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Lustvoll zelebrierter virtueller Tod
Am Ende des 21. Jahrhunderts leben die Menschen in einer Gesellschaft, die von virtuellen Realitäten geprägt ist: Kapitalverbrechen sind selten, psychischer Stress wird früh erkannt und vorsorglich abgebaut, Nanotechnologie ermöglicht es sogar, die wildesten sexuellen Fantasien auszuleben, ohne das Haus verlassen zu müssen. Doch auch in dieser standardisierten Welt gibt es perverse Bedürfnisse, die Pornografie ist ein Milliardengeschäft, und immer findet sich ein Weg, die strengen Sicherheitsvorkehrungen auszutricksen, um sich einen neuen Kick zu verschaffen. Und mehr und mehr Menschen verlieren die Grenze zwischen der virtuellen und der realen Wirklichkeit aus den Augen ...
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Seitenzahl: 796
GREG BEAR
SLANT
Roman
ZUGANG ZUM GLOBALEN MULTIWAY-KANAL GEÖFFNET
Budget: Auswahl, eingeschränkt
SUCHFILTER
SCHLÜSSELBEGRIFFE?>
>Wissen, Sex, Datenfluss
THEMENFILTER: >Gemeinschaft
»Tell all the truth,
but tell it slant.«
- EMILY DICKINSON
>LIT-TRANSLATOR
>IN/OUT: EN/DE
>SUCHBEGRIFF: slant
SUBSTANTIV: Neigung, Schräge // Tendenz, Neigung, Ausrichtung
Heute ist der Datenfluss das Geld/Blut, der lebende Inhalt unserer menschlichen Flüsse/Arterien.
Man kann den großen Fluss mit Dampfkraft befahren oder sich langsam mit dem Floß durch die Welt treiben lassen oder mit dem Kanu in die Zuflüsse und toten Arme vordringen – fast alles ist möglich. Es gibt nur wenige Orte, die man nicht aufsuchen kann, Saudi Arabien, die Enklave Nordchina oder einige Städte in Green Idaho.
Doch an diesen Orten ist ohnehin niemand besonders interessiert, da dort nicht viel Aufregendes geschieht.
- Digiman der US-Regierung über Datenfluss-Ökonomie
56. Revision, 2052
Moscow in Green Idaho wird von Omphalos dominiert. Es leuchtet in blassem Silber und Gold wie eine wertvolle Uhr, die darauf wartet, gestohlen zu werden. Der hundertdreißig Meter hohe Tetraeder mit zwei senkrechten Flächen und einer dreieckigen Basis ist das größte Gebäude der Stadt, protziger als der Mormonentempel in der Nähe, wenn auch nicht so schmerzlich weiß und dornig. Die Hauptspitze zielt wie der Keil eines Holzfällers ins Zentrum von Moscow. Die senkrechten Flächen stürzen stumpf und fensterlos in die Tiefe und versinken zwanzig Meter im Erdboden. Die einzige schräge Fläche ist leicht gewellt – wie ein strahlend weißes Waschbrett für den bleiernen Himmel.
Omphalos ist ein breitschultriges Bauwerk, herkulische Architektur für die Ewigkeit, mit stoßfester Aufhängung und massiver Panzerung, wie sie einst nur Verteidigungseinrichtungen und Raketensilos vorbehalten war.
Jack Giffey wartet geduldig in der Schlange für die Besichtigungstour. Heute ist es kalt in Moscow. In der lockeren Reihe stehen dreißig weitere Leute, deren graue Jeanskleidung sie unmissverständlich als junge Touristen ausweist, die mit dem Motorrad in Green Idaho unterwegs sind – alle in jugendlicher Unbesorgtheit wegen des Rufs der Ruggers, der legendären Waffen schwingenden wilden Individualisten, die sich selbst nicht als gesetzlose Banditen sehen, sondern als Inseln der Menschlichkeit in einem rauschenden Strom der Korruption.
Doch der schlechte Ruf der Republik ist übertrieben. Höchstens drei Prozent der Bevölkerung können mit Recht als Rugger bezeichnet werden. Und pro Jahr verschwinden weniger als zehn junge Touristen von den alten Holzfällerpfaden in den wiederaufgeforsteten Wäldern. Irgendwann werden ihre einsam piependen Pads und ihre kleinen Strickmützen gefunden, an einen Grenzpfosten der verlassenen Naturschutzgebiete genagelt.
Nach Giffeys Meinung hat Green Idaho etwa so viel Individualität wie ein Pickel auf einer Leiche. Der Pickel mag sich vielleicht als etwas Besonderes betrachten, aber letztlich ist er nur eine andere Art von totem Fleisch.
Giffey ist unter seinen wenigen Freunden als Giff bekannt. Mit einundfünfzig wirkt er gesetzt und scheint seine aggressiven Jahre hinter sich gebracht zu haben. Er trägt einen ergrauten und zottigen Bart und hat freundliche graue Augen, die das Interesse von Kindern wecken und Frauen jenseits der wählerischen Zwanziger entmutigen. Er mag Green Idaho genauso wenig wie alle anderen amerikanischen Staaten – oder den Rest der Welt.
Altertümliche Heizstrahler auf hohen Pfosten glühen rot wie rohes Rindfleisch, während sie sich anstrengen, die Menschen in der Schlange warm zu halten. Giffey ist schon des Öfteren hier gewesen, schon dreizehnmal; er ist sicher, dass Omphalos sein Gesicht kennt und ihm zumindest oberflächliche Aufmerksamkeit schenkt. Das ist in Ordnung. Es macht ihm nichts aus.
Giffey gehört zu den sehr wenigen Menschen, die wissen, dass Omphalos im außergewöhnlichen Gegenwert von fünfzig Millionen Dollar pro Jahr Wissen von außen absorbiert. Da Omphalos in der Öffentlichkeit als exzentrisches Grabmal für die Reichen und Privilegierten bekannt ist, scheinen die hier untergebrachten Toten und Fast-Toten bemerkenswert neugierig zu sein. Doch kaum jemand stellt in dieser Hinsicht ernsthafte Fragen. Die Erbauer von Omphalos haben viel für die Freiheit von jeglicher Überwachung bezahlt – die Art von Freiheit, die sich nur in Green Idaho käuflich erwerben lässt.
Die herrschende Klasse in Green Idaho bleibt ihren standesgemäßen Prinzipien treu und hasst den Föderalismus sowie die sonstige amerikanische Gesellschaft, während sie den Dollar und ihre heiligste Gunst verehrt: die Freiheit von Verantwortung.
Giffey hat bereits die Pyramide von Forest Lawn an der kalifornischen Südküste besucht; dagegen ist Omphalos architektonisch eindeutig nobler geraten. Doch es würde ihm niemals in den Sinn kommen, die wirklich Toten in Forest Lawn auszurauben, zumal ihr verrottendes Fleisch kaum von Juwelen geziert wird.
Die eingefrorenen Fast-Toten sind etwas ganz anderes. Diese Kälteschläfer sind mit all ihrem beweglichen Besitz – wertvollem Metall, Sammlerstücken, langfristig auf Papier verbürgten Sicherheiten – in den speziellen Kühlzellen von Omphalos bestattet, sodass Giffey schätzt, jeder Einzelne könnte mehrere hundert Millionen Dollar wert sein.
Wer reich genug ist, um sich eine solche Unterbringung leisten zu können, hat die freie Auswahl zwischen verschiedenen Service-Paketen: am billigsten ist die Option, bei der nur der Kopf biovitrifiziert und kryokonserviert wird. Als Nächstes folgen Kopf und Rumpf und schließlich der gesamte Körper. Es gibt sogar noch teurere experimentelle Möglichkeiten – für die Reichsten von allen, die Spitzenverdiener unter den Plutokraten.
Die geneigte Fläche des Keils glänzt wie ein mit windgewelltem Schnee bedecktes Feld. Die Schlange gerät in Bewegung, nachdem nun Geräusche aus dem Innern zu hören sind. Dann öffnet Omphalos seine hohen Tore aus Stahl und Flexfuller und die sanfte öffentliche Stimme schallt mit der Andeutung eines Trauertonfalls über die Menge.
»Willkommen zur Hoffnung unser aller Zukunft«, sagt die Stimme, als sich die Schlange begierig in die hohe Lobby aus strengem Granit und Stahl drängt. Große glänzende Säulen erheben sich übermenschlich und entmutigend wie metallene Mammutbäume rings um die Studententouristen. Der Boden besteht aus lebendem Holostein, der unter ihren Füßen morphende Szenen künftiger Pracht zeigt: fliegende Städte hoch über Bergen im Sonnenuntergang, Villen auf Mars und Mond, idyllische Täler, deren Felder von gehorsamen Arbeiter-Robotern bestellt werden, während wunderschöne, aristokratisch anmutende Männer und Frauen aller Hautfarben und Glaubensbekenntnisse von den Balkonen ihrer strahlend weißen Herrenhäuser zusehen. »Diese vollständig automatisierte Einrichtung ist das Ruhelager für maximal zehntausendzweihundertneunzehn biologisch konservierte Gäste, die alle nach ihrer Wiederherstellung und Wiedererweckung ein langes und glückliches Leben erwarten dürfen. In Omphalos gibt es keine menschlichen Angestellten, weder Wärter noch Techniker oder Wachpersonal …«
Giffey hat noch nie mit einer Maschine zu tun gehabt, der er nicht im Schach, im Kriegsspiel oder in der Vorhersage von Börsenentwicklungen überlegen war. Giffey glaubt, er ist möglicherweise einer der intelligentesten oder zumindest funktionell erfolgreichsten Menschen auf diesem Planeten. Ihm gelingt alles, was er sich vornimmt. Andererseits – bei diesem Gedanken muss er grinsen – gibt es viele Dinge, die er sich niemals vorgenommen hat.
Er blickt zur hohen Decke der Lobby hinauf, die mit Kristallprismen besetzt ist, die überall Regenbogen projizieren. Darüber stellt er sich die gestapelten Kältezellen voller Körper und Köpfe vor. Wie er aus geheimen Quellen erfahren hat, sind einige nicht gefroren, sondern leben und denken weiter. Diese Art der Konservierung in Nano-Bädern wird euphemistisch als Wärmeschlaf bezeichnet. Die Leute sind alt und krank und das Gesetz erlaubt ihnen nicht, weitere umfangreiche medizinische Eingriffe vornehmen zu lassen. Sie haben ihre Chance zu leben gehabt; andernfalls würde man sie als gierige Chronovoren klassifizieren, als Streber nach der Unsterblichkeit, was überall illegal ist – außer in der quasi-unabhängigen Republik von Green Idaho, wo es unpraktisch ist.
Doch die unheilbar Kranken haben die Möglichkeit, fast ihren gesamten materiellen Vermögensbesitz an die Republik abzutreten und als isolierte Mündel des Syndikats in Omphalos einzutreten.
Giffey vermutet, dass die noch Lebenden die Wissensdurstigen sind. Sie bleiben während des Schlafs aktiv.
Giffey ist es gleichgültig, was sie träumen, ob sie noch halb am Leben oder bereits völlig tot sind, ob sie ständig unter vollsensorischem Yox stehen oder ob sie sich auf die Zukunft vorbereiten, indem sie zu den bestausgebildeten Fast-Leichen in der Datenfluss-Welt werden. Sie hätten sich ehrenhaft aus dem Spiel verabschieden sollen. Sie brauchen ihren materiellen Besitz nicht mehr.
Omphalos' Bewohner sind nicht mehr als eine spezielle Art von Pharaonen. Und Jack Giffey ist nur ein spezieller Typ Grabräuber, der glaubt, er könne die Fallen überwinden, die Siegel aufbrechen und die Mumien auswickeln.
»Sie befinden sich nun im Atrium des bestgesicherten Gebäudes der westlichen Welt. Die Konstruktion widersteht katastrophalen Erdbeben, vulkanischen Aktivitäten und selbst thermonuklearen Explosionen oder Mikro-Streudetonationen …«
Giffey hört nicht zu. Er hat einen recht guten Übersichtsplan des Gebäudes im Kopf und einen viel detaillierteren in seinem Pad. Er weiß, wie sich die Arbeiter zwischen den zwei Eingängen des Gebäudes bewegen. Er weiß sogar, wer die Arbeiter hergestellt hat und wie sie aussehen. Und er weiß noch mehr. Er ist für sein Vorhaben bereit und hat diese letzte Besichtigung eigentlich gar nicht nötig. Giffey ist hier, um einem bemerkenswerten Monument seinen berechtigten Respekt zu erweisen.
»Bitte hier entlang. Wir haben Modelle der Hibernarien und Ausstellungsstücke, die gewöhnlich nur künftigen Kunden unserer Einrichtung vorbehalten sind. Aber heute gestatten wir Ihnen exklusiv den Zutritt zu einer neuen und vitalen Vision der Zukunft …«
Giffey verzieht das Gesicht. Er hasst die großen Lügen des heutigen Tages – exklusiv, ausschließlich, ich liebe nur dich, vertrauen, bewundern, doch letztlich immer bezahlen. Vollmundige Verbraucherverarschung. Er ist froh, dass er zum letzten Mal dafür bezahlt hat.
Er lächelt über die Staffeln von Sensoren, die die Besucher nach verdächtigen Beulen und Verhaltensweisen abtasten. Das System leitet sie zum Ausstellungsbereich weiter. Der Schreinsaal. Liegen Sie bis in alle Ewigkeit in seidenem Luxus.
Die jungen Touristen in Jeans und warmem, hochklassigem Nandex stehen staunend vor dem Hibernarium aus eisblauer Emaille und Flexfuller. Es ist eine lange, platt gedrückte Röhre, die wie ein an beiden Enden im Trockendock einzementiertes U-Boot in der Kabine steckt. Giffey weiß, was die Touristen, die jungen Studenten denken. Sie alle fragen sich, ob sie sich jemals diese Art von Unsterblichkeit leisten können, eine Chance auf den Großen Abstrom.
Giffey ist es gleichgültig. Selbst Reichtum und Highlife spielen für ihn keine Rolle, weil er im Gegensatz zu seinen Partnern ernsthafte Zweifel hegt, ob sie jemals Hehler für Waren finden, die nahezu komplett mit unauslöschlichen Indikatoren markiert sein dürften. Außerdem hat Gold nicht mehr die Bedeutung wie in früheren Zeiten. Datenfluss ist alles.
Er ist hier, um einigen Leuten eins auszuwischen und gegen die Maschine zu spielen, deren verborgene Existenz er vermutet. Die kaum noch als Maschine zu bezeichnen ist …
»Unsere exklusive Methode der Biovitrifizierung und Kryokonservierung wurde erstmals von vier Ärzten in Sibirien eingesetzt und vor fünfzehn Jahren perfektioniert. Normalerweise kristallisieren die Körperflüssigkeiten beim Einfrieren, doch durch die Vitrifizierung, die behutsame Verglasung, können wir die Kristallbildung vollständig eliminieren …«
Giffey glaubt, dass er gegen eine illegale künstliche Intelligenz antreten wird – gegen Omphalos' hochentwickelten Petaflop-INDA oder vielleicht sogar einen Denker. Er hat sich schon immer gewünscht, sich einmal mit einem Denker zu messen.
Er vermutet, dass er verlieren wird. Aber vielleicht auch nicht.
/ ist was zwischen uns geschieht
/ ist was uns trennt.
Jeder von uns hat ein anderes Geschlecht, aber nur in zwei verschiedenen Grundausstattungen.
- The Kiss of X, Liebesleben, Lebenslügen
(Alive Contains a Lie)
Alice Grale glaubt, im Kataspace zu leben – nur Interaktion und keine Bewegung. Im kleinen schwarzen Zimmer des langen schwarzen Studios kann das Warten zu einem dumpfen leeren Zeitklumpen werden. Sie plaudert mit ihrem Partner Minstrel, während sie auf den Bühnenumbau warten. Minstrel liegt entspannt und nackt auf der alten niedrigen Couch, anmutig wie ein Leopard. Sein Körper scheint nur aus Anmut und stumpfen Winkeln zu bestehen.
»Warum gefallen dir diese Worte nicht?«, fragt Minstrel. »Sie entstammen einer uralten Tradition und sie beschreiben das, was wir tun.«
»Sie sind hässlich«, sagt sie. »Ich spreche sie, wenn ich Lust dazu habe oder wenn ich dafür bezahlt werde, aber ich habe noch nie Gefallen daran gefunden.« Alice sitzt vor ihm auf dem Metallklappstuhl, im Licht eines sanften weißen Spots, und trägt einen knappen schwarzen Bademantel, der ihre sich berührenden Knie frei lässt. In alter Freundschaft liegt ein gewisser Trost. Sie kennt Minstrel nun schon seit neun Jahren. Sie haben sich schon zwanzig Minuten lang unterhalten, und Francis ist immer noch nicht für sie bereit.
»Es gelingt dir immer wieder, mich zu überraschen, Alice. Aber ich will auf etwas Bestimmtes hinaus. Versuch das Wort zu sagen«, fordert er sie heraus. »Das Tetragrammaton.«
Sie denkt darüber nach, dann sagt sie es. Dazu hebt sie die Wangen, krümmt die Lippen und neigt abfällig den Kopf, während ihre Stimme nicht sehr laut und ohne jede Betonung ist.
»Du wirst dem Wort nicht gerecht«, beklagt sich Minstrel. »Gott weiß, ich habe oft genug gehört, wie du es gesagt hast. Sag es professionell, wenn du schon keinen persönlichen Zugang findest.«
Alice funkelt ihn verärgert an.
»Ich meine es ernst«, sagt er. »Ich will auf etwas hinaus.«
Minstrel wirkt heute recht heftig und drängend. Aber sie sagt das Wort noch einmal. Sie kneift die Augen leicht zusammen und runzelt die Nase.
Minstrel schnieft. »Du bist nicht mit dem Herzen dabei«, sagt er zweifelnd, »aber trotzdem liegt ein gewisses Knurren darin. Spürst du es?«
Alice schüttelt den Kopf. »Es ist nur ein Wort, von dem jemand anderer will, dass ich es sage, und so klingt es nun einmal, wenn jemand will, dass ich es sage.«
Minstrel kichert und tippt ihr mit einem langen breiten Finger auf ihr Knie. »Wie alle Frauen bist du nicht, was du zu sein vorgibst.«
Alice ist gleichzeitig verdutzt und verärgert. »Was soll das bedeuten?«
»Das Wort ist ein Knurren. Es ist alt und hart und stumpf – es ist ein Steinhammer. Du sagst es, wenn du den Menschen, mit dem du zusammen bist, wirklich brauchst und wenn du keine Angst hast, ihm dein Innerstes zu zeigen. Es bedeutet, dass das, was geschieht, deine wilden Instinkte berührt.«
»Blödsinn!«
»Das hast du mit hinreichender Beiläufigkeit gesagt«, stellt Minstrel fest. Er steht auf, legt einen Finger an die Wange und neigt den Kopf. In dieser gelassenen Pose erinnert er Alice an einen Heiligen von El Greco. Ihm fehlt nur noch ein loser blauer Lendenschurz.
Sie spürt die vertraute tiefe Zuneigung, das Verlangen, das sich während der mehr als fünfzig professionellen Begegnungen in einunddreißig Vids nicht verringert hat, seit ihrem allerersten, das sie mit neunzehn gedreht hat. Das ist jetzt zehn Jahre her, und damals war er noch schmalbrüstig und sich seines speziellen Talents noch nicht bewusst gewesen. Nun ist er schlank und panasiatisch braun, mit ansprechend herausgearbeiteten Muskeln. Sein Körper ist ein Tempel und gleichzeitig ein Büro. Das lange Haar fällt von der hohen Stirn nach hinten, die lange, dünne Patriziernase ist fast zu spitz und die Lippen sind stolz, als hätte man ihn vor kurzem geohrfeigt.
Alice täuscht gelangweiltes Desinteresse vor und beschleunigt dann plötzlich auf laszive Geschwindigkeit. »Also gut. Fick mich.« Sie sagt es mit ihrer besten und aufreizendsten professionellen Betonung.
»Immer noch nicht sehr überzeugend«, neckt Minstrel sie.
»Fick mich mit deinem … Penis«, sagt Alice. Beide lachen.
Minstrels Gesichtsausdruck wechselt vom Heiligen zum asketischen Cherub. »Absolut und hoffnungslos schlaff. Nur ein Arzt oder Therapeut würde ihn so nennen, damit man sich minderwertig fühlt. Die meisten Männer ziehen Schwanz vor.«
»Nur Hunde wedeln mit dem Schwanz«, sagt Alice. Jedes Gespräch mit Minstrel, selbst mitten in der längsten Pause, ist ansteckend. »Penis klingt wie ein Planet oder ein Land.«
»Vagina, Labia, Klitoris«, souffliert er.
»Wie Figuren aus einem Renaissance-Vid«, sagt Alice. Sie grübelt. »Sie alle leben am Königshof des Landes Penis. Vagina berührt niemals einen anderen Menschen, ohne Handschuhe zu tragen. Sie ist unnahbar und kleidet sich in schwarze Spitze.«
Minstrels Gesicht erhellt sich. »Labia ist eine gefährliche Frau, die Schwester von Vagina und Klitoris«, sagt er. »Eine Vampirin und Giftmischerin.«
»Klitoris ist die jüngste, noch jungfräuliche Schwester«, sagt Alice. Sie liebt solche Spiele. »Sie alle sind die Töchter von …« Ihre Zunge dringt katzengleich ein winziges Stück durch die Lippen, wenn sie nachdenkt. »Lukrezia Menarchia.«
»Bravo!«, ruft Minstrel und applaudiert.
Alice verbeugt sich und fährt fort. »Klitoris ist die einzige, die noch Anstand besitzt. Sie errötet vor Scham über das, was ihre Familie treibt.«
Minstrel errötet vor unterdrückter Heiterkeit. Sie sollten hier nicht zu laut werden, um Francis nicht zu verärgern, der während der Vorbereitung eines Plugs meistens sehr gereizt ist. »Okay, jetzt Fotze«, schlägt er vor.
Alice denkt eine Weile stirnrunzelnd nach. »Ziemlich knifflig.«
»Aber nicht deine, mein Schatz.«
Alice wirft ihm einen verächtlichen Blick zu und tippt sich nachdenklich mit dem Finger an die Nase. »Fotze ist eine Barbarenprinzessin aus den angrenzenden Ländern. Sie wächst in der Obhut eines unterworfenen Volkes in der Provinz Pubertanien auf.«
Minstrel blinzelt. »Nein, Pubertanien passt nicht ganz.« Er grübelt, bis ihm etwas Besseres einfällt. »In Vulvanien.«
Alice grinst. »Also in Vulvanien. Sie nennt sich Fotsia, wenn sie in zivilisierten Regionen des Reiches unterwegs ist.«
Minstrel schnippt mit den schlanken Fingern. »Das ist nicht schlecht. Vielleicht lässt Francis uns ein Drehbuch schreiben. Hör zu: Fotze ist durch einen Geiselaustausch zwischen Lukrezia Menarchia und Fotzes Vater, König Hetero, ins Reich gekommen. Lukrezia schickt ihre Tochter – ihre hoffnungslos moralische Tochter Klitoris, um das Leben unter Barbaren kennenzulernen und etwas lockerer zu werden. Schließlich löst Klitoris ihr Haar und findet die Erfüllung in den Armen von Fotzes heldenhaftem Bruder Eichel. Fotze jedoch muss in Menarchia ihre Ehre bewahren und darf sich keiner Versuchung hingeben, denn Lukrezia herrscht über ein korruptes Land.«
Alice holt tief Luft, tut so, als wäre sie erstaunt über diesen Ausbruch genialer Kreativität, dann lacht sie laut auf. Zum Teufel mit Francis, der sie nicht so lange warten lassen sollte! Sie lacht selten auf diese Weise, denn in ihren Ohren klingt es eher wie das Wiehern eines Pferdes, aber in Minstrels Gegenwart kann sie sich problemlos gehenlassen. »Und wer oder was ist nun unser großartiger Fick?«, fragt sie.
Minstrel legt die Hände wie zum Gebet aneinander und spricht in tiefem Ernst. »Das Wort darf nicht leichthin oder in lästerlicher Absicht ausgesprochen werden. Das Tetragrammaton … Fick … ist der mächtigste von allen Göttern, der zweigesichtige Schöpfer der Welt. Er möchte, dass wir nur sein wohltätiges Gesicht sehen, die Kinder zeugende, Welt erneuernde Seite. Aber wir alle kennen auch die Gegenseite: den Betrüger, den Teufel, der uns reitet und peitscht, bis wir bluten.«
Angesichts dieser Tiefgründigkeit erhebt sich Alice auf langen Beinen, gähnt und streckt sich. »Wie immer bist du auf nutzlose Weise aufschlussreich«, sagt sie zu ihm. Minstrel schenkt ihr ein verschmitztes Lausbubenlächeln und streckt seine Arme höher hinauf, als ihre reichen. Sie unterdrückt ein leichtes Erschaudern. Ihre Chemie funktioniert und Zurückhaltung täte ihrer schauspielerischen Leistung nicht gut.
Alice dreht sich zum niedrigen waagerechten Schlitzfenster um, von dem aus sich die schwarze Bühne überblicken lässt. Dort unten funkelt etwas, aber sie befinden sich im toten Winkel, sodass sie nichts von der Projektion sehen können. Francis nimmt es langweilig genau mit seinen Plugs und Mentalhintergrunddetails, doch mittlerweile hätte er längst sämtliche Aspekte der chinesischen Sexualpsychologie einbeziehen können. »Francis müsste bald fertig sein. Bestimmt will er uns bald einpluggen.« Zurück in der Wirklichkeit. Ihre Stirn legt sich in Falten.
»Bist du bereit, mein Schatz?«, fragt Minstrel.
Alice wirft ihm einen Schlafzimmerblick zu. »Bereiter geht's nicht«, sagt sie. »Und du?«
Minstrel spannt die Kiefermuskeln an. Hinter seiner Unbeschwertheit verbirgt er etwas vor ihr. Er kann beinahe jeden täuschen, nur nicht Alice; sie kennt ihn besser als die meisten Frauen ihre Ehemänner. Ihr scheint, dass sie viel miteinander erlebt und viele Schwierigkeiten gemeinsam überlebt haben, aber dass all das seinen Preis hat. Minstrel kann ihr nur schwer ein Tief verheimlichen.
Schade, denkt sie, dass sein Körper in den Vids, die sie heutzutage machen, nur selten zu sehen ist. Die Vorlieben des heiligen Publikums für psynthetische Exotik.
»Du wirkst ziemlich neg«, sagt sie.
Minstrel wendet sich von ihr ab, als hätte sie ihm einen unfairen Stich versetzt. »Lass mir meine Stimmung«, sagt er.
Alice nähert sich, wiegt die Schultern und schnalzt mit der Zunge. »In fünf Minuten brauche ich alles von dir, und du kannst nicht erwarten, dass ich mich noch mehr anstrenge, um es zu bekommen«, sagt sie. »Was zieht dich runter?«
»Nicht meine Libido«, gibt er zurück.
»Du hast mich während der vergangenen Stunde aufgeheitert, sodass ich mir selbst nicht beim Däumchendrehen zusehen musste.« Sie legt ihre Arme um ihn. Er weist sie zurück, zunächst mit echter und zorniger Kraft, dann mit Sanftheit und Beherrschung.
»Geht es um Todd?«, fragt sie.
»Todd war vor einem Jahr«, entgegnet Minstrel.
Alice nickt mitfühlend, die Lippen geschürzt. »Ich hätte es wissen sollen. Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Ich verstecke mich, du versteckst dich«, sagt Minstrel und bemüht sich, tapfere Unbeschwertheit auf sein Gesicht zu zwingen, das derzeit nur Trauer und Verlorenheit zeigt.
»Armer Minstrel«, sagt sie. »Sie haben dich nicht verdient.«
»Nein, verfatzt noch mal.«
»Wie ist sein Name?«
»Der kleine Fatz heißt Giorgio, und du, meine liebe Alice, wirst ihm niemals begegnen. Er hat es nicht verdient, dir zu begegnen.«
Die Wunde liegt selten besonders tief unter Minstrels Panzerung, wenn sie einmal mit dem Bohren begonnen hat. Er kommt immer wieder zu ihr, wie ein Hund mit einem Furunkel, und er weiß, dass sie ihm mit ihrem Spieß weh tun wird, aber er weiß auch, dass es ihm gut tun wird.
Ausgerechnet in diesem Moment geruht Francis, in sein grässliches Horn zu stoßen.
Minstrel schluckt seine Sorgen hinunter und setzt das erschöpfte Lächeln eines Lebemanns auf. »Mit dir ist es niemals eine Pflicht«, sagt er, »aber was immer es ist, sie ruft.«
Alice hakt ihren Arm unter seinen, dann schreiten sie die breiten geländerlosen Stufen zur Bühne hinunter, wie ein Königspaar oder Astaire und Rogers zu ihrem großen Auftritt.
Francis erwartet sie im Plug-Raum neben der Hauptbühne. Hier sowie auf der Bühne herrscht ein mattes, grobkörniges Schwarz; keine Spiegelung ist erlaubt, wenn die Kamera ihre eigenen Träume aus funkelndem Märchenlicht mit den Photonen der Wirklichkeit mischt. Francis hat seiner Kamera den Namen Leni gegeben. Leni ist längst viel mehr als nur ein optisches Instrument geworden. Sie verteilt sich über die Bühne, speist am einen Ende Bilder und Projektionen ein und kombiniert sie am anderen mit Mentalhintergrundschichten – eine sich windende Silberschlange mit bronzenen Köpfen.
Francis ist gereizt. Sein magerer und ungepflegter Regieassistent – Ahmed, wie Alice sich vage erinnert; Francis verschleißt in jeder Produktion vier oder fünf Regieassistenten – eilt herbei, um die Flaschen mit Nano, die kleinen glänzenden Plastikschläuche und den Kitt zu arrangieren, damit sie an Alices Hinterkopf und Minstrels Schläfen befestigt werden können.
»Alice, sagenhafte Alice, was würdest du tun?«, fragt Francis, als sie das untere Ende der Treppe erreicht haben. »Ich hänge zwei Wochen hinter dem Drehplan, ich liege zwei Mill über dem Budget und der allgemeine Fibe- und Sat-Starttermin ist in vier Tagen – und ich schichte immer noch!« Francis schüttelt den Kopf. Er wirkt stets etwas traurig und gereizt. Alice akzeptiert diese Launen genauso wie Francis' Tobsuchtsanfälle nur, weil seine Arbeit einzigartig und gut ist, wie sie findet. Auch wenn Francis nicht besonders kommerziell ist, kann es der Karriere niemals schaden, an einem Francis-Vid mitzuarbeiten, selbst wenn es nur im Mentalhintergrund ist.
»Du hast uns warten lassen. Plug uns ein und hol dir deine Schichten«, sagt Alice völlig sachlich.
»Dito«, bemerkt Minstrel.
Francis hebt drohend den Finger. »Fickkünstler sollten nicht herumnörgeln!«
Alice windet sich dramatisch und drängt seinen Finger mit ihrem zurück.
Winzige schwarze und silbrige Maschinen mit tastempfindlichen Rädern und Insektenglupschaugen krabbeln über die Plug-Bühne. Es sind allesamt Miniaturversionen von Leni. Alice hat das Gefühl, dass die hellen kleinen Augen ihre offline gesprochenen Worte aufsaugen. Sie hasst die Dinger. Francis lässt die Arbeiter völlig frei herumschweifen, um nach Belieben alles aufzuzeichnen. Im Publikum gibt es viele Zuschauer, die sich gerne in den Tatsachen der Produktion verlieren. Francis dreht genauso viele Live-Dokumentation hinter den Kulissen wie eigentliche Vids. »Fickkünstler«, säuselt Alice dem nächsten Insekt zu.
»Francis, das Nano ist schon etwas alt«, sagt Ahmed. »Es wird nicht mobil.«
»Kein Wunder«, erwidert Francis. »Wir proben so lange, bis es bereit ist.«
»Du willst uns doch nicht etwa abgestandenes Nano zumuten, Francis!«, entrüstet sich Minstrel.
»Keine Sorge. Hast du den Text gelesen, Alice?«
»Nur den Entwurf, den du geschickt hast. Es ist ein langes Buch, Francis.« In der Tat, altertümlich, lang und langweilig.
Francis arbeitet an einer vielschichtigen Vid-Version der Feenkönigin. Er lächelt stolz. »Eine wahre Herausforderung, Spensers wunderbare Verse in Yox zu gießen!« Bei diesem Thema lebt er sichtlich auf. »Der Rotkreuzritter ist großen Versuchungen ausgesetzt, Alice. Er ist mit einer Königin aus dem Osten namens Una auf Reisen. Ein Drache hat ihr Land verwüstet und sie hofft, dass der Rotkreuzritter …«
»Fertig, Francis.« Ahmed zeigt ihm die Flaschen mit dem lichtdurchlässigen Nano, das nun vollständig mit Nährmitteln gesättigt ist. Die Flüssigkeit ist trübe und wird endlich mobil; sie erscheint geradezu rastlos. Alice betrachtet sie mit einer gewissen Skepsis. Sie hat sich bei verschiedenen Engagements über hundertmal einpluggen lassen, aber niemals hat sie richtiges Vertrauen in den Prozess entwickelt. Dennoch ist sie noch nie ernsthaft verletzt worden, selbst wenn das Nano wie hier durch einen Nichtmediziner verabreicht wurde.
»Der Ritter wird ihr Land vom Drachen befreien. Zuvor hat der Rotkreuz-Ritter das schreckliche Untier Lüge samt seiner Nachkommenschaft bezwungen. Eine wahrlich grausige Szene, die ich brillant geschichtet habe. Jetzt befinden sie sich an einem Ort großer Versuchungen – Una und der Ritter. Ihr habt die Stichworte gelesen.«
»Wir sind mit gespenstischen Leidenschaften geladen«, sagt Minstrel.
»Alice, mein Stolz, du verströmst die unheimlichste Libido, die ich je aufgezeichnet habe, wenn du auf den Punkt kommst.«
»Ich hoffe, das soll ein Kompliment sein«, sagt Alice.
»Das ist es. Una und der Rotkreuz-Ritter haben sich in die Werkstatt des bösen Archimagus verirrt, der in Gestalt eines gottesfürchtigen und freundlichen Eremiten auftritt. Es ist ein Ort schrecklicher Versuchungen. Du bist ein verwunschener Geist, ein von Archimagus erschaffener Sukkubus, der quälen und täuschen soll. Du verspürst ein tiefes Verlangen nach diesem jungen, hübschen und tugendhaften Ritter, aber wenn du ihn nimmst, wirst du ihn zerstören – und du weißt, dass er nie wieder auf deine Täuschungen hereinfallen wird. Doch indem du in der Gestalt der keuschen Una erscheinst und dich mit deinen Geistergesellen in anzüglichen Träumereien ergehst, wirst du ihn zum Irrglauben veranlassen, diese Dame aus dem Osten sei den Versuchungen erlegen und würde sich in Wollust suhlen. Du musst die Leidenschaften der falschen Una spüren, als wäre sie ein wirklicher, beseelter Körper und keine dämonische Illusion. Zweifellos werden sich viele neugierige Augen und Finger in diese Schicht einpluggen wollen.«
»Es scheint, dass du diesmal auf künstlerische Breitenwirkung setzt«, sagt Minstrel und stochert mit dem Finger zwischen den Zähnen. Anschließend betrachtet er interessiert seinen Finger.
»Ja, ich würde gerne ein paar Rechnungen bezahlen«, blafft Francis zurück. »Du gehst direkt in Leni, während wir die Kulisse auf der Bühne abspielen. Du wirst über sieben emotionale Aufzeichnungen von anderen Fluffers geschichtet, also brauche ich eine saubere und klare Vorstellung.«
Fluffers. Alice hasst dieses Wort noch mehr als Fickkünstler, obwohl es allgemein gebräuchlich ist. Früher wurden so die Frauen bezeichnet, die die Schauspieler in alten Sexfilmen stramm und gleitfähig hielten. Der Vergleich ist jedoch bestenfalls unpassend; denn was Alice und Minstrel abliefern werden, ist eine Schicht aus emotionalen Roherfahrungen, die direkt aus ihrem Geist in die Kamera überspielt werden. Leni ist beinahe mit einem Gehirn zu vergleichen, das über zahlreiche Augen verfügt. Francis führt Leni, er redet ihr gut zu, sodass ihr Verhältnis weniger das zwischen Künstler und Werkzeug, sondern eher zwischen künstlerischen Partnern ist.
Ahmed kommt mit dem Kitt und trägt ihn in Form kleiner Dämme zuerst an Alices, dann an Minstrels Kopf auf. Sie halten still, während er eine Dosis warmes Nano in den Kitt injiziert. Alice ist an diese Methode zur Erzeugung eines Breitband-Plugs gewöhnt; sie ist im billigeren Yox allgemein verbreitet.
Einige Minuten vergehen. Eine mikroskopische Verbindung aus leitfähigem Material hat sich durch Zwischenräume in der Haut, den Knochen und dem Gehirn geschoben, bis zu Amygdala, Hippokampus und Hypothalamus, in den Sitz ihrer Urteilsmaschinerie, den Großen Zentralbahnhof ihres Ichs. Aber sie spürt nichts davon.
Ahmed befestigt Sender an den kleinen silbrigen Nano-Nippeln, die nicht länger als ein Daumennagel sind. Mehrere Minuten lang überprüft er die Daten, die in der Kamera eintreffen. Lämpchen blinken zufriedenstellend. »Die Verbindung steht«, teilt er Francis mit.
Alice legt den Bademantel ab. Minstrel ist bereits nackt. Francis lässt die Hände wie ein Schmetterling flattern, dann verschränkt er sie.
»Auftritt der Geister und des Archimagus. Aufnahme«, sagt er. »Klick eins.«
Ahmed etikettiert die Hintergrundschicht. Die Kamera summt.
Francis zitiert aus dem Gedächtnis:
»Hernieder zu des Schläfers Stirn und Brust
Neigt sich der Traum und haucht mit leisem Wehn
Ihm sanft ins Herz die Schauer süßer Lust,
Dann lässt er ihn besonnte Fluren sehn,
In denen Silberbäche murmelnd gehn,
Und endlich zeigt er ihm die Huldgestalt,
Die kosend naht mit schmeichlerischem Flehn,
Und seufzend klagt, sein Herz sei hart und kalt,
Indes in Liebesglut ihr Busen überwallt.«
Francis strahlt. »Eine erstaunliche Parallele zu deiner eigenen Karriere, liebste Alice! Wie viele Männer hast du heimgesucht?«
Alice geht nicht darauf ein.
Auf der Bühne hinter ihnen führt der böse Zauberer Archimagus als durchscheinende und grobe 3-D-Skizze den Rotkreuzritter durch Träume von dunklen Gemächern, in denen sich Körper in Seidengewändern winden. Der ungläubige Ritter zieht Wandbehänge zur Seite, bis er die entblößte Haut der falschen Una in intimer Pose mit einem ebenso falschen Geist in Gestalt eines Junkers erblickt. Das meiste beachtet Alice gar nicht. Was sie und Minstrel tun sollen, hat nur wenig mit der allgemeinen Handlung zu tun.
Alice blickt Minstrel in die Augen. Wie immer ist sie vom Winkel der dunkelbraunen Augen Minstrels, der Strenge seiner Nase und der Zuversicht seines professionellen Lächelns beeindruckt. Ihre Chemie ist echt und zuverlässig.
»Du wirst immer die schönste Frau auf Erden sein«, murmelt Minstrel ihr zu, und sie weiß, dass er es ehrlich meint. Er zieht zwar Männer vor, aber Alice übt auf ihn denselben Reiz wie er auf sie aus – zuverlässig und vorhersagbar. Wenn sie zusammenleben würden, hätten sie sich innerhalb eines Jahres an ihren Gegensätzen zerrieben; aber in dieser professionellen Umgebung können sie die zeitliche Frist erheblich strecken.
Francis beobachtet die Kamera, seine Leni. Sie scheint glücklich.
Was Alice als Erstes spürt, ist die sehnsüchtige Wärme, nicht unähnlich dem, was ein Baby für seine Mutter empfindet. Sie wünscht sich, näher zu sein. Minstrel berührt mit dem Handrücken ihr Gesicht, streichelt ihre Wange, während er trotzdem die Distanz wahrt. Er reagiert genauso, wie nahezu alle Männer auf sie reagieren, wenn sie die Chance dazu haben: Sie bemerkt das Erröten seiner Brust, den fokussierten Blick seiner Augen, die beginnende Erektion. Häufig findet sie Erektionen amüsant, denn Männer scheinen im erregten Zustand aus dem Gleichgewicht zu geraten, als würden sie wie Kräne umstürzen, wenn sie sie nicht stützen würde. Doch Minstrels Erektion ist ein entzückender Schock.
Der köstliche Schmerz der Erwartung in Verbindung mit inneren Selbstzweifeln wirft sie in die ersten feuchtkalten Experimente ihrer Jugend zurück (»Love for sale, appetizing young love for sale …«, Billie Holiday interpretiert Cole Porter), über deren Erfolg sie erstaunt und entzückt zugleich war.
Zuerst küssen sie sich, beugen sich vor, um weiteren Kontakt zu vermeiden: rohe Sanftheit der Lippen wie zerknüllte Seide, schlüpfrige Glätte der Zungen.
»Gut«, sagt Francis. Er zeichnet nichts Taktiles, nichts von der Oberfläche auf, nur die tiefen Gefühle, den Puls der Sehnsucht im Sympathikus, das Nachlassen der vaskularen Spannungen im Parasympathikus, die Botschaft des intensiven Wohlbefindens, das von der Urteilsinstanz der Amygdala ausgegeben wird – all das weiß Alice, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Ihre Schenkel wirken riesig und demonstrativ – auch sie könnte das Gleichgewicht verlieren. Ich bestehe nur aus Schenkeln. Minstrel umarmt sie, presst seine Unterarme gegen ihren Rücken, um sich dann zurückzuziehen, bis seine Finger über ihre Rippen reiben, nur knapp über der Schwelle eines Kitzelns. Zungen zärteln. Dann ist es für einen Moment zu viel, und sie unterbricht den Kuss, um ihre Nase an seinem Hals ruhen zu lassen, erschaudernd.
Minstrel war schon liebevoller und stimulierender als heute, aber Alice ist erstaunlich auf ihn eingespielt. Überraschung, Wärme und dann das letzte Salzkörnchen: Minstrel zieht Männer vor. Alice hat einen besonderen Reiz, eine Freiheit, die er nur wenigen anderen Frauen erlaubt – wenn überhaupt. Sie stellt ihn sich mit seinen männlichen Liebhabern vor, fragt sich, ob sie dieselbe Wirkung auf diese Männer hätte; wahrscheinlich nicht, es spielt auch keine Rolle, die warme Phantasie hat die Segel gesetzt und ist nun in voller Fahrt.
Sie halten sich fest, berühren sich von Brust bis Knie. Er dringt zwischen ihre Schenkel und aus der Reibung wird wieder ein feuchtes Gleiten, ohne dass er drängt oder zielt. Minstrel kennt ihre Phasen und Frequenzen. Er ist ein instinktiver Liebhaber. Sobald sie einen Muskel unter seiner Hand erzittern lässt, verändert er die momentane Mischung aus Druck und Rückzug, um sich auf sie abzustimmen – wie ein Reiter auf sein Pferd.
Die Vergleiche werden zunehmend elementarer, zu süßesten und tiefsten Klischees. Sie wird reiten, schweben, schwimmen, in den Wellen sitzen, die warme Sonne spüren. Alle geistigen Bilder, die meisten von früheren Vereinigungen, manche niemals realisiert, rieseln träge wie feiner heißer Sand an ihrem Rückgrat herab.
»Solch lange Entbehrung, Fotsia?«, murmelt er.
»Psst«, haucht sie ihm ins Ohr. Ihre Bewegungen werden betonter. Francis und die Plugs sind vergessen, obwohl sie darauf achtet, nicht die Sender abzureiben, als sie mit der Schläfe über seine Brust streicht. Sie löst sich von ihm, obwohl sie ihn ganz in sich haben will, ihn in sich verstecken will, und sie weiß, wie sie ihr Verlangen durch Zurückhaltung hochschrauben kann. Sie gleitet mit Wangen und Lippen seinen Bauch hinab, ein hochsinnliches Gefühl an der harten Haut.
»Gut«, sagt Francis.
Die Locken und die köstlich widerliche Erektion in Nahaufnahme: schöner als junge Kätzchen. Sie bewundert ihn. Minstrel ist in jedem Detail kostbar und ehrenvoll; sie fühlt sich nicht erniedrigt, wenn sie alles für ihn tut. Sie weiß nicht, ob er ihre Bereitschaft ausnutzen wird. Manchmal gerät er in brüske Wut, eine feine, aber dominante Grobheit, die am seidenen Faden hängt, aber niemals über ein ernsthaftes Spiel hinausgeht. Heute jedoch ist Minstrel unendlich zärtlich und bleibt damit in ihrem Rahmen aus Überraschung und Erwartung.
»Lasterhaft wie Lukrezia«, sagt er.
Seine schläfrige Entspannung genügt ihr als Lohn für die Minute, die ihr vermutlich noch bleibt. Doch nach Ablauf dieser Minute nimmt er unausweichlich ihren Kopf in seine Hände und drängt sie zurück. Sie streckt sich auf der harten Pritsche aus, während sie weiß, dass sie nur noch reagieren muss, und selbst das nicht allzu heftig. Von allen Männern, die sie gehabt hat, den vielen hundert kürzeren und längeren, professionellen und privaten Begegnungen, benötigt Minstrel die geringsten Hinweise auf die Erfüllung ihrer Lust. Er spürt genau, was sie spürt, durch das Erzittern und Zucken ihrer Knie, an der Beschaffenheit von Haut und Muskeln über ihren Hüften und Rippen.
»Gut«, sagt Francis.
»Von Labia verborgen wird die scheue Klitoris dennoch von Eichel aufgespürt«, flüstert Minstrel ihr ins Ohr. Sein Gewicht ist ein Wogen warmer Luft, dazu sein Atem und süßlicher Moschusduft. Sie kann seinen Körper riechen, ein Hauch von Zoo, Nervosität, aber keine Schwäche. Das ist der Teil, den sie am meisten genießt, wenn sie die tiefe Besorgnis des Mannes spürt. Nach all den Jahren fragt sich Minstrel immer noch, ob sie es billigen wird. Da sie genau weiß, dass sie es billigen wird, ist seine Besorgnis das reine Entzücken für sie. Die armen guten Männer, all die guten Liebhaber, jedes Mal diese Nervenanspannung vor der Vereinigung. Selbst ein entzücktes Lachen könnte missverstanden werden. Sekunden vergehen, bevor sie ihm ihre völlige und uneingeschränkte Billigung zeigt.
»Gut«, sagt Francis. »Und …«
Sie packt Minstrel, drückt seinen Hintern mit den Fingernägeln nach unten, spürt das schlüpfrige Eindringen, saugt ihn und gleichzeitig einen rastlosen Atemzug ein.
Francis zitiert wieder:
»Schon zückt er auf die falsche Maid sein Schwert,
Da fällt Archimagus, der Heuchler, ein:
Nicht ist die Dirne solcher Strafe wert,
sie treffe schuldbefleckt der Reue Pein.
Der Ritter seufzt: so muss geschieden sein;
Fort, fort, aus diesem unglücksel'gen Haus!
So irr' ich nun mit meinem Schmerz allein,
Auf! Knapp' und führe mir das Ross heraus!
Und mit dem Zwerglein jagt er schnell bergein, bergaus.«
Minstrel erschaudert.
»Genug. Schnitt.«
Er hält inne, zieht sich zurück. Alice blickt verwirrt auf der Bühne umher. »Was?«, sagt sie.
»Konzentration«, kommandiert Francis. »Enttäuschung. Du kannst den Rotkreuzritter nicht haben. Du bist ein Geist, ein Sukkubus, keine echte Frau. Alles, was du tust, ist falsch und sündig, niemals Entzücken, immer nur Pflicht. Genug.«
Minstrel legt sich erregt zurück. Alice möchte ihn am liebsten besteigen, aber das wäre unprofessionell. Wenn es etwas gibt, das sie von ihm distanziert, dann ist es diese Fischleim-Membran ihrer Selbstachtung während der Arbeit.
Francis sieht sich mit glasigen Augen an, was Leni aufgezeichnet hat. Alice betrachtet die Kamera als eine Art Drachen, ein gieriges Publikum, das hinter den vielen Sinnen der Kamera bis in die fernste Zukunft Schlange steht.
»Perfekt, alle beide«, sagt Francis, als er zurückkommt und ihnen zulächelt. »Ihr habt euch die Credits verdient. Eure Anhänger werden es lieben.«
Minstrel lächelt matt zurück. Seine Kiefermuskeln spannen sich wieder an. Nachdem der Zauber gebrochen ist, kehren seine Gedanken in die schmutzige Welt zurück.
Minstrel beugt sich über sie. »Eichel möchte die liebe Fotsia fragen, ob sie ihn heiraten will«, sagt er, »aber die Verantwortung eines adligen Lebens … du weißt ja, wie das so ist.«
»Fotsia würde seinen Antrag annehmen«, erwidert Alice.
»Das sollten wir nicht auf sich beruhen lassen«, sagt Minstrel.
Alice ist verdutzt. »Nein.«
Francis ruft, dass die Bühne geräumt werden soll.
»Aber das werden wir wohl müssen.« Minstrel lächelt. »So ist es besser fürs nächste Mal.«
Dies ist ihre dritte trockene Umarmung in den vergangenen sechs Monaten. Sie treten fast nur noch im Schatten auf, als Hintergrundschicht, und stehen kaum noch ganz vorne im vollen Rampenlicht.
»Ich werde warten«, sagt Alice, und Minstrel streicht ihr über die Wange, bevor er über die Treppe nach oben geht, um sich anzuziehen.
Ahmed starrt sie errötet und ehrfürchtig an.
»Du bist noch neu, nicht wahr?«, fragt Alice ein wenig zu süß. Sie zieht ihren Bademantel an und steigt ebenfalls die Treppe hinauf. Oben hört sie in ihrer Straßenkleidung ihr Pad pausenlos piepen. Minstrel ist bereits halb angezogen. In vergangenen Zeiten hätten sie die Angelegenheit hier vielleicht zum Abschluss gebracht, da keiner von ihnen der Ansicht ist, dass aufgestaute Leidenschaften der Gesundheit förderlich sind, aber sie erkennt, dass Minstrel mit Herz und Gedanken längst anderswo ist.
Die Zeit der Höflichkeiten ist vorbei. Beide wissen, dass der Höhepunkt hinter ihnen liegt.
Sie zieht das kleine Pad aus ihrer Tasche und nimmt den Anruf entgegen. »Hier Alice.«
»Ich wollte keine Nachricht hinterlassen oder die Sache von unseren Wohnungen ausdiskutieren lassen. Hier ist Twist.«
Twist ist sechs Jahre jünger als Alice, aber bereits eine Veteranin. Sie haben sich vor zwei Jahren kennen gelernt und sofort Gefallen aneinander gefunden. Twist – falls sie überhaupt einmal anruft – behandelt Alice wie eine Art Mutter.
»Hallo, Twist. Ich komme gerade aus einem Plug für Francis.«
»Etwas Seltsames geschieht, Alice.«
»Was?«
»Ich verhalte mich sehr seltsam. Ich muss mich unbedingt mit jemandem treffen.«
»Wie seltsam?«
»Ich bin von David besessen, von oben bis unten.«
Fickkünstler haben genauso wie die meisten anderen Sexdienstleister mit so vielen Partnern zu tun, dass sich Alice nicht sofort erinnern kann, wer David ist. Sie glaubt, dass sie sich vielleicht schon einmal begegnet sind, in Twists Wohnung in Ballard.
»Ich bin kein Therapeut, Twist.«
»Ich habe meine Mutter angerufen, Alice«, sagt Twist. »Bevor ich mich bei dir gemeldet habe. Ist dir klar, wie viel Überwindung mich das gekostet hat?«
Twist deutet des Öfteren an, welch ein Monstrum ihre Mutter ist, was Alice niemals völlig ernst genommen hat. Selbst nach einer erfolgreichen Therapie ist Twist stets ein wenig neben der Rolle.
Alice setzt sich auf eine Bank und verschränkt die Beine. Minstrel schneidet eine übertriebene Grimasse und winkt ihr mit einem Finger zu, als er seine Tasche aufhebt. Alice verfolgt seinen Abgang mit einer Spur von Bedauern.
»Also gut, warum gehst du nicht sofort zu einem Therapeuten?«
»Weil David mich aus der Agentur geholt hat«, sagt Twist. »Ich habe kein festes Einkommen mehr. Er hat mir Aufträge verschafft. Er hat gute Beziehungen.«
»Ach«, sagt Alice, als sie sich plötzlich an David erinnert. Der David, wie Twist ihn nannte: ein kleiner, dürrer Mann mit dunklem Haar. Auf Alice hat er sofort den Eindruck eines schmutzigen Ränkeschmieds gemacht, der verzweifelt wiedergutmachen will, dass er als Wicht geboren wurde, und der glaubt, auf alles eine Antwort zu haben. Twist vergöttert ihn, lauscht andächtig auf jedes seiner näselnden Worte.
»Nun, ich bin überzeugt, dass die Agentur …«, beginnt Alice.
»David lässt mich nicht. Auch er ist ziemlich verklumpft geworden.«
»Was meinst du damit?«
»Ich fühle mich wie damals, als ich mit meiner ersten Therapie begann. Ich war dreizehn, Alice. Ich war ein schwerer Fall, das totale Chaos. Jetzt ist alles wieder da, nur viel schlimmer.« Sie stößt ein schmerzhaftes, nervöses Kichern aus. »David sagt, dass ich nie richtig stabilisiert wurde.«
»Warum kommst du nicht einfach in meine Wohnung, damit wir reden können«, schlägt Alice vor. »Ich kann in einer halben Stunde da sein …«
»Ich weiß nicht, ob David mich gehen lässt.«
Alice atmet tief durch. Eine Gruppe neuer Fluffers kommt die Treppe hinauf. Francis macht wieder einmal Überstunden.
»Aber ich muss wirklich reden, Alice. Bist du morgen zu Hause?«
»Morgen, ja.«
»Ich werde um zehn da sein. Ich werde David mit jemandem zusammenbringen. Cardy ist ganz fickig auf ihn. Dann kann ich für ein paar Stunden frei machen.«
Alice zuckt zusammen. Dieses Wort – Minstrels Tetragrammaton – klingt von Twists Lippen viel zu hart. Twist ist in vielerlei Hinsicht das typische kleine Mädchen. Alice erkennt diesen Punkt als etwas Uncharakteristisches, denn sexuelle Ausdrücke, ob nun hart oder gemäßigt, irritieren sie normalerweise nicht, ganz unabhängig von ihren persönlichen Ansichten. Ihre Stimmung wird vom Schatten anderer verfinstert.
»Dann sehen wir uns morgen«, sagt Alice.
»Ja. Alles Liebe, Alice.«
»Dir auch.« Sie trennt die Verbindung und steht nun zwischen den vier neuen Fluffers, von denen sie keinen kennt. Alle sind in Schmetterlingsfarben gekleidet. Sie kommen von Sextras, mittlerweile die Top-Yox-Agentur für Fickkünstler. Sie lächeln ihr zu; sie wissen, wer sie ist. Alice war einmal zu Fleisch gewordenes Feuer.
Sie lächelt zurück, höflich und ein wenig herablassend, schüttelt einige Hände, gibt einem der Männer einen Zungenkuss, und steigt dann die Treppe hinunter, während Ahmed sie immer noch anstarrt.
Die Monstrosität unseres technischen Zeitalters ist unbeschreiblich. Ein Mann kann in seinen Hoden Armeen von Nachkommen mit sich tragen, von denen kein Einziger sein eigener ist … und manche sind vielleicht nicht einmal ganz menschlich. Eine Frau kann innerhalb ihrer unnatürlichen ›Kunstwerke‹ gebären, beschleunigt durch die Wissenschaft und sicher genauso seelenlos wie ein Stein. Wir sind angewidert und verzweifelt. Diese Maschinen und Maschinenmenschen haben Gott verloren.
Die Mutterkirche hat dieser Zeit, in die wir hineingeboren wurden, nichts zu bieten, außer einer Warnung, die wie ein Fluch anmutet: Was ihr sät, werdet ihr ernten!
- Papst Alexander VII, 2043
Anonyme Antwortmail
An: Papst Alexander VII
Datum: 24. Dezember 2043
»Du bist ein katholischer Wixer, weißt du das? Komm doch mal in meine Stadt (die wüsstest du wohl gerne, was?) und ich werde dir zeigen, was ein richtig TOLLER SPASS ist! Sag deinen Leibwächtern, dass ich über zwei Meter groß bin und mich wie die Demonen in NUKEY NOOKY anziehe, was du arschgeiler Farisäer bestimmt schon selbst gespielt hast!!!!! Einen schönen Tag noch!!!!!«
Für Martin Burke ist das Leben zum Anaspace geworden, nur Bewegung und kein Engagement, keine Interaktion, kein Gefühl des Vorankommens. Dennoch ist er nicht erfolglos.
Vor zwei Jahren ist er aus den Combs der Südküste hierher gekommen. Er hat sich als Designberater für miniaturisierte Therapiemonitoren selbständig gemacht, mikroskopische Implantate, die sich frei im Körper und im Gehirn bewegen, die Gleichgewichte regulieren und natürliche neurochemische Konzentrationen korrigieren. Die ganze verspätete, aber nicht weniger schmerzvolle Publicity um seine Verbindung zum Massenmörder und Dichter Emanuel Goldsmith hatte seiner Karriere ein Ende gesetzt; anschließend wollte keine Firma mehr mit ihm zu tun haben, obwohl sie nach wie vor die Lizenzprodukte seiner Patente herstellen.
Seit dem Umzug nach Seattle hat er auf dem Gebiet der speziellen Mentaltherapie gearbeitet, im dritten Stock eines altehrwürdigen Gebäudes in der Nähe des Pioneer Square.
Draußen beginnt ein seltener wolkenloser Wintermorgen, obwohl es um acht Uhr immer noch dunkel ist. An der kalifornischen Südküste, gegen Ende seiner letzten Tätigkeit, war die Sonne unmenschlich aufdringlich und beharrlich. Martin hat sich nach einer Veränderung gesehnt, nach wechselhaftem Wetter, nach Wolken, unter denen man sich verbergen kann …
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