichts Überraschendes an den Armen der Frau, die nach unten gestreckt vor ihr lagen, als hätte sie sich an den Bauch gegriffen. Nichts Außergewöhnliches an dem Tierfell zwischen ihnen oder an dem zweiten Fell, das zerknüllt neben ihnen lag, als habe der Mann es beiseite gestoßen.

Am Ende, als das Feuer erloschen war und bevor sie erfroren, war es dem Mann zu warm geworden, und er hatte das Fell weggeschoben.

Mitch blickte auf die verschränkten Finger der Frau hinunter und schluckte. Das Gefühl, das in ihm hochstieg, konnte er weder erklären noch begründen.

»Wie alt?« Mit ihrer Frage unterbrach Tilde seine Konzentration. Ihre Stimme klang nüchtern, klar und vernünftig, fast schneidend.

Mitch zuckte zusammen. »Sehr alt«, sagte er leise.

»Ja, aber so wie der Ötzi?«

»Nicht so wie der Ötzi«, erwiderte Mitch. Fast hätte seine Stimme versagt.

Die Frau war verletzt. Seitlich, in Hüfthöhe, hatte man ihr ein Loch in den Bauch gestoßen. Es war von Blutflecken umgeben, und es kam Mitch so vor, als könne er auch auf dem Felsen unter ihr noch Flecken erkennen. Vielleicht war das die Todesursache.

In der Höhle gab es keine Waffen.

Er rieb sich die Augen, um den kleinen, gezackten weißen Mond beiseite zu drängen, der ihn abzulenken drohte. Dann blickte er noch einmal in die Gesichter mit ihren kurzen, breiten, schräg nach oben weisenden Nasen. Der Unterkiefer der Frau hing herab, bei dem Mann war er geschlossen. Die Frau hatte im Sterben nach Luft geschnappt. Das konnte Mitch zwar nicht mit Sicherheit behaupten, aber er stellte seine Beobachtung nicht infrage. Es passte.

Erst jetzt schob er sich vorsichtig hinter die Gestalten. Mit langsamen Bewegungen, die gebeugten Knie ein paar Zentimeter über der Hüfte des Mannes, robbte er vorwärts.

»Sie wirken alt«, sagte Franco, nur um die Stille der Höhle zu durchbrechen. Seine Augen funkelten. Mitch blickte zu ihm hinüber und dann nach unten auf das Profil des Mannes.

Dicke Brauenwülste, breite, flache Nase, fliehendes Kinn. Kräftige Schultern, Verjüngung nach unten bis zu einer relativ schlanken Taille. Dicke Arme. Die Gesichter waren glatt und nahezu unbehaart. Vom Hals an abwärts jedoch war die Haut von einem feinen, dunklen Fell bedeckt, das nur bei genauem Hinsehen zu erkennen war. An den Schläfen waren die kurz geschnittenen Haare offenbar in einem bestimmten Muster rasiert worden, eine fachkundige Barbierarbeit.

So viel zu den zottigen Rekonstruktionen der Museen.

Die kalte Luft schwer in der Nase, beugte Mitch sich näher hinüber und stützte sich dabei mit der Hand an der Höhlendecke ab. Zwischen den Körpern lag so etwas wie eine Maske, eigentlich waren es zwei Masken – die eine neben dem Mann und halb unter ihm begraben, die andere unter der Frau. Ihre Ränder sahen aus, als seien sie zerrissen worden. Beide hatten Öffnungen für Augen und Nase, die Nachbildung einer Oberlippe – alles von feinen Haaren bedeckt –, und darunter einen noch stärker behaarten Lappen, der wohl einst um Hals und Unterkiefer gewickelt war. Wahrscheinlich waren sie von den Gesichtern gerissen und weggeworfen worden, aber an den Köpfen fehlte keine Haut.

Die Maske neben der Frau war anscheinend noch mit dünnen Fasern wie der Bart einer Muschel mit Stirn und Schläfen verbunden.

Mitch wurde klar, dass er sich hier auf die kleinen Rätsel konzentrierte, um eine große Unmöglichkeit zu umschiffen.

»Wie alt sind sie?«, fragte Tilde noch einmal. »Kannst du das sagen?«

»Ich glaube, solche Menschen gibt es seit Zehntausenden von Jahren nicht mehr«, erwiderte Mitch.

Tilde schien seine Aussage über die entfernte Vergangenheit nicht zu beachten. »Sie sind doch Europäer wie der Ötzi?«

»Ich weiß nicht«, sagte Mitch, schüttelte dabei aber den Kopf und hob die Hand. Er wollte nicht reden; er wollte denken. Das hier war ein äußerst gefährlicher Ort, gefährlich in beruflicher, seelischer, jeglicher Hinsicht. Gefährlich, wie ein Traum und unmöglich.

»Sag etwas, Mitch«, bettelte Tilde überraschend sanft. »Sag mir, was du siehst.« Sie streckte die Hand aus und streichelte sein Knie. Franco sah der Zärtlichkeit gelassen zu.

Mitch setzte an: »Es ist ein Mann und eine Frau, beide etwa einen Meter sechzig groß.«

»Kleine Menschen«, sagte Franco, aber Mitch überging ihn völlig.

»Sie scheinen zur Gattung Homo zu gehören, Spezies sapiens. Aber sie sind nicht wie wir. Sie könnten an einer Art Kleinwuchs gelitten haben, mit abweichendem Gesichtsschnitt …« Er hielt inne und sah wieder die Köpfe an. Anzeichen für Kleinwuchs waren nicht zu erkennen, aber die Masken beunruhigten ihn.

Die klassischen Merkmale. »Das sind keine Kleinwüchsigen«, sagte er. »Es sind Neandertaler.«

Tilde hustete. Die trockene Luft dörrte ihnen die Kehle aus. »Wie bitte?«

»Höhlenmenschen?«, fragte Franco.

»Neandertaler«, wiederholte Mitch, nicht nur um Franco zu korrigieren, sondern auch um sich selbst zu überzeugen.

»Das ist doch Quatsch«, sagte Tilde, und ihre Stimme klang rau vor Wut. »Wir sind keine kleinen Kinder.«

»Das ist überhaupt kein Quatsch. Ihr habt zwei gut erhaltene Neandertaler gefunden, einen Mann und eine Frau. Die ersten Neandertaler-Mumien … auf der Welt. Aller Zeiten.«

Tilde und Franco dachten einen Augenblick nach. Draußen, am Höhleneingang, heulte der Wind.

»Wie alt?«, fragte Franco.

»Nach allgemeiner Ansicht sind die Neandertaler irgendwann vor hunderttausend bis vierzigtausend Jahren ausgestorben«, sagte Mitch. »Vielleicht ist die allgemeine Ansicht falsch. Aber ich bezweifle, dass sie in diesem guterhaltenen Zustand vierzigtausend Jahre in dieser Höhle überdauert haben.«

»Vielleicht waren es die letzten«, sagte Franco und bekreuzigte sich andächtig.

»Unglaublich«, sagte Tilde, und ihr Gesicht rötete sich. »Wie viel sind sie wert?«

Mitch bekam einen Krampf im Bein. Er kroch zurück und kauerte sich neben Franco. Mit dem behandschuhten Knöchel rieb er sich die Augen. Kalt. Er bibberte. Der Lichtmond verschwamm und verschob sich. »Sie sind überhaupt nichts wert«, sagte er.

»Mach keine Witze«, erwiderte Tilde. »Sie sind selten – so etwas gibt es noch nicht, stimmt’s?«

»Selbst wenn wir – ich meine, wenn ihr – sie vollständig und unbeschädigt aus der Höhle holen und den Berg hinunterbringen könntet, wo wolltet ihr sie verkaufen?«

»Es gibt Leute, die sammeln so was«, sagte Franco. »Leute mit viel Geld. Wir haben schon mit jemandem über einen Eismenschen gesprochen. Ein Mann und eine Frau, das würde sicher …«

»Ich muss wohl ein bisschen direkter werden«, sagte Mitch. »Wenn das hier nicht wissenschaftlich korrekt gehandhabt wird, gehe ich zu den Behörden in der Schweiz, in Italien, wo wir hier auch sein mögen, und erzähle es ihnen.«

Wieder Schweigen. Mitch konnte Tildes Gedanken fast hören; sie arbeiteten wie ein kleines Schweizer Uhrwerk.

Franco schlug mit der behandschuhten Hand auf den Höhlenboden und sah Mitch an. »Warum willst du uns alles vermasseln?«

»Weil diese Menschen euch nicht gehören«, antwortete Mitch. »Sie gehören niemandem.«

»Sie sind tot!« schrie Franco. »Sie gehören sich selbst nicht mehr, oder?«

Tildes Lippen bildeten eine gerade, schmale Linie. »Mitch hat Recht. Wir werden sie nicht verkaufen.«

Ein wenig erschrocken sprudelten Mitchs nächste Worte heraus. »Ich weiß nicht, was ihr sonst vielleicht mit ihnen vorhabt, aber ich glaube, ihr werdet keinen Einfluss auf sie haben und auch keine Rechte verkaufen, damit dann Höhlenmenschen-Barbiepuppen oder sonst was hergestellt werden.« Er atmete tief durch.

»Nein, noch einmal, ich habe gesagt: Mitch hat Recht«, verkündete Tilde langsam. Franco blickte sie mit erwartungsvollem Zwinkern an. »Das ist eine ganz große Sache. Wir werden brave Staatsbürger sein. Sie sind die Vorfahren von allen. Papa und Mama der ganzen Welt.«

Mitch spürte eindeutig, wie die Kopfschmerzen kamen. Die länglichen Lichterscheinungen waren eine altvertraute Warnung gewesen: Der Zug kam und zermalmte seinen Kopf. Wenn er einen Migräneanfall bekam, ein richtiges Messer im Kopf, würde der Abstieg schwierig oder unmöglich werden. Er hatte keinerlei Medikamente dabei. »Wollt ihr mich hier oben umbringen?«, fragte er Tilde.

Franco warf ihm einen Blick zu, wälzte sich herum und sah in Erwartung einer Antwort zu Tilde hinüber.

Tilde grinste und fasste sich ans Kinn. »Ich denke gerade nach«, sagte sie. »Was wären wir für tolle Bösewichter, das gäbe den Stoff für glorreiche Geschichten ab. Freibeuter der Vorgeschichte. He, ho, und ’ne Flasche voll Rum.«

»Folgendes ist zu tun«, sagte Mitch in der Annahme, sie habe seine Frage verneint. »Wir müssen von jeder Leiche eine Gewebeprobe entnehmen, wobei wir sie möglichst wenig beschädigen. Dann …«

Er griff nach der Taschenlampe und ließ den Lichtkegel jenseits der eng nebeneinander liegenden, schlaftrunkenen Köpfe des Mannes und der Frau in die rund drei Meter entfernte Nische am Ende der Höhle gleiten. Dort lag, in Fell eingewickelt, etwas Kleines.

»Was ist denn das?«, fragten er und Franco wie aus einem Mund.

Mitch überlegte. Er konnte sich um die Frau herum robben und schlängeln, ohne etwas anderes aufzuwirbeln als den Staub. Andererseits war es am besten, alles völlig unberührt zu lassen, sich jetzt aus der Höhle zurückzuziehen und die wirklichen Fachleute zu holen. Die Gewebeproben würden als Beweis ausreichen, davon war er überzeugt. Aus den Knochenuntersuchungen wusste man genug über die DNA der Neandertaler. Man konnte es bestätigen und die Höhle verschließen, bis …

Er presste die Hände gegen die Schläfen und schloss die Augen.

Tilde tippte ihm auf die Schulter und schob ihn sanft beiseite. »Ich bin kleiner«, erklärte sie und kroch an der Frau vorbei zum hinteren Ende der Höhle.

Mitch sah zu und sagte nichts. So fühlte man sich, wenn man eine richtige Sünde beging – die Sünde ungezügelter Neugier. Er würde es sich nie verzeihen, aber wie, so überlegte er, konnte er sie aufhalten, ohne die Leichen zu beschädigen? Außerdem war sie vorsichtig.

Tilde legte sich so flach, dass ihr Gesicht neben dem Bündel den Boden berührte. Sie griff mit zwei Fingern nach dem Fell und drehte es langsam um. Mitchs Kehle schnürte sich vor Wut zusammen. »Leuchte mal hierher«, verlangte sie. Mitch gehorchte.

Auch Franco richtete seine Taschenlampe auf die Stelle.

»Es ist eine Puppe«, sagte Tilde.

Aus dem oberen Ende des Bündels blickte ein kleines Gesicht wie ein dunkler, runzeliger Apfel mit zwei winzigen, eingesunkenen Augen.

»Nein«, erwiderte Mitch. »Es ist ein Baby.«

Tilde zuckte ein paar Zentimeter zurück und gab ein leises, überraschtes hmm von sich.

Der Kopfschmerz überrollte Mitch wie eine Dampfwalze.

Franco stand am Höhleneingang und hielt Mitch am Arm. Tilde war noch drin. Mitchs Migräne hatte die Stärke 9 mit visuellen Begleiterscheinungen und allem Drum und Dran erreicht, und er musste sich am Riemen reißen, um sich nicht zusammenzukrümmen und zu schreien. Das trockene Würgen hatte er an der Höhlenwand bereits hinter sich gebracht, und jetzt hatte er heftigen Schüttelfrost.

Er wusste ganz genau, dass er hier oben sterben würde, an der Schwelle zur ungewöhnlichsten anthropologischen Entdeckung aller Zeiten, und dass er sie in den Händen von Tilde und Franco lassen musste, die eigentlich nur bessere Diebe waren.

»Was macht sie da drin?«, stöhnte Mitch mit gesenktem Kopf. Selbst die Dämmerung war ihm zu hell. Aber es wurde jetzt schnell dunkel.

»Nicht deine Sache«, sagte Franco und griff noch fester nach seinem Arm.

Mitch trat zurück und tastete blind nach den Gefäßen mit den Gewebeproben in seiner Tasche. Er hatte es geschafft, aus dem Oberschenkel des Mannes und der Frau zwei kleine Stücke zu entnehmen, bevor der Schmerz seinen Höhepunkt erreichte; jetzt konnte er kaum noch geradeaus blicken.

Als er mühsam die Augen öffnete, sah er ein himmlisches Saphirblau, das den Berg, das Eis, den Schnee präzise nachzeichnete, aber es war in den Augenwinkeln von einem Aufleuchten überlagert, das kleinen Blitzen ähnelte.

Tilde kam aus der Höhle, in der einen Hand die Kamera, in der anderen den Rucksack. »Wir haben genug zusammen, um alles zu beweisen«, sagte sie. Mit Franco sprach sie ein schnelles, leises Italienisch. Mitch verstand sie nicht, und es war ihm auch egal.

Er wollte einfach nur herunter von dem Berg, in ein warmes Bett, schlafen und abwarten, bis die quälenden Schmerzen, die ihm so vertraut und doch immer wieder neu waren, nachließen.

Sterben war auch eine Möglichkeit, und sie war nicht ohne Reiz.

Geschickt seilte Franco ihn an. »Komm, alter Junge«, sagte der Italiener und ruckte dabei freundlich am Seil. Mitch taumelte vorwärts und ballte neben dem Körper die Fäuste, um sich nicht gegen den Kopf zu hämmern. »Den Pickel«, sagte Tilde. Franco zog Mitchs Eispickel aus seinem Gürtel, wo er ständig den Beinen in die Quere kam, und steckte ihn in den Rucksack. »Dir geht’s nicht gut«, sagte Franco. Mitch hielt die Augen krampfhaft geschlossen; die Dämmerung war voller Blitze, und der Schmerz war wie Donner, der mit jedem Schritt seinen Kopf zermalmte. Tilde ging voraus, und Franco folgte ihm auf den Fersen. »Wir nehmen einen anderen Weg«, sagte Tilde. »Es friert böse, und die Brücke ist brüchig.«

Mitch öffnete die Augen. Der Grat war eine kohlrabenschwarze Messerschneide vor dem reinen Ultramarin des Himmels, das zu sternenübersätem Dunkel wurde. Jeder Atemzug war kälter und schwerer als der vorige. Er schwitzte heftig.