Das Schiff - Greg Bear - E-Book

Das Schiff E-Book

Greg Bear

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Beschreibung

Eine Reise an die Grenzen der menschlichen Existenz

Ein gewaltiges Raumschiff gleitet durch das All, ohne Lebenszeichen und mit unbekanntem Ziel. Doch dann erwacht in einem der Lagerräume ein Mensch. Nackt und frierend findet er sich in einem Schiff voll tödlicher Gefahren wieder. Im Kampf mit schattenhaften Monstern und verräterischen Illusionen sucht er verzweifelt nach Antworten: Wer bin ich? Wohin fliegt dieses Schiff? Und: Werde ich überleben?

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Seitenzahl: 487

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DAS BUCH

Ein Mann erwacht in einem riesigen Raumschiff aus dem Kälteschlaf. Eigentlich sollten sie inzwischen an ihrem Ziel, einem neu entdeckten Kolonialplaneten, angekommen sein, aber statt der erwarteten Idylle findet sich der Mann in einem wahren Horrorszenario wieder: Das Schiff treibt offenbar führungslos im All, und überall um ihn herum liegen Leichen. Was ist in den langen Jahren der Reise geschehen? Warum haben sie ihren Zielplaneten nicht erreicht? Was hat das Schiff so schwer beschädigt? Und warum wurde er vorzeitig geweckt? Nach und nach trifft der Mann auf weitere Bewohner des Schiffes – und kommt einem furchtbaren Geheimnis auf die Spur …

Einer der faszinierendsten Science-Fiction-Romane seit langem – mit »Das Schiff« nimmt Bestsellerautor Greg Bear den Leser mit auf eine atemberaubende Reise durch Raum und Zeit.

DER AUTOR

Greg Bear wurde 1951 in San Diego geboren und studierte dort englische Literatur. Seit 1975 als freier Schriftsteller tätig, gilt er heute als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientierten Autoren der Gegenwart. Seine zuletzt veröffentlichten Romane »Das Darwin-Virus« und »Die Stadt am Ende der Zeit« wurden zu internationalen Bestsellererfolgen. Mehr über Autor und Werk erfahren Sie unter: www.gregbear.com

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCHDER AUTORWidmungERSTER TEIL - Das Fleisch
LebensanfangAuf der Suche nach WärmeErwachen
Copyright

Für VINCE GERARDIS,

Meister des großen Wurfs

ERSTER TEIL

Das Fleisch

Mäßige Bewölkung, der Planet hält sich bedeckt.

Wir haben eine ausgezeichnete Wahl getroffen. Der Planet, der unter uns vorbeizieht, ist sogar weit schöner, als wir erwarten durften. Als sich der milchigweiße Wolkenschleier hebt, sind üppige Landschaften zu sehen, die alle Sinne ansprechen: blaues Wasser, bräunliche Ebenen, gelbe Wüsten, ein junges graues Gebirge, von Falten durchzogen und gesäumt von Wäldern, deren dunkles Grün fast schwarz wirkt. Das strahlende Smaragdgrün saftiger Wiesen bildet zu alldem einen reizvollen Kontrast.

Welch unglaubliche Vielfalt!

Mein Körper hat die lange Reise bis hierher mitgemacht. Wie ein Engel, der über dem Planeten schwebt, blicke ich voller Verlangen auf die verwirrend schöne Oberfläche hinunter. All mein jugendlicher Elan richtet sich auf diese neue Erde. Über den östlichen Himmel spannt sich ein weiter Bogen der Morgendämmerung – wie wunderschön er ist! Unsere neue Welt dreht sich um ihre eigene Achse, entgegengesetzt zur Rotationsrichtung um ihre Sonne – das Beste, was uns passieren konnte. Ich entdecke zwei Monde, einer ziemlich nah, der andere viel weiter draußen und so groß, dass sich unter der dünnen Atmosphäre Eisberge verbergen mögen. Vielversprechend, aber diese Region werden wir erst erforschen, wenn wir uns hier eingerichtet haben.

Wir, das heißt Dutzende von uns, die sich in der Aussichtskuppel versammelt haben, können endlich in natürlichem Licht baden. Und es sind natürliche, organische Lungen, Zungen und Lippen, die ihrer überschwänglichen Freude in einem fröhlichen Sprachengewirr Luft machen. Die Schiffssprache und die Sprache der Traumzeit verbinden sich auf harmonische Weise miteinander. So viele Freunde sind hier, und das sind noch längst nicht alle! Wir kichern albern, weil wir vor Aufregung völlig aus dem Häuschen sind.

Jetzt, da wir unsere Glieder wieder spüren, wollen wir uns recken und strecken, einander umarmen, uns miteinander paaren. Möchten die Kinder willkommen heißen, die noch nicht einmal gezeugt sind, möchten sie so schnell wie möglich an unserer Seite haben, damit sie diese Schönheit, dieses Wunderbare mit ihren stolzen Eltern teilen können.

Endlich gibt es ein Wir!

Ein Wir voller kinetischer Energie, die jetzt nicht mehr aufgestaut ist, nicht mehr auf Eis liegt, nicht mehr als bloßes Potenzial existiert … Die halbe Ewigkeit von Jahrhunderten liegt endlich hinter uns.

Wir!

Wir sind angekommen!

Pflanzer und mit Samen beladene Schiffe sind schon vor unserem Erwachen zum Planeten hinabgestoßen, haben die Lage vor Ort sondiert und sind danach mit ihren Analysen und Informationen zu uns zurückgekehrt. Unsere Körperchemie verträgt sich mit dieser Welt.

Fons et origo.

Quelle und Ursprung.

Ich weiß nicht mehr, welchen Namen wir für den Planeten ausgesucht haben, obwohl er mir auf der Zunge liegt. Ist ja auch egal. Bestimmt ist es ein schöner Name.

Wir schließen uns zu Gruppen zusammen, fassen uns an den Händen und bilden schwankende, schwerelose Reihen in der Aussichtskuppel, rufen einander bei den Namen unserer Traumzeit und grinsen vor Freude, bis sich unsere Wangen verkrampfen. Um die Gesichter zu entspannen, ziehen wir grässliche oder komische Grimassen, wie Clowns. Bald werden wir neue Namen auswählen: Namen für das Land, das Meer, die Luft. Poetische Namen, abgeleitet von den alten.

Mein neuer Name liegt mir bereits auf der Zunge …

Und auch ihrer. Sie ist ganz in der Nähe. Seltsamerweise ist es mir irgendwie peinlich, ihr jetzt erstmals in der Realität zu begegnen, schließlich kenne ich sie ja schon seit Ewigkeiten aus der Traumzeit. Dort haben wir zusammen gespielt, gelernt und unsere ersten Meinungsverschiedenheiten miteinander ausgetragen. Doch stets haben wir uns schnell wieder versöhnt – wir konnten einander nie lange böse sein. Sie ist Expertin für Schiffsbiologie, während ich für Fitness und Kultur zuständig bin. In der Traumzeit wechselten lange, gemächliche Phasen der Schulung, des Spiels und der Forschung mit kurzem, aber intensivem körperlichen Training ab, denn wir wollten und mussten ja unsere Muskeln erhalten. Eine unglaubliche Erfahrung, die wir in der Traumzeit miteinander gemacht haben! Es gibt nur eines, was diese Erfahrung in den Schatten stellen kann: aufzuwachen und sich persönlich zu begegnen, von Körper zu Körper.

Die Fleischwerdung in dieser neuen Welt.

Unsere Reihen bewegen sich auf das silberne Tor aus Chrom im lichtdurchlässigen weißlichen Schott zu, Richtung Bereitstellungsraum, wo uns Landefahrzeuge erwarten – gespenstisch graue, schnittige Schattengebilde.

Unser wunderschönes, gigantisches Schiff ist mit seiner Länge von zwölf Kilometern leider zu groß, um auf dem Planeten zu landen, und muss allein zurückbleiben. Früher einmal hatte es eine unförmige Kugel aus vereistem Felsgestein im Schlepptau, deren Durchmesser mehr als hundert Kilometer betrug. Diese Kugel war Schutzschild und zugleich unabdingbares Zubehör unserer interstellaren Reise. Nach wie vor schleppt das Schiff ein mittlerweile eigentlich überflüssiges Stück dieses kleinen Oort-Mondes mit, das allerdings nur einige Milliarden Tonnen wiegt. Als wir unsere Geschwindigkeit drosselten, war noch jede Menge Treibstoff vorhanden. Und jetzt umkreisen wir unseren Kandidaten Nummer eins.

Wie lange wir schon unterwegs sind?

Die endlos langen Jahre der Reise liegen wie kalte, stille Regionen hinter uns; wir können uns nicht mehr genau daran erinnern, es waren einfach zu viele.

Wie viele?

Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sobald Zeit dafür ist, werde ich im Logbuch nachschauen. Jetzt müssen erst einmal die Gruppen ausgewählt werden, die als erste die Reise zum Planeten antreten dürfen.

Man ruft uns bei unseren neuen Namen, und wir stellen uns vor der Ladezone auf. Alle tragen Festtagskleidung, strahlend bunte Farbtupfer. Sehen und gesehen werden, darum geht es uns jetzt.

Sie ist hier! Und wirkt in ihrer schicken Kleidung – sie hat Blau, Beige und Grün gewählt – wagemutig und selbstbewusst. Große, tiefgründige Augen, hohe, breite Wangenknochen. Ihr bräunliches Haar ist jetzt kurz geschnitten. Als sie in meine Richtung blickt, überwältigt mich eine Welle der Zuneigung und Erregung. Im Landefahrzeug setzt sie sich nicht zu den anderen, sondern weiter nach hinten, neben einen freien Platz. Offensichtlich hofft sie, dass ich mich zu ihr geselle. Sie und ich gehören zur ersten Gruppe, die das Schiff verlässt.

Wir beide. Wir.

Ich erkenne so viele aus der Traumzeit wieder. Wir begrüßen uns freudig, wie alte Freunde, umarmen uns, schütteln uns die Hände, beglückwünschen einander, unterhalten uns lebhaft. Zwar müssen sich unsere Zungen erst wieder an die gesprochenen Worte gewöhnen, aber es brennt noch das alte Feuer in uns. Wir stehen uns viel näher als Familienangehörige. Während der langen kalten Reise haben wir Kämpfe miteinander ausgetragen, uns gestritten und liebgewonnen, voneinander gelernt. Haben uns zu Teams zusammengefunden, sie wieder aufgelöst oder verändert, neue Teams gebildet und dadurch bei aller Verschiedenartigkeit ideale Zusammensetzungen erreicht. Nichts steht zwischen uns, nichts kann unsere Freude über den Rücksturz zu einer neuen Erde beeinträchtigen.

Ein sanfter Ruck geht durch die perfekt gestaltete Maschinerie …

Wir koppeln vom Schiff ab. Das Landefahrzeug ist nicht mal hundert Meter lang, eigentlich also ein winziges Ding, aber schnittig und neu.

Wie schnell jetzt die Zeit vergeht!

Ich löse meine Gurte, um ihr näher zu sein. Sie schimpft zwar mit mir, schlingt aber trotzdem die Arme um mich. Und das Gewebe gibt nach, das Netz dehnt sich aus. Wir lachen, als wir merken, dass viele andere unserem Beispiel folgen.

Jetzt sehen wir das Schiff von außen, in seiner ganzen beeindruckenden Länge, und staunen darüber, wie gut es immer noch in Schuss ist. Den jugendlichen Glanz hat es im Laufe der Jahre zwar eingebüßt, aber es ist unversehrt und wirkt wie ein nobler Beschützer …

Ursprünglich aus drei miteinander verbundenen Rümpfen konstruiert, ähnelt das Schiff jetzt zwei uralten, an der Basis miteinander verbundenen Stupas. Zum Schutz vor dem scharfen interstellaren Wind flossen früher leuchtende Plasmaströme wie Flüsse aus trübem Gold um die Schiffsrümpfe herum und vor ihnen her. Diese Ströme beförderten zugleich interstellare Staubteilchen – gefrorene, glasartige oder metallische Teilchen – nach achtern, wo sie entweder zu Treibstoff verarbeitet oder zusammengeschweißt wurden, um die abgenutzten Außenschichten des Schiffs zu verstärken.

Jetzt glimmt nur noch ein letzter Plasmarest am kompakten Mittelstück des Schiffes, eine kümmerliche Bake. Einen Moment lang lenkt uns dieser Anblick ab, doch gleich darauf geben wir uns wieder dem wunderbaren, verblüffenden Gefühl hin, es geschafft zu haben. Schließlich hat man uns vor unserem Aufbruch gesagt, nur eines von hundert Schiffen werde überleben. Dennoch haben wir die längste Reise in der Geschichte der Menschheit hinter uns gebracht, leben noch und

WIR!

SIND!

ANGEKOMMEN!

Lebensanfang

Ein heftiger Ruck und ein schreckliches Geräusch, als strömte Wasser aus oder als spritzte Blut. Alles ist dunkel und verworren. Irgendwann schiebt sich etwas Rötliches in mein Blickfeld. Ich bin von einer zähen Flüssigkeit umgeben. Als ich mit Armen und Beinen rudere, treffe ich auf etwas Weiches.

Sind wir abgestürzt? Ist das Schiff im All zerborsten, ehe wir landen konnten? Ich kann mir nicht zusammenreimen, was geschehen ist. Mein Gedächtnis ist ein vielteiliges Puzzle, das irgendjemand an sich gebracht und heftig geschüttelt hat, so dass die Einzelteile in alle Richtungen davongeflogen sind.

Ein Puzzle aus unzähligen Teilchen. Und nichts passt zusammen!

Mein ganzer Körper tut mir weh. Das hätte doch gar nicht passieren dürfen – nach allem, was ich weiß. Und jetzt merke ich auch noch, wie das wenige, das ich weiß, mir entgleitet. Ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, wie ich heiße und warum ich hier bin.

Allein in beklemmender Enge, die mich widerstrebend freigibt, so als würde ich aus einer Tube gepresst. Während die Beine noch eingeschlossen sind, zerfetzen die Finger die gummiartige Membran, reißen Löcher hinein, durch die ich

atmen kann.

Mit Armen und Beinen um mich schlagend, bahne ich mir den Weg aus dem Sack, der mich zu ersticken droht. In meinem Brustkorb sticht und brennt es. Das Atmen tut weh. Jetzt kehrt das grässliche Geräusch zurück und hämmert auf meinen Kopf, auf die Ohren ein. Allerdings klingt es jetzt so, als riebe sich Metall an Metall. Türen schließen sich, Wände rücken knirschend und quietschend auf mich zu.

Meine Lungen versagen den Dienst, Hände und Arme erstarren. Das nackte Fleisch bleibt am Deck kleben, so dass Haut abreißt, wenn ich mich bewege. Ich erfriere.

Ein zartes Geschöpf zerrt an meinen ungeschützten Armen. Die Kleine ist zwar dünn, aber drahtig und stark und zieht so lange an dem Sack, bis mein ganzer Oberkörper freiliegt und mir noch kälter wird. Dabei macht sie Geräusche, die ich zu verstehen glaube, aber mein Kopf ist nach wie vor umnebelt.

Vor all diesem ist doch irgendetwas Wunderbares passiert.

Was war es nur?

Auf der Suche nach Wärme

Lieg nicht einfach so herum, steh auf!«

Immer noch zerrt die Kleine an mir und tanzt dabei auf dem gefrorenen Deck herum. Ich versuche mich zu bewegen, kann die Bewegungen jedoch nicht koordinieren. Und am ganzen Körper beginnt sich dabei die Haut zu lösen. Also leiste ich Widerstand. Vielleicht ist ja die Kleine an meiner schlimmen Lage schuld.

»Beeil dich! Gleich wird die Luft gefrieren!«

Ich kann nur stöhnen oder vor Schmerzen aufschreien. Ich hasse dieses magere Geschöpf. Wer ist die Kleine überhaupt? In welcher Beziehung steht sie zu mir? Jedenfalls nehme ich ihr übel, dass sie mich gewaltsam aus der Traumzeit geholt hat.

Ich drehe mich um, um nachzusehen, von wo ich gekommen bin. Und entdecke dabei in rötliche Säcke gehüllte Körper, die sich nach und nach aus einer grauen Wand schieben. Sie versuchen sich zu bewegen, schlagen um sich und wollen die Hüllen zerfetzen, aber die Säcke sind gefroren, so dass nur einzelne Stücke abspringen. Der Raum ist lang und hat eine niedrige Decke. Auf dem Boden warten Rollwagen. Manche Körper fallen auf die Karren und winden sich dort hin und her, aber sie bewegen sich wie in Zeitlupe und werden immer langsamer.

Sie werden alle erfrieren.

Ich schlage um mich und stoße die Kleine weg. Komisch, sie ermutigt mich sogar noch dazu. »So ist es richtig«, sagt sie. »Tief durchatmen. Kämpfen. Beeil dich. Die Wärme schwindet jetzt sehr schnell.«

Als ich mich aufrichte und hinstelle, erfasst mich Schwindel. »Hilf … denen da drüben!«, brülle ich. »Geh die da quälen!«

»Die sind schon tot«, gibt sie zurück. »Du bist als Erster herausgekommen.«

Aha, deshalb diese Sonderbehandlung. Diesmal wehre ich mich nicht, als sie nach meinem Arm greift. Ich habe zu starke Schmerzen, außerdem will ich nicht erfrieren. Durch eine hohe ovale Tür zerrt sie mich in einen langgestreckten Korridor, der in der Ferne, wo es hell ist, eine Linkskurve beschreibt und sich nach oben windet. Doch je weiter wir kommen, desto schneller weicht die Helligkeit zurück, verschwindet einfach.

Zurückweichen, welch seltsames Wort.

Die Kleine lässt mich einfach zurück und tänzelt voraus. Ihre Füße bleiben niemals lange an der eiskalten Oberfläche haften. Entweder schaffe ich es, zu ihr aufzuschließen, oder eben nicht.

Da es zu sehr wehtut, einfach stehen zu bleiben, stolpere ich ihr hinterher. Zwar kehrt etwas Kraft in meine Beine zurück, doch die Kälte saugt sie mir ebenso schnell wieder heraus. Das wird ein knappes Rennen.

Und es kommt noch schlimmer : Entlang des langen Korridors erkenne ich dunkle Streifen und Tausende von winzigen Leuchten, aber diese Lämpchen gehen eines nach dem anderen aus. Hinter mir stürzen Wände ein, deshalb dieses schreckliche Geräusch bei meinem Erwachen. Ich glaube, man nennt diese Wände »Schotts«, vielleicht auch »Luken«. Blinzelnd mustere ich die Wände und bemerke Nuten und Einkerbungen. An diesen Stellen können sich die Schotts heben oder senken. Sicher werden sie mich demnächst so von der folgenden Strecke des Korridors »abschotten«, dass ich in der Falle sitze.

Das hier ist ein schlechter Standort, ausgesprochen ungünstig. Ich kann nur versuchen, weiter vorzurücken, zum Licht vor mir, das zurückweicht, immer schwächer wird. Bald wird es ringsum stockdunkel sein, wenn ich mich nicht beeile, die Kleine einzuholen – die winzige Gestalt in der Ferne, die nur aus um sich schlagenden Armen und Beinen zu bestehen scheint.

Jetzt beginne ich wirklich zu rennen, und die Beine machen sogar mit, während die Arme im Rhythmus pumpen. Die Luft erwärmt sich ein wenig, so dass ich wieder atmen kann, ohne dass es in den Lungen sticht. Wie die Kleine mir geraten hat, atme ich tief durch. Dabei fällt mir auf, dass sich Nebelwirbel von den Wänden lösen, die sich teilen, wenn ich hindurchlaufe. Während ich vorwärtseile, huschen weitere ovale Türöffnungen an mir vorbei – alle so düster und kalt wie Rattenlöcher.

Ratten. Wieder so ein seltsames Wort. Was sind Ratten? Keine Zeit, Fragen zu stellen.

»Komm schon!«, ruft die Kleine über die Schulter.

Diese Aufforderung wäre gar nicht nötig gewesen, denn ich habe sie beinahe eingeholt. Mittlerweile bin ich größer; meine Beine haben sich verlängert, so dass ich schneller rennen kann, wenn ich mich darauf konzentriere. Doch dann merke ich, dass die Kleine absichtlich langsamer gelaufen ist. Plötzlich stürmt sie davon, ist mir ein großes Stück voraus und taucht in das grelle rötliche Licht ein. Gleich darauf dreht sie sich um und winkt mich zu sich. »Beeil dich! Ich hab Kleidung für dich!«

Die Abdeckung einer Luke gleitet nach unten. Ich kann gerade noch durch die Öffnung springen, ehe sie zuknallt. Fast hätte sie mich zerquetscht oder halbiert. Der lange Korridor schert sich nicht darum. Was allem widerspricht, was ich zu wissen, zu erinnern glaube. Die nächste Luke ist nur ein paar Schritte entfernt. Während es im Boden rumort und er unter mir erbebt, laufe ich schnell daran vorbei und spüre den kalten Luftzug im Rücken, als die Abdeckung herunterknallt. Allmählich bekomme ich den Bogen raus, und das freut die Kleine so, dass sie einen Luftsprung vollführt. »Wir sind fast da!«, ruft sie.

Welch ein Erwachen aus dem langen Schlaf! Aber jetzt habe ich das Licht fast erreicht. Die Wärme tut mir unendlich gut, und die Luft riecht angenehm. Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für mich.

Als ich einen Blick zurückwerfe, sehe ich, wie sich eine weitere Luke schließt. Bislang ist mein Leben nach der Traumzeit auf die einfachsten Dinge reduziert – simple Formen und Objekte. Ein mit Streifen versehener Gang, Luken, ovale und runde Öffnungen, Grau-und Schwarztöne, mal abgesehen vom Licht. Außerdem ist da noch die Kleine, die, genau wie ich, Arme und Beine schwingt, rennt und hin und wieder etwas ruft. Ein Blick nach vorn: Die Kleine streckt einen Arm nach oben, legt den Kopf schief, öffnet verblüfft den Mund und starrt irgendetwas an, das ich nicht sehen kann. Plötzlich weicht sie zurück und legt schützend einen Arm übers Gesicht.

Offenbar ist irgendetwas Neues, Entsetzliches aufgetaucht. Ich erkenne es in dem hellen Viereck, in dem die Kleine steht, in dem Licht, auf das ich zusteuere. Ein dickes dunkles Etwas, stark behaart, füllt das Viereck jetzt aus, blockiert den Weg, spreizt eine riesige Tatze, greift nach dem Rücken der Kleinen, umschlingt sie und hebt sie in die Luft. Sie schreit kurz auf und schleudert irgendetwas Winziges mit aller Kraft in meine Richtung. Es landet auf dem Gang, prallt vom Boden ab, gleitet weiter und bleibt schließlich liegen.

Irgendetwas bewegt sich in der Dunkelheit, und drei funkelnde Knopfaugen wenden sich mir zu, starren mich an. Dann ist der Spuk vorüber, und es wird wieder hell, aber die Kleine bleibt verschwunden.

Die Wärme, die im Gang pulsiert, ist verführerisch, aber sie mag auch ein böses Lockmittel sein. Als ich stehen bleibe, trifft mich Kondenswasser, das von der Decke tropft, und ich beginne zu zittern.

Plötzlich schiebt sich eine Wand zwischen mich und das entsetzliche Ding, das im Licht lauert. Auch gut. Ich lasse mich auf den Boden plumpsen und lehne mich gegen die Wand. Die letzte Luke liegt fünf oder sechs Schritte hinter mir, die nächste neun oder zehn Schritte vor mir. Und die Kleine ist genauso aus meinem Blickfeld verschwunden wie das Licht.

Seit meinem Erwachen war es ein einziger Horrortrip, also schließe ich die Augen und hoffe, dass dieser Trip endlich ein Ende hat. Ringsum ist alles still. Die Wände vereisen zwar nicht, aber es ist immer noch kalt hier. Wenn ich mich flach auf den Boden lege, wird er meinem Körper vermutlich den letzten Rest Wärme entziehen, und genau das ist es, was ich jetzt brauche: einen Neustart. Zurück auf LOS. Ich werde ohne Schmerzen mit dem Boden verschmelzen, und dann kann ich auf einen besseren Anfang warten, einen, der eher dem ähnelt, der mir in der Traumzeit versprochen wurde. Ich kann mich kaum noch an irgendetwas erinnern, das sich vor diesem Sack, dem Gezerre und der Kälte ereignet hat. Zurückgeblieben ist nur der Eindruck, dass ich etwas Wunderbares und zugleich Beunruhigendes erlebt habe.

Es hätte so viel besser anfangen können. Was ist schiefgegangen? Ich lehne mich zurück und starre nach oben, auf das bräunliche Sickerwasser. Nach der Anstrengung tut mir dessen Kühle gut.

Wer war die Kleine überhaupt? Ich denke in der Vergangenheitsform an sie, denn ich bin mir sicher, dass das unbekannte Wesen, das sich die Kleine geschnappt hat, sie entweder gefressen, recycelt oder sonst was Schlimmes mit ihr angestellt hat. Das liegt auf der Hand, kann gar nicht anders sein. Folglich lautet die erste Lektion: Geh nicht dorthin, wo du’s hell, warm und gemütlich hast, denn dort erwartet dich Schlimmes.

Da mir keine Flüche einfallen wollen – mein sprachliches Repertoire ist immer noch sehr beschränkt –, murmele ich einfach irgendetwas vor mich hin, das zornig klingt. Es sind Grunzlaute, könnten aber auch identifizierbare Wörter sein, würde mein Gedächtnis wieder funktionieren. In der Traumzeit wurde niemals geflucht. War das nur eine schöne Scheinwelt? Was hatten sie dabei im Sinn?

»Ich will, dass das hier aufhört«, krächze ich, »und zwar sofort!« Nach und nach rede ich mich in Wut, auch wenn nur wirres Zeug herauskommt. Ich bin etwas Besonderes, auch ich habe Bedürfnisse, habe eine wichtige Aufgabe, werde sie erledigen, sobald ich mich wieder unter Kontrolle habe, werde euch schon zeigen, was in mir steckt. Ich rede mich so in Rage, dass mir nach und nach die Luft ausgeht. Als meine Stimme immer schriller wird, versetze ich mir selbst Schläge. Heule auf, stammle Unzusammenhängendes vor mich hin. Wie seltsam, ich spüre, wie ich grinse, als ich meine Verzweiflung hinausschreie. Und mir ist auch klar, wie lächerlich ich wirken muss: ein ausgewachsener Mann, der seinen ersten Tobsuchtsanfall hat.

Denn das ist es natürlich: ein Tobsuchtsanfall. Dieser Körper hat niemals Selbstbeherrschung gelernt. Ich weiß nicht, wie man sich aufregt, ohne sich selbst dabei zu verletzen.

Da mir das fürchterliche Angst macht, höre ich mit dem Geheul und Gebrüll auf, und mein Schluchzen geht in einen Schluckauf über. Ich will solche Dinge nicht einmal denken. Schließlich bin ich ein erwachsener Mann. Und besitze Erinnerungen, da bin ich mir völlig sicher.

Nur komme ich nicht an sie heran.

Nach und nach werde ich wieder wütend, aber diesmal brülle ich nicht, versetze mir keine Schläge, unterdrücke den Zorn durch bloße Willensstärke. Ich habe zwar kein schlechtes Gewissen wegen des Tobsuchtsanfalls, will mir aber auch nicht die Blöße geben, mich wie ein Idiot aufzuführen.

Trotzdem: So hätte es nicht anfangen dürfen.

Alle hätten mich begrüßen und hochleben lassen sollen.

Himmelherrgott, schließlich bin ich neu hier!

Himmelherrgott – fantastisch! Mein erster Fluch. Ich frage mich, was dieses Wort bedeuten mag. Vielleicht heißt dieser widerliche Ort so? Allerdings klingt das Wort dazu eigentlich zu milde und zu nichtssagend, nicht annähernd schlimm genug für diese entsetzliche Situation. Doch trotz aller Widrigkeiten ist die Angst vor etwas Entsetzlichem mittlerweile simplem Kummer gewichen. Und die Hälfte dieses Kummers liegt an enttäuschten Erwartungen.

Mir fallen weitere Wörter ein, längere, bedeutsamere Wörter, die auf bestimmte Vorgänge hindeuten – eine Umgebung, eine Welt, die ihre eigenen Erwartungen hat. Sobald mir Wörter einfallen, ist es so, als öffneten sich Türen. Und jede Tür birgt eine Verheißung. Es dauert nicht lange, da brülle ich großartige neue Wörter in das bräunliche Zwielicht hinaus, denn es ist hier nicht völlig dunkel. Manchen Wörtern fehlt jegliche Bedeutung, andere verschaffen mir innere Sicherheit und Erleichterung.

In der Körpermitte macht sich jetzt ein Schmerz bemerkbar, den man Hunger nennt. Wenn dieser Schmerz zunimmt, wird sich mein Kummer in eine Tortur verwandeln. Ist wohl besser, wenn ich irgendetwas unternehme, anstatt nur Wörter ins Leere zu brüllen – so weit blicke ich schon durch. Kann es mir nicht leisten, hier nur herumzusitzen und meine Lage zu beklagen.

Doch unwillkürlich bahnen sich weitere Wörter den Weg zur Zunge, und ich schreie sie heraus. Schicksal. Monster. Tod. Pflicht.

Das schlimmste Wort ist Hunger. Ich wäre besser dran, würde ich jetzt erfroren bei den anderen in ihren Säcken liegen, hinter all diesen Luken und Schotts.

Die Kleine hat irgendetwas weggeworfen, muss noch irgendwo auf dem Gang sein. Und der Tod lässt sich Zeit. Immer habe ich auf ein schnelles Ende gehofft, aber anscheinend habe ich schon zu viel mitgemacht, um mich, am Boden liegend, einfach in Eis zu verwandeln. Also wälze ich mich herum und krieche auf allen vieren vorwärts. Schließlich hat mir das Laufen und Rennen bisher nichts Gutes eingebracht.

Auch der Gedanke ans Sterben schwindet bald wieder. Mir wird klar, dass hungrige Menschen sich nur eines wünschen, und das ist nicht der Tod.

Tod. Schicksal. Welches Wort bezeichnet diese neue Welt, in die ich jetzt eingetreten bin?

Hunger.

Und die Antwort darauf heißt Nahrung. Die Kleine hat sich in Nahrung verwandelt, weil ein anderes – riesiges und unheimliches – Geschöpf Hunger verspürte. Meine Hand schließt sich um den winzigen viereckigen Gegenstand, den sie mir zugeworfen hat. Ich kann ihn fühlen, aber nicht deutlich sehen und überlege, was das sein könnte. Das Ding besteht, glaube ich, aus Leichtmetall . Oder aus Kunststoff. Diese beiden Wörter, die mir spontan eingefallen sind, lösen sofort weitere Erinnerungen aus. Meine Welt besteht aus Gegenständen, und diese Gegenstände haben bestimmte Eigenschaften. Komisch, wie unvermittelt einzelne Puzzleteilchen nach und nach auftauchen. Das viereckige Ding flattert in meiner Hand, und jetzt merke ich, dass es einen Dreh- und Angelpunkt hat. Zu einer Seite hin lässt es sich öffnen. Es ist ein Buch. Ich kann die dünnen, aber festen Seiten ertasten. Wäre es hell genug, könnte ich sie mir vielleicht ansehen und dann lesen – falls sie nicht leer sind.

Und falls ich das Lesen noch beherrsche.

Meine Finger spüren Einkerbungen auf der glatten Oberfläche, auf dem Buchdeckel. Insgesamt sind es sieben. Ich zähle sorgfältig nach, denn ich habe ja sowieso nichts anderes zu tun. Hier werde ich wohl kaum etwas finden, das den Hunger vertreibt. Und sterben werde ich auch nicht so bald.

Ich sitze hier so fest wie Fleisch in einer Konservendose. Fleisch. Konservendose. Falls es wärmer und wärmer wird, verwandele ich mich vielleicht in Schmorfleisch .

Heutzutage isst niemand mehr Fleisch aus der Konservendose. Überhaupt isst ja niemand mehr Fleisch, in welcher Form auch immer. Mal abgesehen von dem unheimlichen Pelzwesen.

Mein Bauch rumort. Bestimmt würde ich geschmort ziemlich angenehm riechen. Ich denke über die Wörter nach, die die verschiedenen Teile meines Körpers bezeichnen, innen und außen. Offenbar weiß ich jede Menge unnützer Dinge, aber nicht, wie ich vermeiden kann, verspeist zu werden. Ich weiß, wie groß ich bin, ich weiß mich zu bewegen, weiß nutzlose simple Dinge, aber nicht, was hier vor sich geht, wo ich etwas zu essen finden kann, was das Buch enthält und warum es auf dem Deckel sieben kleine Einkerbungen hat.

Ich döse kurz ein, schrecke hoch, döse erneut ein. Vor meinem inneren Auge sehe ich – stelle ich mir vor –, wie ich mit jungen Leuten rede, jüngeren Versionen von mir. Fast alle hören mir aufmerksam zu, als wüssten sie noch nicht, was ich weiß. Als verriete ich ihnen interessante, nützliche Dinge. Ich male mir aus, wie ich den Kopf drehe und dabei merke, dass einige dieser Jugendlichen, sogar viele von ihnen weiblichen Geschlechts sind. Diese Kleine – sie war auch eine Jugendliche weiblichen Geschlechts.

Ein Mädchen. So nennt man ein Kind oder eine Jugendliche weiblichen Geschlechts.

Du bist Lehrer, Blödmann. Bei Lehrern ist es völlig normal, dass sie mit Kindern reden.

»Gibt es überhaupt noch Kinder?«, frage ich laut. Kinder ist der Plural von Kind.

Zeit zu schlafen. Vielleicht wird mich das Monster fressen. Oder aber ich schlafe vor den Augen aller Kinder ein, dann werden sie mich deswegen auslachen. Und das kleine Mädchen mit dem Lockenkopf wird in der ersten Reihe sitzen und am lautesten lachen.

Erwachen

Mein Körper braucht eine Weile, bis er sich dazu durchringt, aus dem gemütlichen Schlupfloch aufzutauchen. Der Fußboden und die Wände sind angenehm warm. So warm, dass ich auf dem harten Boden in Tiefschlaf gefallen bin. Und jetzt spüre ich die steifen Knochen. Am liebsten würde ich die Augen gar nicht aufmachen. Wenn ich schlafe, tut mir der Körper nicht so weh.

Ringsum ist es heller geworden, wie ich gleich darauf merke. Die Wand, die mich vom Rest des Korridors abgeschottet hat, ist nach oben geglitten. Als ich den unscharfen Schatten entdecke, den mein Kopf wirft, spannt sich mein Körper sofort an und schlägt Alarm. Ich rappele mich auf Hände und Knie hoch und sondiere die Umgebung. Das Licht ist so grell, dass ich die Augen zusammenkneifen muss, aber nirgendwo entdecke ich irgendetwas, das auf mich lauert. Und es ist auch kein Laut zu hören, nur mein eigenes schweres, ängstliches Atmen.

Einen Moment lang halte ich den Atem an. Stille. Aber keine absolute Stille. Es ist ein leichtes Surren zu hören, eher ein Vibrieren des Fußbodens als ein Geräusch, das durch die Luft übertragen wird.

Ich stehe auf. Mache einen Schritt nach vorn. Einen weiteren. Gehe ein paar Meter, um durch die Luke zu steigen, zögere kurz. Schließlich könnte sie sich wieder schließen und mich dabei zermalmen. Aber nichts passiert. Die Ränder der Deckplatte sind oben eingerastet, glatt und fest, hängen nicht durch.

Aber deren bräunliche Oberfläche wirkt leicht verschmiert. Von Blut. Ein paar Tropfen dunkelrotes Blut kleben daran. Trotzdem steige ich durch die Luke.

Das Blut ist alles, was von der Kleinen übrig geblieben ist. Was für ein Mensch mag sie gewesen sein? Auch Lehrer wissen nicht auf jede Frage eine Antwort, liebe Kinder. Monster lauern angeblich in der Dunkelheit, aber hier warten sie im Hellen auf ihre Opfer. Zumindest dieses eine Monster, das sich die Kleine einverleibt hat. Und trotzdem zieht es mich ins Licht. Ich lasse die Dunkelheit hinter mir und gehe auf das Licht zu, denn was soll ich sonst tun? Ich bin auf mich selbst gestellt, folglich muss ich mich an die Eingaben der eigenen Intuition halten. Jetzt fängt meine Reise erst an.

Aber irgendjemand hat die Luke geöffnet, will mir helfen.

Du bist auf einem Schiff, so weit reicht deine Erinnerung doch noch, oder?

Nein, eigentlich nicht, aber immerhin ist es eine gute Hypothese, denn sie passt zu den Eindrücken, die mir aus der Traumzeit geblieben sind. Aber was ist das für ein Schiff, verdammt nochmal? Wunderbar – ein neuer Fluch. Offenbar ist es ein großes Schiff, denn ich bin ja schon eine ganze Weile darin herumspaziert. Einige Regionen sind kalt, andere wärmer. Manche sind hell, manche dunkel. Ein Schiff, das eigentlich gern weiterschlafen würde, aber keine Ruhe findet, sich ständig verändern muss, um nicht zu erstarren.

Meine Güte! Ganz schön viel Inhalt für einen einzigen Gedanken! Das Schiff ist eine Metapher. Das klingt jetzt wirklich nach Lehrer, und das ist mir peinlich; ich komme mir wirklich dämlich dabei vor.

Jetzt weitet sich der Korridor, die Decke weicht nach oben, und die Winkel verschwinden. Hier geht der Korridor in eine breitere Röhre über. Während ich mich auf den Boden kauere, halte ich ein Auge auf das Unbekannte, das vor mir liegt, und erkenne viele winzige Lampen, die wie zufällig, aber gleichmäßig über Wände und Decke verteilt sind. Daher also stammt das Licht, vielleicht auch die Wärme.

Diese Lämpchen nennt man Glühlampen.

Beim Laufen ist mir die ganze Zeit über leicht übel und schwindelig gewesen. Hätte ich noch irgendetwas im Magen gehabt, wäre es bestimmt nicht drinnen geblieben.

Die ganze Situation ist mehr als seltsam. Als ich mich erst vor, dann zurück und schließlich zur Seite beuge, heben meine Füße wie von selbst ab. Ein Fuß senkt sich gleich darauf wieder zu Boden, stößt sich unwillkürlich ab, und ich beginne so zu trudeln, dass ich nicht mehr weiß, wo oben und wo unten ist. Schneller und schneller gleite ich die Röhre entlang, pralle wie ein Ball auf, wirbele herum, pralle erneut vom Boden ab und mache Bekanntschaft mit der gegenüberliegenden Wand. Nachdem ich mehrmals aufgeprallt bin, komme ich mit diesem Gang besser klar – vielleicht auch der Gang mit mir –, jedenfalls schwebe ich einfach hindurch, ohne mich bewusst zu bewegen. Allerdings macht mir das Schwindelgefühl schwer zu schaffen, denn man möchte sich dabei ständig zu Boden fallen lassen, und da das unmöglich ist und es nur ein Vorwärts und Rückwärts gibt, droht die Gefahr, sich einmal um sich selbst zu drehen und danach dorthin zurückzukehren, zurückzu schweben, von wo man gekommen ist.

Ich darf die kleinen Lichtquellen vor mir nicht aus den Augen lassen, denn sie bieten Orientierung. Glücklicherweise habe ich offenbar scharfe Augen und merke deshalb, wenn ich in die Gegenrichtung zu schweben beginne.

Aber an Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Schlafen darf ich erst, wenn es wieder ein Oben und Unten gibt.

Wie bizarr diese Art der Fortbewegung ist! Ich stoße mich mit den Händen ab und gleite von einer Seite zur anderen. Zwar kann ich die Arme schwenken, aber sie sind nicht zum Fliegen geschaffen. Und da ich nackt bin, kann ich nicht mal ein Hemd, einen Pullover oder sonst was ausziehen und als Segel einsetzen. Allerdings würde das vermutlich sowieso nicht klappen.

Wenigstens gibt es Reibung – das ist das erste Lehrerwort, das sich als nützlich herausstellt. Es tut weh, mit bloßen Händen und Füßen an den Tunnelwänden aufzuprallen, denn wegen der Kälte vorhin sind meine Glieder immer noch äußerst empfindlich. Aber nach und nach schaffe ich es, mich zu orientieren und die Flugrichtung bewusst zu steuern, lerne es, mich einfach durch die langgestreckte Kurve treiben zu lassen und hin und wieder an den Wänden abzustoßen.

Auch mein Magen hat sich beruhigt. Nur gut, dass er leer ist.

Das Licht vor mir ändert sich nach und nach. Erst wirkt es rötlicher, dann bläulicher. Irgendetwas muss sich da vorne befinden, eine Öffnung an der Röhrenwand. Ich brauche etwa fünfzig Sprünge und muss mich fünfzigmal abstoßen, bis ich endlich da bin. Die Öffnung führt zu einem größeren Raum, zu einer leeren Kammer, in der verschiedene große und kleinere Objekte umhertreiben. Unbekümmert strample ich vorwärts.

Plötzlich schwabbelt etwas Breites, Schwarzes, Massives aus dem Nirgendwo auf mich zu und drückt mich so gegen die äußere Wand, dass ich fast zerquetscht werde. Mühsam löse ich mich aus den großen, hin und her schwankenden Gliedern, von den Panzerplatten und dem verfilzten Pelz. Aus dem Pelz sickert ein großer Klacks dunkler Flüssigkeit und klatscht gegen mein Gesicht. Mit leisem Schmatzen legt sich die dunkle Flüssigkeit so um meinen Kopf, dass ich weder sehen noch atmen kann. Sie ist so zäh und dickflüssig wie Sirup und riecht giftig, widerlich süß, brennt auf meiner Haut, und falls sie mir in die Augen gerät …

Indem ich mit Händen und Armen heftig um mich schlage und mir den Kopf abwische, kann ich das eklige Zeug größtenteils vom Schädel lösen, aber ein dünner Film bleibt daran kleben. Als ich die Arme ausstrecke und schüttele, um mir die Finger zu säubern, fliegen dicke Tropfen zur gegenüberliegenden Wand hinüber oder bespritzen andere Objekte.

Blinzelnd versuche ich, durch den Nebel irgendetwas zu erkennen. Ich bin halbblind. Nachdem ich meine Ohren gesäubert habe, ist alles, was ich hören kann, ein Stoßen, Klopfen und Saugen. Immer noch halte ich mich mit einer Hand an einem Büschel Fell an der Flanke des toten Geschöpfes fest, das mich fast zerquetscht hätte. Die kleinen und großen Objekte in diesem Raum sind teils unregelmäßig, teils geometrisch – also sanft geschwungen oder rechteckig – geformt und wirken wie Teile eines Baugefüges oder einer Maschinerie.

Aus den leblosen Objekten in meiner Umgebung, die ich nicht genau erfassen kann, treten weitere dunkle Blasen aus, die zusammenstoßen und danach miteinander verschmelzen. Als ich einer davon ausweiche, sie ist so groß wie mein Kopf, wabert sie zuerst, leuchtet danach im Windschatten meiner Bewegung auf und entleert sich zum Teil beim Zusammenstoß mit einem langen, harten Gegenstand mit zackigen, scharfen Kanten, vermutlich Teil einer zerstörten Maschinerie. Das Ding ist wirklich riesig, mindestens dreimal so lang wie ich. Nachdem sich die Blase an ein Ende gehaftet hat, gleitet sie an dem Teil hoch. Das erinnert mich an Farbe, die einen Stecken überzieht, nur dass sie hier von unten nach oben glitscht.

Auf Grundlage meiner spärlichen Erinnerungen und der Logik versuche ich, im Kopf eine Art Diagramm oder Karte meiner Umgebung zu erstellen. Der Korridor – genauer gesagt, die Röhre – umschließt offenbar irgendetwas, das ich für das Schiffsinnere halte. Vage kann ich mir vorstellen, dass sich das Schiff dreht und mich dabei nach unten, gegen die äußere Röhrenwand drückt. Bei der Drehung scheint sich der Korridor – oder die Röhre – nach oben zu wölben. Oben wäre dann binnenbords, unten außenbords.

Mir fällt auf, dass dieser mit kaputten oder leblosen Dingen gefüllte Hohlraum vom inneren Kreis des Korridors abzweigt – also von der Region, die früher OBEN bedeutete, ehe alles ins Schwanken geriet. Und das bedeutet, dass dieser Hohlraum im Schiffsinneren liegt. Ich treibe in einem Abfallhaufen, einer Müllhalde umher. Doch so unnütz – überflüssig wie der sonstige Schrott – ich auch sein mag: Hier bin ich genau richtig. Wozu all dieser Schrott einstmals gedient haben mag, ist mir ein Rätsel. Einiges davon hat früher anscheinend mal ein Leben gehabt, denn es sind Wesen, aus denen jetzt die Lebensflüssigkeit heraussickert. Aber nichts in dieser Umgebung kommt mir irgendwie vertraut vor.

Allerdings kehrt jetzt ein seltsames Gefühl zurück: So etwas habe ich schon einmal erlebt, ich kenne es von früher. Ich weiß, was Schwerelosigkeit bedeutet, habe mich schon oft in Reaktion und Gegenreaktion unter solchen Bedingungen geübt – in der Traumzeit.

Große Massen stellen auch in der Schwerelosigkeit eine Gefahr dar, denn sie können einen zerquetschen. Doch zugleich können sie auch gute Aussichtspunkte bieten und einem »Spielvorteile« verschaffen. Von großen Massen kann man sich gut abstoßen und danach davonschweben. Oder man kann sie als Bremsen benutzen, die dem eigenen Flug Einhalt gebieten. Es rührt sie kaum, wenn ich aufpralle. Hingegen kann ich kleinere Massen dazu benutzen, mich selbst in Schwung zu versetzen, indem ich sie fortschleudere.

Sobald ich die Bewegungen in der Schwerelosigkeit besser beherrsche, werde ich diesen Hohlraum erkunden und eine Bestandsaufnahme seines Inhalts vornehmen, ist vielleicht ganz nützlich. Außerdem stoße ich dabei womöglich auf etwas Essbares. Allerdings waren diese Blasen mit der zähen Flüssigkeit nach meinem Dafürhalten ungenießbar.

»Du weißt ja nicht mal mehr, wo vorne und hinten ist«, meldet sich eine hohe, zarte Stimme, die direkt in mein Ohr zu dringen scheint. Den Atem kann ich fast im Nacken spüren. Hektisch versuche ich mich umzudrehen, aber ich stecke zwischen zwei Objekten fest. Also stoße ich mich von einem ab, in der Hoffnung, vom anderen abzuprallen, um auf diese Weise zurück zur Öffnung und zur Röhre zu gelangen. Umdrehen kann ich mich nur, indem ich die Arme einziehe und um die Achse rotiere, die von meiner linken Schulter bis zur rechten Hüfte reicht. Jetzt erst gerät die Kleine in mein Blickfeld: Sie schwebt in etwa drei Körperlängen Abstand vor mir und hat ihre Glieder anmutig miteinander verknotet, das heißt, die Beine zum Lotussitz gekreuzt – auch wieder so ein Lehrerwort. Die Arme hat sie vor der Brust verschränkt. Aus ihren großen grauen Augen sieht sie mich leicht enttäuscht an.

»Du bist ja gar nicht tot«, bemerke ich idiotischerweise.

»Nein, aber das hier ist tot.« Sie streckt einen Arm aus und deutet auf das große Geschöpf, das mich fast zerquetscht hätte.

Schließlich gelingt es mir, mich von einer weiteren ausgezackten weißen Masse abzustoßen, die mir so massiv vorkommt wie ein großer Felsbrocken. Langsam gerät das große Ding in Bewegung und drängt dabei andere Brocken und seltsame Gebilde zur Seite. Eines davon ist, wie ich erkenne, Teil eines menschlichen Körpers. Der Kopf ist zur Hälfte weggefressen, die Beine fehlen ganz, und ein Arm reicht nur noch bis zum Ellbogen. Der Schock bringt mich fast vom Kurs ab, aber ich korrigiere ihn gleich, indem ich mich von einer schwärzlichen, gummiartigen Masse abstoße – halb so groß wie mein Körper – und eine recht geschickte Drehung vollführe, bis ich langsam vor dem Mädchen hertreibe.

»Und der ist auch tot«, sagt sie und deutet auf den verstümmelten menschlichen Leichnam. Um ihren Arm hat sie einen Verband aus schmutzigem grauen Stoff gewickelt, der blutdurchtränkt ist.

»Wollte das Ungetüm euch alle beide fressen?«, frage ich.

»Nein, das Ding frisst ja auch gar nicht, es räumt nur auf, säubert die Umgebung. Es ist ein Reiniger. Tut mir übrigens leid, dass du noch immer nichts zum Anziehen hast. Diesen Leichnam hab ich schon ausgeplündert. Aber wir finden sicher bald einen anderen, der Hosen trägt.«

»Du plünderst die Toten aus?«

»Genau wie jeden anderen, der nicht aufpasst.«

»Dann ist das hier also eine Müllhalde? Ein Schrottplatz? «

Sie nickt. »Die Reinigungskräfte schaffen den Abfall hierher. Sogar die eigenen toten Kollegen.« Sie blickt auf das kleine Buch in meiner linken Hand. Ich hab’s geschafft, es die ganze Zeit festzuhalten, denn meinen einzigen Besitz wollte ich auf keinen Fall verlieren. Allerdings war ich zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um es aufzuschlagen und mir näher anzuschauen.

»Das gehört mir«, erklärt sie mit wachem, aber traurigem Blick. »Hab’s mir verdient.«

»Ach ja?« Ich halte mir das Buch nahe an die Augen und zögere, es der Kleinen zurückzugeben. Aus der Nähe fällt mir auf, dass das, was ich für sieben Einkerbungen auf dem Buchdeckel gehalten habe, in Wirklichkeit sieben Gruppen von jeweils sieben Kratzern sind.

»Ja, ich hab’s mir verdient!«

Innerlich widerstrebend strecke ich die Hand aus und reiche ihr das Buch. »Woher stammst du eigentlich? «, frage ich.

»Weiß ich nicht.« Sie drückt das Buch fest an die Brust. Mit ihrer Kleidung, einem losen knallroten Hemd und Shorts, wirkt sie in diesem Hohlraum voll grauer, brauner, schwarzer und schmuddelig-weißer Objekte wie ein greller Farbtupfer.

»Wie lange bist du denn schon hier?« Es gelingt mir, die Augen so auszuwischen, dass ich wieder die hintere Wand erkennen kann.

»Wir müssen dich irgendwo hinbringen, wo es Wasser gibt«, erwidert sie, statt meine Frage zu beantworten. »Du solltest es doch eigentlich besser wissen, als dir das Zeug auch noch in die Augen zu reiben. Nicht daran herumwischen!«

Wasser. Jetzt merke ich, wie durstig ich bin und denke wehmütig an das tropfende Kondenswasser. Ich hätte es mit der Zunge auffangen sollen.

»Gibt es hier Wasser? Irgendwo in der Nähe?«

»Könnte sein.«

»Wo? Hier?«

»Nein«, erwidert sie unwirsch. »Das hier ist nur ein gutes Versteck.«

»Wieso hast du mich aus der Kälte geholt?«

»Weil ich mich manchmal so einsam fühle.« Sie schnaubt. Aber das nehme ich ihr nicht ganz ab.

»Was ist mit dem Ungetüm passiert, das dich geschnappt hat?«

»Sie haben’s umgebracht, als er sie aufsaugen wollte.«

»Und wer sind sie?«

»Andere, die nicht so sind wie wir beide. Na ja, ein bisschen ähnlich vielleicht. Hier gibt’s viele Spielarten, aber die meisten sind schlimme Typen.«

Das beansprucht mein Denken so, dass es schon wehtut. Erneut treibe ich von der Kleinen weg und pralle wegen der Luftströmungen gegen kleine Objekte. So viele Fragen, und dieses kleine Mädchen hat die Rollen mit mir getauscht: Sie ist die kluge Lehrerin, ich ihr gehorsamer Schüler.

»Wie lange bist du schon hier?«, frage ich erneut.

Titel der amerikanischen Originalausgabe

HULL ZERO THREE

Deutsche Übersetzung von Usch Kiausch

Deutsche Erstausgabe 09/2011

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2010 by Greg Bear

Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-06112-8

www.heyne-magische-bestseller.de

www.randomhouse.de

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