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Vom Regen in die Traufe
Seine jüngste Mission führt Sergeant Michael Venn und seine Crew auf den größten Saturnmond Titan. Hier hofft Venn, mehr über die geheimnisvollen Alien-Artefakte herauszufinden, die kürzlich auf dem Mars entdeckt wurden und die möglicherweise endlich das Rätsel um den Ursprung des Lebens in unserem Sonnensystem lösen können. Doch Titan ist das Zentrum des interstellaren Krieges zwischen zwei Alien-Völkern, den Antags und den Gurus. Für Venn und sein Team beginnt ein galaktisches Abenteuer, bei dem Feinde zu Freunden und Freunde zu Feinden werden ...
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Seitenzahl: 446
Das Buch
Seine jüngste Mission führt Sergeant Michael Venn und seine Crew auf den größten Saturnmond, Titan. Im Schatten des Ringplaneten hofft er, mehr über die geheimnisvollen Alien-Artefakte herauszufinden, die kürzlich auf dem Mars gefunden wurden und die möglicherweise das Rätsel um den Ursprung des Lebens in unserem Sonnensystem lösen können. Doch Titan ist auch das Zentrum des interstellaren Krieges zwischen zwei Alien-Völkern, den Antags und den Gurus. Die Gurus haben die Menschen bisher immer in ihrem Kampf gegen feindliche Aliens unterstützt, aber sind sie der Menschheit gegenüber wirklich so wohlwollend wie bisher angenommen? Für Venn und sein Team beginnt ein galaktisches Abenteuer, bei dem Feinde zu Freunden und Freunde zu Feinden werden ...
Der Autor
Greg Bear wurde 1951 in San Diego geboren und studierte dort Englische Literatur. Seit 1975 als freier Schriftsteller tätig, gilt er heute als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientierten Autoren der Gegenwart. Etliche seiner Romane wurden zu internationalen Bestsellern.
Im Wilhelm Heyne Verlag sind zuletzt von Greg Bear erschienen: Die Stadt am Ende der Zeit, Das Schiff, Äon und Die Flammen des Mars.
Mehr über Greg Bear und seine Romane erfahren Sie auf:
GREG BEAR
IM
SCHATTEN DES
SATURN
DIE WAR-DOGS-TRILOGIE
Zweiter Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe
KILLING TITAN
Deutsche Übersetzung von Andreas Brandhorst
Zitat
Daniel Defoe: Robinson Crusoe, fabula Verlag,
Hamburg, 2015
Deutsche Erstausgabe 08/2016
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Copyright © 2015 by Greg Bear
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/
The Life Tr-e Project
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-16482-9V001
www.diezukunft.de
Für Patrick M. Garrett, Captain, U.S. Navy,
im Ruhestand – unseren Lieblings-Commodore.
Und für seine Onkel:
George C. Garrett, Maschinenmaat
an Bord des U-Boots USS Wahoo,
im Oktober 1943
in der La-Pérouse-Straße nördlich von Japan
bombardiert und versenkt.
John S. Garrett, Gefreiter
an Bord des Zerstörers USS Caldwell,
im Dezember 1944
vor der Insel Samar, Philippinen,
durch eine Bombe beschädigt.
Und ich ziehe den Hut vor Nigel Kneale.
ERSTER TEIL
Eismondtobak
Das Schwierigste am Krieg ist das Warten. Die Langeweile kann einen in den Wahnsinn treiben. Man lässt sich dazu hinreißen, mit Artilleriegeschossen Fußball zu spielen. Ich hab’s gesehen und erlebt. Viele Tote und Verletzte im Feldlager, ohne echten Kampf. Tage, Wochen und Monate, ohne dass etwas geschieht. Immer nur nichts. Und noch mehr davon. Dann regt sich der alte Affe in einem, er beginnt zu schnattern und zu tanzen, und selbst die Besten von uns werden plötzlich schießwütig …
Und schließlich … WAMM! Wir werden aufgerufen. Wir durchqueren das Vak. Wir springen. Es geht los. Der ganze verdammte Mist passiert auf einmal, es kommt alles zusammen, in einem blutigen, beschissenen Blitz. Und wenn man überlebt – und noch genug von der Seele übrig ist, dass es eine Rolle spielt –, fragt man sich für den Rest seines verkorksten Lebens, ob man es anders hätte machen sollen, oder besser. Oder gar nicht.
Alles für den Ruhm und das Corps.
Die Schlacht um den Mars ist vorbei. Wie ich hörte, haben wir gewonnen. Aber als ich den Mars verließ, vor siebzehn Monaten, haben uns die Antags ganz gehörig in den Arsch getreten.
Einige neue, unerwartete Elemente haben sich der üblichen Mischung aus Sprung, Fetzen und Flecken hinzugefügt: eine große junge Staubwitwe namens Teal; einige fanatische Siedler, die sich Voors nannten; und eine Sondereinsatzgruppe, die unter anderem den Befehl hatte, nötigenfalls auch andere Skyrines zu erledigen. Und als Kulisse für die verrücktesten und wildesten Szenen: ein Brocken von einem alten Mond, Drifter genannt, vielleicht der wichtigste Felsen auf dem Roten. Die Begegnung mit ihm war alles andere als gewöhnlich.
Als einige Glückliche von uns zurückkehrten, feierte man uns nicht. Man jagte uns und sperrte uns ein.
Madigan-Madrigal
Seit der Rückkehr zur Erde habe ich fast die ganze Zeit in einer Isolierstation des Madigan Hospital verbracht, im Norden der Skybase Lewis-McChord, eingeschlossen wie ein Käfer in einem Glas, während die Ärzte darauf warten, dass mir Flügel oder Hörner wachsen, oder was auch immer das grüne Pulver, das die Innenseiten des Drifters bedeckt, bei mir wachsen lassen will. DJ – Corporal Dan Johnson – nannte das Pulver Eismondtobak. Befindet er sich hier in Madigan? Ich weiß, dass er zurückgekehrt ist. Ebenso Joe – Lieutenant Colonel (ehrenhalber) Joseph Sanchez. Joe hat uns gesagt, wir sollten unauffällig bleiben, uns von den Ärzten fernhalten und kein Aufsehen erregen. Ich schätze, auch dabei habe ich Mist gebaut.
Mein erstes Paket habe ich nur zwei Wochen nach meinem Eintreffen in Madigan geschickt. Mein erster und bisher einziger Bericht, zusammen mit einer Münze, die ich in der Tasche eines alten Overalls fand, den ich im Drifter getragen habe. Keine Ahnung, ob das alles Joe erreicht hat.
Eine Fruchtfliege teilt das Zimmer mit mir. Auf dem grauen Tisch, der mir als Schreibtisch dient, habe ich ihr ein Apfelstück hingelegt. Die Fliege ist mein Kumpel, meine kleine Freundin. Vielleicht träumt sie davon, ein Mensch zu sein.
Ich träume von einer Existenz als Käfer.
Siebenundneunzig Tage. So lange bin ich schon hier. Die Ärzte marschieren an meinem Fenster vorbei und sagen immer wieder, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis das Bedienpersonal kommt und sich um mich kümmert; und dass ich vielleicht Gelegenheit erhalte, meine Geschichte direkt den Gurus zu erzählen, das wäre eine gute Sache. Mach dir keine Sorgen. Freu dich des Lebens. Die Nachbesprechung habe ich bereits hinter mir. Man hat mich befragt und untersucht, immer wieder. Ich bin ins Kreuzverhör genommen worden, von Leuten hinter dickem Glas. Köpfe ohne Körper haben mich angestarrt, bis sie für mich zu einem großen Kopf wurden, mit Augen wie hypnotische Spiralen.
Doch ein Kopf bleibt getrennt von den anderen und steigt höher auf: hohe, glatte Stirn, perfektes Englisch mit einem südasiatischen Akzent. Pakistaner oder Inder, Arzt oder Wissenschaftler, ich bin mir nicht sicher. Die Stimme ruhig und sanft. Präzise. Beruhigend. Zivile Kleidung. Verrät nie Namen oder Rang. Fünf- oder sechsmal hat er mit mir gesprochen, immer mit einem freundlichen Lächeln und mitfühlenden Blick.
Ihn mag ich von allen am liebsten. Er wird der Erste sein, den ich mit bloßen Händen erwürge, wenn ich Gelegenheit dazu erhalte.
Ein hübscher Tag im Glas
»Wie geht es Ihnen heute, Sergeant Venn?«
»Ich warte noch immer.«
»Soweit ich weiß, haben Sie Ihr Chinesisch aufgefrischt und sich auch mit Hindi und Farsi beschäftigt.«
»Und mit Urdu.«
»Sehr gut. Ihre sprachlichen Fähigkeiten sind beeindruckend. Besser als früher.«
»Ich habe mehr Zeit.«
»Darum beneide ich Sie.«
»Nein, tun Sie nicht.«
Davon lässt er sich nicht beeindrucken und fährt fort: »Meine Farsi-Kenntnisse sind leider nur mittelmäßig. Wenn Sie gestatten, möchte ich Sie fragen, wie Sie sich fühlen und welche Träume Sie seit der Rückkehr zur Erde hatten.«
»Die Träume sind seltsam. Ich habe es schon erklärt.«
»Ja, größtenteils – ich habe mir Notizen gemacht. Aber ich würde es gern noch einmal hören, für den Fall, dass wir etwas Wichtiges übersehen haben.«
»Kommen Sie hierher, Sir, zu mir. Dann beschreibe ich Ihnen die Details aus nächster Nähe.«
»Ich nehme Ihren Ärger zur Kenntnis, Sergeant Venn. Vielleicht komme ich Ihrer Einladung bald nach.«
»Sie halten mich noch immer für kontaminiert.«
»Derartige Feststellungen stehen noch aus. Allerdings haben Sie davon erzählt, dass Sie mit außerirdischen Organismen in Kontakt geraten sind, unter ihnen auch Antagonisten. Nach einem direkten Kampf gegen sie sollte es genügen, eine gewisse Zeit in Quarantäne zu verbringen, um Aufschluss zu erlangen. Für gewöhnlich reichen einige Wochen in Kosmolin aus.
Aber ich bin sehr an dem Pulver interessiert, das Sie im Innern des Drifters berührt, sich auf die Haut geschmiert und eingeatmet haben. Sie haben gesagt, dass es von einer kristallenen Säule stammte, die sich in einem Hohlraum erhob, den die Muskis ›Leere‹ nannten, oder ›Kirche‹. Unseren Ärzten haben Sie erzählt, dass Ihnen das Pulver lebhafte Träume beschert, Träume vom Leben in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. Seltsam und interessant. Glauben Sie, dass sich die Träume auf tatsächliche Ereignisse beziehen? Oder handelt es sich um Wahnvorstellungen?«
So sieht’s aus. Ich bin in der Hand von Experten.
Verdammt übel sieht’s aus.
Sie haben mir einen Papierblock und etwas zu schreiben gegeben. Einen Computer kriege ich nicht. Weil ich keine Möglichkeit haben soll, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen oder richtig zu recherchieren. Allerdings bringen sie mir Bücher aus der Skybase-Bibliothek – oder vielleicht einem Gebrauchtwarenladen: alte Sprachlehrbücher und zerfledderte Taschenbücher aus dem letzten Jahrhundert. Ich lese Elmore Leonard, Louis L’Amour und Jim Thompson, außerdem einige alte Romane. Ich habe um Philip K. Dick gebeten, um Kafka und T. E. Lawrence, aber von wegen.
Ich schreibe wieder, aber es ist nicht so, dass mir mein Leben oder diese Geschichte gefiele. Vielleicht bringen mir die Ärzte schließlich Antworten, mit denen ich etwas anfangen kann. Also gut. Bis dahin schreibe ich, was ich weiß, oder zu wissen glaube, unter meinen eigenen Bedingungen: ein Gebräu, das ich langsam aus meinem letzten Einsatz auf dem Mars destilliert habe – eine bittere Brühe aus berauschenden Fakten, mit schmutzigem Wasser vermischt.
Es geht los.
Reiseführer für den Roten
Eine Generation vor Beginn der Schlacht um den Mars entdeckten Siedler von der Erde, die Muskis, einen großen alten Felsen, der fast ganz im Boden steckte. Sie nannten ihn Drifter und verhielten sich wie typische marsianische Prospektoren: Sie untersuchten ihn, fanden ihn interessant und begannen zu graben.
Der Drifter erwies sich als ein Eismondstück, das vor Milliarden Jahren auf den Mars gefallen war. Die Muskis entdeckten nicht nur Tiefenwasser an der Basis dieses Felsens und große Vorkommen von reinem Metall – Nickel-Eisen, Iridium, Platin, Gold –, sondern auch noch etwas anderes, das alles veränderte: einen von Rissen durchzogenen kristallenen Turm, Hunderte von Metern hoch, aus jener fernen Vergangenheit, in der der alte Mond einen Ozean unter seiner dicken Eiskruste gehabt hatte. Ein inneres Meer voller Leben. Die Säule scheint Teil des Archivs einer uralten Zivilisation zu sein, die ihr Ende fand, als der Mond – mit Eispanzer, Ozean und seinem an Metallen reichen Kern – aus seiner Umlaufbahn gerissen wurde, der Sonne und dem Mars entgegenfiel und in den Gezeitenkräften des roten Planeten auseinanderbrach. Ich kann sie fast sehen, jene ferne Katastrophe. Die Bruchstücke des Eismonds formten eine Wolke und schlugen dann wie eine kurze Peitsche auf den Planeten. Sie bohrten sich durch Kruste und Mantel, gelangten sogar in die Nähe des geschmolzenen Kerns. Die Kollisionen erfolgten innerhalb weniger Minuten und setzten gewaltige Energien frei, trennten die nördliche und südliche Hemisphäre voneinander, verursachten gewaltige Druckwellen, erzeugten immense Vulkane … und schenkten einer bis dahin trockenen Welt Trillionen Tonnen Wasser.
Die Fragmente des alten Monds brachten dem Mars auch noch etwas anderes: Leben. Und hier ist eine interessante Vermutung, über die man wirklich träumen kann in den dunkelsten Stunden der Nacht …
Trümmerstücke der Kollisionen könnten tiefer ins Sonnensystem gefallen sein, noch eine andere Welt erreicht und ihr ebenfalls Leben gebracht haben.
Ich meine die Erde.
Noch ein hübscher Tag im Glas
»Bitte erzählen Sie mir noch einmal von dem Drifter, Sergeant.«
»Ich habe bereits alles gesagt, was ich weiß.«
»Aber ich möchte es noch einmal hören. Erzählen Sie mir, was die Siedler im Drifter fanden und was sie damit machten. Und was Sie damit machten, als Sie im Drifter waren.«
»Wir haben nicht viel damit gemacht. Wir hatten genug damit zu tun, am Leben zu bleiben.«
»Haben Sie keine Vorbereitungen getroffen, Proben mitzunehmen?«
»Verfickt noch mal, nein.«
»Bitte. Wir sind hier auf der Erde. Was ist mit den anderen Skyrines? Haben sie Material mitgebracht?«
»Nicht dass ich wüsste. Ich sage es immer und immer wieder …«
»Bitte haben Sie Geduld. Wir haben Geduld mit Ihnen.«
Alles hinter Glas.
Bündelweise Ärger
Über die von ihnen ausgewählten Dolmetscher gaben die Gurus den Völkern der Erde zu verstehen, was passieren würde, wenn unser gemeinsamer Feind, die Antags, das Sonnensystem unter seine Kontrolle brächte. Die Gurus haben uns oft darauf hingewiesen und betont, die letztendliche Konsequenz einer Übernahme durch die Antags wäre die Umwandlung aller Planeten, Monde und Asteroiden in Rohstoffe, aus denen die Ingenieure der Antags ein gewaltiges Konstrukt bauen wollen, um die Energie der Sonne einzufangen und die Sonne selbst zu verändern. Die Energie soll über Lichtjahre hinweg transportiert werden – das Wie bleibt rätselhaft – und andere Sonnensysteme erreichen, die Eroberung weiterer Planeten und Sonnen erleichtern …
Ein Kaskadensystem mit dem Ziel, die ganze Galaxis zu unterwerfen.
Mit anderen Worten: Wenn wir die Antags auf dem Mars nicht aufhalten, erscheinen sie bald auf der Erde, und dann dauert es nicht mehr lange, bis unser System zu einem seltsamen Apparat aus rotierenden Kabeln, Armillarsphären und komplexen Spiegeln wird, die das Licht der Sonne zu Absorptionsscheiben lenken, die größer sind als Jupiter und von denen es dann weitergeleitet wird, mit welchen Methoden auch immer. Vielleicht schaffen die Antags eine Öffnung im Gefüge der Raumzeit, oder sie schießen die Energie mit Lichtgeschwindigkeit zu irgendeinem Ort.
Vielleicht wollen uns die Gurus nicht mehr erklären, um zu vermeiden, dass wir es zu sehr mit der Angst zu tun kriegen. Man kämpft erst gar nicht, wenn man weiß, dass man nicht gewinnen kann, oder? Wir müssen an die Möglichkeit des Sieges glauben, mit ein wenig gelegentlicher Hilfe von den Gurus. Echter superwissenschaftlicher Kram wie Antriebe auf der Basis von abgebauter Materie, Suppressoren und Disruptoren, selbst das Kosmolin, in dem Skyrines während des Transvakfluges liegen und das vom Corps so sehr geliebt wird. Die meisten Skyrines glauben an den ganzen Kram, weil er aufregend klingt, weil er ihnen das Gefühl gibt, Teil von etwas Großem zu sein, Kämpfer in einem gerechten, notwendigen Krieg.
Doch nach einigen Tagen auf dem Roten, erst recht nach einem verfickten – beziehungsweise verfutschten – Absprung, tauchen selbst bei den begriffsstutzigsten Skyrines Fragen auf, wenn sie genug Zeit zum Nachdenken bekommen. Ich würde gern mal einem Antag begegnen, irgendwo außerhalb des Schlachtfelds, unbewaffnet und unter gleichen Bedingungen. Ich würde ihm – oder ihr, oder was auch immer – ein romulanisches Bier ausgeben und fragen: He, Kumpel, was erzählt man euch, damit ihr in eure Schiffe steigt und euch zum Mars und Titan verfrachten lasst?
Denn bis vor Kurzem, als wir in unsere Spaceframes kletterten und die lange Reise für diesen Feldzug antraten, glaubten wir zu gewinnen.
Wir waren sicher.
Jetzt …
Ich hab mit dem ganzen Scheiß nichts mehr zu tun. Bin in meinem Zimmer eingesperrt und werde verrückter, als ich es jemals gewesen bin. Noch dazu bin ich auf zwei Welten verrückt, denn mein anderes Selbst – das Selbst, das zurückkehrt, wenn ich schlafe, das immer wieder versucht, sich an den Eismond zu erinnern, an ein Leben vor Jahrmilliarden –, dieses gepanzerte, von einer Schale bedeckte Arschloch, ist ebenso gelangweilt und irre wie ich, hat dafür sogar noch mehr Gründe.
Um ein überzeugendes Detail hinzuzufügen … Der Käfer in meinen Träumen, er oder sie, kommt in zwei Teilen: ein prunkvoller, parasitärer Passagier, der auf einem großen, hässlichen Dingsbums reitet, sich hinter einer Dreiergruppe von Facettenaugen festhält. Ich weiß nicht, wer sich um die Steuerung kümmert. Vielleicht wechseln sie sich ab.
Jedenfalls, gerade als ich glaube, die erstaunlichen Erinnerungen, Gedanken und Meinungen zu verstehen, gerade als ich anderen Leuten die Wahrheit über jene andere, uralte Welt erzählen möchte …
Plötzlich hebt sich alles, kippt zur Seite und saust fort.
Wusch.
Tag 98
Ich bitte um Bücher über planetare Wissenschaften, und zu meiner Überraschung bekomme ich welche. Kein Internet. Nur Bücher. So gut Bücher auch sein mögen – manche sind großartig –, ich habe einige große Fragen in Bezug auf das, was dort draußen los ist, und darauf können alte Bücher keine Antwort geben.
Wenn das in meinem Kopf real ist, mit was für einer Realität haben wir es dann zu tun? Ist sie tot und längst vergangen, oder lebt sie mit bedrohlicher Aktualität? Kommuniziere ich mit tatsächlichen Intelligenzen, die irgendwie noch leben und selbst nach Jahrmilliarden noch aktiv sind? Keine einfachen Fragen, und es gibt keine leichten Antworten.
Meine Fragen begannen etwa zur Zeit meiner Rückkehr vom Roten zur Skybase Lewis-McChord. Ich fuhr per Anhalter, die Sekretärin eines Colonels nahm mich mit und erzählte mir von Kämpfen auf Titan, einem Mond des weit entfernten Saturn. Angeblich hat sie dort einen Sohn verloren …
Ich fühlte die Wahrheit in ihren Worten.
Seit Wochen gilt meine Neugier alten Monden. Insbesondere den großen Mondfamilien, die unsere äußeren Gasriesen umkreisen. Das Saturn-System ist das spektakulärste, aber für mich sind alle alten Monde wichtig, wenn ich das Rätsel lösen will, das mich die ganze Nacht wach hält. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich meine, ich weiß, dass ich mich auf der Erde befinde.
Aber ich weiß nicht, wer ich bin.
Wer ist wieder auf der Erde? Nur ich?
Jemand, der Entscheidungen treffen kann, scheint eine gewisse Bedeutung in meinem Interesse an Monden erkannt zu haben, denn allein wäre es den Eierköpfen hinter dem Glas sicher nicht eingefallen, meine Neugier zu befriedigen. Aber offenbar sind sie nicht bereit, mich mehr über Physik zu lehren. Dennoch, der Lektürewechsel tut gut: weg von Literatur und zurück zur Wissenschaft. Ob ich neugierig bin oder der Käfer in mir es ist, auch diese Frage kann ich nicht beantworten. Früher oder später werde ich es herausfinden.
Ich lese also über alte Monde. Die Bücher, gedruckt, gebunden und aus der Skybase-Bibliothek, sind nicht aktuell. Ich füge ihnen einige der fehlenden Details hinzu, indem ich der Käferstimme lausche. Der Käfer weiß nichts über Titan im Besonderen, aber er hat mehr Ahnung von Eismonden als die Lehrbücher. Ich nehme an, die Inquisitoren werden mich schließlich nach den Büchern fragen, was sie mir bedeuten, was ich aus ihnen gelernt und selbst hinzugefügt habe. Aber noch fragen sie nicht. Es ist mein erster Hinweis darauf, dass die Kräfte jenseits meiner Zelle in Auflösung begriffen sein könnten.
Sie stellen noch immer nicht die richtigen Fragen.
Tag 100
Ich denke, es wird so ablaufen, wenn sie irgendwann beschließen, mich rauszuholen. Einige der Ärzte werden zu dem Schluss gelangen, dass ich ungefährlich bin. Sie werden fragen, ob sie hereinkommen dürfen, und ich werde Ja sagen. Was bleibt mir anderes übrig? Hauptsache, es kommt endlich Bewegung in diese ganze Angelegenheit. Meine Suite ist sauber, aber jeder Skyrine versteht sich darauf, gewöhnliche Gegenstände in Waffen zu verwandeln, und ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Für meinen Plan beginnt die nächste Phase. Ich stelle mir vor, wie zwei der Ärzte hereinkommen, in dicken gelben Schutzanzügen. Ein Marinesoldat begleitet sie, ebenfalls in Gelb, mit ordentlich Eisen, damit ich nicht auf dumme Gedanken komme. Sie fordern mich auf, zurückzuweichen und in meinem Lieblingssessel Platz zu nehmen, und anschließend stellen sie erneut die Fragen, die sie schon so oft gestellt haben. Einer macht Bilder vom anderen, mit mir im Hintergrund. Bei ihrem ersten Vorstoß ins Glas mit dem Käfer bleiben sie nicht lange, aber bei Gott, sie bringen sich dem Krieg näher, den fernen Schlachten. Sie setzen sich unmittelbarer Gefahr aus – einer Gefahr, die von mir droht. Wahrscheinlich hoffen sie, dadurch die Karriereleiter hinaufzufallen.
Ich bin die ganze Zeit über so cool, dass sich Raureif auf meinen Brauen bildet. Ich lächele und nicke und danke ihnen für alles, das sie getan haben. Dann erledige ich mindestens einen von den Mistkerlen, bevor sie merken, dass der Verrückte komplett meschugge ist.
Tag 102
Als wären die Dinge nicht schon seltsam genug:
Letzte Nacht kam Captain Danielle Coyle zu Besuch. Sie erschien einfach in meinem Kopf. Coyle starb auf dem Mars, tief im Innern des Drifters – in der Kirche. Offenbar wusste sie das nicht. Sie versuchte, Worte an mich zu richten. Ich glaube zumindest, dass sie etwas sagen wollte. Was ich von ihr empfing … Es war wie der Blick in eine leere Sprechblase. Seitdem ist sie nicht noch einmal zu mir gekommen. Aber ich denke, sie wird zurückkehren. Captain Coyle war immer sehr entschlossen.
Tag 120
Ich bin mit den meisten Lehrbüchern durch. Jim Thompson fängt an, mir auf den Keks zu gehen. Zu viel Holzhammer-Dummheit, die in zu viele Sackgassen der Verzweiflung führt. Erinnert mich zu sehr an mein Leben vor dem Militär und auch danach, für eine Weile. Ich wechsele die Bücher und lese Robinson Crusoe, ein altes, sicheres Buch, das als Signet-Classic-Ausgabe mit gebrochenem Rücken in meiner Durchreichebox erschien.
Wie üblich esse ich beim Lesen von meinem Metalltablett und stoße auf diese Stelle:
Niemand verachte solche geheimen Hinweise und Winke auf Gefahren, wenn sie ihm auch da zuteilwerden, wo er an ihre Begründung nicht glauben mag. Wer das Leben beobachtet hat, wird das Vorhandensein solcher Fingerzeige nicht leugnen. Unzweifelhaft sind sie Kundgebungen einer unsichtbaren Welt und eines Zusammenhangs der Geisterwelt mit der unsrigen, und warum sollen wir, wenn wir ihre Absicht, uns zu warnen, erkennen, sie nicht für die Bezeigungen freundlicher Genien höherer oder geringerer Art, die zu unserm Besten zu dienen bestimmt sind, halten?
Es ist ein Leben
Noch halb im Schlaf, in die Laken gehüllt, fühle ich einen nicht sehr sanften Stoß im Innern meines Kopfes, wie von jemandem, der in meinem geistigen Dachboden kramt und alte Truhen öffnet. Ich bin zu müde und zu entmutigt, um mich zur Wehr zu setzen. Erinnerungen kommen in Wellen. Erinnerungen, die manchmal nichts erklären, wie vom Zufall ausgewählte Wrackteile, die an meinen verwinkelten Strand gespült werden. Starke Gefühle begleiten sie gelegentlich.
Sehen wir uns dich und Joe an.
Joe Sanchez und ich sind, bevor wir Skyrines wurden, einen langen gemeinsamen Weg gegangen, voller Kurven. Mir scheint, er ist immer da und immer da gewesen. Aber natürlich gibt es Lücken, und einige von ihnen sind ziemlich groß, zum Beispiel die vor unserem ersten Absprung auf den Mars. Über ein Jahr bekam ich ihn nicht zu Gesicht, während der letzten Phase der Ausbildung. Ich dachte, man hätte ihn vielleicht für ein Spezialtraining ausgewählt, aber als er erschien, war alles in Ordnung. Er meinte, er hätte was mit einer Lady in Virginia am Laufen gehabt, während er die Offiziersschule des Virginia Military Institute besuchte. Ich habe selten, wenn überhaupt jemals, Grund gehabt, an Joes Wort zu zweifeln.
Und dann natürlich der letzte Sprung auf den Mars. Er ging vor uns runter, und wir trafen uns im Drifter. Dort gab’s keine Erklärungen, abgesehen davon, dass unsere Einheiten im letzten Moment neue Einsatzorder erhielten.
Aber es kam auch zu einzelnen, klar abgegrenzten Momenten, die wie Anfänge erschienen. An einen davon denke ich, während ich mit geschlossenen Augen im Bett liege. Ich kann fast die untergehende Sonne sehen, die Wolken am westlichen Horizont.
Das Gerüst.
Damals hätten Joe und ich uns fast umgebracht.
Ich denke, jeder Skyrine, jeder Kämpfer für die Nation – ein politisch und sozial isolierter Klub –, beginnt mit dem Glauben an Reinheit und Größe von Gefahr und Abenteuer. Als Kind bin ich sehr abenteuerlustig gewesen, was mich manchmal in Lebensgefahr und in Konflikt mit dem Gesetz brachte. Ich war leichtsinnig und unbesonnen, aber auch schlau und gerissen, weshalb ich nur selten in eine Klemme geriet, aus der ich mich nicht aus eigener Kraft befreien konnte. Aber bevor ich sechzehn wurde, habe ich mich dreimal in eine Situation gebracht, die mich fast das Leben gekostet hätte.
Einmal folgte ich dem Verlauf von Bahngleisen, in Südkalifornien, nicht weit von Pendleton entfernt, wo noch immer junge Skyrines untergebracht sind und ausgebildet werden. Ich war mit Joe zusammen. Ich war praktisch immer mit Joe zusammen, wenn es nicht darum ging, Mädchen aufzureißen – das machten wir getrennt voneinander.
Damals hatte Joe Sanchez braunes Haar. Er war eine Art Huck-Finn-Typ, ein Jahr älter und so schlau wie ich, was viel bedeutete, denn ich hielt mich selbst für sehr schlau. Sein Einfallsreichtum ging sogar noch über meinen hinaus. Wir kannten uns seit zwei Jahren, fühlten uns sehr wohl miteinander und waren auf der Suche nach Abenteuern.
Junge Männer, die sich für schlau halten, schmieden keine geraden, linearen Pläne, sondern versuchen, um tausend Ecken zu denken und Dinge auszuprobieren, die ihren Scharfsinn beweisen. Die Welt auf die Probe zu stellen, darauf kommt es ihnen an. Das ist ihre Aufgabe. Unsere Aufgabe.
Unser hochintelligenter Plan sah vor, dass wir dem Verlauf der Gleise folgten und zur Seite sprangen, wenn ein Zug um die Landzunge kam, durch einen Einschnitt in den Del Mar Hills und hinten am Torrey Pines State Beach vorbei. Wir gaben acht, gingen an den Gleisen entlang und sprangen beiseite, wenn Zugmaschinen und Waggons herangerauscht kamen. Einige Male heulten beeindruckend laute Sirenen, und die Lokführer warfen uns bitterböse Blicke zu, als ihre stählernen Ungeheuer sie an uns vorbeitrugen.
Doch dann stießen wir auf eine Brücke, die über einen Priel führte, ein altes Ding, mit sechzig oder siebzig Jahren auf dem Buckel. Nur die Gleise gab es dort, keinen Weg, über den zwei wagemutige junge Männer gehen konnten.
Wie waren auf halbem Weg über die Brücke, blickten durch die Lücken zwischen den Schwellen ins türkisfarbene und graue Wasser unter uns, genossen den frischen Meereswind und hörten das Krächzen der Möwen. Joe grinste wie ein Irrer, seine Zähne schienen im Licht der untergehenden Sonne zu brennen. Er hob die Arme wie ein Seiltänzer, das braune Haar im Wind zerzaust, die braunen Arme ausgebreitet … als etwa drei Kilometer hinter uns das Signalhorn eines Zuges erklang, wie der Schrei eines zornigen Dinosauriers.
Der Lokführer hatte offenbar sehr scharfe Augen und zwei kleine Gestalten mitten auf der Brücke gesehen. Nur noch etwa dreißig Meter lagen vor diesen Gestalten, die vorsichtig balancieren und aufpassen mussten, dass sie nicht in eine der Lücken fielen. Der Lokführer bemerkte zweifellos, wie langsam wir vorankamen, dass wir uns beeilen und über die Gleise laufen mussten …
Und dann begriff er, was wir bereits wussten.
Wir konnten es nicht schaffen. Der Zug würde uns einholen, bevor wir das Ende der Brücke erreichen konnten. Das Wasser des Priels befand sich knapp zehn Meter unter uns und stand vermutlich nicht höher als einen halben Meter – es hätte den Aufprall kaum dämpfen können.
Also taten wir, was getan werden musste. Wir lachten wie Idioten. Die Angst war erstaunlich. Wir rannten, nein, wir tanzten über Gleise und Schwellen. Wir liefen, stolperten, fanden das Gleichgewicht wieder und liefen erneut. Wir rutschten aus: Joe hing mit einem Bein zwischen den Schwellen, und ich stand plötzlich nur noch mit einem Fuß auf dem Gleis, der andere befand sich hoch in der Luft. Aber irgendwie nahmen wir uns zusammen und blieben unverletzt. Wir liefen und liefen, und die ganze Zeit über krähten, riefen und schrien wir. Beweg dich, Blödmann! Schneller! Schneller, schneller, schneller!
Ich blieb größtenteils auf dem linken Gleis und setzte einen Fuß vor den anderen, wobei mir immer wieder die Hosenaufschläge im Weg waren – die eigenen Beine schienen mich umbringen zu wollen.
Und mein Freund heulte schrill: »Er ist direkt hinter uns! Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
Ich blickte nicht zurück. Ich wusste, was es zu tun galt. Dies war pures Abenteuer, erschreckend, ja, aber auch voller Leben, besser als alles, was ich bisher erlebt hatte. Wir gegen das Ungeheuer, darauf lief es nun hinaus, und der Lokführer gab volles Rohr auf sein grässliches Signalhorn, und die Luft füllte sich mit dem lautesten Geräusch, das ich jemals gehört hatte, es schien einem die Gedärme zu zerreißen.
Ich wusste, dass ich springen und mir die Beine brechen musste.
Andernfalls würde ich sterben.
Joe schrie erneut, blickte mit dem Gesicht eines Wahnsinnigen zu mir zurück und sprang von den Gleisen. Er spreizte die Beine, als er etwa einen Meter von der Brücke wegflog und dann fiel, wobei er mit den Armen ruderte. Ich verlor ihn aus den Augen, als ich sprang, aber ich fiel nicht wie er, denn ich klammerte mich mit den Fingern am linken Gleis fest, fühlte, wie mir der Stahl, heiß wie ein Bügeleisen, die Finger verbrannte, während ich mir fast die Wange durchbiss, während Füße und Beine baumelten, nur eine Sekunde bevor mir tausend Tonnen die Hand zermalmten und ich in die Tiefe stürzte …
Plötzlich erreichten meine Zehen etwas Festes. Ein Querbalken. Ich konnte ihn nicht sehen, aber er war da – ich fühlte ihn. Ich ließ das stählerne Gleis los, schlang die Arme um dickes, schwarzes Stützwerk und nahm den scharfen, teerigen Geruch von Kreosot wahr, als der Zug mit siebzig oder achtzig Sachen über die Brücke donnerte, seine Räder nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, meine Füße suchten nach Halt auf dem Querbalken, den jemand netterweise zwischen zwei Stützelementen angebracht hatte, aber leider ziemlich schräg, wodurch die Sohlen meiner Turnschuhe, heiß und schlüpfrig von den Stahlschwellen, immer wieder abrutschten. Ich fühlte, wie sich mir Splitter in die Hände bohrten, wie die ganze Brücke lebendig zu werden schien von Gewicht und Motorenlärm, wie mich heftige Vibrationen schüttelten, meine erstarrten Gedanken packten und zerrissen, wie sie im Kopf widerhallten und die Zähne in eine Rassel verwandelten, während mir Blut aus dem Mundwinkel rann.
Der Zug brauchte eine Ewigkeit über die Brücke.
Er war in weniger als einer Minute an mir vorbei.
Das irre Heulen des Signalhorns hörte auf.
Der Lokführer hielt uns wahrscheinlich für tot.
Und wenn schon.
Ich war wie gelähmt. Etwas in mir wollte kotzen, aber ich musste etwas tun. Ich klopfte auf Arm und Bein, um wieder Leben in die Muskeln zu bringen, rückte dann langsam auf dem Querbalken vor, in Richtung des nächsten Stützelements. Von dort aus ging es über einen niedrigeren Balken weiter, der mich zwang, zwischen den Stützen zu balancieren. Immer wieder geriet ich mit meinen Schuhen ins Rutschen (ich nahm mir vor, nie wieder welche von dieser Marke zu kaufen), bis mich schließlich nur noch drei Meter vom Wasser trennten. Ich schloss die Augen, ließ mich fallen …
Und fiel und fiel.
Ein harter Aufprall im Brackwasser erwartete mich, ein Schlag, der Rücken, Hüften und Beine gleichzeitig traf. Wasser drang mir in die Nase. Seegras griff nach meinen Hüften und versuchte, mich unter Wasser zu halten, aber ich befreite mich, fand den schlammigen Grund, stieß mich ab, kam nach oben und durchbrach die Wasseroberfläche. Eine Wolke aus Spritzern umgab mich, wie Silber oder Diamanten.
»Verdammt! ICH HAB’S GESEHEN!«, rief Joe mit einer Stimme wie eine Kreissäge. »Du bist DIREKT UNTER DER SCHEISSLOK GEWESENund hast wie ein GONG VIBRIERT, und dann … und dann …« Er hatte ziemlich viel Wasser geschluckt, würgte und reiherte und meinte, wie ekelhaft das Zeug sei. Wir stapften durch den Schlamm, durch die ganze Lagune, bis hin zum kiesigen Ufer beim Highway. Dort setzten wir uns, wandten das Gesicht dem letzten warmen Licht der Sonne zu und waren nach all dem Lachen plötzlich still.
»Das war einmalig«, sagte Joe heiser. »Nie wieder wird etwas so toll sein.«
Lange Minuten saßen wir nebeneinander, während die Sonne hinter dem Rand des Pazifik verschwand. Der Schlamm an unseren Hosen trocknete, machte sie steif. Die Kühle des Abends ließ uns zittern. Es war mir gleichgültig. Wir sprachen über Züge und Brücken, dann über Mädchen, Trinken, Filme, Partys, Autos, darüber, dass wir nicht mehr allein im Universum waren, solche Sachen, als ob wir erwachsen wären, alte weise Männer, bis die einzigen Lichter, die wir sahen, von Wagen stammten, die auf dem Highway nach Norden und Süden sausten, und von einigen wenigen Sternen, die trotz des elektrischen Glühens von San Diego und Del Mar am Himmel erschienen. Von der Lagune stieg Dunst auf und legte sich wie eine graue Decke um alles.
Schließlich wurde uns so kalt, dass wir aufbrechen mussten. Unsere nassen Schuhe quietschten, als wir loszogen. Zu Fuß gingen wir nach Del Mar, meilenweit, wir versuchten gar nicht, per Anhalter zu fahren. Wir gingen, wir ließen uns Zeit, wir genossen es, am Leben zu sein, nach dem, was wir hinter uns hatten. Wir hielten das Gefühl fest, etwas überlebt zu haben, das sowohl außergewöhnlich dumm als auch absolut großartig gewesen war. Immenser Stolz erfüllte uns.
Dies war Abenteuer.
Joe ging vor mir, rückwärts, damit er mich sehen konnte, und hob die Hände zum orangeroten und schwarzen Himmel.
»Wie ist es dort draußen, Vinnie?«, fragte er. »Dieser Planet hat uns nichts mehr zu bieten. Hier gibt es nur noch dumme Späße für uns, keine echten Herausforderungen.«
»Tolle Säße«, sagte ich. Beim Sprung von der Brücke hatte ich mir auf die Zunge gebissen.
»Tolle was?«
»Tolle Späße«, korrigierte ich mich.
»Was wartet dort draußen? Was wartet dort weit draußen auf uns?«
In jener Nacht schworen Joe Sanchez und ich, dass wir zum Militär gehen würden. Wir wollten mehr dumme Späße und Gefahr, mehr vom drogenartigen Rausch des Überlebens. Wir wollten so viel wie möglich davon, mehr von echtem Abenteuer. Wir wollten es immer und immer wieder. Himmel, wie sehr ich den dummen Tag und die kalte Nacht liebte.
Wir waren Narren. Aber wir waren auch junge Götter.
Das habe ich in einem alten Film gesehen.
Coyle!
Diesmal füllen sich die Sprechblasen. Ich drehe mich herum, sehe von meinem zerwühlten Bett auf und starre an die Decke. »Es ist wirklich geschehen. Ich habe es erlebt, wir beide.« Ich fühle und erkenne sie, glaube fast, ihre Stimme zu hören. »Ich weiß nicht, was du hier drin machst. Du bist tot, verfickt noch mal.«
Und du steckst verfickt noch mal in einem billigen Hotel fest. Aber nicht für lange.
Das macht mich zornig. »Verschwinde aus meinem Kopf!«
Und was ist das über dich, Joe und eine Mumie? Richtig unheimlicher Kram. Wenn du was Originelles willst, solltest du sehen, was ich sehe. Und übrigens, ich mag Corporal Johnson mehr als dich.
»Meinst du DJ? Wo ist er?«
Dann … Coyles Stimme wird leiser und verschwindet, bevor ich herausfinden kann, ob ich noch träume.
Tag 123
Die stählernen Fensterläden zischen, klicken und gleiten beiseite. Ein neuer Typ steht hinter dem dicken Glas. Er ist allein. Er blickt sich um und sieht mich im Bademantel in der Tür des Schlafzimmers stehen.
Der neue Typ ist Ende fünfzig, kahlköpfig und dürr, hat ein pfirsichglattes rosarotes Gesicht und kleine, helle Augen. Was seine Kleidung betrifft, scheint er etwas nachlässig zu sein: Er trägt einen grauen Wollmantel über einem verschlissenen grünen Pulli. Er richtet die kleinen hellen Augen auf mich und lächelt. Rosarote Lippen, kleine, perfekt geformte Zähne.
»Master Sergeant Michael Venn, Vinnie«, sagt er, obwohl hier niemand das Recht hat, meinen Spitznamen zu benutzen. An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit würde ich ihm einfach keine Beachtung schenken, aber dieser neue Bursche hat was. Irgendwie erinnert er mich an eine gut gemauerte Wand aus Ziegelsteinen oder perfekt zueinander passenden Felsstücken. Er ist selbstbewusst, in seinem Element, mit dem unheimlichen Gebaren eines Zivilisten, der Generäle im Wartezimmer sitzen lassen kann.
Also gut. Ich beschließe, zunächst mitzuspielen und zu sehen, was sich ergibt.
»Mein Name lautet Harris«, sagt der Typ. »Walker Harris. Ich bin kein Arzt, aber die Ärzte haben mir alles erzählt und darauf hingewiesen, dass sie mit Ihrer KES durch sind.«
Kommandoeinschätzung.
»Ach?«
Er lächelte beruhigend. »Nach Aussage der Ärzte gibt es bei Ihnen kein maladaptives und andauerndes Verhaltensmuster, das Ihnen selbst und anderen schadet. Mit anderen Worten: Es ist alles in Ordnung mit Ihnen.«
»Warum haben die Ärzte so lange gebraucht, um das herauszufinden?«, frage ich.
»Die Geschichten, die Sie erzählt haben, waren interessant. Fantastisch und interessant.«
»Sie gehören zum Bedienpersonal.«
»Manche nennen uns so«, gesteht Harris. Er lacht leise, und dann kneift er die Augen zusammen. »Angeblich sind Sie von einem grünen Pulver beeinflusst, dem Sie im Innern einer faszinierenden geologischen Formation auf dem Mars begegneten.«
»Nicht nur ich«, sage ich.
»Stimmt. Es gibt noch einen weiteren Soldaten, Corporal Johnson – DJ. Entschuldigung. Ein weiterer Skyrine. Wir mussten die Geschichte überprüfen, und das haben wir inzwischen. Ich werde drei Gurus Bericht erstatten. Sie arbeiten immer zu dritt, wissen Sie.«
Das wusste ich nicht.
»Sie interagieren mit uns in Trios. Um Fehler zu vermeiden, nehme ich an. Inzwischen habe ich seit zehn Jahren mit den Gurus zu tun – eigentlich sind es sogar schon elf –, und es erstaunt mich immer wieder, wie wenig wir über sie wissen. Wie wenig ich weiß.«
»Weil sie undurchschaubar sind?«, frage ich.
»Eigentlich sind sie wie ein offenes Buch – das allerdings in einer fremden Sprache gedruckt ist. Unser hiesiges Trio hat großes Interesse an Ihrer Geschichte zum Ausdruck gebracht, an dem, was Sie uns erzählt haben. Unsere Ärzte und Wissenschaftler sind mit ihren Analysen fertig, mit dem Ergebnis – von dem ich die Gurus direkt in Kenntnis setzen werde –, dass sich nichts Wesentliches an Ihnen verändert hat.« Walker Harris berührt seinen Nasenrücken, schnieft leise und fährt fort: »Sie sind nicht ansteckend. Sie sind es nie gewesen. Niemand sollte sich Sorgen machen. Das grüne Pulver scheint harmlos gewesen zu sein. Vielleicht waren es nur getrocknete Algen, Reste des Versuchs, die alte Mine mit einer atembaren Atmosphäre zu füllen. Finden Sie nicht auch?«
Ich sage kein Wort. Vielleicht lassen sie mich gehen. Vielleicht lassen sie mich in den Kampf zurückkehren. Mehr kenne ich nicht. Nur darin bin ich gut.
»Was Ihre Träume betrifft … Wir haben Ihre Gedankenmuster untersucht und einige von ihnen gedeutet. Wie ich hörte, waren die Träume manchmal sehr intensiv und exotisch. Aber sie gehen nicht auf eine geistige Störung zurück und beziehen sich auch nicht auf eine andere Realität, ganz gewiss nicht auf die des alten Monds.« Er lässt diesen Köder vor mir baumeln und wartet auf meine Reaktion. Ich bewege einen Finger, und sein Blick richtet sich wie ein Zielerfassungssystem darauf.
Die Augen, dieser Gesichtsausdruck …
Ist der Kerl eine Maschine? Alles in mir drängt danach, ihn zu fragen. Aber das geht nicht. Vielleicht hätte man es für maladaptiv gehalten.
»Ihre Zeit hier kann nicht leicht gewesen sein.«
»Ich beklage mich nicht«, sage ich.
»Bemerkenswerte Geistesgegenwart. Obwohl … Offenbar haben Sie von einem Freund Besuch erhalten.« Das Zielerfassungssystem, der Blick, richtet sich auf meine Augen. »Einem toten Freund.«
Das lässt mich innerlich zusammenfahren. Ich habe niemandem von Coyle erzählt. Mir wird warm, mein Gesicht glüht. Walker Harris beobachtet mich voller Anteilnahme. »Ich vermisse meine Kameraden«, murmele ich. »Nichts Ungewöhnliches.«
»Und nichts, dessen man sich schämen müsste«, sagt er. »Wir gedenken unserer Toten auf unterschiedliche Arten. Was die Erfahrung als solche betrifft … Ich habe nur wenig von der Metaphysik der Gurus verstanden, und dieses Wenige verwirrt mich nach wie vor. Vielleicht leugnen sie die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod, vielleicht auch nicht, aber eins steht fest: Bei unserem Militär, bei unseren Sicherheitskräften im Allgemeinen, schaffen derartige Erfahrungen nicht unbedingt Vertrauen. Dennoch ist die MGB bereit, diese Sache neu zu bewerten und grünes Licht für Sie zu geben, wenn es sich nur um ein Symptom von Stress handelt.«
»Ja«, sage ich. »Von Medwedew habe ich nie Besuch erhalten. Wir nannten ihn Wee-Def. Konnte mich nicht ausstehen.«
»Jede Menge Paradoxa und Überraschungen«, sagt Harris. Er gibt nichts preis – oder er weiß nichts. Er ist wie ein wachsamer Barrakuda, der sich über Blut im Wasser freut, über jeden Vorwand, anzugreifen und mich zu verschlingen. Vielleicht ist Walker Harris ein maladaptiver Borderliner.
»Aber wenn man bedenkt, was Sie hinter sich haben und wie lange Sie hier isoliert gewesen sind, mit nur wenig menschlicher Gesellschaft, die außerdem zum größten Teil aus Wissenschaftlern bestand …« Harris’ Lächeln hätte die Sonne geblendet. »Ich kann veranlassen, dass man mit all diesen Sachen keine Zeit mehr verliert.« Es zuckt in seiner Wange. Er lügt.
»Freut mich zu hören«, sage ich. »Was haben Sie sonst noch gesehen, als sie in meinen Kopf geschaut haben?«
Harris weiß die Gelegenheit zu schätzen, ein wenig anzugeben. »Ihr Profil zeigt einen intelligenten, einfallsreichen Kämpfer mit weniger posttraumatischen Problemen, als vielleicht zu erwarten gewesen wären. Einen Kämpfer, der schon bald in den aktiven Dienst zurückkehren und einen wichtigen Beitrag für unsere Kriegsanstrengungen leisten könnte. Die gerade in eine neue interessante Phase eintreten.«
»Titan«, sage ich.
Harris nickt mit einem kurzen Zappeln. »Wir müssen die breite Öffentlichkeit erst noch auf die bevorstehenden Aktionen hinweisen«, sagt er. »Aber Sie haben Schlüsse aus dem Bisschen gezogen, das Ihnen zu Ohren gekommen ist, und es sind die richtigen Schlüsse.«
»Wie lange sind wir schon dort? Wie lange kämpfen wir schon auf Titan?«
»Zwei Jahre.«
Wieder eine Lüge. Nach dem, was ich von der grauhaarigen Sekretärin bei der Skybase LM über ihren Sohn gehört habe, dürften es vier oder fünf Jahre sein.
»Die Gurus müssen uns neue Technik gegeben haben«, sage ich. »Sonst würden unsere Spaceframes zehn Jahre zu einem so fernen Ziel unterwegs sein, selbst mit Antrieben, die abgebaute Materie verwenden. Zum Saturn und zurück.«
Falls sie zurückkehren.
»Sehr gut«, sagt Harris.
»Wie läuft es dort draußen?«, frage ich.
Harris schürzt die Lippen und zeigt mir sein Profil, als sähe er jemanden an, der neben ihm steht – eine theatralische Pose, die mich darauf hinweist, dass unsere kleine Plauderei fast vorbei ist. »Danke für Ihre Geduld, Master Sergeant Venn.«
Ich nähere mich dem Fenster. »Man hat mir gesagt, man würde mich zu den Gurus bringen.«
»Eine Begegnung mit ihnen ist nicht erforderlich.«
»Schade«, sage ich. »All meine Träume, mein anderes Leben … Nur Einbildung und Unfug?«
»Schlicht und einfach.«
Ich zeige ihm mein bestes jungenhaftes Lächeln. »Gut zu wissen«, erwidere ich.
»Ich schätze, es erleichtert Sie.« Er verabschiedet sich mit einem ruckartigen Einknicken in den Hüften – es soll eine höfliche Verbeugung sein –, und die Fensterläden werden geschlossen.
Natürlich alles Lüge und Täuschung. Ich weiß über Dinge Bescheid, von denen ich eigentlich gar nichts wissen kann. Dinge, von denen ich in meinem anderen Leben erfahren habe. Manchmal sehe ich sie deutlich, manchmal kann ich sie wie eine Tapete auf dieses Leben kleben. Es sind Dinge, von denen ich Gebrauch machen werde, wenn ich aus Madigan rauskomme. Falls ich hier jemals rauskomme und dies nicht das Äquivalent von Zyklon B ist, das in meine Suite gepumpt wird …
Der Rest des Nachmittags vergeht, das Abendessen kommt pünktlich, ich esse und sterbe nicht. Kein Giftgas, kein schnelles und schmutziges Ende. Das Fenster bleibt geschlossen. Ein weiterer Tag vergeht. Und noch einer.
In meinem Innern summt es. Ich kenne das Gefühl. Etwas Schreckliches bahnt sich an. Ich stehe an der Gabelung zweier Zukunftsperspektiven. In einer bin ich tot, und in der anderen möchte ich am liebsten tot sein. Entweder hinüber oder am Arsch.
Für einen Skyrine ist es erstaunlich genug, eine Wahl zu haben.
Schnapp und weg
Ich habe einen leichten Schlaf, wenn ich überhaupt schlafe. Stunden später weckt mich etwas aus einem warmen Dösen. Es ist vier Uhr morgens, wie mir die Bettuhr mitteilt. Die Tür seufzt und klickt.
Nicht die Fensterläden.
Die Stahltür.
Ich greife zwischen Matratze und Bettrahmen, fühle meine Waffe – ein verdrehtes Handtuch, an einem Ende mit Schrauben und Bolzen gefüllt –, schlinge sie mir ums Handgelenk und halte das beschwerte Ende bereit, als ich durch die Schlafzimmertür husche und vor dem Lesestuhl in die Hocke gehe. Ich schwinge das Handtuch mit dem Metall darin, und plötzlich geht das Licht an. Ich blinzele und drehe mich auf einem Knie. Adrenalin lässt mich vibrieren. Eine große Brünette steht dort, in einen grünen Fliegeranzug gekleidet. Sie sieht mich an, beobachtet das Handtuch mit den Schrauben, richtet den Blick dann erneut auf mich. Auch meine Augen vibrieren; ich kann kaum Einzelheiten erkennen.
»Sie scheinen ein recht nervöser Bursche zu sein«, sagt sie.
Ich hebe meine Waffe.
»Behalten Sie das Ding, wenn es Sie glücklich macht.« Sie deutet durch die stählerne Tür. »Bereit, diesen Ort zu verlassen?«
Ich bleibe hocken und versuche zu verstehen, was hier abgeht.
Die Brünette presst kurz die Lippen zusammen. »Das Bedienpersonal hat befohlen, Sie zu töten. Ich bin Ihre einzige Hoffnung.«
Meine Schultern sacken. Ich lasse das Handtuch sinken. »Lieber Himmel!« Ich muss lachen. »›Komm mit, wenn du leben willst.‹«
»Genau«, sagt sie. Ihre Grübchen verschwinden. »Kommen Sie?«
»Verdammt, ja. Wohin?«
»Bin mir nicht sicher.«
»Und wem habe ich dies zu verdanken?«
»Mir.«
»Und Sie sind …?«
»Commander Frances Borden, U. S. Navy, Joint-Sky-Forschungszentrum, Mountain View, Kalifornien.« Sie klopfte auf ihre Uhr. »Uns bleiben etwa zehn Minuten. Ziehen Sie sich an.«
Ich nehme meine Klamotten vom Tisch, ziehe den Pyjama aus, steige in Hemd und Hose und stopfe das Handtuch mit den Schrauben in die Hosentasche.
»Keine Jacke?«, fragt die Brünette.
Ich zucke die Schultern.
»Na schön.«
Ich bin mehr als nur ein bisschen skeptisch, als ich einen Fuß vor den anderen setze und ihr durch die offene Stahltür folge. Niemand befindet sich in dem großen Raum außerhalb des Käfigs aus schwarzen Gitterstäben, der die Suite umgibt. Niemand bewacht die Schleuse, die niedrigeren Luftdruck auf dieser Seite bewahrt. Erst jetzt sehe ich den ganzen Kram, der dazu bestimmt war, mich isoliert zu halten, und es ist kaum zu glauben, dass ein Navy-Offizier dafür gesorgt haben kann, dass alle Leute einfach verschwinden. Doch nichts und niemand hält uns auf. Keine Wächter. Kein Alarm. Niemand scheint sich für mein Entkommen zu interessieren. Seltsam, sogar ein bisschen gruselig, um ehrlich zu sein. Aber es ist eine Veränderung, und nach 124 Tagen in der Isolation kommt mir jede Abwechslung sehr gelegen.
»Hier entlang, Venn!«, ruft Borden, als ich zurückbleibe, gefangen in dem Drama, wie wichtig und gefährlich ich bin. »Uns bleiben noch fünf Minuten, bevor hier alles verrammelt wird.«
»Woher wissen Sie von mir?«, frage ich.
»Ein Colonel Schneider, der Bücher aus der Skybase-Bibliothek liefert, hat einen kleinen Zylinder von Ihnen bekommen und ihn mir gegeben. Das Labor hat ihn untersucht und weitergeschickt.«
»Was befand sich in dem Zylinder?«, frage ich.
»Ein kleines Manuskript und eine Metallscheibe. Eine Münze.«
»Haben Sie das Manuskript gelesen?«
»Nein.«
»Hat man Joe erreicht?«, frage ich.
»Woher zum Teufel soll ich das wissen?«, erwidert sie.
Wir laufen an einer Rezeption vorbei und verlassen das Isolationsgebäude durch eine doppelte Glastür. Natürlich blicke ich zurück. Es sieht aus wie ein riesiger Flugzeughangar, groß genug für Hunderte von Suiten.
Borden packt mich an der Schulter und deutet auf einen elektrischen Skell-Jeep in einer roten Zone der Zufahrt. Keine anderen Fahrzeuge. Nicht einmal geparkte. Wie ein Traum.
Ich bleibe stehen, die Hände an den Seiten. Erst jetzt greife ich in die Hosentasche, hole das Handtuch hervor, meine Waffe, und lasse es fallen. Die Schrauben rasseln auf dem Beton. Nichts ergibt auch nur ansatzweise Sinn. »Wer zum Geier sind Sie, Teuerste? Und was soll das werden, ein Blind Date?«
Borden klettert halb auf den Fahrersitz. Ihr Blick wird steinern. »Ich bin jemand, der Ihnen hilft«, faucht sie. »Und ich bin Ihr vorgesetzter Offizier. Vergessen Sie das nicht.«
Ich möchte ihr mit einem Lächeln meine Kooperationsbereitschaft zeigen, doch ihr Gesichtsausdruck teilt mir mit, dass das keine gute Idee gewesen wäre. »Bitte um Entschuldigung und Nachsicht.«
Sie hebt den Blick. »Steigen Sie einfach nur ein.«
Wir fahren unter dem frühen Morgenhimmel. Es ist leicht bewölkt, hier und dort zeigen sich Sterne, die Mondsichel liegt hinter Wolkenschleiern. Die ganze Basis scheint verlassen zu sein. Borden steuert den Skell diagonal über die McChord-Landebahnen, über Gras und Kies, zwischen langen Reihen blauer Lichter hindurch. Der Himmel bleibt still und unbewegt; nichts kommt oder geht.
»Warum keine Flugzeuge, keine Schiffe?«, frage ich im Rauschen des Winds.
»Aufgehobene Quarantäne«, sagt Borden. »Hereinkommende Waffenladung. Whiteman Sampler.«
»Whiteman Sampler« war ein legendärer Zwischenfall, der sich vor zehn Jahren ereignet hatte. Ein ganzes Schiff, eine Kröte mit abgebauter Materie für die Whiteman Air Force Base in Missouri, war versehentlich nach Lewis-McChord umgeleitet worden. Und hätte fast ganz Nordwestpazifik kontaminiert.
»Im Ernst?«
»Sie haben die Wahl«, sagt Borden. »Ich weiß es nicht. Man hat mir nichts verraten.«
Ich sehe auf, hole unbewusst tief Luft … und halte den Atem an. Wir sind nicht zu einem der langen Streifen unterwegs, wo Kröten landen, sondern zu einer Ansammlung von fünf Kreisen bei einer kürzeren Rollbahn.
Borden streckt eine Hand aus und packt mein Kinn. »Atmen Sie!«
Ich öffne den Mund und atme.
»Es wird knapp«, sagt sie.
Der Skell summt dem nördlichsten Kreis entgegen, wo ich einen dunkelgrauen massigen Schemen entdecke. Es ist eine Bell-Valor, ein altes Kipprotor-Flugzeug, das heute nur noch für die Ausbildung verwendet wird. Als wir uns ihm nähern, erwachen die großen schwarzen Propeller stotternd zu brummendem Leben. Borden schaltet den Motor des Skell aus, tritt auf die Bremse und springt hinaus, noch bevor wir stehen.
»Los! Los!«, ruft sie. Ich springe ebenfalls und folge ihr, aber nicht zu dicht. Wir laufen zur herabkommenden Heckrampe der großen Maschine.
»Bringen Sie mich zu Joe?«, frage ich.
Sie wirft mir einen schnellen Blick zu. Wir steigen die Rampe hoch. Palmblätter liegen auf dem Boden, zusammen mit Dreck, in dem sich Stiefel- und Reifenspuren zeigen. Vielleicht kommt die Valor aus Kalifornien. Oder sie ist von Pendleton hergeflogen. Wir stapfen über den ganzen Kram hinweg, zwängen uns nach vorn und nehmen unsere Plätze ein. Das ganze Flugzeug vibriert, die Kabine erbebt, es fühlt sich alles andere als sicher an. Hinter uns hebt sich die Rampe mit einem Brummen. Auch sie zittert, und sie ist langsam.
Ich schnalle mich an. »Hier stinkt was!«, rufe ich, um das Donnern der Motoren zu übertönen. »Sie könnten diese Show nicht abziehen, ohne dass jemand ordentlich an den Strippen zieht. Aber ich sehe nur Verzweiflung.«
Borden blickt zur Seite. Sie sieht mich nicht gern direkt an. Hat sie Angst vor mir? »Kluger Junge«, kommentiert sie.
Vom Flugdeck und dem Kopilotensitz wendet sich uns ein von rotem Licht erhelltes Profil zu. Es sieht uns an, ruhig und kühn. Hohe Stirn. Pakistaner oder Inder. Der Typ, der mir all die Fragen gestellt hat.
Der Obermacker.
Ich springe auf ihn zu. Borden hält mich zurück. »Er ist der Grund, warum Sie hier sind!«, ruft sie. »Derzeit ist er Ihr bester Freund.«
Mein Peiniger blinzelt gelassen.
»Ich kenne nicht einmal seinen verdammten Namen!«
»Er heißt Kumar«, sagt Borden.
Ich neige den Kopf nach hinten, an die Kopfstütze. »Scheiße und verfutscht, wenn Sie gestatten, Ma’am. Geben Sie mir wenigstens ein paar Informationen! Wohin bringen Sie mich?«
Borden schüttelt den Kopf. »Weg«, sagt sie.
Die Valor hebt ab, gerade so. Meinem Magen gefällt es gar nicht, im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft zu hängen. Dann wird das Brummen der Motoren noch lauter, die Rotoren kippen nach vorn, und wir fliegen, wir schweben langsam über das Rollfeld, werden schneller und steigen höher. Es geht über Ackerland hinweg, über Straßen und Berge, über einen großen, geisterhaft vergletscherten Vulkan, als hätte Gott ein Hörnchen fallen lassen …
Die ganze schöne Welt, weit offen.
Trotz allem habe ich ein irres Grinsen auf dem Gesicht. Weg zu sein … Das ist gut. Es ist sogar verfutscht super.
Eine Stunde in der Luft. Ich schaffe ein kleines Nickerchen. Als mich Turbulenzen wecken, setze ich mich auf und blicke aus dem kleinen Fenster neben mir. Noch mehr Ackerland und felsige Anhöhen, golden im Licht der Morgensonne. Der Schlaf hat meine Stimmung verbessert, wenn auch nicht meine Perspektive. Ich sehe Borden an. Sie ist in sich zusammengesackt und schläft ebenfalls. Die Bell-Valor erbebt erneut und fliegt eine weitere Kurve, wodurch das Sonnenlicht Bordens Gesicht trifft. Sie erwacht wie ein erschrockenes Reh und reibt sich die Augen.
»Guten Morgen«, sage ich.
»Kaffee und Zeitung?«, murmelt sie.
»Ich läute nach dem Butler.«
Sie belohnt mich mit einem matten Lächeln. Sie mag einen höheren Rang bekleiden als ich, aber sie ist auch die einzige Frau, die ich seit Monaten gesehen habe, und außerdem ist sie attraktiv. Kumar, wenn er wirklich so heißt, dreht sich um. Seine dunklen Augen mustern uns, und dann sagt er: »Wenn es keine Schwierigkeiten gibt, bringen wir Sie nach Oklahoma. Dort wechseln wir das Transportmittel, und anschließend geht es weiter nach Südtexas.«
Ich beuge mich vor und frage lauter als unbedingt nötig: »Wann bekomme ich Gelegenheit, Sie grün und blau zu prügeln, Sir?«
Kumar bleibt gelassen. »Ich schätze, da muss ich Sie enttäuschen. Ich stehe weit außerhalb Ihrer Befehlskette.«
»Bedienpersonal?«
»Nicht mehr«, sagt Kumar.
Borden beugt sich zu mir. »Sie sollten ihn streicheln, nicht schlagen. Er könnte Ihnen noch den einen oder anderen Gefallen tun.«
In Kumars Mundwinkeln zuckt ein Lächeln. »Ich entschuldige mich, wenn Sie Wert darauf legen«, sagt er und wiederholt sein langsames Blinzeln. Ich denke nach. Erstaunlich, wie Gefühle, die man tief verankert glaubt, verschwinden können, wenn man sie aus ihrem Kontext nimmt. Vielleicht nutze ich die Gelegenheit, ihn grün und blau zu prügeln, wenn sie sich mir bietet, aber zunächst einmal lockere ich die Schultermuskeln und löse den Todesgriff meiner Hände um die Armlehnen des Sitzes. Mich aus Madigan herauszuholen könnte Entschuldigung genug sein. Alle an Bord dieses Flugzeugs gehen ein hohes Risiko ein.
»Eigentlich nicht nötig«, sage ich. »Was erwartet uns in Texas?«
»Blue Origin Skyport.«
»Fünfzehn Minuten«, verkündet der Pilot.
Ich lehne mich zurück und sehe Borden an. »Was ist dort draußen los? Ich bin monatelang eingesperrt gewesen.«
»Nichts, wovon Sie hören möchten«, sagt Borden.
»Lassen Sie mich das beurteilen. Erzählen Sie’s mir.«
»Alle sind glücklich«, sagt Borden. »Die Wirtschaft brummt. Kaum jemand beklagt sich.«
»Die Gurus haben uns darum gebeten, eine neue Religion anzubieten«, sagt Kumar. »Sie ist recht populär.«
Borden scheint dieses Gespräch nicht für unbedingt nötig zu halten.
»Sie ist gar nicht übel«, fügt Kumar hinzu. »Vereinigend, sozusagen.«
»Die Gurus wollen Götter sein?«, frage ich.
»Nein. Sie bestehen darauf, dass die Anhänger der neuen Religion alle anderen Religionen respektieren. Keine Vorurteile. Jeder soll die freie Wahl haben. Alle sind gleichgestellt.«
»Und?« Mein Blick wandert zwischen Kumar und Borden hin und her. »Wie kann das schlecht sein?«
»Wir sollen das Elektron verehren«, sagt Kumar. »Offenbar sind alle Elektronen gleich, sie tauschen sich nur im Universum aus, damit das Eine Universelle Elektron alles sieht und alles weiß, überall und in allen Zeiten. Voilà. Schon ist es ein Gott.«
»Gott ist ein Minus«, sagt Borden.
»Gott ist eine unbestimmte Wolke, mal eine Welle, mal ein Partikel«, fügt Kumar hinzu, der sich für das Thema zu erwärmen scheint. »Vor allem den Physikern gefällt diese Vorstellung.«